Kapitel 5 – Geschichtsstunde

Ein seltsames Gefühl nahm von mir Besitz. So was wie Verarschung im Sterbebett, also ganz fies und überhaupt nicht lustig.

„Was?"

„Er ist mein Vater."

„Dein Vater ist tot, Tom", flüsterte ich heiser. „Du hast ihn umgebracht."

„Das dachte ich eigentlich auch."

Der Wanderer räusperte sich. „Vielleicht sollten wir uns einen Unterschlupf suchen, wenn ich mir den Himmel anschaue, könnte es jeden Moment anfangen zu regnen. Und dann will ich euch einiges erklären, vor allem dir, Tom."

Tom war anzusehen, dass er alles andere als begeistert von diesem Vorschlag war.

Ich nahm entschlossen seine Hand und streichelte ihm beruhigend über den Handrücken. „Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee, Tom."

Tom sah mich an.

Ich versuchte aus seinen Augen zu lesen, wie man es sonst konnte, aber momentan sah ich nur mein eigenes Spiegelbild in ihnen.

Doch dann seufzte er tief und nickte.


Wir ließen uns unter einem großen Baum nieder, einigermaßen vor Wind und Regen geschützt.

„Wieso lebst du noch?", kam Tom gleich zur Sache. „Du müsstest tot sein!"

Der Wanderer lachte nur.

„Wieso lebst du noch?", wiederholte Tom, diesmal eine Spur schärfer.

„Es war nicht sonderlich schwer", begann der Wanderer und lehnte sich bedächtig gegen den Baumstamm. „Aus deinem letzten Brief, den du mir schriebst, schöpfte ich den Verdacht, dass du einen Anschlag auf meine Eltern und mich plantest. Und ich habe mich dann lediglich an den Zauberer aus unserem Dorf gebeten, einen Hauselfen so zu verwandeln, das er meine Gestalt annahm und dem Elfen zu befehlen, was er im Falle eines Anschlags tun sollte. Und letztendlich behielt ich bekanntlich Recht. Eines Abends kamst du zu uns. Ich versteckte mich in einem Wandschrank und schickte den Hauselfen los. Als alle tot waren und du fort warst, floh ich nach London."

Toms Miene war unergründlich, wirkte wie versteinert. „Wie bist du auf die Idee gekommen, einen Hauselfen zu nehmen und ihn verwandeln zu lassen? Du verabscheust Magie und dürftest gar nicht wissen, das es so was Hauselfen überhaupt gibt!"

„Ich habe alte Tagebücher deiner Mutter gefunden. Dort schrieb sie auch über Hauselfen. Und auf die Idee mit dem Verwandeln bin ich von selbst gekommen", sagte er nicht ohne Stolz.

Ich muss gestehen, dass mir in diesem Moment ziemlich schlecht war und Tom schien es ähnlich zu gehen.

„Aber wie…"

„Wie ich schließlich hier gelandet bin?" Der Wanderer lachte bitter. „Nach vielen Jahren der Flucht war ich das ewige Verstecken leid, und da ich nicht erpicht darauf war, letztendlich doch noch von dir gefunden zu werden, wendete ich mich wieder an den Zauberer im Dorf, den ich übrigens auch dank den Tagebüchern deiner Mutter gefunden habe. Er schlug mir dieses Verschwindekabinett vor. Ich nahm an. Und jetzt bin ich seit 30 langen Jahren hier. Und schließlich hast du mich doch gefunden. Es war also alles umsonst." Der Wanderer ballte seine Hände zu Fäusten und schlug zornig auf den Boden.

„Eine letzte Frage noch", sagte Tom mit sehr brüchiger Stimme. „Vor ein paar Jahren habe ich einen Trank brauen lassen, um mir meinen Körper, den ich durch eine unglückliche Fügung verloren habe, wiederzukriegen. Dafür brauchte ich auch Knochen meines Vaters. Die habe ich bekommen, sonst wäre ich jetzt nicht hier!"

„Der Zauberer vermutete, vielleicht sah er es auch voraus, dass du einst einen solchen Schritt unternehmen wirst. Er riet mir also, etwas von mir in meinem Grab, in dem der Hauself lag, beizulegen. Jetzt habe ich einen Zeh am linken Fuß weniger. Und du deinen Körper."

Tom war während dieser Worte sehr blass geworden.

„Was wirst du jetzt tun, wo du mich gefunden hast, Tom?"

„Was meinst du?", fragte Tom eisig.

„Wirst du mich umbringen?"

Toms Augen musterten ihn kalt und es war, als säße ich nicht dicht neben dem Tom, der mich morgens mit einem strahlenden Blick begrüßte und mir ein sonniges, sanftes Lächeln schenkte, wenn ich in ansah, sondern Voldemort, der Harry, Dumbledore und den Rest meiner Freunde töten wollte und so viele Menschen auf dem Gewissen hatte und ganze Familien mit einem Schlag ausgelöscht hatte.

Irgendwie war ich mir noch nie, seit wir in diesem Kabinett waren, wirklich darüber Gedanken gemacht.

„Es gäbe nichts, das ich lieber tun würde", erwiderte Tom. „Vater", setzte er spöttisch hinzu.

Der Blick des Wanderers flackerte. „Aber warum?"

„Weil du es nicht anders verdient hast! Du hast meine Mutter im Stich gelassen. Du bist für ihren Tod verantwortlich", sagte er hasserfüllt. Der Wanderer regte sich nicht. „All die Jahre, die ich wegen dir im Waisenhaus verbringen musste, hast du mich nur ein einziges Mal besucht und auf keinen meiner Briefe geantwortet. Du verdienst es nicht zu leben. Du bist seit vielen Jahren tot. Seit ich dich damals vermeintlich getötet habe. Niemand vermisst dich, niemand weiß noch von deiner Existenz."

In Toms braunen Augen schimmerten Tränen des Zorns. Selbst in diesem Moment sah er irgendwie wunderschön aus, fragt mich nicht, wie ich darauf komme.

Auf jeden Fall senkte der Wanderer jetzt den Kopf. „Wieso hast du mich dann gerettet? Wenn du mich jetzt doch töten willst?"

„Weil Tonks es so wollte."

Ein kurzer Wärmeschwall glühte in meinem Körper auf.

„Dann tu es jetzt." Der Wanderer zitterte am ganzen Körper, als er das sagte.

Tom sah auf ihn herab. „Ich kann nicht, auch wenn ich wollte."

Der Wanderer starrte ihn an. „Was…?"

„Denk nicht, dass ich ein schlechtes Gewissen habe oder dass ich mich nicht traue. Das stimmt nicht. Es liegt an diesem Verschwindekabinett, ich kann hier meine Zauberkräfte nicht einsetzten."

Eine Minute sagte niemand etwas. Dann…

„Heißt das, du lässt mich gehen?"

Tom verzog das Gesicht zu einem sehr bösen Grinsen. „Sieh zu, dass du Land gewinnst. Hau ab. Aber merk dir: Wenn ich dich jemals wieder sehen sollte, und ich bin wieder Herr meiner Kräfte, werde ich dich ohne zu Zögern töten. Und wenn du dich jetzt nicht verziehst, überlege ich mir mein großzügiges Angebot noch mal und erledige die Sache mit bloßen Händen."

Der Wanderer zögerte kurz, erhob sich dann. Er warf uns über die Schultern einen letzten Blick zu.

„Du sollst wissen Tom, dass ich viele meiner Fehler längst bereut habe. Aber was geschehen ist, ist geschehen." Sein Blick wanderte zu mir. „Pass gut auf meinen Sohn auf. Man hat ihn schon oft genug aus den Augen verloren." Er nickte uns ernst zu und lief dann an den Klippen entlang davon.

An diesem Tag sah ich Tom das erste Mal weinen.


Ich überlegte, ob ich ihn in den Arm nehmen sollte, um ihn zu trösten, aber irgendwie blockte er ab, ohne etwas zu sagen oder ähnliches (ich hoffe, ihr versteht was ich meine…) und so hielt ich es für das beste, gar nichts zu machen und abzuwarten.

Ich saß also neben ihm rum.

Fühlte mich ganz schrecklich, weil ich nichts tun konnte, um ihn aufzuheitern.

Es musste wirklich hart für ihn sein, nach all den Jahren erst zu erfahren, das sein tot geglaubter Vater mehr oder weniger quicklebendig in einem Verschwindekabinett herumhüpft und sich Hänge hinunterwirft, um sich dann retten zu lassen und ihm zu allem Überfluss damals mit dem Kräuterzeugs sein Leben gerettet hatte.


Eine halbe Stunde verging in bleiernem Schweigen.

Tom hatte sich längst wieder gefangen, aber er sah mich nicht an und ich versuchte es ihm gleichzutun.

Aber ich kann nun mal meine Klappe nicht halten.

„Tom?"

Ein Schniefen als Antwort.

„Tom?"

Jetzt bekam ich sogar einen kurzen Blick, aber der war eindeutig.

Das jedoch machte mich leicht säuerlich. „Wie lange willst du hier jetzt noch rumsitzen und mit niemandem sprechen? Wenn man fragen darf?"

„So lange es mir passt."

Na toll. „Mensch Tom, ich versteh dich doch, aber irgendwie bringt es das jetzt auch nicht, oder?"

Ich wurde stolzer Besitzer eines genervten Augenrollens. „Du verstehst mich nicht, weil wir zwei total verschiedene Personen sind. Ich bin nicht wie du. Wir gehören nicht der gleichen Seite an…"

„Wann hat dich das jemals gestört?"

„Oft genug. Aber es war eher die Tatsache dass ich darüber nachgedacht habe, was wohl nach dem Verschwindekabinett ist. Wenn wir jemals wieder rauskommen sollten, versteht sich."

„Statt ständig Unterschiede zu suchen, könntest du zur Abwechslung mal Gemeinsamkeiten suchen! Wie wär das? Erspart uns eine Menge Ärger."

„Gemeinsamkeiten?"

„Ja! Ich mein, irgendwas werden wir wohl gemeinsam haben... Magst du Zitronenbonbons? Dumbledore hat mir mal welche angedreht und seit dem bin ich süchtig danach…"

Der Blick, den er mir jetzt zuwarf, tat richtig weh.

„Ach, hat er das?"

Ich hatte einen empfindlichen Nerv getroffen.

„Was willst du eigentlich? Ich tue mein bestes, damit dieser Aufenthalt nicht die reinste Hölle ist, aber sobald ich dann mal einfach meine Ruhe brauche, um nachzudenken, kommst du mit Dumbledore an und erzählst mir, das er dir Zitronenbonbons aufgeschwatzt hat. Weißt du, das letzte was ich jetzt brauche, ist irgendetwas, das mit Dumbledore zu tun hat. Du weißt genau, das er mein Erzfeind ist!"

Ich biss mir auf die Lippen. So hatte ich mir Aufheitern wirklich nicht vorgestellt.

„Ist schon okay, ich setz mich jetzt einfach auf den Stein da vorne und schau mir den Himmel an, wenn's dir besser geht kannst du ja nachkommen."

Damit erhob ich mich.

Tom und mein Blick trafen sich. „Es tut mir leid", sagte er.

„Nein, ich versteh dich wirklich, ich bin einfach zu vorlaut."

Tom lächelte schwach. „Das stimmt zwar, aber ich sollte mich besser zusammenreißen können, auch in meinem Interesse."

Ich zögerte kurz, dann setzte ich mich vor ihn.

„Guck nicht so ernst", sagte er tadelnd.

„Ich denke dass wir reden sollten."

Er sah mich einfach nur an, scheinbar überlegte er, ob wir wirklich sollten. Und irgendwie schien er mich einzuschätzen und das bereitete mir Unbehagen.

„Ähm…"

„Worüber willst du reden?"

„Naja…", ich war jetzt ziemlich eingeschüchtert. „Ich mein… so ü… über alles, du weißt schon, also…", stotterte ich.

Seine braunen Augen glitzerten kurz amüsiert auf, doch schnell erlosch das Glitzern wieder.

„Über alles?"

„Du weißt was ich meine", sagte ich entschlossen.

„Ich denke schon. Aber wo willst du anfangen?"

Ich schluckte. „Willst du wirklich darüber reden?"

Ein hinterhältiges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Sehen wir dann."

„Also… warum wolltest du deinen Vater umbringen?"

Sein Gesicht verzog sich. „Er hat meine Mutter verlassen, bevor ich überhaupt geboren wurde. Als sie ihn am meisten gebraucht hat. Nur weil sie anders war als es sich gehörte. Eine Hexe zur Frau und auch noch einen Sohn mit ihr, das empfanden er und seine Eltern als Schande. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, ich weiß nicht warum, auf jeden Fall wollte mein Vater mich nicht. Ich wurde auf seinen Namen getauft und dann in ein Heim gesteckt."

„Aber deswegen gleich…"

„Ich bin doch noch gar nicht fertig", unterbrach er mich. „Ich bin also im Heim aufgewachsen. Als ich 3 Jahre alt war, erfuhr ich dann, dass ich noch einen Vater hatte und ich wollte ihn treffen. Die Heimleiterin schrieb an ihn und er sagte zu. Nach einem Monat war dann ein Besuchertag für Eltern, die ihre Kinder im Heim haben, sich selbst aber nicht um sie kümmern können oder wollen. Alle Kinder haben für ihre Eltern ein Bild gemalt, zur Weihnachtszeit damals. Ich auch, ich wollte meinem Vater eine Freude machen. Ich war noch nie so aufgeregt und glücklich in meinem Leben gewesen, wie an dem Abend vor dem lang ersehnten Treffen. Ich habe stundenlang an diesem Bild gemalt und es war das schönste von allen. Am nächsten Morgen wurden wir dann schick gemacht und nett hergerichtet und haben auf unsere Eltern gewartet. Er kam, sogar pünktlich."

An dieser Stelle verzog Tom das Gesicht.

„Er kam zu mir, stellte sich vor mich und sah mich an. Ich wollte ihm die Hand geben, aber er hat sie nicht genommen. ‚Wie sieht der denn aus', hat er gesagt. Ich habe versucht ihn zu besänftigen, indem ich ihm mein Bild schenken wollte. Er hat es angeschaut und dann zerrissen. Das Bild, an dem ich so lange gearbeitet habe, für das ich mich so abgerackert habe, nur für ihn. In viele kleine Schnipsel, die er dann auf den Boden geworfen hat. Ich muss wohl damals angefangen haben zu weinen, ich weiß es nicht mehr, aber die Erzieherinnen haben ihn angeschrieen, warum er das gemacht hat und er meinte nur, dass es genauso wertlos und missgestaltet war wie ich. Dann ist er gegangen. Ohne einen Abschied, ohne gar nichts. Ich habe ihm Briefe geschrieben. Fast monatlich. Habe ihm erzählt was ich erlebt habe, habe ihm von meiner Einschulung in Hogwarts erzählt… Die ganze Zeit lang hat er mir nicht zurück geschrieben."

Er hielt kurz inne.

„Weißt du, dass ich das bisher noch nie jemandem erzählt habe?"

Ich lächelte. „Vielleicht musste das mal von der Seele?"

„Kann schon sein", sagte er nachdenklich, „aber ich weiß nicht, ob du den Rest…"

„Doch. Glaub mir, ich hatte von Anfang an keine Angst vor dir."

„Och wirklich?"

„Jaaa!"

Er musste grinsen. „Okay, dann erzähle ich weiter… An meinem 15. Geburtstag hatten wir im Heim eine besondere Aktion, wir durften Urlaub machen, wo es uns passte. Du darfst raten, wohin ich gegangen bin."

„Zu deinem Dad."

„Genau. Ich habe ihm auch einen Brief geschrieben, dass ich in sein Dorf komme. Da muss er wohl den Verdacht mit dem Anschlag bekommen haben, obwohl der ursprünglich nicht geplant war und ich wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, ihn zu töten. Ich wollte ihn einfach noch einmal sehen und meine Großeltern kennen lernen… und ein Foto von meiner Mutter. Ich fuhr also in das Dorf in eine Herberge. Dass mein Dad so reich war, das er sogar eine Villa hatte, hat mich damals sehr beeindruckt. Ich war mir sicher, irgendwie würden sich zumindest meine Großeltern freuen, meine Bekanntschaft zu machen, immerhin war ich ihr einziger Enkel…"

„Ich denk mal, sie freuten sich nicht."

„Nein. Immerhin haben sie mich rein gelassen, als ich ihnen gesagt habe, wer ich bin. Mein Vater war auch da. Naja, sagen wir, ich dachte es, es war ja wohl der Hauself… Auf jeden Fall kam ich mit meinen Großeltern in einen schlimmen Streit wegen meiner Mutter… was genau ist jetzt nicht so wichtig. Und… und…"

„Du hast sie umgebracht. Das war aus der Rede von dem W… deinem Vater zu schließen."

„Ja. Ich weiß selber nicht so wirklich wie das passiert ist, aber es… war irgendwie… richtig an dieser Stelle und ich habe es wirklich genossen, plötzlich war ich so stark, ich fühlte mich unglaublich mächtig… Ich erinnere mich nicht mehr an viel, aber meine Karriere ging steil bergauf… oder sollte ich –ab sagen?"

Ich betrachtete ihn nachdenklich. „Hast du ein Foto deiner Mutter gefunden?"

Er errötete leicht. „Wie kommst du denn jetzt da drauf?"

„Du hast."

„Ja, ich habe eins in einem alten Fotoalbum gefunden."

„Und…"

„Du Tonks?"

„Ja?"

„Ich habe keine Lust mehr darüber zu reden, ganz ehrlich."

Ich ignorierte es unbewusst, denn mir rutschte heraus: „Wieso bist du denn dann ein Mörder geworden? Warum hast du so viele unschuldige Menschen getötet?"

Er legte leicht den Kopf schief. „Wir sollten schlafen gehen."

„Aber…"

„Ich bin wirklich müde."

Damit legte er sich in das Gras.

Klare Sache, er war sauer.

Oder irgendwie schlechtgewissisch (Anm. des Autors: gibs das Wort? ).

Aber wie viel ihm dieses Gespräch wirklich bedeutete, sollte mir erst am nächsten Morgen klar werden.