Die letzte Schulwoche brach an und der Wirbel legte sich etwas. Am Dienstag verabschiedeten sie die Siebtklässler, die nun schon nach Hause durften. Am Sonnabend würden sie auf der Abschlussfeier ihre UTZ-Urkunden erhalten. Snape mochte sich ein neues Schuljahr ohne Lucius' arrogantes Getue und seine endlosen Vorträge nicht vorstellen. Alles in allem waren sie sehr gut miteinander ausgekommen, was nicht zuletzt Narcissa zu verdanken war.
"Mach' Dir keine Sorgen, Wicht." raunzte Lucius, "Wir passen auf euch auf. Diese Muggelanhängsel dürfen nicht die Oberhand gewinnen. Und Slughorn ist ein Meinungsnichts. Beachtet ihn einfach gar nicht."
Das war leichter gesagt als getan. Seit sie Dorsey am vergangenen Sonntag verabschiedet hatten, schien die Slytherin-Welt graugrün zu sein. Lucius packte seine vielen Sachen, die er im Laufe seiner siebenjährigen Schulkarriere angesammelt hatte ein. Er überließ Severus seine Bücher, sein Fernrohr und alle Zaubertrankutensilien. "Du kannst sie gebrauchen. Schließlich willst du den großen Lucius Malfoy mal übertreffen." säuselte er gönnerhaft. Lucius war mit seinem Abschluss sehr zufrieden. Er hatte 'Ohnegleichen' in Zaubersprüche, Transfiguration und Alte Runen, 'Erwartungen übertroffen' in Arithmantik und Herbologie und ansonsten 'Annehmbar'. Sein Vater hatte ihm schon für diese Leistung ein Araberpferd geschenkt. Lucius zeigte die magische Fotografie überall herum. Ein wirklich schönes Tier.
Sie begleiteten Lucius zum Ausgang. Sein Gepäck wurde vom Hauself transportiert. "Tja." sagte er. "Dann macht's mal gut. Macht uns keine Schande und schickt hin und wieder mal eine Eule. Drittklässler treffen mich an den Hogsmeade-Wochenenden in der Teestube. Severus und Bellatrix kriegen eine Eule mit einem Portschlüssel, wenn sie bei mir Ferien machen. Und du, meine Schöne" er küsste Narcissa galant die Hand, "kommst sobald die Schule aus ist." Sie umarmten ihn der Reihe nach und dann schauten sie ihm nach wie er mit ausgreifenden Schritten auf den Apparationspunkt zulief, wo er mit einem leisen 'Plopp' verschwand.
Nachdenklich liefen sie in das Schloss zurück. In der Eingangshalle wurden sie von Professor McGonnagal aufgehalten.
"Ah, Mr. Snape!" rief die strenge Gryffindor-Hauslehrerin, "Sie möchten bitte sofort in das Büro des Direktors kommen, für die nächste Stunde sind Sie entschuldigt."
'Was ist denn nun schon wieder?' Severus ging in Gedanken alle seine Vergehen der letzten Tage durch und kommt zu dem Schluss, dass er im guten Mittelmaß liegt. Das kann also schon mal nicht der Grund sein. Der alte Muggelfreund wird doch nicht rausgekriegt haben... Oh nein, lieber gar nicht erst dran denken!
Er wartete vor dem Wasserspeier und brachte seinem Gesicht einen kindlich-unschuldigen Ausdruck bei, von dem der junge Lord Fauntleroy nur träumen könnte. Mit beiden Händen strich er noch mal seine Robe glatt und ruft dann mit falscher Fröhlichkeit: "Ich bin jetzt da, Herr Direktor!"
Der Wasserspeier gab den Weg frei und Severus fuhr auf der Rolltreppe (er nannte sie noch immer so) nach oben. Direktor Dumbledore öffnete ihm die Tür und führte ihn in das Zimmer. Severus erschrak. Auf einem Stuhl gegenüber dem großen Schreibtisch saß seine Mutter. Sie hatte ein Taschentuch vor dem Gesicht und war ganz in schwarz gekleidet. Ein Hut mit einem kurzen Schleier lag auf ihren Knien.
"Setz dich , mein Junge." sagte der Direktor ernst. Severus gehorchte und wandte sein Gesicht seiner Mutter zu. "Dein Vater ist heute nacht gestorben." schluchzte sie. "Schlaganfall. DerArzt konnte nichts mehr machen." Sie nahm das Taschentuch vom Gesicht und schaute ihn mit geröteten Augen an. Severus stand auf und umarmte sie. "Wenigstens kann er dich nun nicht mehr schlagen." flüsterte er ihr ins Ohr. "Darum geht es doch jetzt gar nicht." gab sie schluchzend zurück.
"Erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid auszusprechen. Ihr Sohn wird natürlich ein paar Tage frei bekommen, um an der Beerdigung teilzunehmen. Ich lasse Sie jetzt einen Moment allein." sagte Dumbledore.
Sie schwiegen eine Weile gemeinsam und hingen ihren Gedanken nach. "Ich werde alles mögliche verkaufen." sagte sie dann. "Die Brieftauben sind schon weg. Wir gehen zu meiner Familie zurück. Das Haus werde ich vermieten, er hat es Dir vererbt, Severus." Snape wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Es sah seinem Vater irgendwie ähnlich, dass er ihm das vermachte, was er auf der Welt am meisten hasste, das Haus in Spinner's End. Er zuckte hilflos mit den Schultern. "Was sagt Onkel Seymour dazu?" fragte er, "Ich meine, dass wir bei ihnen wohnen wollen?".
Sie lächelte unter Tränen. "Er hat gesagt, dass er jetzt die Verantwortung für dich übernimmt. Randolph ist von zu Hause weg. Er will bei den Muggels leben." erzählte sie. "Du kannst sein Zimmer haben, sagt Großvater."
Das war mal eine Neuigkeit! Der Squib-Cousin war flüchtig. "Er hat mich versprechen lassen, dass du seinen Namen behälst." sprach seine Mutter weiter und er erkannte, dass sie nun wieder von seinem Vater sprach. "Ich werde meinen alten Namen wieder annehmen, aber du sollst weiter Snape heißen. Das war ihm sehr wichtig. Ich mein', Du bist zwar ein Halbblut, aber trotzdem auch ein Prince." fuhr sie fort und blickte in die Ferne.
Severus hob die Schultern und die Hände gleichzeitig. "Mir egal. Snape ist okay. Schließlich kennt man mich unter diesem Namen." sagte er gleichmütig. "Er war ja nicht immer besoffen. Manchmal hat er mich mitgenommen in den Pub, wo die alten Kumpel auf Waschbrettern Musik machten oder zu den Brieftauben, das war eigentlich ganz schön." fügte er noch hinzu und fühlte jetzt doch Trauer in sich aufsteigen. "Die Muggel machen sich gegenseitig kaputt." stellte er noch fest. "Die Zauberer auch." antwortete seine Mutter und griff wieder zum Taschentuch.
"Ich möchte, dass du gleich mitkommst." erklärte sie. "Es sind nur ein paar Tage bis Schuljahresende. Du kannst bei uns zu Hause weiterlernen.
Severus, ich will ehrlich sein, wir wissen noch nicht, ob du weiter nach Hogwarts gehen kannst. Es ist sehr teuer und ohne das Geld von deinem Vater..."
Nein! Das konnte unmöglich wahr sein! Die ganze harte Arbeit für nichts und wieder nichts? Er fühlte, wie sich ein kalter Klumpen in seinem Magen ausbreitete und immer größer wurde. "Gibt es nicht - Irgendwas - " begann er hilflos. "Wir werden sehen." sagte seine Mutter, "Wir machen es möglich. Nur, ich kann dir unmöglich falsche Hoffnungen machen, das verstehst du doch?"
'Oh na klar, und ob ich das verstehe! Mach' dir keine falschen Hoffnungen, wir stellen schon sicher, dass du immer wieder auf die Schnauze fällst, keine Sorge!'
Snape sagte nichts dazu. Er schwieg und versuchte, nicht zu weinen. "Ich gehe dann mal packen." sagte er schließlich und stand auf.
Er schlurfte langsam in Richtung Kerker und achtete nicht weiter auf seine Umgebung. Er dachte fieberhaft nach, wie er wohl an genug Geld kommen, könnte, um im September wieder nach Hogwarts zu dürfen. Er könnte Lucius' Sachen verkaufen. Diesen Gedanken verwarf er sofort. Das wäre eine Schnitt ins eigene Fleisch.
Als er an der Wendeltreppe vorbeikam, hörte er plötzlich leise Stimmen. Mehr aus Gewohnheit versteckte er sich in einer Nische und hörte mit großem Staunen: "Das war aber unrecht!" - "Quatsch, im Krieg sind alle Mittel erlaubt, sagt mein Vater." Das war James Potter, der andere hörte sich an wie Lupin. "Du hast vielleicht seine Karriere zerstört. Man darf nicht lügen!" wieder Lupin. Dann kam Sirius' Stimme: "Ach was, Lupin. Das sind alles Anhänger von Du-weisst-schon-wem, da kommt es auf einen mehr oder weniger nicht mehr an. Geschieht ihm ganz recht, wenn er uns bei McGonnagal anschwärzt. James darf im September nicht in die Mannschaft. Das hat er nur Dorsey zu verdanken!".
Snape hatte genug gehört. Leise zog er sich aus der Nische zurück und rannte in Richtung Slytherin-Quartiere. Unten angekommen, begann er fieberhaft seine Sachen zu packen. Währenddessen diktierte er einen Brief an Evan. "Ich komme wieder, so schnell ich kann." war der Schlußsatz.
Dann schrieb er auf, was er im Gang gehört hatte. "Kümmere dich darum. Ich weiß nicht, wenn ich wiederkomme. Wir sehen uns bei Lucius." Er versiegelte den Brief und schob ihn unter die Tür der Black-Mädchen.
Er nahm seinen Koffer und schaute sich um. Der Schlafsaal sah aus, als sei er niemals dagewesen. Dann ging er und machte die Tür fest hinter sich zu.
Unten in der Auffahrt stand Onkel Seymour mit seinem klapprigen Muggelauto. "Hallo, Partner." sagte er und nahm den Koffer. Severus setzte sich auf die Rückbank. Er drehte sich nicht noch einmal um.
