Das Foto
Kapitel 2: Wir müssen ihn finden„Leo!", rief Piper wieder mit einer zitternden Stimme. Sie konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Was sie gerade getan hatte. Chris lag noch immer neben ihr in einer Lacke aus Blut, das jetzt auch aus seinem Mund floss. Piper wusste, dass er im Sterben lag und dass es allein ihre Schuld war. Sie hatte ihn explodieren lassen. Sie hatte ihren eigenen Sohn gesprengt! Aber sie würde ihn nicht einfach so sterben lassen.
„Leo! Bitte! Dein Sohn braucht dich!", rief sie verzweifelt. Endlich erschien Leo an ihrer Seite mit einem besorgten Gesichtsausdruck.
„Was ist mit Wyatt?", fragte er sofort, bevor er bemerkte, dass Wyatt nicht einmal da war. „Wo ist er?", fügte er alarmiert hinzu.
„Er ist bei Sheila. Du musst Chris heilen", antwortete Piper ungeduldig und rutschte etwas zur Seite, so dass Leo ihren Sohn heilen konnte.
Mit offensichtlichem Zögern, kniete sich Leo neben die beiden und hielt seine Hände über Chris' Wunde. Während das goldene Leuchten einsetzte, drehte er sich wieder zu Piper um. „Warum hast du gesagt, dass Wyatt mich braucht?"
„Wieso dauert das so lange?", fragte Piper anstatt zu antworten, während sie ihren Sohn voller Angst anstarrte.
„Er hat eine Menge Blut verloren", antwortete Leo. „Was ist passiert?"
Wieder ignorierte Piper Leos Frage. Sie konnte nicht antworten. Die Schuld war zu groß. Wieso hatte sie es nicht früher erkannt, dass Chris ihr Sohn war? Wenn sie sich die Zeit genommen hätte ihn anzusehen – ihn wirklich anzusehen, dann hätte sie es gemerkt. Er hatte dieselben wundervollen grünen Augen wie Leo. Und er war fest entschlossen Wyatt zu retten. Jetzt verstand sie endlich wieso Chris aus der Zukunft zu ihnen gekommen war. Sie hatte sich immer gefragt, weshalb nicht ein Mitglied der Familie zurückgekommen war. Und die ganze Zeit über war es doch so gewesen.
„Piper?", fragte Leo besorgt, als er den angsterfüllten und schmerzvollen Blick sah, mit dem sie Chris ansah. Er bemerkte auch, dass sie seine Hand festhielt und nicht los zu lassen wollen schien. Bevor er seiner Ex-Frau noch mehr Fragen stellen konnte, schloss sich Chris' Wunde und er setzte sich langsam auf.
„Chris...", sagte Piper unsicher, aber auch sehr erleichtert.
Chris drehte sich zu ihr um und versuchte die Tränen zurückzuhalten, die drohten zu fallen. Er wusste, dass Piper nun endlich über ihn Bescheid zu wissen schien, sonst würde er jetzt mit Sicherheit nicht mehr am Leben sein. Und der Blick den sie ihm zuwarf war auch anders, als der mit dem sie ihn vor ein paar Minuten angesehen hatte. Es war so viel Schmerz und Schuld darin, dass Chris wegschauen musste.
„Chris", wiederholte Piper, während sie wieder anfing leicht zu schluchzen. „Es – es tut mir so leid Liebling."
Leo sah die beiden schockiert an. Was zum Teufel war hier eigentlich los? Wieso nannte Piper Chris mit so einer sanften Stimme Liebling? War es wirklich möglich, dass die beiden zusammen waren? Aber er konnte das einfach nicht glauben. Am Tag zuvor hatte Chris mehr als klar gemacht, dass man ihm nicht trauen konnte. Er hatte Wyatt in ernste Gefahr gebracht. Leo konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Piper mit jemanden zusammen war, der ihrem Sohn wehtun wollte.
Chris starrte einfach nur zu Boden. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Endlich wusste seine Mutter die Wahrheit über ihn, aber das war nicht die Art, wie er es sich vorgestellt hatte, dass es herauskommen würde. Er hatte sich irgendwie gewünscht, dass sie sein Geheimnis herausfinden würde, vor allem in den letzten Wochen, obwohl er auch davor Angst gehabt hatte. Es war so schwer für ihn, wieder in ihrer Nähe zu sein, nachdem sie in seiner Zeit schon seit acht Jahren tot war. Und er wusste, dass wenn er ihr zu nahe kam, konnte er es vielleicht nicht verkraften, wenn sie in der Zukunft wieder weg sein würde.
Piper sah traurig zu, wie sich Tränen in den Augen ihres Sohnes formten. Was für eine Mutter war sie? Sie konnte nicht glauben, was sie ihrem Sohn alles angetan hatte. Nicht nur heute, sondern in den ganzen letzten Monaten. Sie hatte ihn so mies behandelt und am Tag zuvor hatte sie ihm sogar gesagt, dass sie ihn nie wieder sehen wollte. Das musste ihm sehr wehgetan haben und Piper fühlte sich schrecklich, als ihr klar wurde, dass alles was er gewollt hatte war, ihre Familie zu retten. „Chris, bitte sieh mich an", sagte sie und hob zögernd ihre Hand, um seine Wange zu berühren.
Aber Chris zuckte zurück und schaute sie für eine Sekunde an bevor er sprach. „Es tut mir so leid", sagte er. Dann beamte er weg und ließ eine bestürzte Piper und einen sehr verwirrt dreinblickenden Leo zurück.
Piper brach zusammen in dem Moment in dem ihr Sohn den Raum verließ. Sie begann wieder heftig zu weinen und Leo hielt sie fest, als sie sich in seine Arme warf. Er wusste nicht, was zwischen ihr und Chris vorgefallen war, aber er konnte sehen, dass die beiden eine Menge für einander zu empfinden schienen. Es machte Leo wütend, dass Chris ihn dazu überredet hatte ein Ältester zu werden und nun wie es schien, eine Beziehung mit Piper hatte.
„Piper was ist passiert?", fragte er schließlich.
Für ein paar Sekunden, konnte Piper nicht antworten, aber dann sagte sie mit einer schmerzerfüllten Stimme: „Ich hab ihn explodieren lassen."
„Wen? Chris?"
Piper nickte nur und löste sich etwas von ihrem Ex-Mann. „Ich hab ihn beinahe umgebracht, Leo."
Leo konnte nicht anders; er fühlte sich nicht sehr betroffen, als er Pipers Worte hörte. „Na ja, nach allem was er getan hat, denke ich er verdient..."
„Wage es nicht diesen Satz zu beenden!", rief Piper wutentbrannt.
„Piper, er hat uns alle die letzten Monate über manipuliert und..."
Wieder ließ Piper ihn nicht ausreden. „Er hat das alles nur getan, um Wyatt zu retten. Also wage es ja nicht so über ihn zu sprechen!"
Leo war wieder geschockt und verwirrt darüber, dass Piper so viel für Chris zu empfinden schien. Wie war das möglich, wenn sie ihm erst am Tag zuvor gesagt hatte, dass sie ihn nie wieder sehen wollte? Aber dann fiel sein Blick plötzlich auf das Foto, das nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt lag. Neugierig nahm er es in die Hand und genau wie Piper war er überrascht, als er den braunhaarigen Jungen sah.
Piper, die seinen Gesichtsausdruck sah, sagte einfach: „Dreh es um."
Leo schaute sie komisch an, bevor er das Foto umdrehte und der verwirrte Blick in seinen Augen schnell einem von Unglauben und Schock wich. Das konnte einfach nicht wahr sein. Chris war Wyatts Bruder? Sein Sohn? Aber es machte keinen Sinn. All die Dinge, die Chris getan hatte, seitdem er hier aufgetaucht war – es war einfach nicht möglich. Aber dann erinnerte er sich plötzlich an etwas. Es war vor ein paar Wochen gewesen. Leo war Chris überall hin gefolgt, um herauszufinden, was er vorhatte und als Phoebe ihn gerufen hatte, um auf Wyatt aufzupassen, da hatte Chris gesagt: „Sieht so aus, als bräuchte Wyatt einen neuen Babysitter, Dad." Er hatte ihn Dad genannt.
Und noch an demselben Tag hatte Chris gesagt: „Wir sind wieder eine glückliche Familie Leo." Er schluckte hart, als er sich daran erinnerte, was er geantwortet hatte. „Du gehörst aber nicht zur Familie." Als er nun aber auf den kleinen Jungen auf dem Foto sah, wusste er einfach, dass das nicht stimmte. Chris war sein Sohn. Ein heftiges Gefühl von Schuld und Schmerz überkam ihn, als er sich daran erinnerte, wie er Chris zusammengeschlagen hatte, nachdem er aus Valhalla entkommen war. Oder wie er ihm mit einem Schwert gedroht hatte, ihn umzubringen.
Er konnte verstehen, wie Piper sich jetzt gerade fühlte, obwohl er glücklicherweise Chris an jenem Tag nicht verletzt hatte. Aber all die anderen Dinge, die Leo zu ihm gesagt und getan hatte, waren schon genug. Er konnte einfach nicht glauben, was für einen Schmerz sie alle Chris bereitet hatten, obwohl alles was er gewollt hatte war, seine Familie zu retten. Wie sollten sie je in der Lage sein, all diese Dinge wieder gutzumachen? Leo könnte es verstehen, wenn Chris sie für alles was sie ihm angetan hatten, hasste.
„Kannst du ihn spüren?", fragte Piper plötzlich und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
Leo schloss seine Augen und konzentrierte sich. „Nein, ich meine ja. Ich kann ihn spüren, aber ich kann nicht herausfinden, wo er ist", sagte er und öffnete seine Augen wieder.
„Wir müssen ihn finden, Leo", sagte Piper, fest dazu entschlossen die Dinge zwischen ihr und ihrem Sohn richtig zu stellen. Sie musste mit ihm reden; ihm sagen, wie leid ihr alles tat. Leo nickte nur und nahm ihre Hand, um sie zum Dachboden des Halliwell-Hauses zu beamen, wo sie im Buch der Schatten nach einem Weg suchen würden, ihren Sohn zu finden.
In der Zwischenzeit saß Chris alleine auf der Golden Gate Bridge. Er hatte den Kampf gegen seine Tränen gewonnen, aber alles zurückzuhalten, ließ ihn sich nicht gerade besser fühlen. Er hatte seine Tränen schon viel zu lange zurückgehalten. Seit dem Begräbnis seiner Mutter hatte er nicht mehr geweint. Chris erinnerte sich, dass es dieser Tag gewesen war, an dem er angefangen hatte, diese emotionslose Maske auf seinem Gesicht zu tragen. Er wollte niemand mehr an sich herankommen lassen, nachdem er seine ganze Familie, mit Ausnahme seines Vaters und Bruders, verloren hatte. Aber die beiden waren nicht wie eine Familie zu ihm. Sein Bruder hatte nun begonnen die Welt zu zerstören und sein Vater – na ja, es war nicht so, als wäre er jemals für Chris da gewesen. Und selbst nach Pipers Tod und Wyatts öffentlichen bösen Taten, änderte sich nichts daran, dass Leo sich nie um ihn kümmerte.
Chris konnte sich klar an den Tag vor drei Jahren erinnern, an dem Wyatt es geschafft hatte, ihn zu fangen. Und es war ganz allein Leos Schuld gewesen. Selbst als Leo gesehen hatte, dass Wyatt böse war, hatte er ihm noch immer mehr vertraut als Chris. Er hatte Wyatt verraten, wo er ihn finden konnte, weil sein kostbarer erstgeborener Sohn ihm erzählt hatte, dass er nur mit Chris reden wollte. Was darauf gefolgt war, waren Stunden der Folter, in denen Wyatt versuchte hatte Chris dazu zu bringen, sich ihm anzuschließen. Chris hatte, wie es ihm schien, an die hundert Mal nach seinem Vater gerufen. Aber er war nie gekommen. Ob es deshalb war, weil Wyatt ihn nicht zu ihm ließ oder weil Leo sich einfach nicht um ihn kümmerte, war nicht mehr wichtig für Chris. Glücklicherweise hatte Bianca es geschafft ihn zu befreien, bevor Wyatt seine Beherrschung verloren hatte und ihn einfach getötet hätte.
Bianca. Sie war die einzige Person auf die er sich verlassen konnte, seit seinem vierzehnten Geburtstag. Seit dem Tag an dem seine Mutter gestorben war. Am Anfang hatte Chris sich dagegen gewehrt sie an sich heranzulassen, nicht nur weil er nicht emotional werden wollte, sondern auch, weil Bianca eigentlich von Wyatt geschickt worden war, um ihn an die Seite seines Bruder zu bringen. Aber schon bald hatte Chris eingesehen, dass Bianca sich wirklich um ihn kümmerte und er konnte einfach nicht mehr anders, als nachzugeben und sich in sie zu verlieben.
Aber nun war sie tot. Ermordet von seinem eigenen Bruder. Es erschien Chris, als wäre sein ganzes Leben eine einzige Katastrophe. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal wirklich glücklich und sorglos gewesen war. Es schien eine Ewigkeit her zu sein und er konnte nur hoffen, dass er noch immer in der Lage war, die Zukunft zu retten, jetzt da Piper die Wahrheit wusste. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, denn sein Zeugungsdatum war in ein paar Wochen. Und es war ziemlich klar, dass seine Eltern wohl nicht so schnell wieder zusammen finden würden.
Jetzt da er wieder an seine Mutter dachte, drohten die Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte, erneut zu fallen. Chris kämpfte mit allen Mitteln dagegen an, aber er konnte es nicht mehr länger ertragen. Die Erinnerung an Pipers Blick voller Hass und ihre wütende Handbewegung, als sie ihn gesprengt hatte, waren zu viel für ihn. Schließlich brach er zusammen und weinte heftig, während er sich wünschte, dass seine Mutter da wäre, um ihn zu trösten, so wie sie es früher getan hatte, als er ihr kleiner Junge gewesen war.
Fortsetzung folgt…
