„Die Freunde nennen sich aufrichtig; die Feinde sind es."
(Arthur Schopenhauer)
„Was treibt Ihr um diese Uhrzeit noch hier, Messieurs?" Jussac war herangekommen und sprach die vier Gardisten barsch an. Den fünften im Bunde, d'Artagnan, schien er gar nicht zu beachten, zumindest hatte der Leutnant nicht einmal einen flüchtigen Blick für den anderen Offizier übrig. Er baute sich vor d'Ébilité auf und wandte damit d'Artagnan demonstrativ den Rücken zu.
„Nichts, Monsieur", erwiderte d'Ébilité mit beinahe vergnügtem Tonfall. Der junge Mann hatte sich wieder sehr gut im Griff. „Wir sind nur eine Patrouille gegangen und dabei auf einen Plausch mit Monsieur d'Artagnan zusammengetroffen." Er hielt diese Antwort wohl für sehr klug, denn wie allen Gardisten war auch ihm bekannt, dass Jussac den Leutnant der Musketiere nicht sonderlich ausstehen mochte. Allerdings wurde d'Ébilités Hoffnung auf Verständnis bei seinem Vorgesetzen jäh zerstreut, als sich in Jussacs Miene eindeutig Verärgerung abzeichnete.
„Von nachtdunklem Geplauder zwischen Soldaten und einem Offizier, der sicher noch besseres zu tun hat, als lästige Bewunderer loszuwerden will ich nichts hören!" wischte Jussac diese Erklärung mit einer Handbewegung fort. „Packt Euch nach Hause, Messieurs! Und wagt es nicht die leeren Weinflaschen, die ihr da hinter euren Rücken verbergt, in den Fluss zu werfen."
Ertappt, recht blass im Gesicht und sehr kleinlaut gehorchten die vier Gardisten mit eingezogenen Köpfen. Gleichzeitig schienen sie froh, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein. Bevor sie gänzlich abzogen, warf d'Ébilité allerdings noch einen hasserfüllten Blick zurück zu d'Artagnan. Sein Degen lag noch immer dem Musketier zu Füßen – er würde ihn sich wiederholen wollen.
Der Gascogner schauderte leicht und vermochte nicht zu sagen, ob das an der Erleichterung lag, aus dieser Situation noch einmal davon gekommen zu sein, oder an der Gewissheit, dass er sich einen neuen Feind in Paris gemacht hatte. Sein Arm fühlte sich mittlerweile an, als würde er gar nicht zu ihm gehören, sondern nur zufällig an dieser Schulter herabhängen und es war gewiss nicht der Nebel, der das Hemd unter seinem Wams klebrig-feucht werden ließ. D'Ébilité hatte gut getroffen - zum Glück nicht nur ein wenig tiefer. D'Artagnan verzog erst jetzt, als die vier Gestalten von der Nacht verschluckt wurden, schmerzvoll das Gesicht und lehnte sich gegen die Brüstung.
Jussac sah seinen Untergebenen ebenfalls stirnrunzelnd nach, bis sie in den Straßen der Stadt verschwunden waren, erst dann wandte er sich zu dem anderen Leutnant und musterte ihn abschätzen, mit keinem sehr freundlichen Blick von oben bis unten. „Ihr seid es", stellte er fest, als würde er d'Artagnan tatsächlich erst jetzt bemerken.
„Ja", gab der Musketier ebenso kurz angebunden zurück und zeigte nur einen steinerne Gesichtsausdruck. „Und Ihr seid es auch."
„Nicht ganz der, den Ihr gern erwartet hättet, was?" grinste Jussac humorlos wie ein Wolf. „Tut mir leid, ich fürchte, Ihr müsst mit mir vorlieb nehmen."
In d'Artagnans Miene regte sich bei diesem Spott noch immer nichts. Leider hatte der Leutnant der Gardisten ganz Recht mit seiner Aussage. „Ihr habt alles gesehen?"
„Nein, nicht alles. Aber genug um zu entscheiden, dass sich ein paar übermütige Gardisten – auch einer solchen Uniform gegenüber – nicht auf diese Weise zu verhalten haben."
„Ihr solltet ihnen eben mehr Anstand beibringen", gab d'Artagnan zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück und wünschte, Jussac würde sich endlich wieder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und ihn allein lassen.
„Ah, Monsieur le lieutenant, vielleicht möchtet Ihr diese Lektion gerne übernehmen? Sie sind bestimmt noch nicht weit gekommen in ihrem trunkenen Zustand, sie könnten rasch zurückgeholt werden." Jussac lächelte eisig.
„Ich denke, das sollte Eure Aufgabe bleiben." D'Artagnan stützte sich noch etwas mehr auf das Geländer und blinzelte. Aber auch, als er die Augen wieder aufschlug schwankte die Brücke noch immer auf ihren Stützpfeilern und machte es schwer, sich aufrecht auf den Beinen zu halten.
Jussac schien das nicht zu bemerken, er stand felsenfest und nickte grimmig. „Gut, dann hätten wir das geklärt." Grußlos wandte er sich um.
„Jussac..." kniff d'Artagnan ein weiteres Mal die Augen zusammen, aber jetzt schwindelte es ihn auch hinter geschlossenen Liedern. Sein Hemd klebte ihm warm und gleichzeitig klamm an der Haut.
„Gibt es noch etwas?" Der Leutnant der Gardisten drehte sich noch einmal zurück und ob seines brüsken Tonfalls hielt es der Gascogner für keine so gute Idee mehr, Jussac auf die sich drehende Welt, einen fehlenden Arm und weiche Knie, die gerne einsinken wollten aufmerksam zu machen. „Nichts weiter", brachte d'Artagnan hervor und befahl sich stumm, gefälligst durchzuhalten. Er hielt sich an ein altes Muster – wenn Jussac schon unhöflich war, so musste er das selbst nicht sein. „Nur... Danke."
Der andere Leutnant schnaubte verächtlich. „Denkt nicht, ich wäre Euretwegen eingeschritten, Monsieur. Ich wollte mir lediglich den lästigen Ärger ersparen, den dieser Zwischenfall noch eingebracht hätte."
„Ich weiß", grinste d'Artagnan etwas schief und wankte, aschfahl im Gesicht, einen Schritt nach vorn, ohne es selbst zu bemerken. Seine ganze Konzentration lag im Moment darauf, Jussac im Auge zu behalten.
„Oh nein." Der Gardist seufzte eindeutig verärgert auf und kam zurück. „Ich hätte es wissen sollen, es konnte nicht ganz ohne Ärger enden. Natürlich, schließlich seid Ihr ja auch daran beteiligt." packte Jussac den anderen Leutnant nicht sehr sanft an der Schulter und schob ihn an das Geländer zurück.
Diese Bewegung jedoch war eine zuviel und jetzt verlor d'Artagnan endgültig das Gleichgewicht und die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Langsam, fast wie in Zeitlupe kippte er nach vorne gegen Jussac und krallte sich mit der Hand, die noch zu einem Arm gehört im Mantel des anderen Leutnants fest, um nicht gänzlich zu fallen.
Jussac zerrte den Gascogner grob wieder auf die Beine. „Reißt Euch zusammen, Mann!" Eine Hand um den Kragen des Musketiers geschlossen, die andere noch auf seiner Schulter sah sich der Leutnant auf der Brücke um. Es war keine Menschenseele in Sicht, aber da lag noch der Degen des jungen Gardisten auf dem Boden. Und über ein ganzes Stück der Spitze klebte dunkles Blut, das im schlechten Licht der Lampen beinahe schwarz aussah.
„Jussac..." D'Artagnan grinste wieder, weil es die einzige Bewegung schien, zu der er noch fähig war. D'Ébilité hatte wirklich gut getroffen – und seine Klinge noch in der Wunde gedreht, bevor er den Degen fallen ließ. Jetzt hing der Musketier am Arm eines ewigen Kontrahenten und war dessen Wohlwollen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Alleine würde er es nicht mehr sehr weit schaffen, stellte d'Artagnan für sich fest. Aber mit Jussac als Hilfe ebenfalls nicht. „Es ist... die andere... Schulter", keuchte er fast belustigt.
„Zu schade auch", gab der Leutnant mit scheinbar echtem Bedauern zurück, während er sich den unverletzten Arm des Musketiers um die Schultern legte und so nicht länger die Brüstung d'Artagnan stützte. „Ihr werdet gefälligst bis zum Ende der Brücke und zwei Querstraßen weiter durchhalten, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Ich schwöre bei Gott, ich lasse Euch liegen, wenn Ihr nicht mehr selbst laufen könnt." Mit diesem Befehl ging Jussac los.
„Wohin?" Wie betäubt setzte d'Artagnan einen Fuß vor den anderen und ließ sich einfach mitziehen.
„Zu mir. Ist am nächsten."
„Nein."
„Nein?" lachte Jussac fast höhnisch auf und fluchte anschließend, als er den nächsten Schritt nach vorne leicht stolperte.
„Arzt." D'Artagnan versuchte, stehen zu bleiben, um eine andere Richtung zu bestimmen. Allerdings tat er dies nicht sehr erfolgreich, Jussac stapfte unbeirrt weiter.
„Später", antwortete der Leutnant und wollte eigentlich sagen: ‚Später, wenn wir angekommen sind, wird es mir eine Freude sein, Euch jeden Arzt Eures Wunsches kommen zu lassen, damit der Euch versorgt und wieder aus meiner Wohnung schafft.'
„Nein!" Der Gascogner wehrte sich nun etwas nachdrücklicher. Er konnte kaum klar denken, aber er wusste unumstößlich, dass er nicht zu Jussac, sondern zu einem Wundarzt wollte und zwar sofort, nicht später. Ja, an diesen Gedanken klammerte er sich fest und weigerte sich, noch einen Schritt weiterzugehen.
„Herrgottsakra!" Jussac fluchte von Herzen, als der Leutnant der Musketiere plötzlich stehen blieb, was ihn erneut stolpern ließ. Zornig befreite er sich von seiner Last, indem er sich unter d'Artagnans Arm wegduckte, ohne ihn jedoch ganz loszulassen. „Was denkt Ihr, was Ihr da macht?" fuhr er den anderen Leutnant an, der sich versuchte aus Jussacs Griff zu winden.
„Ich gehe", stieß der Gascogner hervor und schaffte es tatsächlich, mit einem Ruck seinen Arm zu befreien.
„Schön, tut was Ihr wollt!" Jussac schnauzte erbost zurück und sah kopfschüttelnd zu, wie sich d'Artagnan umwandte und zwei oder drei Schritte weit wankte, bevor erneut seine Beine unter ihm nachgaben. Der Leutnant der Musketiere fiel und blieb auf der Seite liegen.
„Warum?" sprach Jussac zu sich selbst und kniete bei dem Verwundeten nieder, „warum tue ich mir das an?" Er drehte d'Artagnan auf den Rücken, der jetzt tatsächlich das Bewusstsein verloren zu haben schien und nur leise stöhnte. „Heute muss Euer Glückstag sein, Monsieur le lieutenant. Ein Offizier lässt einen Offizier nicht einfach verbluten. Obwohl diese Stadt mit einem Schlag eine Menge Ärger los sein könnte, wenn ich Euch doch hier zurücklassen würde."
