2. Die Prophezeiung

Albus Dumbledore saß bei Sonnenuntergang in seinem Büro in Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, und starrte nachdenklich auf sein Denkarium herab, in dem die silbernen Gedankenfäden herumwirbelten und immer neue, komplizierte Muster bildeten. Genau wie die Fäden in dem bauchigen Gefäß wirbelten auch die Gedanken in seinem Kopf herum. Das letzte Mal war er vor über vierzehn Jahren so durcheinander gewesen, erinnerte er sich. Damals hatte er zuletzt dieses Gefühlschaos verspürt, diese verhaltene Freude und den Anflug von Euphorie, die gleichzeitig von tiefer Trauer getrübt waren. Das war an dem Tag gewesen, als der einjährige Harry Potter die Macht Lord Voldemorts gebrochen hatte. An dem Tag, als dessen Eltern Lily und James Potter von Voldemort ermordet worden waren, der eigentlich gekommen war, um Harry zu töten. Als es ihm jedoch nicht gelang, den kleinen Jungen zu vernichten, war Voldemorts Macht in sich zusammengefallen und er hatte dreizehn lange Jahre gebraucht, um sich von diesem Schlag zu erholen. Doch inzwischen war er zurück. Und, so befürchtete Dumbledore insgeheim, er war nun stärker als jemals zuvor.

Und dennoch... Was Professor Trelawney heute vorhergesagt hatte, als sie während ihres Gesprächs am Morgen völlig unverhofft in Trance gefallen war, erschien ihm so unglaublich, gerade zu diesem Zeitpunkt so unerwartet, dass er es unbedingt noch einmal hören musste, allein, hier in der Abgeschiedenheit seines Büros hinter dem Wasserspeiher. Nur um ganz sicher zugehen, dass seine Erinnerung und seine Schlussfolgerungen nicht von seinen geheimsten Wünschen und Hoffnungen beeinflusst wurden.

Konnte es sein? War es wirklich möglich?

„Colloportus!", murmelte er mit rauer Stimme und richtete seinen Zauberstab auf die Tür. Hierbei wollte er nicht gestört werden, von niemandem. Er benötigte seine gesamte Konzentration. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und atmete mehrmals tief durch. Dann wandte er sich wieder der bauchigen Schüssel zu, die seine Erinnerungen enthielt und tippte sie sanft mit dem Zauberstab an. Bei Merlin, er hoffte so sehr, dass er sich nicht irrte!

Die Gestalt Sibylls, wie üblich in unzählige wehende Tücher gehüllt, erhob sich aus dem Becken und begann, sich langsam um ihre eigene Achse zu drehen. Die Augen hinter der riesigen, runden Brille blickten starr in die Ferne, während sie mit dunkler, rauer Stimme, die ihrer normalen, hellen Tonlage in keinster Weise entsprach, sagte:

Eine neue Allianz gegen den dunklen Lord wird geboren werden, wenn Licht und Dunkel beim nächsten Vollmond ihre Kräfte vereinen. Der Schwarze, zurückgekehrt aus jener anderen Welt, die hinter dem Vorhang verborgen liegt, und die Weiße, nicht wissend, aber nicht ohne Ahnungen, Mitgefühl und Mut, werden im Angesicht der Bedrohung ein Bündnis schmieden, das mehr sein wird als jedes Bündnis, das bisher geschlossen wurde, weil es Grenzen überwindet, die zu überschreiten bisher niemand gewagt hat und vereinigt, was schon seit ewigen Zeiten getrennt ist... Und der dunkle Lord, gefangen in seinen Vorstellungen und finsteren Wünschen, wird gerade dort an unüberwindliche Grenzen stoßen, wo er nicht mit Widerstand gerechnet hätte... Und er wird sich mit Mächten konfrontiert sehen, die er nicht zu begreifen und darum auch nicht zu überwinden vermag... Und der Eine, der allein in der Lage ist, ihn zu besiegen, wird erstarken an diesem Bündnis, dass ihn nähren und wärmen wird, bis die Zeit reif ist, seine Aufgabe zu erfüllen...

Professor Trelawney beendete ihre langsame Drehung und sank, noch immer mit leerem, starren Blick, in die silbrige Masse unter ihr zurück.

Dumbledore atmete wieder tief durch und sah nachdenklich auf seine Hände hinab, die ineinander verschlungen auf der Platte seines großen Schreibtisches lagen. Was immer in den kommenden Tagen – Vollmond war schließlich nur noch drei Tage entfernt – auch geschehen würde, er musste bereit sein, auf die bevorstehenden Veränderungen zu reagieren. Alles, was Voldemort und seine Todesser aufhielt, jeder der ihnen Widerstand leistete, war ein Verbündeter. Und davon konnte man nie genug haben. Besonders nach dem schweren Verlust, den der Orden des Phönix gerade hatte hinnehmen müssen...

Oh ja. Er würde Augen und Ohren offen halten. Und wenn sich tatsächlich das bewahrheitete, was die Prophezeiung seiner Meinung nach aussagen könnte – und was er kaum heimlich zu erhoffen wagte – würde auch die Last eines anderen nicht mehr so unerträglich schwer zu schultern sein.

Dumbledores Blick wanderte zum Fenster, durch das er drei Gestalten dicht nebeneinander am Ufer des Sees stehen sah. Zwei Jungen und ein Mädchen. Einer der Jungen war recht groß und hatte leuchtendrotes Haar, der andere, dessen schwarzes Haar ziemlich zerzaust aussah, stand mit hängenden Schultern neben seinem Freund und schien blicklos in die Ferne zu starren. Auf seiner Schulter lag unbeachtet die eine Hand des Mädchens.

Noch war Harry Potter nicht in der Lage, sich dem Trost dieser Berührung zu überlassen, der Schmerz und die Verzweiflung über den Tod seines Paten waren einfach noch zu frisch. Er hatte in seinem relativ kurzen Leben schon weit mehr Verluste hinnehmen müssen, als einem Fünfzehnjährigen zugemutet werden konnten.

Dumbledore wandte sich vom Fenster ab. Er fühlte die Trauer des Jungen wie seine eigene und das Herz krampfte sich ihm zusammen, wenn er daran dachte, wie hart der letzte Schlag gewesen war, den er hatte ertragen müssen. Auch ihn selbst hatte Sirius' Tod hart getroffen, aber anders als Harry fühlte er nun auch wieder einen Funken Hoffnung. Einen Funken, den er jedoch nicht mit dem Jungen dort draußen am See teilen konnte.

Sollte er sich nämlich als vergeblich herausstellen, würde die Enttäuschung den Fünfzehnjährigen nur noch mehr schmerzen, als der Verlust es jetzt schon tat. Und jeder – das war Dumbledore nur zu schmerzlich bewusst – konnte nur ein bestimmtes Maß an Schmerz ertragen, ohne daran zu zerbrechen. Er war nicht sicher, wie viel Harry noch ertragen konnte. Und ohne Harry...

Nein, dachte Albus Dumbledore und verschloss das Denkarium sorgfältig in seinem Schrank, es war mit Sicherheit klüger zu schweigen.

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