Kapitel 4: Eine heimliche Verfolgerin
Sie waren schon zwei Tage lang unterwegs. Obwohl Sam, Merry und Pippin das Auenland vermissten, waren sie gespannt, Celebhîth zu sehen. Tinwens Augen leuchteten heller, je näher sie ihrer Heimat kamen, und sie schien in ihren Erinnerungen zu versinken. Elkano dagegen schwieg den ganzen Weg lang und seine Miene verfinsterte sich immer mehr. Er schien große Schmerzen zu leiden und seine Gefährten hörten ihn manchmal im Schlaf stöhnen, wenn er überhaupt einschlief.
Elkano füllte die Flaschen mit Wasser aus dem kleinen Fluss. Er hatte sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet, denn er wollte in Ruhe nachdenken. Über seine Vergangenheit, Gegewart und Zukunft. Das alles hasste er wie sich selbst. Er war ein gnadenloser Mörder - ein passenderes Wort fiel ihm nicht ein.
Plötzlich spürte er ein Kribbeln in seinem Rücken. Jemand beobachtete ihn aufmerksam. Ein Feid, der mit Pfeil und Bogen auf ihn zielte? Nun hörte er auch Schritte. Sie waren fast geräuschlos... vorsichtig.
Ganz langsam wanderte seine Hand zum Griff seines Schwertes, den er fest umklammerte. Jetzt durfte nichts schief gehen, denn es könnte sein Leben kosten. Und auch das seiner Gefährten.
Der Beobachter war nun keine fünf Schritte mehr von ihm entfernt. Er war nah genug fürs Schwert.
Mit einer raschen Bewegung drehte er sich um und -
Sein Schwert fiel ihm beinahe aus der Hand: Vor ihm stand Elanor.
Er blinzelte. Sie war immernoch da. Dann war es wohl auch keine Halluzination. Allmählich konnte sein Gehirn auch mit dieser Tatsache umgehen. Er war wieder fähig, klar zu denken und sofort breitete sich in seinem Kopf Alarm aus.
"WAS HAST DU DIR EIGENTLICH DABEI GEDACHT!", schrie er und schüttelte Elanor. "HAST DU SIE NOCH ALLE!"
"Ja", antwortete Elanor stur.
Elkano schüttelte seinen goldblonden Kopf und fiel ins Gras. Es war zu spät, um umzukehren und sie nach Hause zu bringen. Sie mussten Elanor mitnehmen, ob sie es wollten oder nicht. In Elkanos Adern floss altes, königliches Elbenblut und er ahnte dunkle Zeiten voraus. Elanor musste sie miterleben. Sie würde das sehen, was er in seiner Kindheit kennengelernt hatte: Hass, Vernichtung, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Schmerz. Sie würde den gleichen seelischen Schaden davontragen wie er. Und - sie würde erfahren, wer er wirklich war. WAS er war...
Die anderen waren nicht minder entsetzt über Elanors Tat, doch sie blieb stur und tat, als ob alles in Ordnung wäre. Tatsächlich war sie sehr zufrieden.
Als sie in einem kleinen Wäldchen ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten und alle schliefen, stand Elkano auf und ging langsam, wie in einen grauenerfüllten Traum versetzt, auf eine Lichtung. Dort wadte er sich gegen Westen und stellte sich auf die Knie. Er faltete seine Hände zusammen und murmelte leise, wobei ihm Tränen übers Gesicht flossen.
"Vater, wo Ihr jetzt auch sein mögt... Steht mir bei - bei meiner Rückkehr in meine Heimat. Ich bin vielleicht ein guter König, doch verfluchtes Blut fließt in meinen Adern. Blut einer königlichen Linie, die als erloschen gilt. Einer verfluchten Linie, die großes Leid über Mittelerde brachte... Ich fürchte mich... Ich fürchte mich, den gleichen Fehler zu begehen wie damals... Den tödlichen Fehler, der nicht nur das Leben auslöscht, sondern auch die Seele zerfrisst. Steht mir bei, denn ich spüre, dass die Krone von Celebhîth sich wieder meinem Haupt nähert. Ich kann kein guter König mehr sein... Nicht nach all den grauenvollen Verbrechen..."
Er ahnte nicht, dass Elanor seine Abwesenheit gefühlt hatte. Sie stand auf und folgte ihrem Gespür, bis sie Elkano auf einem Hügel im Mondschein zu seinem Vater sprechen hörte.
Sie trat näher und berührte ihn sanft. Er zuckte zusammen und sah auf. Vor ihm stand eine Mondprinzessin, in deren Augen sich das Licht der Sterne spiegelte.
Er stand auf und sie wischte ihm sie Tränen aus den Augen.
"Du brauchst dich nicht zu schämen", flüsterte sie. "Du bist nicht Ilúvatar, der keine Fehler macht."
"Ich habe etwas getan, das du nicht einmal in deinen schlimmsten Träumen erlebst", entgegnete er.
"Du siehst nur das Schlechte in dir", seufzte sie. "Und vergisst dabei das Gute."
"Es gibt kein Gutes in mir", widersprach er.
"Doch", hauchte sie und berührte zart mit ihren Lippen sie seinen.
Er sah sie eine Weile lang traurig an und sprach: "Ich verdiene deine Liebe nicht."
"Das ist meine Liebe und ich allein entscheide, wer sie verdient und wer nicht."
"Und mein Herz ist es, das du eroberst, wenn du so sprichst. Ein Herz, das es nie gegeben hat."
Er fühlte sich, als würde seine Gefühlsflut ihn von innen zerfressen. Wenn sie nur wüsste... Aber es wäre besser, wenn sie davon nie erfahren würde. Konnte er ihr noch etwas verheimlichen? Sein Herz drängte ihn, ihr alles zu erzählen. Sie würde es nehmen, wie es ist und sie würde seine Schmerzen mit ihm teilen... Nein... Das wollte er nicht. Er wollte nicht, dass ihr Leben genauso verdorben wurde wie das seine. Dass sie niemals Frieden finden würde.
Er küsste sie auf die Stirn und ging zurück ins Lager. Elanor blieb allein zurück.
Wenn Elkano ihr doch nur sagen würde, was ihm solche Schmerzen bereitete. Er tat ihr Leid. Auch wenn er in Wirklichkeit ein getarnter Ork wäre - Sie würde ihn lieben.
Als sie in das Lager zurückkehrte, saß Elkano auf der Erde und starrte nachdenklich ins Feuer. Ein Dunkel verschleierte seinen Blick.
