5. Hundstage
„Großer Gott, ich glaube ich drehe noch durch!" Sarah warf das Laken zurück, das sie während der ungewöhnlich heißen Sommertage als Decke benutzte und schwang die Beine aus dem Bett. Wenn diese irren Träume nicht bald aufhörten, würde sie sich wohl selbst in einer Nervenklinik einweisen lassen müssen. Seit sie vor einigen Stunden die Augen geschlossen hatte, wurde sie von Bildern über Tod und Zerstörung heimgesucht, von einem unheimlichen Umhangträger mit rot glühenden Augen und einer hohen, eisigen Stimme. Und jedes Mal endete der Traum damit, dass er jemanden tötete. Die Gesichter der sterbenden Menschen waren ihr völlig fremd, aber dennoch hatte sie das merkwürdige Gefühl, dass sie etwas für sie bedeuteten. Warum sonst sollte es sie so traurig machen, dass sie am liebsten laut geschrieen hätte? Warum sonst war ihr Kopfkissen nassgeweint?
Und wenn sie nicht gerade von diesem Kerl träumte – Voldemort, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, wo war der Name nur auf einmal hergekommen? – dann hatte sie diesen anderen – ebenso verrückten – Traum.
Ein alter Mann mit langem weißem Haar und Bart, der sie aus freundlichen blauen Augen ansah und sie beschwor, nach London zu kommen. Weil sie ihrer Bestimmung folgen müsse. Sogar eine Adresse hatte sich in ihrem Kopf eingenistet, war das nicht absolut unglaublich? Grimauld-Place. Grimauld-Place Nummer zwölf. Völlig abgefahren.
Im Bett hielt sie jedenfalls nichts mehr!
Ihr Fuß traf auf etwas Weiches, Haariges, was sich prompt bewegte und auf seine außerordentlich langen Beine sprang.
„Entschuldige, Kumpel", murmelte Sarah, nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du vor meinem Bett liegst. Muss wohl daran liegen, dass ich dich ursprünglich in der Küche einquartiert hatte, was meinst du?"
Der Hund blickte sie aus seinen glänzenden, dunklen Augen an. Wenn es nicht völlig unmöglich gewesen wäre, hätte Sarah geschworen, dass er verschmitzt grinste.
„Ich nehme an, du hast gegen einen kleinen Mitternachtssnack nichts einzuwenden, oder?", fragte sie ihn, während sie zur offenen Tür ging. Hatte sie sie gestern Abend nicht geschlossen? „Außerdem ist wohl eine Krisensitzung angesagt. Wenn ich mit dir schon mein Schlafzimmer teile, sollten wir uns wenigstens darüber einig werden, wie ich dich nennen kann. Typen, von denen ich nicht mal den Namen weiß, haben in meinem Schlafzimmer nämlich nichts zu suchen, verstehst du?"
Er wedelte begeistert mit der Rute.
„Männer!" Sarah schüttelte grinsend den Kopf und öffnete die Badezimmertür. „Du kannst unten in der Küche auf mich warten, mein Freund", teilte sie dem Hund mit. „Bevor ich eine Zufallsbekanntschaft wie dich mit ins Bad nehme, müssen schon noch ein paar Verabredungen fallen, klar?"
Mit hängendem Kopf und ebenfalls hängender Rute schlich der Hund die Treppe ins Erdgeschoss hinab.
Beinahe hätte Sarah laut gelacht.
Im Bad spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr bleiches Antlitz im Spiegel über dem Waschbecken. Wenn die Augenringe noch dunkler wurden, würde sie beim Verlassen des Hauses aufpassen müssen, dass ihre Nachbarn sie nicht versehentlich für einen Waschbären hielten und auf sie schossen! Sie war entsetzlich müde. In der vergangenen Nacht hatte sie vom Tod ihrer Eltern geträumt und danach keinen Schlaf mehr gefunden. Und in dieser Nacht beherrschten blutige Bilder ihre Gedanken, sie träumte von einem mordgierigen Monster – Voldemort, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf wieder – oder von jemandem, der sie unbedingt in London sehen wollte. So etwas konnte doch unmöglich normal sein!
Wieder kam ihr diese Adresse in den Kopf; Grimauld-Place Nummer zwölf. Vielleicht sollte sie einfach herausfinden, ob es in London einen Grimauld-Place gab! Wenn nicht, dann hatte sie hier den besten Beweis, dass es wirklich nur ein Traum gewesen war.
Und wenn doch...
Natürlich war es nur ein Traum, rief sie sich selbst zur Ordnung. Sie war einfach nur überreizt. Zu wenig Schlaf, die Hitze... Jeder träumt mal dummes Zeug!
Trotzdem zog sie das Telefonbuch aus der Schublade und suchte sich die Nummer von der Auskunft heraus. Sie wählte, klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Wange, und gab die Reste des Abendessens in eine Schüssel, die sie dem Hund hinstellte. Sein Appetit war seiner Körpergröße durchaus angemessen.
„Ja hallo, ich benötige eine Auskunft", sprach sie in den Hörer. „Könnten Sie für mich bitte nachsehen, ob es in London einen Grimauld-Place gibt? Ich würde gern wissen, wer im Haus Nummer zwölf wohnt!"
Im Nachhinein wunderte Sarah sich, dass sie das Chaos überlebt hatte. Kaum hatte sie die Adresse durchgegeben, hatte der Hund das Interesse an seiner Futterschüssel vollständig verloren. Er war so schnell zu ihr herumgewirbelt, dass er mit dem Küchentisch zusammengestoßen war. Mit dem Küchentisch, auf dem sie das schmutzige Geschirr des letzen Abendessens stehen gelassen hatte. Der Abwasch hatte sich nun natürlich erledigt – und zwar endgültig. Und nicht genug damit, war er plötzlich mit einer solchen Begeisterung an ihr hochgesprungen, dass sie den Halt verloren hatte. Unsanft war sie auf dem Hinterteil gelandet, zwischen zerbrochenem Geschirr und Essensresten, das schnurlose Telefon war durch die Küche gesegelt, unsanft mit dem Herd kollidiert und zerbrochen. Und inmitten all dieser Verwüstungen sprang der Hund wie besessen auf und ab und bellte wie irre.
