9. Padfood
In der Küche bemühte sich Sarah, unter primitivsten Bedingungen ein Frühstück zuzubereiten. Großer Gott, sie lebten im dritten Jahrtausend, aber hier in diesem Haus, gab es nicht einmal elektrischen Strom! Der riesige Herd war mindestens einhundert Jahre alt und musste mit Holz und Kohle befeuert werden, was das Teekochen und das Braten von Eiern und Speck zu einer echten Herausforderung machte. Natürlich gab es auch keinen Toaster, wie denn auch ohne Strom, so dass sie die Brotscheiben ebenfalls auf der heißen Herdplatte rösten musste. Im Normalfall hätte sie es an einem Hochsommertag vermieden, auch nur in die Nähe eines solchen Ungetüms zu kommen, aber was war in den letzten Tagen schon normal gewesen?
Sie hörte das Wasser im Badezimmer nebenan rauschen, gut, ihr unfreiwilliger Gastgeber war also noch eine Weile beschäftigt. Etwas Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Danke, lieber Gott, für kleine Gefälligkeiten.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie hier eigentlich hereingeraten war. In nur drei Tagen war ihr Leben vollständig aus den Fugen geraten. Sie hatte jetzt einen riesigen schwarzen Hund unbestimmbarer Rasse, der während eines heftigen Gewitters einfach in einem Steinkreis aufgetaucht war und so ziemlich das ungewöhnlichste Exemplar seiner Gattung zu sein schien, das man sich vorstellen konnte, wirre, beunruhigende Träume, in denen es um einen finsteren Kerl namens Voldemort ging, welcher offenbar so etwas wie ein blutrünstiger Irrer mit übernatürlichen Fähigkeiten war, der nach der Weltherrschaft strebte, und außerdem stand sie hier in einer fremden Küche, die man nettestenfalls als äußerst rustikal bezeichnen konnte, und bereitete das Frühstück für jemandem zu, der sich, so unglaublich das auch klang, bei Vollmond in einen Werwolf verwandelte.
Oh Gott, sie brauchte dringend eine Therapie.
Sie schloss die Augen, atmete mehrmals tief durch und beschloss, falls jetzt noch ein Raumschiff auf dem Rasen vor dem Haus landen würde, aus dem kleine grüne Männchen stiegen, die zu ihrem Anführer gebracht werden wollten, auf dem kürzesten Weg zum nächsten Psychiater zu rennen.
Zur Sicherheit warf sie einen prüfenden Blick aus dem Küchenfenster. Eine Bewegung unweit des Hauses erregte ihre Aufmerksamkeit. Oh nein, auch das noch! Die zwei Kerle von gestern Nacht schienen direkt vor dem Gartentor Stellung bezogen zu haben. Offenbar hatten sie zwar nicht die Absicht, das Grundstück zu betreten, was vermutlich daran lag, dass Black draußen vor der Tür Stellung bezogen hatte, aber ebenso offensichtlich würden sie auch nicht einfach so verschwinden. Beide hatten ihre Gewehre geschultert und starrten mit steinernem Gesichtsausdruck zum Haus herüber; Biff und Bluff auf dem Kriegspfad, na Klasse.
Vielleicht wären die Außerirdischen ja doch die bessere Alternative gewesen.
„Remus Lupin."
Sarah, die noch immer aus dem Fenster starrte, war nicht darauf gefasst gewesen, dass jemand sie ansprechen könnte. Und nach der dritten fast schlaflosen Nacht in Folge war ihr Nervenkostüm an den Nähten schon leicht ausgefranst. Sie wirbelte erschrocken herum, das Tablett, welches sie gerade zum Tisch hinüber tragen wollte, geriet prompt ins Rutschen...
...ihr Gegenüber riss im Reflex seinen Zauberstab hoch: „Wingardium Leviosa!" – und das Tablett stoppte mitten im Fall und schwebte etwa einen halben Meter über dem gefliesten Küchenfußboden. „Das ist mein Name", erklärte er, während er es mit einer leichten Bewegung seines Zauberstabes wieder auf seine ursprüngliche Höhe anhob. „Remus Lupin."
Aha. Sarah schlug eine glorreiche Schlacht gegen ihre sich verselbständigende Gesichtsmuskulatur und schaffte es schließlich, ihren Unterkiefer wieder hochzuklappen und den Blick von dem schwebenden Tablett loszureißen, auf dem nicht mal der Tee verschüttet worden war. „F-freut mi-mich, Sie ke-kennenzulernen", stammelte sie.
Das Kaninchenloch wurde von Sekunde zu Sekunde tiefer.
„Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht erschrecken." Remus Lupin ließ das Tablett mit einem Wink seines Zauberstabes zum Tisch herüberschweben und setzte es dort sanft ab.
Sarah – ihre gute Erziehung war manchmal tatsächlich etwas unangebracht – wollte ihm gerade höflich versichern, dass er das nicht getan hätte, als sie sich der puren Unsinnigkeit einer solchen Behauptung bewusst wurde. Also schloss sie den Mund einfach wieder und nickte nur stumm.
Sie fühlte sich etwas desorientiert – Blödsinn, sie war völlig durch den Wind – und so war sie ihm aufrichtig dankbar, dass er ihr den Stuhl zurechtrückte. Ihre Beine fühlten sich nämlich an wie Wackelpudding. Ebenso dankbar war sie, dass er das Eingießen des Tees übernahm – und natürlich auch dafür, dass er es auf herkömmliche Weise tat – , sie selbst hätte wahrscheinlich den gesamten Tisch damit gebadet, wenn sie es versucht hätte.
„Sie wollten mir erzählen, was letzte Nacht vorgefallen ist", erinnerte er sie mit ruhiger Stimme an ihr Versprechen.
Oh ja, sicher. Falls sie auch nur ein Wort herausbekam... Sie räusperte sich. Einmal. Zweimal. Dann ging es, auch wenn ihre Stimme verdächtig kiekste. „Wie schon gesagt, hat man auf Sie geschossen. Das Projektil steckte in Ihrer linken Schulter. Ich... ich habe es entfernt, gleich nachdem Sie sich... äh... zurückverwandelt haben."
„Sie haben es entfernt..." Da war es wieder, das Papageiensyndrom.
„Ich... Naja, es schien irgendwie mit ihrer Wunde zu reagieren. So als wollte es sich immer tiefer hineinbrennen, verstehen Sie. Es bildeten sich Brandblasen... und Ihre Haut... sie wurde an den Wundrändern richtig schwarz... Und die Wund hörte einfach nicht auf zu bluten..."
„Silber", murmelte er tonlos. Da meinte es offenbar jemand ernst.
„Wie bitte?"
„Die Kugel muss aus Silber gewesen sein", erklärte er ruhig. „Die einzige Möglichkeit, einen Werwolf zu töten."
„Oh." Was sollte man darauf antworten?
„Sie haben mir also das Leben gerettet."
„Das wahrscheinlich nicht gerade..."
„Glauben Sie mir, Sarah. Wenn Sie die Kugel nicht entfernt hätten, hätte sie sich langsam aber sicher durch meinen Körper gebrannt, bis sie mich schließlich getötet hätte."
„Ich glaube nicht, dass es dazu gekommen wäre. Wenn ich die Kugel nicht entfernt hätte, hätte Black es getan. Notfalls hätte er Ihnen die Schulter abgebissen."
„Black?" Remus starrte sie mit bleichem Gesicht an. Sein Herz versuchte plötzlich, sich mit einem Vorschlaghammer durch sein Brustbein zu arbeiten. „Wer ist Black?"
„Mein Hund." Sarah deutete zum Fenster. „Er hat Ihnen in der letzten Nacht das Leben gerettet, weil er Biff und Bluff da draußen daran gehindert hat, noch ein zweites Mal auf Sie zu schießen."
Remus drehte sich zum Küchenfenster um und erblickte die lieben Nachbarn mit ihrem Waffenarsenal vor der Gartentür. „Sie scheinen es ja wirklich ernst zu meinen", murmelte er.
„Das tun sie bestimmt", bestätigte Sarah leise. „Wenn Sie nicht freiwillig von hier weggehen, werden sie Sie wahrscheinlich töten."
„Und Sie vermutlich auch." Er drehte sich um und sah sie an. Jetzt fiel ihm wieder ein, was sie im Schlafzimmer erzählt hatte.
Sarah sagte nichts dazu.
„Warum haben Sie mir geholfen, Sarah?", wollte er wissen.
„Das war keine bewusste Entscheidung", erklärte sie leise und sah auf ihre Hände herab. „Ich sah, wie diese Männer Sie – das heißt den Werwolf – jagten. Einer hatte Sie – ihn - bereits verwundet. Und der andere legte jetzt auch an... Und Black... Er warf den Mann mit der Waffe um und stürzte sich dann auf den anderen... Der schlug mit dem Gewehrkolben zu, und Black ging jaulend zu Boden... Und ich war zu weit weg, um ihm helfen zu können. Aber Sie... nun ja,der Werwolf war da. Er hat den Mann daran gehindert, ihn zu töten... Dann verschwanden Sie und Black im Unterholz... Und ich bin Ihnen gefolgt. Bis hierher. Als ich ankam, hatte Ihre Verwandlung gerade eingesetzt. Und Black... Er versuchte, Ihnen diese verdammte Kugel aus der Schulter zu nagen..." Sie zuckte die Achseln. Um etwas zu tun zu haben, begann sie das Geschirr wieder auf dem Tablett anzuordnen.
Bevor sie jedoch danach greifen konnte, erhob es sich vom Tisch und schwebte langsam in Richtung Spülstein davon. Wieder klappte ihr der Unterkiefer herunter.
Vielleicht hätte der Mann, der noch immer am Fenster stand, über ihre offenkundige Fassungslosigkeit ja gelächelt, wenn nicht in diesem Moment ein riesiger schwarzer Hund durch die Küchentür gekommen wäre.
Remus erstarrte, seine Augen weiteten sich ungläubig. „Padfood", flüsterte er mit tonloser Stimme.
Das Tablett krachte geräuschvoll zu Boden.
