„Aber mit wem soll ich reden? Mit Freunden? Mit diesen redte ich
freilich am liebsten. Ich dürfte ihnen nur ein halbes Wort
sagen, so verstünden sie mich."
(Friedrich Gottlieb)
Die letzten Worte des Hauptmanns klangen noch in d'Artagnans Ohren nach, als er das Hauptquartier verließ und auf die Straße trat. Abenddämmerung tauchte die Dächer in rötliches Licht und in der tiefstehende Sonne wurden alle Schatten lang. Morgen würde es gewiss Regen geben. Es regnete immer am nächsten Tag, wenn der Abend so freundlich in die Nacht überging wie heute.
D'Artagnan hatte es nicht besonders eilig nach Hause zu kommen und so schlenderte er langsam die Rue du Vieux-Colombier hinunter. Unterwegs begegneten ihm nur noch wenige Passanten. Mit Einbruch der Dunkelheit suchten die ehrbaren Bürger ihre Wohnungen auf und noch war es zu früh für Mörder, Diebe und andere finstere Gestalten, um aus ihren Löchern zu kriechen. Der Leutnant konnte sich also Zeit lassen, immerhin wurde er nicht irgendwo dringend erwartet. Sein Abendessen würde nicht kalt werden wenn er einen Umweg ging, denn es wurde nicht länger von seinem Diener, sondern von einer der zahlreichen Garküchen zubereitet.
Planchet hatte eine neue Aufgabe als Feldwebel gefunden. Eine verdiente Belohnung für seine treuen Dienste und d'Artagnan entließ seinen Diener nach dieser Nachricht mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus dem Dienst. Der Picarde war immer loyal gewesen, nicht immer so fleißig, wie er es hätte sein sollen, aber immer bereit, alle Befehle seines Herrn auszuführen. Sie waren gut miteinander zurecht gekommen und ein wenig hatte wohl auch Planchet seine „Beförderung" bedauert. Aber nur ein wenig. Jetzt boten sich ihm völlig neue Möglichkeiten, zum Beispiel war er nun frei sich eine Mademoiselle zum Heiraten zu suchen und dadurch auch Bürger zu werden. Ein erstrebenswertes Ziel und Planchet hatte dem Grafen de Rochefort überschwänglich für das Überbringen des Feldwebelpatentes gedankt.
D'Artagnan bog auf die Hauptstraße ein und hielt auf jene Garküche zu, zu deren Stammkunde er seit einigen Monaten zählte. Das Essen war reichhaltig und nicht zu teuer, es wurde mit viel Fett gebraten und selten war das Fleisch angebrannt. Der Leutnant fragte lieber nicht, von welchem Metzger man hier die Waren bezog. Dafür konnte d'Artagnan in Ruhe seine Mahlzeit genießen, ohne lästige, oberflächliche Plaudereien mit dem Besitzer führen zu müssen. Nur einmal hatte es der Koch versucht, aber die Lust auf Fragereien nach Dienst und Lebensführung verloren, als sein Kunde nur einsilbige Antworten brummte und sich in seine Mahlzeit vertiefte.
Was wohl Rochefort zur Zeit trieb? ging es d'Artagnan kurz durch den Sinn. Der Stallmeister seiner Eminenz war stets verwickelt in irgendwelche Schwierigkeiten und stets gelang es ihm, sich irgendwie wieder aus diesen herauszuwinden. Bisher hatte der Graf nie Unterstützung benötigt oder um welche gebeten, wenn ihn ein Auftrag wieder nah ans Ende der Welt führte. Im Augenblick schien er sich nicht in Paris zu befinden. Unterwegs im Auftrag seiner Eminenz, hob der Leutnant kurz die Schultern und wechselte die Straßenseite.
Auch an diesem Abend blickte der Besitzer der Garküche nur kurz von seinen Töpfen auf, erkannte d'Artagnan und hob wortlos die Deckel, um ein Teiggebäck mit der bevorzugten Mahlzeit des Leutnants zu füllen. Ebenso wortlos nahm er die Münzen entgegen und verzichtete auf ein „Guten Appetit", wie d'Artagnan auf ein „Danke" verzichtete. Sonst tauschten die beiden zumindest diese Floskeln, aber heute schien der Koch zu ahnen, dass Schweigen dankbar angenommen wurde. Solche Tage gab es eben auch, und weil dem Besitzer der Leutnant eigentlich nicht unsympathisch war – und auch, weil d'Artagnan regelmäßig Geld mitbrachte – beließ er es dabei, ohne dass einer von ihnen wegen der mangelnden Höflichkeit beleidigt gewesen wäre.
Porthos hätte über die neueste Gewohnheit seines Freundes wahrscheinlich gelacht und eine doppelte Portion bestellt, während Aramis sich niemals auch nur in die Nähe einer Garküche gewagt hätte. Hier war es nicht ganz sauber und ein unberechenbares Essen, dass immer eine Stelle im Teig fand, aus der es hinausquellen konnte sobald man herzhaft zubiss, wäre so gar nicht nach dem Geschmack des schönen Musketiers gewesen. Ein Flecken auf seinem Wams, wie furchtbar! Davon abgesehen, dass er das fettige Dinge niemals in die gepflegten Hände genommen hätte.
D'Artagnan schmunzelte leicht, als er sich vor der Garküche einen Platz suchte. Der Koch hatte dafür gesorgt, dass seine Kundschaft nicht mit den lauwarmen Teigtaschen durch die Straßen laufen mussten, sondern auch bequem direkt vor Ort speisen konnte. Eine clevere Geschäftsidee, die viele seiner Konkurrenten begannen nachzuahmen, als sie den Erfolg der Stühle und kleinen Tische mitten auf der Straße bemerkten. Viel Platz gab es nicht, denn zu weit durften die Sitzgelegenheiten nicht den Fahrweg versperren. Aber dafür fand sich immer eine saubere Serviette und angesichts der eben erwähnten Eigenschaft der Mahlzeit war das ein nicht zu verachtender Vorteil. Nach zwei Wochen hatte der Leutnant den Dreh raus, wie man taktisch am besten mit diesen kleinen Pasteten umging.
Während d'Artagnan kaute und dabei die Straße hinunterblickte, kam ihm wieder das Gespräch mit dem Hauptmann in den Sinn. Tréville hatte recht, ungehalten darüber zu sein, dass sein Leutnant die einfachste Lösung für den Wachwechsel nicht sofort umgesetzt hatte. Nun, irgendwie war es d'Artagnan bisher einfach nicht richtig erschienen, die Posten neu zu besetzen. Aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl mehr und der Gascogner musste einsehen, dass ein anderer Name nun in Athos' Zeiten wechselte. Das war schließlich auch bei Porthos und Aramis so geschehen und der Dienst lief weiter.
Nahende Schritte mehrerer Männer ließen d'Artagnan unvermittelt aufhorchen. Sporenklirren schien immer eine Warnung zu bedeuten und so war der Gascogner auch nicht weiter überrascht eine Ronde Gardisten des Kardinals die Straße herunterkommen zu sehen. Es waren allesamt noch junge Männer, der Leutnant hatte sie zuvor noch nie in den Reihen der Gardisten bemerkt. Vielleicht war es ihr erster Ausflug in dieser Uniform, nachdem ihnen zunächst über einige Wochen die Grundregeln des Soldatenlebens näher gebracht worden waren. Jede Kompanie hatte in dieser Hinsicht auch ihre eigenen Zusatzparagraphen. Und einer bei den Gardisten schien zu heißen: „Wann immer du jemanden in der Uniform der Musketiere siehst, dann eile und provoziere ihn zu einem Duell. Besonders, wenn ihr zu viert seid und ihn alleine bei einer Garküche antrefft."
Tatsächlich hielten die junge Männer exakt auf diese eine Garküche in der Hauptstraße zu, obwohl auch genügend andere, ähnliche Geschäfte auf ihrem Weg lagen. D'Artagnan gab sich, als beachte er die Gardisten nicht weiter und angelte sich ein besonders großes Fleischstück aus seiner Mahlzeit, als sie heran waren - Der Koch hatte es gut mit ihm gemeint.
Trotzdem blieb der Gascogner wachsam. Junge Gardisten hatten es so an sich, einen Offizier nicht von einem Fußsoldaten unterscheiden zu können, was wahrscheinlich an der Ausbildung in ihrer Kompanie lag. Jussac konnte sich in dieser Hinsicht ruhig einmal mehr Mühe geben. Ärgerlich war es nämlich, wenn man den Gardisten dann Manieren hätte beibringen müssen und es nicht durfte, weil sich ein Offizier nicht mit einem Fußsoldaten prügelte.
D'Artagnan machte in dieser Hinsicht auch gerne Ausnahmen, aber ein weiteres Problem mit diesen jungen Soldaten bestand darin, dass sie alles zu ernst nahmen und sich ständig vor ihren Kameraden zu beweisen suchten. Das ging am besten, indem man Vorschriften brach. Zum Beispiel jene Vorschrift, hernach Provokation eines friedlich speisenden Leutnants zu einem Duell verboten war. Eine Vorschrift zu ihrem eigenen Schutz. Leider nicht deshalb, weil sie es zu viert nicht mit einem Leutnant hätten aufnehmen können. Eher aus dem Grund, weil ein toter Offizier – und irgendeiner konnte immer einen Glückstreffer landen - früher oder später vier tote Gardisten bedeutete, wenn sich dann herausstellte, dass es sich um einen Offizier gehandelt hatte. Also durfte man sich nicht provozieren lassen, obwohl in jedem Fall die Gardisten verlieren würden. Eine fahle Genugtuung, wenn man unter der Erde lag.
„He, Wirt!" baute sich einer der jungen Kerle vor der Garküche auf und legte eine Hand auf den Degengriff. Er kam sich wohl sehr stark vor mit drei Freunden im Rücken und sein selbstsicheres Lächeln verriet auch eben das. Er mochte vielleicht 19 oder 20 Jahre alt sein und hatte noch in keiner Schlacht gestanden, denn immerhin schien ihm kein Körperteil zu fehlen, obwohl die Art, wie er breitbeinig auf der Straße stand, in einem Duell recht schnell dafür gesorgt hätte. „Vier mal, und geizt nicht mit der Füllung!" befahl er in einem lächerlichen Kommandoton, für den sich sein vorgesetzter Offizier hätte schämen müssen, wäre er nur hier gewesen.
Auch dem Koch gefiel dieser Tonfall herzlich wenig. Er sparte nicht an der Füllung, allerdings änderte er drastisch das Verhältnis zwischen Soße, Fleisch und Gemüse und nahm Geld für den Preis des teuersten Gerichts auf seiner Speisekarte entgegen – obgleich ein halbes Huhn nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Pastete aufwies. Das schien den Gardisten jedoch nicht weiter aufzufallen. In bester Stimmung, scherzend und pöbelnd nahmen sie ihre Mahlzeit entgegen und blickten sich dann demonstrativ um. Es waren genug Stühle für sie alle vorhanden, aber nicht um einen Tisch.
Der junge Kerl, der schon eben mit dem Koch geredet hatte, trat an d'Artagnan heran und meinte im allerfreundlichsten, höflichsten, wirklich zuvorkommensten und untertänigsten Tonfall: „Monsieur, hättet Ihr die Güte uns den freien Stuhl an Eurem Tisch zu überlassen?"
An dieser Frage gab es nicht zu beanstanden, allerdings verneigte sich der Gardist auch noch tief – vor einem Musketier! – und schien dabei ganz zu vergessen, dass er eine äußerst undichte Teigware in den Händen hielt. Bratenfett und Soße tropften auf d'Artagnans Uniform, aber ohne mit der Wimper zu zucken erwiderte der Leutnant: „Freilich, Monsieur. Nehmt ihn Euch."
„Zu liebenswürdig", entgegnete der Gardist mit einem breiten, falschen Lächeln. Gleichzeitig schien er verärgert, dass sein kleines Manöver nicht die erhoffte Reaktion ausgelöst hatte, was, wie er wohl glaubte, ihn in den Augen seiner Kameraden schlecht dastehen ließ. Also musste der junge Kerl es erzwungener Maßen erneut versuchen.
Voller Elan nahm er sich den Stuhl und setzte sich zu seinen Kameraden. Eine Weile plauderten und scherzten sie über belanglose Dinge, aber dann meinte einer von ihnen: „Habt ihr schon gehört? Es soll gestern im „Trog" zu einer Schlägerei gekommen sein."
„Du bedauerst wohl, dass du nicht da warst?" lachte ein Anderer auf.
„Ja, du hättest dir eine Menge Ruhm verdienen können. Oder dich zumindest damit bekleckern." betonte eine schon bekannte Stimme. D'Artagnan beschloss, diesen Gardisten „d'Ébilité" zu nennen und sich ansonsten nicht weiter von ihm stören zu lassen. Er schluckte den letzten Bissen hinunter, erhob sich und nickte dem Koch zum Abschied auf den nächsten Abend knapp zu. Hinter ihm lachten die Gardisten über irgendeinen anderen dummen Wortwitz.
