Der stille Kampf

Ich, Professor Severus Snape, stehe hier etwas abseits von allen und blicke, in meiner üblichen, strengen Haltung, über die tosende Meute der Abschlussschüler. Sie scheinen dieses Jahr mehr als nur ausgelassen zu feiern, was vielleicht daran liegen mag, dass Lord Voldemort, der Dunkelste der Dunklen Zauberer vor kurzem sein Ende gefunden hat.

Dort in einer Ecke, etwas abseits steht ihr, das goldene Trio. Ich, ganz im Verborgenen, sehe dich, in deinem roten Abendkleid, sehe die Blicke der jungen Männer, die sie dir zuwerfen und kann sie verstehen. Aus dir ist eine äußerst attraktive junge Frau geworden. Doch würde das der Professor, der mich in der Vergangenheit so gekonnt verdrängt hat, nie zugeben. Die verstaubten Bücher, die du in Massen verschlungen hast, scheinen dir nichts anhaben zu können, ganz im Gegenteil. Doch die Blicke der anderen lassen dich offensichtlich kalt. Den Glanz der Stunde, ich kann ihn in deinen Augen nicht sehen. Du solltest glücklich sein, doch du bist es nicht. Vieles, was so manchem verborgen bleibt, offenbart sich mir und vor allem dem Professor, der nie zugeben würde, dass ihn etwas berührt. Seinen geschulten Augen entgeht nichts, er sieht die Traurigkeit in deinem Gesicht, doch es kümmert ihn nicht. Aber mich schmerzt es, dich so zu sehen. Wenn es auch außer mir und deinen zwei männlichen Begleitern niemandem aufzufallen scheint.

Ich sehe, wie du kurz darauf den Saal verlässt, dich meinem Blick entziehst.

Ich danke der Neugierde, die nun auch vom Professor Besitz ergriffen hat und ihn dazu zwingt, sich in die Nähe des restlichen Trios zu begeben. Das Gespräch, das sie führen, dreht sich um dich. Sie scheinen selbst nicht zu wissen, was mir dir los ist. Doch eines ist gewiss: Sie machen sich Sorgen um dich, sie haben Angst, du könntest eine Dummheit begehen. Ich frage mich, was hat dich aus dem Gleichgewicht gebracht, dass du das tun könntest? Kann es sein, dass einer der jungen Männer der Grund dafür ist, dass du den letzten Abend in diesen Gemäuern nicht genießen kannst? Selbst der Dunkle Lord konnte dir nichts anhaben, doch dieser Jemand scheint dies zu können.

Professor Snape, die übergroße Fledermaus, wie sie ihn auch zu nennen pflegen, wendet sich ab, begibt sich wieder an seinen alten Platz. Seine Augen gleiten prüfend über die Schar. Alles scheint sich in Grenzen zu halten, er kann nichts Besonderes erkennen, außer dass du noch nicht zurück bist. Doch ich, ich warte, warte, dass du zurückkommst, doch du kommst nicht. Je länger ich warte, desto mehr beginne ich mir Sorgen zu machen, sie könnten doch Recht haben. Du hast das Fest zu früh verlassen. Nicht einmal eine Stunde nach Beginn. Das ist zu früh, definitiv zu früh für eine Abschluss-Schülerin wie dich. Du wirst doch wohl nicht…?

Meine Augen erblicken den Blutigen Baron, der gerade in die Halle schwebt. Mit einer Handbewegung gebe ich ihm zu verstehen, dass ich ihn sprechen möchte. Meine Sorge um dich lässt mich stark werden. Verdrängt die düstere Gestalt, in der ich wohne, und zwingt sie dazu über ihren eigenen Schatten zu springen, lässt mich schließlich fragen, ob er dich gesehen hat, ob er weiß, wo du bist. Im tiefsten Dunkel des Schlosses, in den Kerkern, will er dich gesehen haben. Unweigerlich frage ich mich, was willst du dort? Es ist sicher kein Ort, an dem du dich aufhalten solltest.

Ich bedanke mich, wende mich ab, begebe mich zur Seitentüre, die nur den Professoren vorbehalten ist. Meine Angst um dich lässt mich meine Schritte beschleunigen. Der Gedanke alleine, du könntest… lässt mich innerlich erzittern. Lieber will ich dich gesund in weiter Ferne und in den Armen eines anderen wissen, als hier auf unserem… nein ich will nicht zu Ende denken. Ich muss wissen, dass es dir gut geht. Meine Schritte werden immer schneller. Jeden Gang schreite ich ab. Ich kenne meine unterirdische Festung, mein Zuhause zu gut, als dass du dich darin verbergen könntest. Und doch kann ich dich nirgends finden.

Eine einzige Hoffnung bleibt.

Ich wende meine Schritte zurück, zurück zur Grossen Halle. Kurz vor unserem Büro werde ich jedoch langsamer. Schon von weitem kann ich erkennen, das die Türe einen Spalt weit offen steht, was eigentlich unmöglich ist, da ich mit Bestimmtheit weiß, dass wir es nach Verlassen verschlossen haben, so wie immer. Kann es sein, dass du der Grund dafür bist, weshalb die Türe jetzt offen steht? Langsam trete ich näher. Innerlich kämpfe ich mit dem Professor in mir, der es nicht dulden kann, dass jemand ohne seine Erlaubnis eines seiner Heiligtümer betritt. Vorsichtig tippe ich die Türe an, erweitere den Spalt, um einen Blick in den Raum zu erhaschen. Im letzten Moment bevor er dich anschreien, zur Rechenschaft ziehen kann, werden wir Eins.

Wann hast du begonnen, dieses Feuer in mir zu entfachen, mir die Nächte zu rauben? Die Nächte, in denen ich mich vor Hoffnungslosigkeit hin und her wälze, weil ich genau weiß, dass es keine Zukunft mit dir geben kann. Wann hat der Wandel von der besserwisserischen Schülerin zur klugen jungen Frau stattgefunden? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, du hast das letzte, das ich noch mein Eigen nennen konnte, gestohlen: Mein Herz! Obwohl viele bezweifeln, dass ich eines besitze, je eines besessen habe. Ich habe so vieles verloren in all den Jahren, und jetzt auch noch dies. Doch ich werde auch das überstehen, so wie ich all das andere überstanden habe. Aber warum musste es genau dieser Ort sein, in den du eindringen musstest? Du hast nicht die geringste Ahnung, was du mir damit antust.

Der Türrahmen gibt mir den rettenden Halt, den ich dankend annehme. Ich muss nach Fassung ringen, einige Male tief durchatmen, den Sturm in meinem Innern, den du verursacht hast, besänftigen, bevor ich dir in meiner üblichen Haltung gegenübertreten kann. Es ist fast so, als würdest du mein Innerstes zerreisen.

Ich sehe, wie deine Hand zärtlich über meinen runden Tisch gleitet, der schon so manches von mir erdulden musste. MeinInnerstes wünscht sich sehnlichst, an seiner Stelle zu sein, dass ich es bin, den deine Hand so zärtlich berührt. Doch… doch…ich bin es nicht, ich werde es nie sein. Meine Augen schließen sich. Ich muss sie schließen, um meine Haltung, mit der ich dir gegenübertreten kann, zurück zu erlangen.

Der Professor in mir öffnet kurze Zeit später wieder die Augen. Er schleicht leise wie eine Schlange hinter dich, die du nun am Fenster stehst und in die dunkle Nacht nach draußen blickst. Seine barsche, strenge Stimme lässt dich zusammenfahren.

„ Miss Granger, was erlauben sie sich? Sie haben in diesen Räumen nichts, aber auch gar nichts zu suchen."

Er zeigt kein Erbarmen mit dir, nicht einmal an diesem Abend. Es ist ihm gleichgültig, dass Tränen dein Gesicht benetzen. Dass du dich verletzt von ihm abwendest und den Raum fluchtartig verlassen willst. Er ist es, der dir nachschreit, dessen Worte dich wie Messerstiche verletzen.

„ MISS GRANGER… BLEIBEN SIE GEFÄLLIGST STEHEN, WENN ICH MIT IHNEN REDE!"

Doch ich sehe, dass du dich davon nicht abhalten lässt. Mich schmerzt es, dich weinen zu sehen. Ich selbst bin es, der den Professor in mir verflucht, der kein Erbarmen mit dir zeigt. Du bist schon fast draußen auf dem Gang als meine scheuen, geflüsterten Worte sich nach oben kämpfen und dich erreichen.

„Hermine…,bitte!"

Und schon wieder verfluche ich ihn, die düstere Gestalt, die mich in seinem Innern gefangen hält. Der genau bewusst ist, Schwäche gezeigt zu haben. Er ist es nun, der sich von dir abwendet und seinerseits zum Fenster hinausschaut. Ich verfluche, v-e-r-f-l-u-c-h-e ihn, für das Gefängnis, das er über all die Jahre für mich geschaffen hat. Er zwingt mich dazu, in das Dunkel jenseits des Fensters zu blicken, in dem es nichts, aber auch gar nichts zu sehen gibt, außer der schwarzen Nacht.