Kapitel 4
Mit einem unterdrückten Schrei fuhr Harry auf dem Rücksitz aus seinem unruhigen Schlaf auf. Verwirrt sah er sich beinahe panisch um, doch er beruhigte sich sichtlich als er erkannte, wo er war.
Sirius sah vom Beifahrersitz besorg zu ihm und auch Remus hatte seinen Blick durch den Rückspiegel auf ihn geheftet.
„Wie lange war ich weg?", fragte Harry unsicher und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Vielleicht eine halbe Stunde, aber die Wirkung sollte eigentlich länger anhalten", antwortete Sirius, „Was hat dich aufgeweckt?"
Harry zögerte und wusste offensichtlich nicht, ob er seinen Entführern wirklich antworten sollte. Er entschied sich dagegen, doch lügen wollte er auch nicht, also zuckte er einfach unbeholfen mit den Schultern. Er sah den Männern an, dass sie ihm nicht glaubten. „Wo sind wir?", fragte er darum schnell.
„Wir sind nicht sehr weit gekommen, weil wir die größeren Dörfer und Städte meiden. Es wird noch länger dauern und wenn du schlafen möchtest –", bot Sirius ihm an und hielt ihm eine weitere Flasche Schlaftrank entgegen.
Harry schüttelte den Kopf und dachte an seine Albträume zurück. Er hatte Menschen getötet, viele Menschen, doch diesmal nicht mit den bloßen Händen, sondern einem Zauberstab. Er hatte die schmerzverzehrten und bettelnden Rufe gehört und seine eigenen Gedanken waren – nicht wie beim letzten Mal – reumütig gewesen. Unsicher sah er aus dem Fenster und fragte sich, was mit ihm los war.
Sirius beobachtete ihn aufmerksam und las den verzweifelten Blick seines Patenkindes richtig. Mit ruhiger, sanfter Stimme versuchte er zu erklären: „Weißt du, es ist nicht so einfach zu erklären, was mit jemandem passiert, der von einen Dementor geküsst wird." Harry wurde hellhörig. „Wir hätten dir das schon viel früher erklären müssen, aber wir wollten dich nicht beunruhigen… Wärst du vollkommen geküsst worden, hätte das Monster dir deine Seele ausgesaugt, aber so liegt die Sache etwas anders. Also es ist nicht so einfach –"
„Entweder du sagst es mir jetzt, oder nicht, aber hör auf drum herum zu reden!", unterbrach Harry ihn ungeduldig.
„Okay… Ein Dementor saugt jährlich im Durchschnitt zwei Menschen die Seele aus. Der Dementor, der dich angegriffen hat war recht jung, also schätzen wir, dass er etwa acht bis zwölf Seelen und damit Erinnerungen an ganze Leben in sich trägt. Vermutlich hat dieses Teufelsvieh einige dieser Erinnerungen auf dich übertragen, als er dich küssen wollte. Diese Menschen sind jedoch tot und es ist eigentlich unmöglich Erinnerungen von Toten zu sehen, selbst in einem Denkarium löschen sich diese eingespeicherten Informationen automatisch nach dem Ableben. Dementoren sind keine Menschen und an solche Umstände angepasst, aber dein Körper kann so etwas nicht standhalten." Er zögerte.
„Und.. und was passiert jetzt mit mir?", fragte Harry unsicher.
„Dein Körper versucht sich dagegen zu wehren, doch er wird diese.. diese Krankheit nur verzögern. Ohne entsprechende Tränke wird dein Körper den Kampf verlieren –"
„Du.. du meinst, ich muss sterben?", fragte Harry offensichtlich zutiefst erschrocken. Seine kindlichen Augen waren ängstlich und auch etwas misstrauisch auf Sirius geheftet.
„Lass mich ausreden! Diese Tränke sind sehr, sehr selten und in der Regel ist es nicht möglich sie zu beschaffen. Sie werden in Azkaban aufgewahrt und dürfen nur in äußersten Notfällen und mit Genehmigung des Zaubereiministers eingesetzte werden, aber die ganzen Regelungen haben sich vor einem etwa Jahr ein wenig geändert, als das Ministerium Dementoren in Hogwarts einsetzen wollte. Dumbledore hat nur widerwillig und unter mehreren Bedingungen zugestimmt. Eine dieser Bedingungen war, dass er einen dieser Tränke bekam…"
„Du meinst, er kann mir helfen?", fragte Harry unsicher.
„Ja, aber dazu müssen wir zusammen arbeiten und du musst versuchen uns zu vertrauen. Wir wollen dir helfen!"
Harry nickte wortlos und lehnte sich zurück. Sirius beobachtete seinen Patensohn sehr genau und wusste, dass seine Worte den Jungen sehr eingeschüchtert haben müssten.
Es verging eine ganze Weile, in der keiner der Drei etwas gesagt hatte, doch schließlich fiel Remus über den Rückspiegel auf, dass Harry scheinbar krampfhaft zitterte.
„Ist dir kalt, Harry?", fragte er beunruhig. Er wusste, dass damit eine weitere Phase eingeläutet werden würde. Neben ihm zog Sirius seine Jacke aus und reichte sie nach hinten auf den Rücksitz. Der Junge zog sie sofort an und Remus drehte die Heizung im Auto auf die höchste Stufe.
„Wenn dir schlecht wird, Harry, dann sag Bescheid!", meinte Sirius, der die Auswirkungen ebenso gut kannte. Der Junge nickte nur und wirkte nun überhaupt nicht mehr fiebrig, obwohl Remus genau wusste, dass seine Temperatur noch immer sehr hoch war. Er schien erschöpft und ihm fielen ab und an die Augen zu. Nach mehreren Minuten blieben sie ganz geschlossen.
„Remus, er hält das nicht durch!", meinte Sirius entschlossen.
Der Mann neben ihm biss sich verkrampft auf die Unterlippe. „Ich weiß…", gab er leise zu. „Und was sollen wir dagegen machen?"
„Wir sind kurz vor London, das heißt, wir haben erste die Hälfte geschafft, vorausgesetzt wir bleiben weiter auf den Nebenstraßen –"
„Du willst doch nicht etwa auf die Hauptstraßen, oder?", unterbrach ihn Remus. „Jeder, sogar die Muggel, würden uns erkennen!"
„Ja, ich weiß, aber es darf nicht sein, dass Harry dafür büßen muss, wenn ich einen Fehler mache. Hätte ich ihn nicht entführt, hätte Albus ihm schon lange den Trank gegeben, außerdem meinte ich gar nicht die Hauptstraßen…" Er zögerte.
„Sondern?", setzte Remus nach.
„Wir sind in der Nähe Londons. Die Winkelgasse –", begann Sirius, doch wurde sofort von dem Werwolf unterbrochen.
„Sirius, wenn Harry den Auroren in die Hände fällt, wird unsere allseits beliebter Zaubereiminister ihn nicht sofort zu Dumbledore lassen, es wäre zu spät für ihn!", sagte er mit fester Stimme, „Und dir könnte Albus auch nicht mehr helfen. Die würden dich direkt zurück nach Azkaban schicken!"
„Das weiß ich, aber wenn sich nichts im Tropfenden Kessel geändert hat, dann müssten sich doch sofort im Eingangsbereich Kamine befinden, die an der Flohpulvernetz angeschlossen sind. Das Risiko wäre minimal -"
„Immer noch zu groß für den Jungen und dich!"
„Hör mir doch erst mal zu! Wenn wir bemerkt werden, wird uns niemand angreifen, wenn wir Harry als Geisel bei uns haben. Er ist ein kluger Junge und hat verstanden, dass wir ihm helfen können."
Remus seufzte schwerfällig und blickte besorgt über den Rückspiegel auf den leichenblassen 13-Jährigen. „Ich bin damit nicht einverstanden, aber ich denke, nur so können wir ihm helfen!", sagte er schließlich resigniert.
Die restliche Fahrt bis zu den Grenzen Londons verging ereignislos, bis sie in die Nähe er Hauptstraßen kamen. Sirius kletterte während der Fahrt auf den Rücksitz und verwandelte sich dort in einen Hund, während Remus eine alte Sonnenbrille und ein Käppi aus dem Handschuhfach holte und aufsetzte.
Unerkannte gelangten sie in die Nähe der Kneipe, die die Welt der Zauberer von der der Muggel trennte. Remus parkte in der Nähe und weckte Harry. Der Junge sah krank aus, seine Augen wirkten glasig und Remus kannte diesen Ausdruck bis jetzt nur von Drogenabhängigen. Die Blässe auf seinem Gesicht wirkte im Gegensatz zu den Schweißperlen widersprüchlich und die roten Ränder um seine Augen erinnerten sehr an seinen Vampir. Der Atem Harrys ging sehr schnell und scheinbar nur mit Mühe. Als Remus erklärte, was sie vorhatten, nickte er nur leicht abwesend und ließ sich von seinen ehemaligen Lehrer aus dem Auto ziehen.
Auf der Straße machte Remus sich nicht die Mühe den Wagen abzuschließen. Er zog sich die Mütze weiter ins Gesicht und setzte Harry die Sonnenbrille auf. Mit entschlossenem, doch sanftem Griff stütze er den Jungen auf dem Weg zum Tropfenden Kessel. Sirius trabte aufmerksam voraus.
Einige Male stolperte Harry und wäre gefallen, wenn Remus ihn nicht festgehalten hätte. Der Mann hatte den starken Verdacht, dass der Junge die Welt um ihn herum nicht mehr nachvollziehen konnte und vermutlich bald zusammenbrechen würde.
Sirius, der einige Meter vor ihnen lief, stellte sich gerade auf seine kraftvollen Hinterbeine und versuchte das Schloss der Kneipe mit dem Maul zu öffnen, was ihm nach einigen Versuchen auch gelang. Vorsichtig betraten sie das Geschehen. Innen schien nicht viel Betrieb zu herrschen und der Geräuschpegel war mehr als nur leise. Sirius hatte sich bereits vor einen der Kamine gestellt und wartete ungeduldig, während Remus eine Hand in die Tasche gleiten ließ, um das Pulver herauszuholen. In der Sekunde geschah das, womit er eigentlich schon draußen gerechnet hatte: Harrys Beine gaben nach! Dem Jungen fielen die Augen zu und er wäre mit einem verräterischen Geräusch auf dem Boden aufgeschlagen, wenn Sirius sich nicht im Bruchteil einer Sekunde verwandelt und ihn aufgefangen hätte. Remus atmete erleichtert aus und danke Merlin für ihr Glück, doch man sollte den Tag eben nicht vor dem Abend loben, denn plötzlich hörten sie eine helle Jungenstimme.
„Harry?"
Sirius und Remus führen herum und erkennten einen blonden, dicklichen Jungen in Harrys Alter. Remus erkennte ihn sofort.
„Neville!", stieß er atemlos hervor, während Sirius Harry wie ein kleines Kind vom Boden hob und mit langsamen Schritten rückwärts zum Karmin ging.
„Das hier ist nicht so wie es aussieht, Neville!", versicherte Remus.
„Ist er tot?", fragte er Junge leise und Die Männer wunderte es, dass er offensichtlich nicht einmal daran dachte, Hilfe zu holen.
„Er ist sehr krank. Wir wollen ihm helfen!", versicherte Remus und sah aus dem Augenwinkel, dass Sirius mit seinem Patenkind soeben durch den Karmin verschwunden war.
Neville stand immer noch wie zu Stein erstarrt da, als Remus ebenfalls schon lange verschwunden war. Erst als er versehentlich von einer Bediensteten angerempelt wurde, die gerade den Boden fegte, erwachte er aus seiner Starre. Er hatte gerade Black gesehen, wie dieser mit einem seiner besten Freunde geflohen war, wurde ihm jetzt klar. Er musste etwas tun…
Sirius schaute auf den bewusstlosen Jungen in seinen Armen hinab. Das junge Gesicht war blass und die roten Ränder um die geschlossenen Augen ließen ihn zerbrechlich wirken. Die Lider zuckten und zeigten ihm, dass Harry Alpträume hatte, aus denen ihn niemand so schnell befreien konnte.
„Sirius, komm!", sagte Remus bestimmt und zog ihn aus der Hintertür des verlassenen Hauses, in das sie per Karmin gereist waren. Sie waren jetzt sehr in der Nähe des Verbotenen Waldes.
In der Ferne konnte er bereits die Türme Hogwarts ausmachen.
„Es sind Ferien, oder?", fragte Sirius während sie gemeinsam auf das Schloss zueilten.
„Ja, die Schüler sind alle weg", antwortete Remus ihm.
„Was ist mit den Lehrern?"
„Minerva und Severus werden beide dort sein und Albus wird natürlich auch über die Ferien hier bleiben."
„Was ist mit der Krankenschwester?", fragte Sirius und bemerkte, dass er langsam aus der Puste kam.
„Ich.. ich weiß nicht", meinte Remus unsicher und schien dann kurz zu überlegen. „Gib mir Harry und lauf als Hund zu Dumbledore! Er wird dich erkennen und dafür sorgen, mit dir allein zu sein. Sag ihm, dass wir kommen und Harry bei uns haben! Er soll den Trank bereit haben!"
Sirius nickte und der bewusstlose Junge wechselte den Träger. Wenige Minuten später tapste ein stark hechelnder, zottiger Hund in die Eingangshalle Hogwarts. Er konzentrierte sich auf seinen Hörsinn, um einen der Professoren ausfindig zu machen, die ihn eventuell aufhalten könnten.
Schließlich rannte er die Flure und Treppen entlang, um zum Büro des Direktors zu gelangen.
Einige Kilometer entfernt beobachtete Remus besorgt, wie die Atmung des Kindes von unkontrolliert zu müde glitt. Der Brustkorb hob und senkte sich immer langsamer und einige Male dachte der Werwolf, der Atem des Jungen würde ganz aussetzen.
Sie rückten dem Schloss immer näher und Remus war sich beinahe sicher, dass sie es noch rechtzeitig erreichen würden, als der Mann schockiert registrierte, dass Harrys Atem ausblieb.
„Scheiße.. Scheiße.. Scheiße!", flüsterte er und legte den 13-jährigen schnell auf den Boden, um in der nächsten Sekunde mit der Herz-Rhythmus-Massage zu beginnen.
„Hey! Hey, was machen Sie da?"
Remus drehte sich erschrocken um und erkannte Hagrid am Waldrand stehen. Der Halbriese zog überrascht den Atem ein, als er zu erkennen schien, wer er und der Junge auf dem Boden waren.
„Lassen Sie die Hände von ihm, Lupin!", donnerte er bedrohlich.
„Hagrid, du verstehst nicht, er –", versuchte der ehemalige Professor einen weiteren Versuch, ohne mit der Überlebensrettenden Maßnahme abzulassen.
„Loslassen, sagte ich!" Mit drohender, erhobener Faust kam der Halbriese näher und Remus musste seine Versuche, dem Jungen zu helfen, unterbrechen, um nach seinen Zauberstab zu greifen.
„Epelliarmus!", rief eine neue Stimme.
Die hölzerne Waffe wurde dem Werwolf aus der Hand gerissen, der ihr überrascht hinterher schaute und feststellen musste, dass sie in der ausgestreckten Hand von… Severus Snape landete.
„Ich hatte gehofft, Sie als erstes zu finden, Lupin!", sagte er zynisch und der schmale Mund war zu einem hämischen Lächeln verzogen.
Also, ich weiß: Lang, lang ist's her…
Und ich gebe es ganz offen zu: Es lag nicht an der Zeit, sondern an Inspiration und Lust weiter zuschreiben. Ich hoffe, ihr mögt es trotz der langen Wartezeit!
