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Kapitel 4: Der Rat einer Tante

Ein paar Stunden nach dem Vorfall auf der Brücke waren Piper und Leo nebeneinander gekuschelt in Pipers Zimmer eingeschlafen und Chris beamte sich auf den Dachboden. Er ging hinüber zum Buch der Schatten und begann es durchzublättern. Es war seltsam, aber er fühlte sich immer etwas besser, wenn er das tat. Vielleicht weil es eine Verbindung zu seiner Familie war. Die Familie, die ihn gerade hasste.

Chris seufzte und versuchte sich darauf zu konzentrieren ein paar wichtige Informationen darüber zu finden, wer Wyatt böse machen würde, anstatt über die Unterhaltung nach zu denken, die er mit seinen Eltern auf der Golden Gate Bridge gehabt hatte. Er hatte ihnen so sehr glauben und sich von seiner Mutter trösten lassen wollen, aber er konnte einfach nicht. Sie hassten ihn, das wusste er. Und er musste es akzeptieren.

Plötzlich ging ein sanfter Wind durch den Raum und die Seiten des Buches begannen sich wie von selbst umzublättern. Nach ein paar Sekunden hörte es auf und Chris sah neugierig auf den Spruch, der jetzt vor ihm war. Es war der Spruch, mit dem man einen Geist beschwören konnte. Aber Chris war nicht in der Stimmung jetzt mit irgendjemanden zu reden, also klappte er das Buch zu und wollte wegbeamen, aber das Buch öffnete sich erneut auf derselben Seite. Chris runzelte die Stirn. Wer machte das?

Schließlich gab er nach, nahm ein paar Kerzen, stellte sie auf den Boden und zündete sie an. Dann ging er zurück zu dem Buch und las den Spruch vor.

„Hör die Worte, hör mein Flehen,

musst mich heute wiedersehen.

Überquer die große Schwelle,

kehr zurück an diese Stelle."

Ein weißes Licht begann im Kreis der Kerzen zu scheinen und nachdem es weg war, konnte er eine wunderschöne, schwarzhaarige Frau sehen. Er erkannte sie sofort. In der Vergangenheit hatte er sie oft beschworen, wenn er Probleme mit seinem Bruder gehabt hatte und nicht seine Mutter damit belasten wollte. Aber als Wyatt nach Pipers Tod begonnen hatte die Welt zu beherrschen, war er nicht mehr in der Lage gewesen sie jemals wieder zu sich zu rufen, denn Wyatt hatte sie von ihm ferngehalten.

„Prue?", fragte er, noch immer etwas ungläubig.

„Das heißt Tante Prue für dich, junger Mann", sagte sie lächelnd, während sie aus dem Kreis der Kerzen trat, um einen festen Körper zu bekommen. Dann fügte sie hinzu: „Komm her und gib deiner Lieblingstante eine Umarmung."

Chris zögerte. Aber dann ging Prue zu ihm hinüber und sagte: „Es ist okay, Chris." Er konnte sich nicht länger zurückhalten. Er umarmte seine Tante, als würde sein Leben davon abhängen und riss sie beinahe zu Boden. Es fühlte sich so gut an wieder in der Lage zu sein mit ihr zu sprechen und ein Familienmitglied zu haben, das einen nicht zu hassen schien.

„Gott sei Dank bin ich schon tot, ansonsten würdest du mich gerade ersticken", scherzte Prue.

Chris wich etwas von ihr zurück, aber er wollte sie nicht wirklich loslassen. „Es tut mir leid."

„Das muss es nicht", erwiderte Prue. „Gar nichts muss dir Leid tun."

Chris sah sie unsicher an, als ihm klar wurde worüber sie sprach. „Aber..."

„Kein Aber Chris. Du hast nichts Falsches getan", sagte Prue mit einer Stimme, die kein Aber zuließ. Sie sah zu wie ihr Neffe niedergeschlagen den Kopf nach unten senkte und umarmte ihn wieder. „Es tut mir so Leid was du alles ertragen hast müssen."

„Das muss es nicht", wiederholte Chris ihre Worte mit einem kleinen Lächeln. Es war das erste Mal, das er wirklich lächelte, seit er in diese Zeit gekommen war.

„Komm, setzten wir uns für eine Weile", sagte Prue und ging hinüber zu der alten Couch, die auf dem Dachboden stand. Chris folgte ihr und setzte sich neben sie.

„Wieso bist du hier?", fragte er sie neugierig. „In meiner Zeit durftest du erst in zwei Jahren oder so herunterkommen."

Prue nickte. „Das ist vielleicht wahr. Aber ich wollte meinen Neffen besuchen und es gab nichts, was mich davon abhalten konnte es zu tun."

Chris musste wieder lächeln. Das war es, was er sich gewünscht hatte, seit er aus der Zukunft hierher gekommen war. Das sich wirklich jemand um ihn kümmerte. „Danke", sagte er leise.

„Kein Problem", erwiderte Prue. Sie zögerte einen Moment, bevor sie anfing über das zu reden, weshalb sie hergekommen war. „Chris wir müssen reden – über deine Eltern..."

Chris' Lächeln verschwand von seinem Gesicht und er unterbrach sie schnell. „Bitte lass uns jetzt nicht darüber reden."

„Chris wir müssen darüber reden. Du musst darüber reden", seufzte Prue. „Ich weiß es ist schwer für dich, aber du musst sie verstehen..."

Wieder unterbrach Chris sie. „Also das ist der wahre Grund weshalb du hier bist. Um sie zu verteidigen." Er schaute hinunter auf den Boden und fühlte eine große Enttäuschung über sich kommen. Aber wieso war er auch so dumm gewesen und hatte geglaubt, dass sie hier war, um ihn zu trösten? Er hätte es besser wissen müssen. Es hätte ihm klar sein müssen, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Wie er sich fühlte, weil seine ganze Familie ihn hasste.

„Ich bin nicht hier, um sie zu verteidigen, Chris", widersprach Prue. „Ich würde ihnen lieber in den Hintern treten für das was sie getan haben."

Überrascht sah Chris sie wieder an. „Wirklich? Wieso willst du dann darüber reden? Es ist nicht so, als würde es einen Unterschied machen."

„Es würde einen großen Unterschied machen. Du bist gerade sehr verletzt und du hast jedes Recht auf sie wütend zu sein..."

„Ich bin nicht wütend auf sie", warf Chris ein.

Prue hob ihre Augenbrauen. „Wirklich? Also ich wäre es."

Chris schaute für einen Moment wieder zu Boden, bevor er sich erneut seiner Tante zuwandte. „Ich bin wirklich nicht wütend auf sie. Es ist nur... Ich hatte gehofft, dass es irgendwie leichter sein würde. Ich hatte gehofft, dass sie mir vertrauen würden, anstatt jeden Schritt den ich mache, mit Mistrauen zu beobachten. Ich weiß, dass ich einige schlimme Dinge getan hab, aber ich hatte keine Wahl! Alles was ich wollte war Wyatt davor zu bewahren böse zu werden, damit es für uns alle eine Zukunft gibt. Ich hatte nie geglaubt, dass..." Seine Stimme brach für eine Sekunde, aber dann fügte er hinzu: „Dass sie mich alle hassen würden."

Prue sah ihren Neffen mit großem Kummer an. Es war nicht fair, was er alles zu ertragen hatte in seinem Leben. Sie wusste nicht, wie die Zukunft aussah aus der Chris kam, aber sie war sich sicher, dass sein Leben dort die reinste Hölle gewesen war. Und jetzt musste er auch noch mit dem Misstrauen und Hass seiner eigenen Familie fertig werden. Sie hätte alles dafür gegeben, um in der Lage sein zu können, ihre Schwestern und ihren Ex-Schwager ein wenig anzuschreien. Aber sie hatte keine Ahnung, ob sie nicht genauso gehandelt hätte, wenn sie noch immer am Leben gewesen wäre, also hatte sie nicht wirklich das Recht dazu, über sie zu urteilen. „Chris, du hast gehört, was die beiden auf der Brücke gesagt haben. Sie hassen dich nicht, sie lieben dich", sagte sie, während sie seine Hand nahm und sie leicht drückte.

„Nein. Sie haben das nur gesagt, weil sie jetzt wissen, dass ich ihr Sohn bin", sagte Chris, während er versuchte den Schmerz den er fühlte, zu unterdrücken.

„Genau das ist es doch", erwiderte Prue. „Endlich wissen sie die Wahrheit. Endlich haben sie ihre Fehler eingesehen."

„Aber das ändert doch nichts!", rief Chris frustriert. „Es ändert nichts daran, dass sie mich alle hassen. Und ich kann sie wirklich nicht dafür verurteilen. Nach allem was ich getan habe, haben sie das Recht auf mich wütend zu sein, nicht umgekehrt."

Prue schüttelte heftig ihren Kopf. „Verstehst du denn nicht? Das ist es doch worüber ich die ganze Zeit spreche. Sie hassen vielleicht einige Dinge, die du getan hast, aber sie lieben dich. Ich bin auch wütend auf sie für das was sie dir angetan haben, aber ich liebe sie trotzdem, weil sie meine Familie sind. Ich bin sicher, dass sie dich wirklich lieben und sich schrecklich fühlen, für das was sie getan haben."

Chris sah sie unsicher an. Er fand dass die Dinge die sie sagte Sinn machten, aber er hatte Angst, dass sie vielleicht doch Unrecht hatte. Er glaubte nicht, dass er es ertragen konnte, wenn er sich seiner Familie gegenüber öffnen würde und sie ihn zurückweisen würden. „Ich hab Angst", gab er zu und erlaubte sich selbst, das erste Mal seit vielen Jahren, Schwäche zu zeigen.

Seine Tante sah ihn verständnisvoll an. „Ich weiß Schätzchen. Aber du musst ihnen eine zweite Chance geben. Nicht nur ihretwegen – sondern auch deinetwegen."

Chris seufzte schwer. Er wusste, dass Prue Recht hatte. Aber er konnte trotzdem nicht vergessen, was in den letzten Monaten alles passiert war. Was wenn seine Eltern sich gerade nur schuldig fühlten und ihn nicht wirklich liebten, wie sie es gesagt hatten? Er dachte nicht, dass er ihre Liebe verdiente, aber trotzdem... Er wünschte sich so sehr, dass das was sie auf der Brücke gesagt hatten, wahr ist.

„Mach dir nicht so viele Sorgen", unterbrach Prue seine Gedanken. „Du bist zu jung, um Falten zu bekommen."

Chris lachte leise. „Danke Tante Prue."

„Ah, du hast die Tante nicht vergessen", sagte sie lächelnd, während sie ihn umarmte. „Ich liebe dich, Chris. Vergiss das nie."

„Das werde ich nicht. Ich liebe dich auch", erwiderte er.

Dann stand Prue auf und trat wieder in den Kreis aus Kerzen. Augenblicklich wurde ihr Körper wieder transparent. „Bis zum nächsten Mal", sagte sie. Es sah so aus, als wollte sie gehen, aber dann fügte sie noch hinzu: „Oh und sollten eine meiner Schwestern oder Leo dir wieder wehtun ruf mich einfach und ich komm her und trete ihnen in den Hintern, okay?"

Chris lachte wieder und nickte, während er zusah wie seine Tante in hellem Licht verschwand. Dann stand er für eine Weile einfach nur da, weil er nicht wusste, was er tun sollte, doch es wurde ihm klar, dass er wirklich auf Prues Rat hören sollte. Er musste mit seinen Eltern reden. Nach einem letzten Blick auf das Buch, ging er die Treppe hinunter zu dem Zimmer seiner Mutter.

Fortsetzung folgt…