23.
Draco starrte die heruntergekommene Gestalt entsetzt an.
Das konnte unmöglich George Weasley sein!
Er erinnerte sich an die Weasley-Zwillinge. Immer fröhlich, immer zu Unfug und dummen Scherzen aufgelegt. Zum ständigen Entsetzen Filchs und zur stummen Freude Dumbledores, der ihre Streiche zwar rügte, aber insgeheim ein unbändiges Vergnügen daran fand, weil die Zwillinge ihn an seine eigene Jungend erinnerten.
Dann kam der Krieg und mit ihm Verlust und Tod. Trotzdem, soviel wusste Draco von Ginny, hatten sich die Zwillinge nie unterkriegen lassen, hatten ihren absurden Sinn für Humor beibehalten und weiterhin für Unterhaltung gesorgt. Bis sie vor über fünf Jahren verschwanden. Sie waren auf dem Weg zum Grimauldplatz gewesen, wo sich die Überlebenden der Weasley-Familie versteckt hielten. Sie waren niemals dort angekommen. Keiner wusste, was den beiden zugestoßen war, denn die Suche nach Spuren blieb erfolglos. Insgeheim war allen klar gewesen, dass die beiden einer Todesserattacke zum Opfer gefallen und vermutlich längst nicht mehr am Leben waren. Die Suche war schnell eingestellt worden, denn ohne Spuren war es schier unmöglich sie zu finden.
Und jetzt stand George vor ihm.
Ein Schatten nur noch, kaum als menschliches Wesen zu erkennen, aber am Leben! Aber warum redete er mit Fred? Narcissa hatte doch gesagt, dass der zweite Gefangene tot war.
Draco warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu.
„Er spricht mit ihm. Er will es nicht wahr haben."
Der Drachenreiter nickte. Das hatte er schon zu oft erlebt. Männer und Frauen, die den Tod eines geliebten Menschen vollkommen verdrängten und sich in eine Phantasiewelt flüchteten.
Draco öffnete die Tür der Zelle und trat in den Gang. Das Schloss an der zweiten Zelle war vollkommen zugerostet, anscheinend schon seit Ewigkeiten verschlossen. Vorsichtig legte er seine langen Finger um das Metall und konzentrierte sich. Es dauerte länger als bei dem anderen Schloss, denn diesmal nützte ihm der Dolch nichts. Doch schließlich war ein scharfes Knacken zu hören und das rostige Eisen zerbröckelte in seiner Hand.
Narcissa, die an das Gitter ihrer Zelle getreten war und ihren Sohn nicht einen Moment aus den Augen ließ, gab einen erschrockenen Laut von sich. Draco lächelte ihr aufmunternd zu. Stablose Magie wirkte auf die meisten Zauberer beim ersten Mal beunruhigend. Sie waren alle zu sehr an den Gebrauch ihrer Zauberstäbe gewöhnt.
Draco nahm die Fackel von der Wand und öffnete die Tür der Zelle.
George hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Stumm beobachtete er, wie seine Zellentür aufgezogen wurde und der Fremde hereintrat. Doch als die Fackel näher kam gab er einen wimmernden Laut von sich und verkroch sich in der äußersten Ecke des kleinen Raumes. Dort kauerte er sich mit angezogenen Knien auf den Boden und beobachtete Draco wie ein gefangenes Tier den Jäger.
„Hab keine Angst. Ich will dir nichts tun. Ich will dir helfen."
Dracos Stimme war sehr sanft und leise. Er konnte die nackte Panik in den hellen Augen seines Gegenüber sehen. Und nur zu gut erinnerte er sich, wie diese alles überschattende Angst sich anfühlte.
Langsam trat der Drachenreiter näher und ließ den Schein der Fackel in die hinteren Winkel der Zelle fallen. Der Raum war etwas größer als die andere Zelle und wenn das möglich war noch schmutziger. In einer Ecke waren Lumpen zu einem Haufen zusammengeworfen. Vielleicht schlief George hier.
Der Gestank, der Draco schon beim Betreten des Kerkers entgegengeschlagen war, schien hier noch stärker zu sein. Es roch, als sei irgendwo ein großes Tier verendet.
Suchend sah er sich um.
George hockte noch immer in seiner Ecke und zitterte unkontrolliert. Er ließ Draco keine Sekunde aus den Augen.
Der Slytherin ging langsam weiter durch die Zelle und zuckte zusammen, als unter seine Stiefeln etwas knackte. Langsam senkte er den Kopf. Im fauligen Stroh lag das, jetzt zersplitterte, Skelett einer Maus.
Draco schloss die Augen und ließ den angehaltenen Atem entweichen. Das hier wurde ihm langsam zuviel.
Er hob den Kopf und wollte sich gerade wieder an George wenden, als er es sah:
Das, was er von weitem für ein Bündel Lumpen gehalten hatte...
Draco taumelte einen Schritt zurück und ließ vor Schreck fast die Fackel fallen. Nur mühsam konnte er den plötzlichen Brechreiz unterdrücken. Dort, zwischen fauligem Stroh und einigen zerfallenden Stofffetzen lag eine stark verweste, zum Großteil bereits skelettierte Leiche. Bleiche Knochen, teilweise noch von fauligem Fleisch und zerfressenen Muskeln bedeckt, schimmerten geisterhaft im flackernden Fackelschein. Unzählige vielbeinige Kreaturen huschten, durch das Licht von ihrer Mahlzeit aufgeschreckt in die Schatten. Die leeren Augenhöhlen, leer bis auf die in ihnen wimmelnden Maden, in dem grinsenden, haut- und fleischlosen Schädel schienen den Eindringling höhnisch anzustarren. Es war nicht die erste Leiche die Draco zu Gesicht bekam, trotzdem jagte ihr Anblick kalte Schauer über seinen Rücken.
„Fred schläft. Er ist sehr müde. Immer."
Beim Klang der brüchigen Stimme fuhr Draco zusammen. Einen Moment schien es, als hätte der Tote zu ihm gesprochen.
Dann wand der Drachenreiter sich um und sah George neben sich. Das Gesicht des Weasleyzwillings war ernst und hatte gleichzeitig einen liebevollen Ausdruck. Voller Grauen wurde Draco klar, dass George glaubte was er sagte.
Er war davon überzeugt, das Fred lebte und lediglich schlief.
Es war entsetzlich den Ausdruck in den blauen Augen zu sehen und doch...
Draco versuchte sich vorzustellen, eingesperrt zu sein, zusammen mit der Leiche des eigenen Bruders, mehr noch des Zwillings, der ein Leben lang an seiner Seite gewesen war. Wer würde das unbeschadet überstehen? Wessen Verstand würde nicht irgendwann die Realität ausblenden und sich in Phantasien flüchten? Schaudernd schüttelte er die Vision ab. Das war unvorstellbar.
„George. Ich werde dich von hier fortbringen, ok? Zurück zu deiner Familie. Deine Eltern. Ron. Ginny und Charlie. Sie machen sich große Sorgen um dich."
„Ginny und Charlie sind tot."
„Nein. Sie sind am Leben. Nur Bill ist tot und..."
Draco hielt inne. Er wusste nicht, wie George reagieren würde, wenn er weitersprach. Behutsam legte er seine Hand auf den dünnen Oberarm des anderen Gefangenen. Es kostete ihn große Überwindung seine Hand nicht sofort zurückzuziehen. Es fühlt sich an, als würden seine Finger sich um den blanken Knochen schlingen.
„George, du weißt, dass Fred tot ist, nicht wahr?"
Die blauen Augen weiteten sich voller Abscheu und George riss seinen Arm mit mehr Kraft aus dem sanften Griff, als Draco ob seines geschwächten Zustandes für möglich gehalten hätte.
„Du lügst! Fred ist nicht tot! Er lebt! Er... er schläft bloß! Ich kann ihn wecken! Ich werde ihn wecken und es dir beweisen!"
Bevor Draco ihn davon abhalten konnte, drehte er sich um, humpelte eilig durch die Zelle und fiel neben der Leiche seines Bruders auf die Knie. Er beugte sich über ihn, packte die Schultern und schüttelte den zerfallenden Körper heftig.
„Fred! Fred wach auf! Fred komm schon! Fred..."
Draco sah entsetzt zu, wie sich Georges dürre, klauenartige Finger in das faulende Fleisch gruben und es dadurch von den Knochen zogen.
„Er schläft sehr fest. Er ist müde. Er hat lange nicht geschlafen, als er an der Wand hing."
Er schüttelte den leblosen Körper noch fester. Weitere Fleischfetzen lösten sich, Muskelstränge und Sehnen rissen durch die heftige Bewegung und hingen wie abstoßende Schmuckbänder über Georges Hände und Unterarme. Der Kopf der Leiche wurde auf groteske Weise hin- und hergeschleudert.
„George hör auf! Er ist tot! Du kannst ihn nicht wecken!"
Draco überwand die kurze Distanz zwischen ihnen, packte George an den Schultern und versuchte ihn von Freds Überresten wegzuziehen, ihn von seinem bizarren Treiben abzubringen.
„NEIN! Er ist nicht tot. Er kann nicht tot sein! Ich habe ihm doch versprochen, dass ich ihn nach Hause bringe. Dass alles wieder gut wird."
Schluchzend brach George neben seinem toten Zwilling zusammen, schlang die Arme um die Knie und wiegte sich vor und zurück, während er immer wieder dieselbe Litanei wiederholte.
„Fred ist nicht tot. Er ist nicht tot. Er wird wieder aufwachen und dann werden wir nach Hause gehen. Alles wird wieder gut. Das hat er gesagt. Er ist nicht tot..."
Draco hockte sich vor George auf den Boden und nahm die skelettartigen, eiskalten Finger in seine Hände. Es kostete ihn erneut großer Überwindung George zu berühren, aber es war die einzige Möglichkeit.
„George. Sieh mich an! Fred ist tot. Du weißt, dass er tot ist. Er wird nicht wieder aufwachen. Er hätte nicht gewollte, dass es dir seinetwegen so schlecht geht. Komm mit mir George. Lass mich dich hier rausbringen. Zurück zu deiner Familie. Deine Eltern brauchen dich. Und deine Geschwister. Ron und Ginny und Charlie. Und deine Nichten und Neffen. Wusstest du, dass du inzwischen fünffacher Onkel bist? Lass den Toten ihren Frieden, George. Es sind die Lebenden, die dich brauchen. Fred ist längst nicht mehr hier. Seine Seele hat diese Ort schon vor langer Zeit verlassen. Nur sein Körper ist noch übrig. Es ist Zeit, dass du auch gehst. Komm mit mir George."
Langsam drangen die sanften Worte durch den Schleier von Wahnsinn und Trauer. Die blauen Augen schienen sich etwas zu klären.
George sah Draco an, als wäre dieser ein Geist. Dann wanderte sein Blick zum stummen Leichnam seines Bruders. Langsam dämmerte so etwas wie Verstehen in seinem Gesicht. Eine neuerliches raues Schluchzen drang aus seiner Kehle. Er streckte die Hand nach dem aus, was einmal das Gesicht seines Zwillings gewesen war. Kurz bevor sie den Schädel berührten, hielten seine Finger in ihrer Bewegung inne.
„Du darfst nicht tot sein... Lass mich nicht allein, Fred... Ich brauche dich doch..."
Draco drückte leicht die spindeldürren Finger die noch immer in seiner Hand lagen.
„Es tut mir leid George."
Das Schluchzen wurde immer heftiger, schüttelte den abgemagerten Körper krampfartig, während unartikulierte Laute aus seiner Kehle drangen.
Behutsam zog Draco den zitternden George von der Leiche weg. Jetzt, wo die Dämme einmal gebrochen waren und ein Stück Realität den Weg in seinen verwirrten Verstand gefunden hatte, ließ dieser sich willenlos fortführen.
Draco brachte ihn in die Nachbarzelle, wo Narcissa ihn ohne Umschweife in den Arm nahm. George klammerte sich wie ein Ertrinkender an sie, hungrig nach menschlicher Wärme und Nähe.
Draco lehnte sich gegen die Wand und ließ sich langsam wieder zu Boden gleiten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er selbst am ganzen Körper zitterte. Dieser erneute Beweis für Lucius Skrupellosigkeit traf ihn tiefer, als er vermutet hätte. Wie hatte er diesen Mann nur jemals als Vorbild sehen können?
Er merkte, wie ihm langsam die Augen zufielen. Die letzte halbe Stunde hatte alles an Kraft gefordert, was er noch aufzubieten hatte.
--
Draco wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er eine Weile später die Augen wieder aufschlug. Narcissa saß wieder auf ihrer Pritsche und wiegte George in ihren Armen, der sie anscheinend nicht einmal losgelassen hatte. Das Schluchzen war verebbt und eine gespenstische Stille hatte sich über den Kerker gelegt.
Draco streckte sich und ignorierte den Protest seiner Muskeln. Dafür war jetzt keine Zeit.
„Wie lange hab ich geschlafen?"
Narcissa hob den Kopf, ließ den zitternden Körper in ihren Armen aber nicht los.
„Nicht lang. Eine viertel Stunde, vielleicht ein paar Minuten länger. Du weißt ja, mein Gefühl für Zeit ist etwas durcheinander."
Draco nickte, dann stand er langsam auf.
„Wir sollten langsam zusehen, dass wir nach oben kommen. Ashes wird nicht mehr lange brauchen, bis er hier ist."
„Wer ist Ashes?"
„Der Freund, von dem ich vorhin gesprochen habe. Er wird uns zurück nach Hogwarts und damit fürs erste in Sicherheit bringen."
Der junge Drachenreiter durchquerte die Zelle und öffnete die nur angelehnte Tür.
„Draco, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Dein Vater ist irgendwo da oben. Kann dein Freund nicht hier herunterkommen?"
Er hörte ihrer Stimme an, dass sie der Geschichte von dem Freund, der sie befreien würde keinen besonderen Glauben schenkte. Aber warum sollte sie auch? Nach vier Jahren in diesem Kerker hatte sie sicher längst alle Hoffnung aufgegeben.
„Mutter. Ashes ist ein bisschen zu groß um hier hinunter zu kommen. Wir müssen schon raufgehen. Kommt. Es wird nichts passieren. Ich passe schon auf euch beide auf."
„Und wer passt auf dich auf? Draco, das ist zu gefährlich! Du kennst doch Lucius. Du weißt, wozu er fähig ist."
„Eben. Und darum werde ich nicht hier rumsitzen und abwarten, dass er zurückkommt!"
Narcissa war noch immer nicht überzeugt.
„Kannst du nicht allein gehen und uns nachholen? George ist kaum in der Lage zu laufen und ich werde auch nicht rennen können."
Draco seufzte.
„Mutter bitte. Es wird nicht nötig sein, zu rennen. Und ich sagte dir bereits, dass Ashes nicht hier runter kann. Er ist zu groß."
Draco hatte nicht erwartet, dass Narcissa sich so vehement gegen die Flucht sträuben würde.
„Wir haben keine Zeit für diese Diskussionen. Ich kann ja verstehen, dass du Angst hast, glaub mir, die hab ich auch, aber Ashes wird bald hier sein und dann sollten wir nicht mehr hier unten sein. Bitte. Vertrau mir, es wird dir nichts geschehen. Ich dachte, du möchtest hier raus?"
„Ja. Aber nicht um jeden Preis. Ich will nicht sterben. Ich..."
Sie wurde von einem rauen Flüstern unterbrochen.
„Ich will noch mal die Sonne sehen, bevor ich Fred folge. Kannst du mir das versprechen?"
Draco nickte leicht. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber die Sonne würde vermutlich schon aufgegangen sein. Außerdem... im Moment hätte er so ziemlich alles versprochen, um die beiden zum Mitkommen zu überreden.
„Dann lass uns gehen."
George befreite sich vorsichtig aus Narcissas Umarmung und humpelte auf Draco zu. Narcissa sah ihm einen Moment lang entsetzt zu, dann sprang sie auf und folgte ihm. Mit wenigen Schritten hatte sie ihn eingeholt und stütze ihn gerade rechtzeitig bevor er stürzte. Nur mühsam hielt sie sich dabei selbst aufrecht.
„Ihr habt recht. Entschuldige Liebes, es war dumm von mir mich zu weigern. Ich will ja auch nicht hier bleiben. Ich will mit dir gehen. Und ich vertraue dir."
Draco lächelte erleichtert, dann wand er sich der Kerkertür zu. Er zog seinen Dolch und drückte dann behutsam die Klinke hinunter. Einen Moment lang hielt er den Atem an. Wenn sie verschlossen war, dann war alles umsonst. Er hatte nicht die Kraft für einen weiteren Zauber. Mit einem protestierenden Quietschen schwang die schwere Tür auf ihn zu. Der angehaltenen Atme aus drei Lungen entwisch mit einem leisen Zischen.
„Wir müssen jetzt leise sein. Ich weiß nicht, ob und wie viele Wachen Lucius postiert hat. Bei seiner Arroganz würde ich zwar darauf tippen, dass er ganz darauf verzichtet hat, aber wir dürfen kein unnötiges Risiko eingehen."
Seine beiden Begleiter nickten stumm. Die Angst stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Draco konnte ihnen das kaum verübeln. Auch sein Herz schien von einer eisigen Klaue umklammert zu sein.
„Denk an das, was George gesagt hat!" sagte er sich stumm. „Er will die Sonne wiedersehen und du willst Harry wiedersehen, bevor du stirbst."
„Kommt jetzt."
--
Ihr Weg durch das alte Haus war quälend langsam. Weder Narcissa noch George waren in der Lage schnell zu laufen und an jeder Ecke mussten sie innehalten und zitternd wieder zu Atem kommen. Die Angst, die sich mit jedem Meter, den sei vorwärts kamen, tiefer in ihre Seelen bohrte, trug nicht dazu bei, ihre Schritte zu beschleunigen. Es kam Draco vor, als seien Stunden vergangen, als sie endlich die Eingangshalle erreichten. Der Drachenreiter wäre lieber durch die Küche geflohen, aber das kam aus mehreren Gründen nicht in Frage. Zum einen musste Ron diesen Weg auf seiner Flucht benutzt haben und wahrscheinlich wurde der Kücheneingang inzwischen scharf bewacht, zum anderen zwangen ihn die schnell schwindenden Kräfte seiner Schützlinge den kürzesten Weg zu wählen.
Im Schatten der breiten Treppe, die in die oberen Gemächer von Malfoy Manor führte blieben die drei Flüchtlinge schließlich stehen. Narcissa und George sanken sofort vollkommen erschöpft zu Boden, als Draco ihnen leise mitteilte, dass sie hier auf seinen geheimnisvollen Freund warten würden.
Der Slytherin selbst schlich weiter und spähte vorsichtig in die Halle. Nichts rührte sich. Kein Lebewesen schien in der Nähe. Und doch spürte er ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Die Stille schien trügerisch. Es war, als hielte das ganze alte Gebäude den Atem an und warte auf etwas. Draco sah sich suchend um. Sie brauchten ein besseres Versteck. Die Treppe bot zwar Schutz vor Blicken aus dem Inneren des Hauses und von oben, aber wenn jemand durch die Eingangstür trat, würde er sie sofort entdecken. Sein Blick blieb an dem schweren, staubigen Brokatvorhang gegenüber der Treppe hängen. Dahinter war ein schmaler Alkoven, in dem früher die Jacken und Mäntel von Besuchern untergebracht worden waren. Ein perfektes Versteck. Besonders wenn man sechs Jahre alt war, eigentlich im Bett liegen sollte und viel lieber den Gesprächen der zum Dinner geladenen Gäste lauschen wollte. Zwar bekam man hier nur Bruchstücke mit, aber interessant war das allemal. Interessanter jedenfalls als die ewig gleichen Gute-Nacht-Geschichten des Kindermädchens.
Draco lächelte leicht bei der Erinnerung. Der Alkoven wurde heutzutage sicherlich nicht mehr benutzt und bot daher ein weit besseres Versteck als die Treppe. Nahezu lautlos zog er sich in den Schatten unter der Treppe zurück.
„Ich habe ein besseres Versteck für uns gefunden, wir sollten nicht hier bleiben. Es gibt nur ein Problem. Wir müssen quer durch die Halle um dieses Versteck zu erreichen."
Narcissa nickte. Ihr Verstand fing allmählich an wieder in gewohnt schnellen Bahnen zu arbeiten und sie wusste sofort, was ihr Sohn meinte.
„Die Gästegarderobe. Sie wird schon lange nicht mehr benutzt."
„Ja. Ihr werdet sehr schnell laufen müssen. Schafft ihr das?"
„Wie weit?" hauchte George.
„Vielleicht zehn, fünfzehn Meter. Danach kannst du dich ausruhen. Hier können wir auf keinen Fall bleiben. Es ist nicht sicher."
„Nirgendwo in diesem Haus ist es wirklich sicher, aber ich werde mein bestes tun."
Auch George schien jetzt wieder halbwegs klar zu denken. Es machte den Eindruck, als hätten sie beide ihren Wahnsinn und Schmerz im Kerker zurückgelassen.
Draco schlich voran und sah sich erneut suchend in der Halle um. Als er keine verdächtige Bewegung wahrnahm, gab er den beiden anderen ein Zeichen.
Geduckt verließen sie den Schatten der Treppe und eilten durch die Halle.
Sie hatte die Hälfte der Strecke hinter sich, als eine schnarrende Stimme sie erstarren ließ:
„Sieh mal einer an. Ein Familienausflug. Wie nett. Warum habt ihr mich nicht eingeladen?"
Wie an unsichtbaren Fäden gezogen drehten sie sich zur Treppe um.
Lucius stand auf der drittuntersten Stufen, die Hände locker gefaltet und betrachtete seine fliehenden Gefangenen mit einem maliziösen Lächeln.
„Wollt ihr mich etwa schon verlassen? Sagt euch meine Gastfreundschaft nicht zu? Das würde mich sehr schmerzen."
„Lass uns gehen, Lucius. Dann geschieht dir nichts."
„Mir geschieht nichts? Oh, du bist zu großzügig mein Sohn. Ich bin allerdings überrascht. Ich glaube kaum, dass du in der Position für Drohungen bist."
Langsam kam Lucius die letzten Stufen herunter, umrundete die drei erstarrten Gestalten in der Halle und blieb schließlich mit dem Rücken zur Tür stehen.
„Wenn ich es richtig sehe, bist du unbewaffnet und allein, Draco. Oder glaubst du, dass ein wahnsinniger Krüppel und eine schwache Frau dir helfen können. Wundert mich übrigens, dass dein Freund da seinen Bruder nicht mitgeschleppt hat. Bist du es doch noch leid geworden, dich mit einer Leiche zu unterhalten, Weasleybrut?"
Draco hörte wie George hinter ihm ein animalische Knurren von sich gab.
„Du wirst für Fred bezahlen, Malfoy! Dafür werde ich sorgen..."
Lucius lachte laut auf. „Du und welche Armee?"
Dann wand er sich seiner Frau zu.
„Narcissa. Mein Liebling. Komm zu mir. Es tut mir leid, dass ich dich wegen unserer kleine Auseinandersetzung eingesperrt habe. Wie du siehst, habe ich unseren Sohn nicht getötet. Du hast also keinen Grund, mir zu zürnen. Komm her. Ich werde dich wieder in Samt und Seide kleiden. All deine wundervollen Roben und Juwelen sind noch immer da und warten auf dich. Ich verzeihe dir, dass du mich verlassen wolltest, wenn du mir meinen kleinen Ausrutscher ebenfalls verzeihst."
Seine Stimme hatte einen schmeichelnden Ton angenommen. Draco sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung neben sich.
„Mutter nicht! Er lügt, das weißt du."
„Aber er ist doch mein Ehemann... Ich muss zu ihm gehen, hörst du nicht?"
Draco sah sie entgeistert an, dann bemerkte er den glasigen Ausdruck ihrer Augen.
„Du Bastard! Du hast sie unter dem Imperiusfluch!"
Lucius lachte.
„Besser, mein Sohn. Der Fluch kombiniert mit einem Trank. Sie hat einen freien Willen, solange sie allein ist. Aber wenn sie meine Stimme hört, tut sie allein, was ich ihr sage. Ist das nicht hübsch? Ach, unser dunkler Lord hat so viele phantastische Zauber. Es ist wirklich jammerschade, dass du dich nie dazu entschließen konntest dich ihm anzuschließen. Und jetzt verabschiede dich vom Leben. Ich kann mich nicht länger mit dir herumschlagen."
Lucius hob seinen Zauberstab und richtete ihn direkt auf das Herz seines Sohnes. Draco war wir erstarrt. Er sah voller Grauen, wie Narcissa mit gesenktem Kopf neben ihrem Mann stand, eine leblose Marionette, er hörte wie George hinter ihm einen gequälten Laut von sich gab, als seine Beine ihren Dienst versagten und er in die Knie sank. Aber er konnte den Blick nicht von Lucius wenden. Das triumphierende Grinsen im Gesicht des älteren Malfoy, die Spitze des Zauberstabes, die ohne zu zittern in seine Richtung wies. Das Wissen, dass er nichts tun konnte um Lucius aufzuhalten.
Der Dolch entglitt seinen schweißnassen Fingern und fiel klappernd auf die Marmorfliesen.
Es war vorbei. Er würde Harry nicht wiedersehen.
„Vergib mir mein Geliebter... Vergib mir Harry..."Dann hob er den Kopf und sah Lucius direkt ins Gesicht.
„Tu es! Töte mich! Es wird dir nichts nützen."
„Nun, wie sagtest du doch vorhin so schön? Wir werden sehen... AVADA KEDAVRA!"
Noch während Lucius sprach strich etwas sanft durch Dracos Geist.
„ASHES!"
Er rief den Namen gleichzeitig mit Stimme und Seele und im gleichen Augenblick wurde die schwere Eingangstür aus dem Angeln gerissen. Lucius wurde von den Trümmern zur Seite geschleudert und sein Fluch traf mit voller Wucht die Decke. Große Placken Putz fielen krachen zu Boden.
Narcissa kauerte zwischen den Trümmern der Tür auf dem Boden, unfähig sich zu bewegen. Dann hörte sie Georges ersticktes Aufkeuchen und sah den entsetzten Blick ihres Mannes. Langsam hob sie den Kopf und erstarrt. Über ihr schwebte ein gewaltiger, von silbergrünen Schuppen bedeckter Echsenkopf. Dieser Kopf saß auf einem langen Schlangenhals der sich durch die zerborstene Tür wand und langsam hin und her schwang. Mächtige, klauenbewehrte Pranken lagen zwischen den Überresten von Tür und Hauswand. Riesige, smaragdgrüne Augen mit geschlitzter Pupille musterten mit kaltem Blick jede Einzelheit die sich in ihr Blickfeld schob. Eine gespaltene Zunge glitt züngelnd über armlange, schimmerndweiße Fangzähne.
Der Anblick war zuviel für Narcissas geschunden Seele. Mit einem leisen Wimmern sank sie ohnmächtig in sich zusammen.
Lucius hatte sich zitternd aufgerappelt. Mit immer noch erhobenem Zauberstab sah er zwischen der Bestie und seinem Sohn hin und her. Seine Stimme hatte einen leicht hysterischen Unterton.
„Du meinst doch nicht, dass ich auf ein so simples Trugbild hereinfalle? Wie hast du das gemacht? Wo hast du den Zauberstab versteckt?"
„Das ist kein Trugbild, Vater. Das weißt du so gut wie ich. Er ist ebenso wenig ein Trugbild, wie der Drache, der mich damals vor eurer Folter gerettet hat. Dieser Drache ist so echt wie du und ich."
Dracos Stimme war ruhig und beherrscht. Er spürte Ashes Seele, die sein Innerstes durchforschte, auf der Suche nach einem Befehl seines Herrn und Freundes. Draco machte sich nicht die Mühe den suchenden Geist der Echse auszusperren. So las Ashes seine Gefühle für jeden der hier Anwesenden und Lucius sah sich plötzlich den langen, glitzernden Zähnen gegenüber.
„Ruf ihn zurück! Ich weiß, dass er auf deinen Befehl handelt! Sag ihm, wenn er mich anrührt, töte ich dich!"
„Sag es ihm selbst, Vater. Du bist doch mächtiger als ich."
Draco trat an Ashes Kopf vorbei zu seiner Mutter und hob ihren reglosen Körper behutsam aus den Trümmern.
„Ich warne dich, Draco! Ich töte euch beide! Narcissa und dich!"
„Das würde ich an deiner Stelle nicht einmal versuchen. Ashes ist schneller als jeder Fluch und er liest meine Gedanken. Du bist tot, bevor du zu Ende gesprochen hast. Lass uns einfach gehen, dann lass ich dir dein armseliges Leben."
Je ruhiger Draco sprach, desto wütender schien Lucius zu werden. Sein Lachen war jetzt eindeutig hysterisch und seine Stimme schnappte fast über.
„Glaubst du, ich kauf dir diese lächerliche Geschichte ab? Drachen die deine Gedanken lesen? Lass sie sofort los und ergib dich. Ich werde dich unserem Lord übergeben. Bleib stehen! Ich warne dich! Ich werde dich töte! AVAD..."
Es war eine Frage von Sekunden. Bevor Lucius auch nur das erste Wort des Todesfluches über die Lippen kam, hatte Ashes seine Absicht in Dracos Gedanken gelesen. Der Drachenkopf fuhr herum und die gewaltigen Kiefer schlossen sich blitzschnell um den Körper des älteren Malfoy. Ein scharfes Knacken durchschnitt die Stille, als Knochen brachen, dann schluckte die Echse und es war vorbei.
Draco ließ den angehaltenen Atem entweichen und spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben. Doch bevor er fallen konnte, schob sich Ashes breiter Kopf hinter ihn und fing seinen Sturz ab.
Es war totenstill.
George hockte noch immer inmitten der Halle auf dem Boden und starrte mit offenem Mund den Drachen an. Draco war auf die Knie gesunken und hielt noch immer seine ohnmächtige Mutter im Arm. Ashes Kopf hing reglos in der Luft, nur die Augen bewegten sich wachsam hin und her.
--
Eilige Schritte hallten durch die Gänge des alten Hauses. Todesser vom Lärm abgelockt, kamen aus allen Winkeln angelaufen und blieben wie erstarrt stehen, als sie die Szene in der Eingangshalle sahen. Die zertrümmerte Eingangstür, die drei reglosen Gestalten, die inmitten des Chaos auf dem Boden kauerten. Den riesigen Drachenkopf, der das Loch in der Wand ausfüllte.
„Was... was ist hier geschehen? Wo ist Lucius?"
Draco hob den Kopf. Er war so unendlich müde. Hatte weder die Lust noch die Kraft für einen weiteren Kampf.
Seine Stimme war ruhig und tonlos.
„Er ist tot. Drachenfutter. Und wenn ihr nicht dasselbe Schicksal erleiden wollte, dann verschwindet. Sagt eurem Herrn und Meister, dass Lucius Malfoy tot ist, und dass ihm noch andere folgen werden. Und sagt ihm auch, dass Draco Malfoy lebt, und dass er sich wünschen wird, mich getötet zu haben, als er die Gelegenheit dazu hatte!"
Mehrere der Todesser hoben ihre Zauberstäbe und richteten sie auf die drei Gestalten in der Halle.
„Was hindert uns daran zu vollenden, was unser Lord begonnen hat? Tötet die drei! Und den Drachen auch! Lord Voldemort wird uns sicher für diese Trophäe belohnen!"
Draco schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf.
„Ihr Narren... Ashes..."
Der Drachenkopf schoss vor, grünes Feuer flammte zwischen den gebleckten Zähnen und fauchte dann durch den Gang, verbrannte alles in seinem Weg. Die Schreie der verbrennenden Todesser erstarben auf ihren Lippen. Das Drachenfeuer war zu heiß.
Draco hob den Kopf und fixierte die beiden entsetzten Gestalten, die auf der Treppen standen und dem Inferno entgangen waren.
„Geht! Es sei denn, ihr wollte ebenfalls brennen!"
In ihrer Hast aus der Reichweite des Drachen zu kommen stolperten die Todesser beinahe übereinander.
Draco kümmerte sich nicht im ihre Flucht.
Behutsam strich er seiner Mutter eine Strähne ihrer schmutzigen Haare aus dem Gesicht.
„Mutter... Wach auf. Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit."
Langsam flatterten die Augenlider auf und enthüllten graue Augen.
„Was ist geschehen? Dein Vater...? Der Drache?"
„Lucius ist tot. Der Bann den er über dich hatte ist gebrochen. Der Drache... ist ein Freund."
Narcissa folgte seinem Blick und holte erschrocken Luft.
„Oh großer Merlin!"
„Das ist Ashes. Mein Freund. Er wird uns von hier fortbringen."
Langsam stand er auf und half dann erst seiner Mutter und dann George auf die Füße. Narcissa trat sofort an die Seite des jungen Weasley um ihn zu stützen. Er sah nicht aus, als würde er mehr als ein paar Schritte gehen können.
Draco gab dem Drachen einen sanften Klaps auf die Nase und schob den großen Kopf nach draußen.
„Raus hier, Ashes. Sonst passen wir nicht durch die Tür."
Narcissa und George folgten Draco in gebührendem Abstand, ohne die große Echse aus den Augen zu lassen. Zwar behandelte Draco das Tier wie einen lieben, aufdringlichen Schoßhund, aber sie hatten gesehen, wozu der Drache in der Lage war. Als sie durch die zersplitterte Tür ins Freie traten, mussten sie gegen die Morgensonne anblinzeln, die in diesem Moment zwischen den Hügeln aufging.
„Die Sonne..." hauchte George.
„Ja. Ich hoffe trotzdem, dass du mit uns nach Hogwarts kommst."
George lächelte schwach. Es wirkte grotesk in seinem ausgezerrten, schmutzigen Gesicht, mehr wie eine Grimasse als wie ein Lächeln, dennoch war es für Draco ein Zeichen, dass der junge Mann sich einen Rest gesunden Verstand bewahrt hatte.
„Hogwarts... Ja, ich denke, ich würde auch das alte Schloss gern wiedersehen..." Er warf einen wehmütigen Blick zurück.
„Es fällt mir schwer Fred zurücklassen zu müssen."
„Er ist längst nicht mehr hier. Er würde wollen, dass du nach vorn siehst."
„Ja, du hast recht."
Draco half den beiden befreiten Gefangenen vorsichtig auf den Rücken des Drachen. Beide waren über alle Maßen misstrauisch. Auch wenn sie gesehen hatten, dass der Drache auf ihrer Seite stand und Dracos Befehlen blind gehorchte, so ängstigte sie doch die schiere Größe des Reptils.
Als sie beide sicher auf dem breiten Rücken saßen, trat Draco neben Ashes Kopf und strich sacht über die weichen Schuppen am Maul der Echse.
„Einmal noch mein Freund. Kümmere dich um das Haus."
Die Lungen des Drachen füllte sich mit Luft, die beiden Passagiere auf seinem Rücken konnten die Bewegung der gewaltigen Muskeln unter sich spüren. Dann schoss ein Flammenstrahl, weit mächtiger als der letzte zwischen den Zähnen hervor und setze binnen Sekunden das Haus in Flammen.
Einige Augeblicke lang stand Draco reglos neben seinem Drachen und starrte in das prasselnde Feuer, das einst sein Zuhause gewesen war. Dann schwang er sich hinter Narcissa und George auf dem Rücken der großen Echse.
„Bring uns nach Hogwarts, mein Freund. Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun."
Mit mächtigen Flügelschlägen brachte sich Ashes in die Luft und ließ die schwelende Ruine von Malfoy Manor rasch unter sich zurück.
