Chapter 2

Musik beim Schreiben: The Rasmus – Guilty, Within Tamptation – Stand my Ground

Grau.
Alles grau in grau. Heute scheint die Sonne nicht mehr in meinen Garten vor dem Fenster. Ein Unwetter zieht heran, es kündigt sich durch fernes Grollen an. Ich sehe aus dem Fenster und der Regen prasselt hart in langen Schnüren auf den Boden. Dort verschwindet er zwischen den Pflanzen. Diese lassen durch den ständigen wuchtigen Aufprall bereits ihre Blätter hängen und neigen sich zur Erde.

Ich kann mit ihnen fühlen... Ich sitze auf der Fensterbank und starre wieder hinaus. Seit Wochen meine Standartbeschäftigung, wenn ich nicht gerade in Gesprächen mit irgendwelchen Psychologen sitze oder ich dem behandelndem Arzt erzählen muss, welche Fortschritte ich bereits gemacht hätte. Dauernd bekomme ich ein anderes Medikament und muss ihm lang und breit erklären, ob ich mich besser fühle als vorher oder nicht. Ich wehre mich nicht, ich habe es aufgegeben. Einzig und allein die Hoffnung, hier schnell wieder raus zu kommen, wenn ich brav mitspiele, treibt mich voran. Ich habe keine Kraft mehr.

Mich richtig frei bewegen kann ich auch nicht mehr – nicht, dass ich das jemals gekonnt hätte, seit ich hier bin – aber nun bin ich noch angekettet... Eine Nadel steckt in der Vene meines linken Arms, wenn auch gut verbunden, daran eine dünne Plastikleitung die zu einem Ständer führt an dem so ein Fläschchen hängt. Alle paar Stunden kommt jemand um die leere gegen eine Neue auszutauschen. Ich glaube, es soll ein intensives Antidepressiva sein.
Sogar mitten in der Nacht platzen sie rein um es zu wechseln. Nicht dass ich wirklich tief schlafen würde... Aber irgendwoher muss das Gehirn ja die Kraft für den nächsten Tag tanken, wobei ich mich sowieso frage, wo ich die dauernd her nehme.

Niemand kommt mich besuchen. Nicht mal Großvater.
Ich verwerfe den Gedanken schnell wieder. Will von den anderen nichts wissen. Ich möchte mich nicht auch noch selbst bemitleiden! Ich wende mich vom Fenster ab, sehe auf das weiße Telefon. Könnte sie anrufen. Könnte. Aber ich will nur einen sprechen....

Es klopft an meiner Zimmertür. Welchen Termin habe ich jetzt wieder vergessen..? „Ja!", rufe ich nur kurz, fasse mich dann schnell, um der Junge zu sein, der seine Therapie wichtig nimmt und eingesehen hat, dass er krank ist...

Eine der bekannten Schwestern tritt herein. „Yugi? Kommst du bitte mit zum Essen? Wir haben halb eins." Ihre Stimmt klingt freundlich, sie kommt lächelnd auf mich zu. Wie kann man nur so falsch sein? Sie denkt doch in Wirklichkeit ganz anders über mich. Vielleicht bin ich ihr egal? Oder sie hält mich für einen durchgedrehten Irren? Wie alle tut sie, als seie alles in Ordnung – weil es ihr Beruf ist. Ihre privaten Gedanken über mich – und all die anderen Patienten – verstellt sie, tut so, als würde sie mich mögen.

Und überhaupt... Warum setzten alle Leute in dieser Psychiatrie so viel daran, dass ich wieder.. gesund... werde..? Sie kennen mich weder persönlich, noch bin ich ihnen wichtig. Ich meine.. was würde es mich stören, wenn ich hören würde, am anderem Ende der Welt ist jemand nicht ganz dicht? Für eine Sekunde meines Lebens täte er mir leid und man denkt: Armer Irrer. Doch dann? Dann geht jeder seinem Alltag nach und diese Person ist vergessen. Das ganze Personal hier denkt doch genau so über uns als Patienten.. Nur die Kranken selbst sollen sich so fühlen, als wären sie wichtig..

Ich lächele genauso falsch zurück und erhebe mich von der Fensterbank. Es musste schon immer jemand kommen, der mich abholt und mit in den Speisesaal führt. Von alleine bin ich noch nie zum Essen gegangen. Entweder, weil ich sowieso nie Hunger habe oder weil ich es einfach der Unwichtigkeitswegen vergessen habe.

Ich bin erleichtert, als ich einen anderen Jungen, mit etwas längeren silbernen Haaren, den ich hier auf Station kennen gelernt habe, bereits an einem der Tische sitzen sehe. Mit ihm verstehe ich mich wenigstens ein bisschen hier...

Er winkt mir leicht erfreut zu und ich setze mich wie schon so oft zu ihm. Die Küchenschwester stellt mir gerade den Teller vor die Nase: Reis mit Sojabohnen. Zu meiner Enttäuschung sitzt mein Nachbar wohl schön länger hier, sein Teller ist beinahe leer. Ich nehme die Stäbchen zur Hand, rühre mein Mittagessen aber nicht an. „Was ist? Magst du es nicht?", seine nussbraunen Augen mustern mich sanft. Mein Blick hebt sich nicht von dem Teller vor meiner Nase. Ich weiß nicht mal, ob er recht hat oder nicht... Irgendwie schmeckt hier alles gleich, bzw. gar nicht...

Seufzend beginne ich nun doch zu essen – irgendwie muss es ja weiter gehen. Wenn ich hier raus will, muss ich mich halt überall anpassen. Ich mache ein paar weitere Bissen und muss schließlich, als ich endlich mal von meinem Teller aufsehe feststellen, dass Ryou immer noch da ist. Sein Teller wurde bereits abgeräumt, doch er ist noch hier..? Er könnte doch gehen? Wobei, wer geht schon gern wieder zurück in seine... Zelle..? Ich war ein paar mal bei ihm im Zimmer, es liegt im ersten Stock – ich wohne ja Parterre – es ist noch etwas kleiner als meins.

„Worauf wartest du?" Meine Stimme klingt heiser und ist auch nicht mehr so laut wie früher. Ich spreche nicht extra leise, aber ich spüre, wie auch meine Stimme an Kraft verloren hat. „Auf dich, Yugi." Diese Antwort überrascht mich nun doch. Wir sind doch nicht wirklich befreundet, ich habe bloß ein paar mal mit ihm geredet... Und doch...

Ryou ist aus ähnlichen Gründen hier wie ich. Es war doch sehr erstaunlich für mich zu erfahren, dass ich nicht der einzige bin, der antike, ägyptische Persönlichkeiten trifft.. Er hat mir zumindest eine Geschichte erzählt, die meiner wirklich erschreckend ähnelt. Fast der einzige Unterschied ist, dass es bei ihm kein Sennen-Puzzle ist, sondern ein Ring sein soll. Und sein Spiegelbild ist Grabräuber.

Ich habe ihn aber nie gesehen, ein Pfleger, ich glaube sogar laut Ryous Beschreibung war es dieser unfreundliche, mit den stechend blauen Augen, der auch schon ein paar mal bei mir war, hat ihm die Kette weggenommen.

Also hätte mir mein Großvater Atemu nicht vorher schon weggenommen, hätte ich ihn wohl hier verloren.... Aber nicht für immer!

„Warum wartest du? Ich brauche bestimmt noch länger zum Essen..." Ich will ihn nicht weg schicken. Seine Anwesenheit stört nicht. Aber sie ist irgendwie unangenehm. Zu wissen, da wartet jemand, bis man aufgegessen hat, übt Druck aus.. Man will die Person ja nicht ewig warten lassen... Außerdem wollte ich eigentlich alleine sein. Wobei... ein bisschen Gesellschaft von einem Gleichgesinnten hilft mir vielleicht, das alles besser zu ertragen. Ryou ist mit seiner Therapie schon weiter als ich.. Er war schon länger vor mir da. Vielleicht kann er mir helfen, dass wir beide bald hier raus kommen.

„Naja wir haben doch jetzt alle erst mal 2 Stunden Mittagsruhe. Ich dachte, wir könnten sie vielleicht zusammen verbringen? Aber wenn du nicht möchtest, dann ist auch nicht schlimm." Der Silberhaarige schiebt seinen Stuhl nach hinten und will aufstehen. „Nein, nein! Schon gut, bitte bleib! Ich habe nichts vor...", murmele ich in mich hinein und beeile mich sogar etwas, den Teller zu leeren.

Schließlich verlassen wir den Speisesaal und laufen den Gang entlang Richtung meines Zimmers. Das liegt immerhin am nächsten. Es tut gut, nicht ganz alleine zu sein... Ryou ist eine angenehme Persönlichkeit.

Doch als wir in den Gang einbiegen, in dem mein Zimmer liegt, erwartet mich eine Überraschung. Ich bleibe paralysiert stehen und überlege, ob ich diese positiv oder negativ deuten soll. Meine Hand umklammert den Tropf neben mir, den ich immer mit mir rumschleppe, fester.
Verwirrt bleibt Ryou ein paar Schritte vor mir stehen: „Was ist, Yugi? Kennst du die?" „Ähm.. ja... sozusagen..", bringe ich nur knapp hervor und mein Körper verkrampft sich.

In diesem Moment scheint uns auch das Mädchen vor meiner Zimmertür zu bemerken und dreht sich zu uns. „Yugi!", schreit sie und rennt auf mich zu. Ich schlucke, zittere innerlich und weiß absolut nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Ehe ich zu einem Ergebnis kommen kann, schmeißt sie sich auch schon um meinen Hals und drückt mich fest an sich. Ihre langen, braunen Haare wirbeln umher. „Shi....zuka...", hauche ich gequält.

Ihr pinkfarbener, nasser Regenschirm tropft auf meine Hausschuhe und kurz darauf sind auch meine Socken darunter feucht. Ich vergaß das Unwetter draußen...

Ich drücke sie von mir weg und sehe sie auffordernd an. Doch das scheint sie in ihrer aufgebrausten Stimmung gar nicht richtig zu realisieren. Mir ist ihr Besuch nicht recht... All die Wochen ist keiner gekommen – also warum auf einmal?

„Oh Gott Yugi... Wie siehst du aus? Wie geht es dir??" Sie scheint ernsthaft besorgt. Auf mein Inneres hörend, schlucke ich meinen Argwohn herunter und lächele sie an. Ausnahmsweise ein echtes Lächeln. „Nicht hier.. lass uns zu mir rein gehen, ja? Ryou, kommst du mit?" In meiner Hosentasche suche ich nach dem Zimmerschlüssel und Shizuka greift zeitgleich nach dem Tropf und schiebt ihn für mich. Sie wirkt entsetzt über meinen äußerlichen Zustand. Ein Glück kann sie nicht noch in mich hinein sehen... Was hatte sie bitte für eine Vorstellung, was sie hier mit mir machen?
Kuchen essen und Partys feiern..?

Ich schließe auf und wir betreten mein Zimmer. Shizuka sieht sich ungläubig um, während Ryou sich zielstrebig auf den Stuhl an dem kleinen Tisch vor dem Fenster setzt. So haben wir ab und zu miteinander geredet: Er dort auf dem Stuhl und ich unmittelbar hinter ihm auf meinem Stammplatz, der Fensterbank. Dabei fällt mir auf, dass ich meine Tabletten für heute Mittag noch nicht genommen habe. Ich hole mein Glas vom Bett und gieße mir einen Schluck Wasser ein. Staunend beobachtet Shizuka mich, wie ich beiläufig zwei Pillen mit herunterschlucke. Tja, nun nehme ich das Zeug tatsächlich ein... und immer noch scheinen meine Freunde nicht zufrieden...

„Und.... warum bist du gekommen..?", breche ich schließlich die Stille. „Naja...", sie druckst ein wenig rum, bis sie schließlich mit der Sprache rausrückt, „ich wollte dir etwas geben... Jonouchi schickt mich...." „So...?" Lässig fahre ich mir mit der rechten Hand durch meinen blonden Pony und shoppe dabei die störenden Strähnen zur Seite. Was wollen die zwei mir wohl schenken..? Kann ja nichts besonderes sein... Shizuka greift kurz in ihre blaue Umhängetasche und zum Vorschein kommt-

Oh mein Gott... Das.... das.... ich träume!! Das kann nicht wahr sein!! Ich spüre, wie mein Herz sich überschlägt und meine Atmung aussetzt. Jeder Muskel meines Körpers spannt sich an.

Sie trägt mein Sennen-Puzzle auf ihrer beiden Handflächen und streckt es mir entgegen. „Ich hoffe, wir machen keinen Fehler..."

Meine Hände werden kalt, eiskalt und taub. Ich kann einfach nicht danach greifen!
Atemu... Oh Himmel... Ich glaube es nicht... „Yugi.. Alles in Ordnung?" Doch ihre Worte erreichen mich nicht. Ich strecke meine Hände aus, doch sie zittern wie verrückt. Endlich spüren meine Finger das kalte Metall der Kette. Ich zucke leicht zurück.
Ich schüttele intuitiv den Kopf und starte einen zweiten Versuch. Diesmal erschrecke ich selbst über mich, wie ich ihr schon beinahe aggressiv das Puzzle aus der Hand reiße und es fest umklammere. Ich presse es an mein Herz. „Atemu....."

Während ich es mir stürmisch um den Hals hänge und versuche, zu der antiken Seele Kontakt aufzunehmen, höre ich beiläufig, wie Ryou mit Shizuka spricht.

„Wieso... bringst du es ihm so einfach..?" Das braunhaarige Mädchen kommt auf ihn zu, stellt sich vor ihn. „Also....ich.. ähm... wir..." Sie bricht ab. „Vielleicht sagst du mir erst mal, wer du bist?" „Achso. Ja klar! Ich bin Shizuka Kawai. Die Schwester von Yugis besten Freund Jonouchi... Wir....", sie stoppt kurz, „haben durch Zufall mitbekommen, dass Yugis Großvater sein Puzzle hier...", sie deutet auf die Kette an meinem Hals, „verkaufen möchte..."

Ryou zieht nur scharf die Luft ein und ich will eigentlich gerade darauf protestvoll eingehen, als ich schmerzhaft feststellen muss, dass der Geist des Puzzles mir nicht antwortet – und ich seine Anwesenheit noch nicht mal spüren kann!
Panisch versuche ich es noch einmal.

„Sugoroku wollte es so schnell wie möglich los werden, Yugi... Um den Spuk für immer zu beenden und die Möglichkeit, dass du rückfällig werden würdest, auszuschließen. Jonouchi und ich haben lange nachgedacht... Und sind zu dem Entschluss gekommen, dass es dir das Herz brechen würde. Dir ist der Anhänger doch so wichtig... Und wir denken nicht, dass er deinen Heilungsprozess stören würde... Wir dachten, dich würde es freuen und neue Kraft geben.."

Verzweifelt starren meine leeren Augen auf das Puzzle. Er- er ist weg!
Oh nein... das.. das ist unmöglich!! Atemu!
Oh bitte.
Panik durchströmt mich – was haben sie mir dir gemacht??

Ruhig Yugi... Wenn du jetzt die Kontrolle verlierst nimmt Shizuka das Puzzle wieder mit... und ich komme hier nie raus! Ich zwinge mich ein und aus zu atmen und ringe um Fassung. Alles wird sich aufklären, ganz sicher!

„Shizuka......" „Jaa?", ängstlich wendet sie sich an mich, starrt mich mit großen Augen an. „Was... was habt ihr – oder mein Großvater – mit dem Puzzle getan?" „Wie bitte..?", verständnislos sehen ihre grün-braunen Augen mich an, „was sollen wir damit gemacht haben? Nichts! Es lag all die Wochen bei deinem Großvater am Nachttisch... Dort hat Jonouchi es... heute morgen, als dein Großvater den Laden eröffnet hat.... mitgehen lassen. Er meinte, er müsse sich etwas, was du dir mal vor langer Zeit bei ihm geliehen hast jetzt dringend zurück holen – und Sugoroku ließ meinen Bruder unbeachtet ins Haus..."

Ich schlucke, versuche weiterhin wie immer zu wirken. Irgendwie rührt es mich, dass ich meinen Freunden anscheinend doch noch wichtig bin.
Also es hat wirklich niemand das Puzzle manipuliert...? Aber das ist doch unmöglich! Wie kann er dann verschwinden.
Mein Herz tut so weh... Diese Enttäuschung ist so bitter... Doch ich breche nicht zusammen, bleibe stark.
Denn irgendwie bin ich davon überzeugt, dass Atemu doch da ist.. Vielleicht kommt er ja nachher, wenn wir alleine sind.
„Was stimmt denn nicht?", vergewissert sich Shizuka. „Ich... ich... Atemu.... fehlt..." Unfähig ganze Sätze zu sprechen, starre ich hilflos auf meine goldene Pyramide.

„Der Geist darin ist verschwunden..?", wiederholt Shizuka und ich nicke nur.

Sie kommt lächelnd auf mich zu, steht genau vor mir und ehe ich auch nur Ansatzweise verstehe, was das alles hier soll – und ob es nicht nur ein böser Traum ist – drückt sie mir ein kleines Küsschen auf die Wange. „Das erste Zeichen, dass du geheilt wirst, Yugi" Ihre Augen sehen mich klar und voller Freude an.