4. Der schwarze Hund
Sarah hatte, seit sie denken konnte, noch nie Angst vor Hunden gehabt – insbesondere den großen Rassen, weil ihrer Meinung nach die kleinen Wadenbeißer viel eher zur Bösartigkeit neigten, als die großen, selbstbewussten Tiere – aber dieses Exemplar war wirklich respekteinflößend. Dichtes schwarzes Fell bedeckte einen Körper, der problemlos ein Stockmaß von einem Meter erreichen würde, wenn der Hund sich auf die Beine stellen würde. Aber das tat er nicht. Statt dessen lag er kraftlos winselnd auf dem klatschnassen Grasboden, seine Flanke hob sich kaum und die Augen waren geschlossen.
„Armer Kerl", murmelte Sarah mitleidig und kniete sich in den Schlamm, um ihn etwas näher in Augenschein zu nehmen. „Dir hat man ja ziemlich übel mitgespielt, was?"
Behutsam strich sie mit der Hand über das struppige, glanzlose Fell. Sie konnte deutlich die hervorstehenden Knochen fühlen – die letzte Mahlzeit dieses Tieres lag zweifellos schon einige Zeit zurück. Der Hund befand sich in einem wirklich erbärmlichen Zustand. Und zu allem Überfluss blutete er auch noch ziemlich stark aus einer Wunde am linken Vorderbein, aus der ein Stück eines abgebrochenen Zweiges herausragte.
Behutsam untersuchte Sarah die Wunde. „Okay, mal sehen, ob ich das hier herausbekomme!" Sie griff nach dem Holzstück und zuckte zurück, als sich plötzlich scharfe Zähne in ihre Hand senkten. Vor Schreck und Schmerz zuckte sie zusammen.
Der Hund knurrte drohend und zog die Lefzen hoch.
„Ganz ruhig", redete sie dem abwehrend knurrenden Tier gut zu, während sie ihre Hand ganz langsam zurückzog. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich bin hier, um dir zu helfen."
Der Hund schien ihre sanften Worte tatsächlich zu verstehen, vielleicht reagierte er auch nur auf ihren ruhigen Tonfall; das Knurren wurde jedenfalls leiser und er gab ihre Hand frei.
Sarah blickte auf das Blut, das an ihren Fingern herablief und warf ihm dann einen strafenden Blick zu. „Na Klasse, Kumpel, jetzt sind wir schon zwei Verletzte!" Aber sie machte keine Anstalten aufzustehen und wegzugehen. Statt dessen begann sie den Hund erneut sanft zu streicheln.
„Weißt du", sprach sie auf das erschöpft daliegende Tier ein, „wenn du mich diesen Splitter da nicht herausziehen lässt, kann ich deine Wunde nicht versorgen. Das heißt, du verlierst weiter Blut. Und so wie du aussiehst, kannst du dir das wirklich nicht erlauben." Sie lächelte leicht. „Du machst den Eindruck, als hätte dich jemand als Punchingball benutzt, Kumpel. Ich schlage also vor, du lässt dir von mir helfen. Und anschließend werde ich mal zusehen, ob ich in meiner Speisekammer nicht noch etwas finde, womit wir wieder etwas Fleisch auf deine Rippen bekommen, einverstanden?"
Der Hund starrte sie misstrauisch an.
Sarah streichelte ihn unbeirrt weiter und schließlich spürte sie, wie die Anspannung aus seinem mageren Körper wich. „Was meinst du, versuchen wir es noch mal?"
Vorsichtig näherte sie sich der Wunde mit der Hand. Der Hund sah sie weiter aus seinen dunklen Augen an, knurrte diesmal aber nicht. Statt dessen begann seine Rute schwach zu wedeln.
„Du bist ja ein ganz Kluger!", lobte Sarah das Tier überschwänglich und strich ihm weiter beruhigend über Kopf und Flanken. „Dann lass mich mal dein Bein sehen!"
Behutsam untersuchte sie die Wunde nochmals. Glücklicherweise steckte das Holzstück nicht allzu tief in der Muskulatur. Sie würde es mit einem kurzen Ruck herausziehen können.
„Ich fürchte, das wird jetztetwas schmerzhaft werden, mein Schöner", murmelte sie dem Hund in ihrem beruhigendsten Tonfall ins Ohr. „Ich wüsste es zu schätzen, wenn du mich nicht noch einmal beißen würdest, okay?"
Der Hund wedelte schwach und sah sie unverwandt an.
Trotz der Duldsamkeit des riesigen Tieres, das nur gelegentlich winselte, ansonsten aber ruhig liegen blieb, dauerte es eine ganze Weile, bis Sarah den großen Splitter entfernt hatte. Zu allem Überfluss war er in der Wunde abgebrochen, so dass sie nochmals zufassen und auch das Reststück entfernen musste. Glücklicherweise hielt sich der Blutverlust in Grenzen. Ihre Hand blutete beinahe genauso stark wie der Lauf des Hundes, aber sie achtete kaum darauf. Sie wickelte ein Taschentuch um die Wunde des Hundes und beobachtete besorgt, wie er sich mühsam aufrappelte. Wenn das verletzte Bein ihn nicht trug, hätte sie keine Möglichkeit, ihn in ihr Cottage zu bringen. Er war schlicht viel zu groß, als dass sie ihn hätte tragen können.
Aber zu ihrer Erleichterung kam das Tier schließlich auf die Füße, tat probeweise ein paar hinkende Schritte und blickte sie dann an, als wollte es fragen, wie es nun weitergehen sollte.
„Ich wohne dort drüben", informierte sie den Hund und deutete auf den schmalen Pfad, der in Richtung Dorf führte. „Es ist nicht weit. Ich denke, du wirst es bis dahin schaffen, wenn wir langsam gehen." Sie setzte sich in Bewegung. Der Hund schien unschlüssig, ob er ihr folgen sollte.
„Hör zu, Kumpel. Deine Wunde muss ordentlich gesäubert werden, wenn du dir nicht eine Infektion holen willst. Und außerdem siehst du aus, als könntest du ein paar ordentliche Mahlzeiten vertragen. Hundefutter kann ich dir zwar nicht anbieten, weil ich keinen Hund habe, aber ich denke, was für mich gut genug ist, wird dir auch nicht schaden. Keine Angst, ich bin kein Joghurt-und-Salat-Typ! Und zufällig steht heute ein saftiges Steak auf dem Speiseplan. Es sei denn, du machst gerade eine Diät!"
Die Erwähnung des Steaks brachte den Hund erwartungsgemäß umgehend an ihre Seite. „Dachte ich mir doch", murmelte Sarah und beschloss in Gedanken, seine Portion zu verdoppeln.
Ein dermaßen intelligenter Hund hatte ein paar Extrakalorien verdient.
