25.
„Draco? Wach auf, ich hab Neuigkeiten."
Die sanfte Stimme und eine leichte Berührung an der Schulter drangen langsam durch den Schlaf und die Träume in sein Bewusstsein.
Draco schlug die Augen auf und blinzelte gegen ein paar verirrte Sonnenstrahlen an, die durch einen Spalt in den Vorhängen fielen. Jemand saß auf der Bettkante und es dauerte einen Moment, bis er Hermine erkannte.
Er murmelte ein „Guten Morgen." und setzte sich gähnend auf. Gerade noch rechtzeitig dachte er daran, die Bettdecke festzuhalten und um seine Hüften zu ziehen. Hermine grinste.
„Keine Sorge, ich bin nicht prüde."
„Trifft sich gut, ich bin nicht schüchtern. Wie lange hab ich geschlafen?"
„Seit gestern Mittag, denke ich. Ich war so gegen halb fünf hier, da hast du bereits fest geschlafen. Jetzt ist es neun. Hat es denn wenigstens etwas genützt?"
Draco streckte sich und gähnte erneut.
„Ja. Es geht mir um einiges besser als gestern."
„Das ist schön." Hermine lächelte ihn offen an und musterte dabei eingehend und schamlos seinen Körper. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am Kopfende des Bettes, die Decke locker um die Hüften drapiert. Die zerzausten Haaren verdeckten nur einen Teil seines nackten, gut gebauten Oberkörpers. Ihr fiel zum ersten Mal wirklich auf, wie schön der junge Drachenreiter war. Nicht einmal das dichte Gewirr von Narben störte das Gesamtbild. Im Gegenteil. Ohne diese Makel, wäre seine Schönheit unerträglich gewesen. Unwirklich. Unmenschlich. Trotzdem war nichts Aufgesetztes oder Unnatürliches an ihm. Ganz im Gegensatz zu früher. Hermine musste unwillkürlich lachen. Ron wäre vor Scham im Erdboden versunken, wenn er seine Ehefrau in diesem Moment gesehen hätte.
„Was ist so lustig?"
„Nichts eigentlich. Ich musste nur gerade an Ron denken. Er wäre ganz und gar nicht damit einverstanden, dass ich dich so ansehe."
Draco grinste ebenfalls.
„Wir müssen es ihm ja nicht erzählen. Was sind das denn nun für Neuigkeiten?"
„Was? Ach so. Wir haben gestern Nacht noch einen Teil des Rituals übersetzen können. Sozusagen die Liste der Ingredienzien. Du weißt schon. ‚Man braucht ein Feuer aus Eschenholz, frisches Quellwasser, die Haare einer Jungfrau', sowas eben."
„Und? Bringt uns das weiter? Irgendwelche Zutaten, die es nur an ganz bestimmten Orten gibt?"
„Das haben wir auch gehofft. Leider ist das Ritual, was das betrifft recht unspektakulär. Keine exotischen Utensilien. Aber wir haben einen anderen, sehr interessanten Hinweis gefunden. Einen Hinweis über... oh Gott, das klingt so furchtbar... über das Opfer. Warte, ich hab es hier..."
Sie zog einen Zettel aus ihrer Rocktasche und war dankbar, ihn einen Moment nicht ansehen zu müssen. Es war ihr nicht entgangen, dass Draco leicht zusammengezuckt war, als sie von „dem Opfer" gesprochen hatte.
„Es ist eine etwas holprige Übersetzung fürchte ich, aber der Sinn ist zumindest zum Teil klar. ‚...der Träger jener Seele, die es zu übertragen gilt, sei ungebrochen an Körper und Geist. Unvollendeter Schlaf komme über ihn, zwei mal sieben Helligkeiten oder länger...' Den zweiten Teil der Anweisung verstehe ich ehrlich gesagt nicht, aber der Anfang besagt eindeutig, dass sie Harry nicht verletzen dürfen. Er muss für das Ritual sowohl körperlich als auch seelisch unversehrt sein."
Draco schloss die Augen und atmete ein paar mal tief ein und aus. Eine Welle der Erleichterung durchflutete seinen Körper und er konnte nur mühsam die Tränen zurück halten. Harry war nicht tot! Sie würden ihn vielleicht doch noch rechtzeitig retten könne.
„Draco?" Hermines Stimme klang besorgt und er spürte, wie sie ihn leicht am Knie berührte.
„Keine Sorge. Es geht mir gut. Wir haben wieder eine Chance, nicht wahr?"
„Ja. Ich hoffe nur, dass Professor Sinistra bald herausfindet, wann das Ritual stattfindet. Es wäre gut, wenn wir wüssten, wie viel Zeit uns bleibt."
„Ja, obwohl ich ehrlich gesagt Angst habe. Was, wenn sei uns den Zeitpunkt nennen kann und wir dann nur noch zwei Stunden Zeit haben?" Den zweiten Gedanken sprach er nicht aus:
‚Was, wenn wir dann feststellen, dass es zu spät ist?'
„Kannst du mir meine Hose vom Stuhl geben und dich einen Moment umdrehen? Ich komm mir ein bisschen lächerlich vor im Augenblick."
„Mach dir meinetwegen nur keine Umstände."
Sie zwinkerte ihm zu, tat dann aber, worum er sie gebeten hatte.
„Macht es dir was aus, wenn ich die Vorhänge aufmache?"
„Nein. Ich mach sie normalerweise gar nicht zu, aber gestern Mittag war es dann doch ein bisschen zu hell zum schlafen..." er brach ab, als ihm ein Gedanke kam. „Helligkeiten! Damit sind Tage gemeint!"
Hermine fuhr herum.
„Du meine Güte! Du hast recht! Vierzehn Tage also... Was auch immer mit diesem unvollendeten Schlaf gemeint ist, es muss mindestens vierzehn Tage dauern. Das bedeutet... Wir haben mindestens noch sieben Tage. Eine Woche. Das ist nicht besonders viel."
„Aber besser als zwei Stunden! Und immerhin steht dort für vierzehn Tage oder länger. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Voldemort die Zeit so knapp bemessen hat. Egal welche Voraussetzungen für das Ritual erfüllt sein müssen, wir können doch mal davon ausgehen, dass es nicht in jeder Nacht durchgeführt werden kann. Wenn man dann noch bedenkt, dass Harrys Entführung mehr ein Unfall war, als geplant... Es wäre einfach ein zu großer Zufall, wenn die passenden Planetenkonstellationen oder was auch immer erforderlich ist, genau vierzehn Tage nach Harrys zufälliger Entführung eintreten. Das ist vollkommen unrealistisch. Und es bringt uns mehr Zeit."
Hermine sah Draco erstaunt an. Er war erst vor zehn Minuten wach geworden, nachdem er über sechzehn Stunden tief geschlafen hatte. Trotzdem arbeitete sein Verstand bereits auf Hochtouren. Sie kannte nur sehr wenige Menschen, die derart schnell und logisch denken konnten.
„Du hast recht. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Wie kannst du nur so schnell so wach sein?"
Draco lachte, während er mit schnellen, geübten Handgriffen seine Haare in den üblichen Zopf flocht.
„Alles eine Frage der Übung. Wenn du jederzeit damit rechnen musst, nachts um drei aus dem Bett gescheucht zu werden, weil du innerhalb einer halben Stunde abflugbereit auf deinem Drachen sitzen musst, gewöhnst du dich daran. Es ist schön, mal einen Tag im Bett rumzugammeln oder lange zu schlafen, aber im Grunde bin ich ein Frühaufsteher. Und ich hasse es untätig rumzuhängen."
Hermine setzte sich auf die Fensterbank und sah den Slytherin nachdenklich an.
„Bist du darum nach Malfoy Manor gegangen? Weil du nicht untätig hier herumsitzen wolltest?"
„Ja. Um ehrlich zu sein... Ich wusste nicht, dass das Buch dort sein würde. Ich habe in meinem Leben soviel gelesen und so viele Bücher in der Hand gehabt. Ich hätte das Liber Noctis überall gesehen haben können. Aber was Flint über Lucius gesagt hat, hat mir einfach keine Ruhe gelassen. Ich musste dort hin und Gewissheit haben."
„Was hättest du getan, wenn ihr das Buch nicht gefunden hättet?"
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte ich versucht ihn zur Rede zu stellen. Was mich vermutlich das Leben gekostet hätte. Aber es ist auch müßig, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Wir haben das Buch und Lucius ist tot."
„Bereust du es?"
„Was? Dass er tot ist? Nein, auf gar keinen Fall. Ich bereue höchstens, dass ich es nicht selbst getan habe. Entschuldige. Ich sollte nicht so reden."
„Ich kann dich verstehen. Hat er das getan?" Sie deutetet auf die Narben.
Draco nickte leicht, dann streifte er sich die Tunika über den Kopf und zog langsam die Bänder fest.
„Ja. Er und andere."
Hermine seufzte leise.
„Dieser Krieg zeichnet uns alle auf die eine oder andere Weise."
--
Er lag in der Dunkelheit.
Er war müde, unendlich müde.
Seine Arme und Beine gehorchten ihm nur unter Protest.
Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wieviel Zeit war vergangen? Ein Tag? Ein Jahr? Ein ganzes Leben?
Er wusste es nicht.
Hatte es jemals etwas anderes gegeben, als diese immerwährende Dunkelheit? Das Geräusch von Wasser, das auf Stein tropft?
Das Rascheln verborgener Tiere in der Dunkelheit?
Spinnen, Käfer, Ratten, Geschöpfe, die niemals das Tageslicht gesehen hatten. Geschöpfe wie er selbst.
Manchmal, in klaren Momenten, erinnerte er sich.
An seinen Namen, an Gesichter, die auch Namen hatten, er musste sich nur anstrengen, dann würde es ihm schon wieder einfallen.
Seine Träume waren seltsam, verwirrend, unzusammenhängend.
Drachen und ein Wolf.
Silberne Augen und das Lachen eines Mädchens.
Ein alter Mann, mit einem milden Lächeln, eine Frau mit roten Haaren, die ein Baby im Arm hielt.
Ein schwarzer Hund und ein Hirsch.
Grünes Licht und ein Blitz.
Ein Schloss auf einer Insel im Meer, eine windschiefe Hütte am Waldrand.
Dann wieder ein klarer Augenblick
Es geschah etwas Schreckliches irgendwo da draußen.
Etwas, das mit ihm zu tun hatte.
Nur was?
Oder hatte er das auch nur geträumt?
Im Anfang hatte er sich gegen das Gift gewehrt. Hatte um sich geschlagen, getreten und geschrieen, als sie kamen und es ihm verabreichten.
Inzwischen waren auch sie nur noch unwirkliche Gestalten in einem Meer aus verworrenen Träumen und Gedanken.
Das Licht ihrer Fackeln ein jähes Aufblitzen in der Dunkelheit.
Ohne Sinn.
Ohne Ziel.
Verloren in Finsternis.
So wie er selbst.
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Vier Tage waren vergangen, seit Draco und Ron nach Malfoy Manor aufgebrochen waren. Trotz der Ereignisse der letzten Woche war in Hogwarts so etwas wie Routine eingekehrt.
Hermine, Professor Dumbledore und Madame Pince brüteten von früh bis spät über dem Liber Noctis und versuchten die Anweisungen und Beschreibungen für das Ritual der Seelenacht zu übersetzen.
Professor Sinistra hatte sich in ihr Observatorium im Astronomieturm zurückgezogen und versuchte die Sternenkonstellationen zu entschlüsseln, die sie sorgsam aus dem Buch abgeschrieben hatte und die den Zeitpunkt des Rituals anzeigen würden. Leider waren sehr alte Namen der Sternbilder und noch ältere astronomische Daten zugrunde gelegt, so dass die Astronomielehrerin unterstützt von Remus Lupin nur sehr langsam vorankam. Zumindest konnten sie inzwischen sagen, dass der vorgegeben Zeitpunkt für das Ritual nicht in näherer Zukunft lag und Harry somit noch nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte.
Luna Lovegood hatte es sich zur Aufgabe gemacht Narcissa Malfoy zurück ins Leben zu führen. Die beiden Frauen wurden nur noch gemeinsam gesehen und Draco hatte bereits festgestellt, dass es seiner Mutter täglich besser ging. Sie fasste allmählich wieder Vertrauen und schüttelte auch die letzten Reste ihrer Verwirrtheit ab. Es war abzusehen, dass sie bald wieder zu einem Großteil in ihr altes Selbst zurückfinden würde.
Was George betraf... Er war erst am späten Nachmittag des zweiten Tages aufgewacht und die Erinnerung daran würde sich auf ewig in Rons Gedächtnis brennen...
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Es war still im Krankenflügel. Die Sonne schien durch die hohen Fenster und wärmte die hellen Fliesen. Ron saß am Bett seines Bruders und starrte die abgemagerte Gestalt in den weißen Kissen traurig an. Am Morgen hatte er Madame Pomfrey geholfen George zu baden und ihm saubere Sachen anzuziehen. Es war einer der furchtbarsten Erfahrungen in Rons bisherigem Leben geworden. George war nur halb aus seiner Ohnmacht erwacht, als sie ihn behutsam in die Badewanne legten. Immer wieder hatte er leise nach Fred gerufen und Unverständliches gemurmelt. Nur Bruchstücke waren zu verstehen gewesen. Diese hatten sich wie Messer in Rons Seele gegraben. George flehte irgendjemanden, den nur er sehen konnte, an, aufzuhören, dann wieder Freds Namen, die Bitte, ihn leben zu lassen... Ron war dankbar, wenn das Gemurmel wieder verebbte und unverständlich wurde. Vorsichtig hatten sie ihn gewaschen und unter dem Schmutz von fast vier Jahren Gefangenschaft kamen die Spuren längst vergangener Folter zu Tage. Entzündete, nur schlecht verheilte Wunden, geschwollene, verkrümmte Gelenke, Bisse von Ratten und kleinerem Ungeziefer. Kränklich bleiche Haut, die sich über die Knochen spannte. In Haaren und Bart wimmelten Läuse durcheinander. Eine dichte Schorfschicht direkt am Haaransatz zeugte von dem vergeblichen Versuch das Jucken zu lindern.
Fast zwei Stunden dauerte die Prozedur, dann war George sauber, rasiert, die Haare gewaschen und von Ungeziefer befreit. Ron hatte einen Pyjama aus seinem Zimmer geholt und fast geweint, als er sah, wie er um Georges dürren Körper schlabberte. Es hatte eine Zeit gegeben, als Ron die Klamotten seiner älteren Brüder angezogen hatte, die ihm viel zu groß waren. Das es einmal umgekehrt sein würde...
Stundenlang saß Ron danach einfach nur da und starrte George an.
Leise Stimmen rissen ihn irgendwann aus seiner Trance. Er hob den Kopf und sah ein paar Betten weiter Mrs. Malfoy, die sich mit Luna, Draco und Hermine unterhielt, die an ihrem Bett standen. Madame Pomfrey untersuchte derweilen ihre Hände. Auch Narcissa hatte Schreckliches durchgemacht, das wusste Ron, aber sie schien sich bereits zu erholen. Auch sie war inzwischen gebadete und umgezogen und wenn man einmal von ihrer extremen Magerkeit absah, wirkte sie fast vollkommen normal. Sie trug ein schlichtes, rotes Kleid mit weißen Streublümchen, das Ron erstaunt als eines von Hermine erkannte und ihre langen Haare waren zu einem losen Knoten geschlungen. Es gelang ihr bereits wieder, sich mit einer gewissen Eleganz zu bewegen, die anscheinend angeboren war. Anders war es nicht zu erklären.
Ron lächelte ihr leicht zu. Madame Pomfrey hatte ihm erzählt, dass Narcissa die ganze Nacht bei George gesessen und seine Hand gehalten hatte, nachdem er schreiend aus einem Alptraum erwacht war.
Ein leises Aufkeuchen vom Bett ließ ihn herumfahren.
George lag mit weitaufgerissenen Augen im Bett, einen Ausdruck nackter Panik im Gesicht.
„Fred..." seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen.
„George? Ich bin es Ron. Hab keine Angst, du bist in Sicherheit."
Ron setzte sich auf den Bettrand und nahm Georges kalte, knochige Hand in seine.
„Ron? Warum bist du hier? Haben sie dich auch gefangen? Wo ist Fred?"
„George. Du bist in Sicherheit. In Hogwarts. Erinnerst du dich nicht mehr? Draco hat dich aus dem Kerker befreit. Gestern."
„Draco?... Da war ein Drache... aber nein, das war ein Traum... Und Fred? Er hat gesagt, Fred ist tot... Das stimmt aber nicht. Ich habe mit ihm gesprochen... Eben noch... Ich weiß es genau... Als sie ihn wieder in die Zelle gebracht haben... Sie wollen ihn jetzt nicht mehr quälen, das hat er versprochen... Die Frau hat gesagt, er kommt nicht wieder... Die Frau in der anderen Zelle... sie weint oft... immer nachts... sie ist traurig, weil ihr Sohn tot ist... Sie hat mir von ihm erzählt...Sie hat mir auch ihren Namen gesagt, aber ich hab ihn vergessen... eine Blume..."
„Ich bin hier, Liebes. Narcissa. Du kennst mich doch. Hab keine Angst, wir sind nicht mehr in dieser schrecklichen Zelle."
Ohne das Ron es gemerkt hatte, waren die anderen zu ihm getreten. Narcissa setzte sich an Georges andere Seite und nahm seine Hand. So etwas wie Wiedererkennen flackerte in seinem Blick auf. Hermine trat zu Ron und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
Madame Pomfrey kam jetzt ebenfalls näher. Sie hielt einen Becher in der Hand, den sie Narcissa reichte.
„Geben Sie ihm das, meine Liebe. Es wird ihm helfen seinen Geist zu klären."
„Hier, Liebes. Trink das. Dann geht es dir gleich besser."
Behutsam schob Narcissa ihr Hand in Georges Nacken, hob seinen Kopf leicht an, setzte den Becher an seine Lippen und half ihm zu trinken.
Ron beobachtete ängstlich jede Handbewegung.
Dann sah er die blonde Frau flehend an.
„Was ist mit ihm passiert? Sie waren auch in diesem Kerker. Haben Sie etwas gesehen?"
„Ja. Ich war bereits dort unten, als der Junge und sein Bruder gefangen genommen wurden."
„Würden Sie... würden Sie es mir erzählen? Ich weiß, dass das hart für sie sein muss, aber ich möchte wissen, was passiert ist. Und Sie sind die Einzige, die mir das sagen kann."
Narcissa stand auf und ging ein paar unsichere Schritte hin und her. Dann setzte sie sich auf das leere Nachbarbett. Draco ließ seine Mutter nicht eine Sekunde aus den Augen. Er konnte ihren inneren Kampf sehen.
Schließlich nickte sie.
„Ich werde erzählen, was ich gesehen habe. Vielleicht hilft es euch allen. Vielleicht hilft es ihm," sie sah George mit einem wehmütigen Lächeln an, „die Realität zu akzeptieren.
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Zelle war, als Lucius und Marcus Flint die beiden Jungen brachten. Vielleicht zwei oder drei Monate. Ich erinnere mich nur, dass Lucius mir wenige Tage zuvor eine Vision von Dracos Tod gezeigt hatte. Dass es eine Lüge war, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Ich war also entsprechend verzweifelt und habe nicht viel von meiner Umgebung mitbekommen. Trotzdem erinnere ich mich an den Tag, als die Zwillinge kamen. Sie wurde in die Nachbarzelle gesperrt und Lucius sagte zu mir, nun hätte ich Gesellschaft, zumindest für eine Weile. Nach ein paar Tagen fing er an die beiden zu verhören. Er wollte Informationen über den Phönixorden und über dessen Pläne gegen den dunklen Lord. Ich wusste nicht viel von dem, was er erzählt hat und nicht immer hat er das Verhör im Kerker durchgeführt. Oft hat er einen der beiden in einen anderen Raum geholt und ihn erst Stunden und manchmal auch Tage später zurückgebracht. Es müssen ein paar Wochen, vielleicht auch Monate vergangen sein, bevor Lucius das erste Mal befohlen hat, einen der beiden zu foltern. Sie haben ihn, ich weiß nicht, wer es war, an die Wand gekettet, an die Ringe, die dort eingelassen sind. Mir haben sie die Augen verbunden. Ich weiß nicht, warum. Die Schreie hab ich trotzdem gehört.
So ging es dann lange Zeit. Im Abstand von einer oder zwei Wochen. Immer abwechselnd. Einer von beiden. Nach dem fünften oder sechsten Mal habe ich dann keine Augenbinde mehr bekommen, aber ich konnte es dennoch nicht mit ansehen.
Auf jeden Fall war die Folter vergebens. Die Jungen haben beide nichts gesagt. Dann, es muss etwa anderthalb Jahre her sein, hat Lucius seine Strategie geändert. Statt beide abwechselnd, hat er nur noch einen von ihnen gefoltert. Warum er sich für Fred entschieden hat, weiß ich nicht, ich nehme an, es war reine Willkür. Er hat ihn auch nicht mehr zurück in die Zelle gebracht. Statt dessen hing er Tag und Nacht an den Ringen. Manchmal haben sie ihn ein paar Tage gar nicht beachtet. Hin und wieder hat man ihn aus dem Kerker geholt und in einen anderen Raum gebracht. Trotzdem haben sie nichts verraten. George stand mehrfach kurz davor glaube ich, aber Fred hat ihn beschworen, den Mund zu halten. Ich weiß nicht, wie lange es letztendlich gedauert hat, aber irgendwann hatte Lucius genug von seinem Spiel und war offenbar auch endlich von der Sinnlosigkeit überzeugt. Er hat Fred von der Wand genommen und ihn zurück in die Zelle geworfen. Danach hab ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hab nur ihre Stimmen gehört. Und irgendwann dann nur noch die Stimme von George. Lucius ist danach nur noch selten gekommen. Er hat jeden zweiten oder dritten Tag jemanden mit Wasser und Essen geschickt, aber ihn selbst haben wir kaum noch gesehen. Als George dann vor eine paar Tage aufgehört hat zu reden, dachte ich, er sei ebenfalls gestorben. Ich hatte mich schon damit abgefunden sein Schicksal zu teilen. Bis vor drei Tagen Draco kam..."
Stille folgte ihren Worten. Jeder versuchte auf seine Art, das eben Gehörte zu verarbeiten.
Luna legte den Arm um Narcissas schmale Schultern und hielt sie einfach nur im Arm, Hermines Augen hingen an Ron, der stumm um seinen toten und auch um seinen lebenden Bruder weinte, Draco, der Einzige, der wirklich nachfühlen konnte, was es hieß der Folter der Todesser ausgeliefert zu sein, hatte die Arme um seine Oberkörper geschlungen und versuchte die Erinnerungen zurückzudrängen und gleichzeitig die brennende Wut im Zaum zu halten.
George, der die ganze Zeit über geschwiegen und teilnahmslos aus dem Fenster gestarrt hatte, schien plötzlich aus seiner Trance zu erwachen.
„Ich wollte Fred helfen, aber ich konnte nicht. Ich hab sie angefleht aufzuhören, ihn nicht zu töten, aber sie haben nicht gehört. Und als er dann in meinen Armen lag und solche Schmerzen hatte, da hab ich sie um Medizin gebeten, aber sie haben nur gelacht. Ich hab mit Fred geredet, damit er nicht an die Schmerzen denken muss. Ich hab ihm gesagt, dass alles wieder gut wird und was wir machen, wenn wir wieder zu Hause sind. Er hat gesagt, dass er sich darauf freut, dass er Mum und Dad und die anderen wiedersehen möchte. Und die Sonne. Und dann hat er eines Tages gar nichts mehr gesagt. Ich hab versucht ihn aufzuwecken, aber er hat mich nicht gehört. Ich weiß, dass er tot ist. Aber es tut so weh! Ich will nicht, dass er tot ist! Er ist mein Bruder, mein Zwilling. Was soll ich denn ohne ihn machen?"
An dieser Stelle war seine Stimme in haltlosem Schluchzen untergegangen...
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An diesem Tag hatte George aufgehört so zu tun, als würde Fred noch leben. Er hatte sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Dank Madame Pomfreys fürsorglicher Pflege, ging es ihm körperlich jeden Tag besser. Wie groß der Schaden war, den seine Seele genommen hatte, war noch nicht abzusehen.
Die übrigen Bewohner Hogwarts gingen mehr oder weniger ihren üblichen Beschäftigungen nach. Auch wenn nichts war wie sonst. Nur zweien gelang es nicht, sich in das Gesamtbild zu fügen.
Simon vermisste sein Zuhause und seine Freunde. Er war auf der Dracheninsel geboren und aufgewachsen und es fiel ihm schwer so lange an einem fremden Ort zu bleiben. Sicher, er hatte sich ziemlich gut mir Seamus angefreundet, aber trotzdem fiel ihm jetzt, wo alle seine Freunde weg waren, immer wieder auf, wie anders er im Grunde war. Und der einzige andere Drachenreiter, der hier war, blieb für ihn unerreichbar.
Draco war ruhelos. Er lief stundenlang im Schloss herum und versuchte sich einzureden, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Aber seit Georges Geschichte hatten diese Worte einen bitteren Beigeschmack bekommen. George hatte auch gedacht, dass alles sich zum Guten wenden würde, für Fred und ihn. Jetzt war Fred tot und George am Rande des Wahnsinns. Was, wenn er sich wegen Harry ebenfalls falschen Hoffnungen hingab? Wenn sie nicht rechtzeitig kommen würden, um ihn zu retten? Wenn... was wenn Flint gelogen hatte? Wenn Voldemort gar nicht vorhatte das Ritual durchzuführen? Wenn Harry längst tot war? Wie oft waren ihm das alles inzwischen durch den Kopf gegangen? Er wusste selbst, dass es keinen Sinn machte, sich selbst mit solchen Gedanken zu quälen, aber er konnte nichts daran ändern. Die Tatsache, dass er nichts unternehmen konnte setzte ihm zusätzlich zu. Keine der eifrig forschenden, rätselnden Gruppen konnte er irgendwie unterstützen. Er hatte keine Ahnung von alten Runen und schon gar nicht von Astronomie.
Zur Untätigkeit verdammt drehten seine Gedanken sich immer wieder um die gleichen Fragen. Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Heute endlich hatte er es nicht mehr ausgehalten. Er musste raus aus diesem Schloss. Und wenn es nur auf die Klippen um den See war. Der einzige halbwegs sichere Ort außerhalb der Schlossmauern.
Jetzt saß er schon seit Stunden hier und starrte auf den See, beobachtete Ashes und Freckles, die über dem Wasser dahinschossen und Fische fingen. Die Drachen waren ebenso unruhig wie ihre Reiter. Sie waren nicht daran gewöhnt so lange Zeit an einem Ort zu bleibe. Auf der Insel konnten sie frei umherfliegen, Meile um Meile, über offene, sturmgepeitschte See...
„Hier steckst du. Ich hab schon gedacht, du wärest vom Turm gefallen."
Simon ließ sich neben Draco auf einen Felsvorsprung fallen.
„Wie geht's dir?"
„Die Wahrheit? Ich steh kurz davor durchzudrehen! Ich werde wahnsinnig hier. Es macht mich verrückt, dass ich nichts tun kann."
„Ich weiß, was du meinst. Ich will auch nach Hause. Ich hab mich noch nie in meinem Leben so eingesperrt gefühlt."
„Wenn es nur das wäre."
Simon nickte. „Harry... Du weißt, dass alles getan wird, was möglich ist. Du hast bereits Kopf und Kragen riskiert um diese blöde Buch zu holen. Ich weiß nicht, wie gut die alle sind, aber ich schätze mal, dass sie alles machen, was in ihrer Macht steht."
„Das weiß ich! Trotzdem! ICH kann nichts machen und das bringt mich um. Simon. Ich weiß wozu sie fähig sind. Und auch wenn in diesem dämlichen Buch steht, dass er unversehrt sein muss, so weiß ich trotzdem nicht, wie großzügig Voldemort das auslegen wird. Und was ist, wenn sie gar nicht vorhaben, dieses Ritual durchzuführen? Was ist dann? Dann sind alle unsere Bemühungen umsonst."
Simon seufzte. Es tat weh zu sehen, wie sehr Draco unter der Situation litt, aber es lag nicht in Simons Macht seinem Freund zu helfen. Dracos Gefühle für Harry waren etwas, an dem er keinen Anteil hatte. Alles was er tun konnte, war zu hoffen, dass alles ein gutes Ende nahm.
Behutsam legte er den Arm um Dracos Schultern.
„Hey. Du weißt, dass ich dich liebe und immer für dich da bin, oder?"
Draco lächelte leicht. Dann küsste er den anderen Drachenreiter sanft auf den Mund.
„Ja, das weiß ich."
Simon grinste schief.
„Und ich hab gar keine Chance mehr?"
„Nein. Und das weißt du."
„Naja, war einen Versuch wert."
Simon registrierte zufrieden das winzige Lächeln, dass er seinem Freund entlockt hatte.
„Auf jeden Fall..."
„Ich wusste es! DU Betrüger! Du Mistkerl!"
Die sich überschlagende Stimme ließ sie beide herumfahren.
Justin stand ein paar Meter entfernt und spuckte Gift und Galle. Sein Kopf war hochrot und er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er schwankte leicht und seine Stimme klang irgendwie schleppend und undeutlich.
Die beiden Drachenreiter standen auf.
„Der ist zu wie ne Strandhaubitze." zischte Simon.
Draco nickte leicht.
„Finch-Fletchley. Was willst du hier. Geh wieder ins Schloss, du bist ja völlig betrunken."
„A...aber nicht betrunken genug, um nicht zu s...sehen, wie du Harry betrügst! Du hinterhältige Schlang... ange!"
Dracos Augen verengten sich.
„Pass besser auf, was du sagst, du kleine Ratte! Du hast schon genug Mist gebaut. Sei lieber vorsichtig."
„D...drohst du mir? Ich hab aber keine Angst... Du bist doch froh, dass Harry weg ist. Kannst du wieder mit anderen rumvö...vögeln..."
Draco machte langsam einen Schritt auf Justin zu.
„Finch-Fletchley... geh ins Schloss und schlaf erst mal deinen Rausch aus. Du weißt ja nicht, was du redest."
Justin wich erschrocken zurück. Sein Stimme überschlug sich fast.
„Fass mich nicht an! Ich schreie! Du darfst mir nicht wehtun! Ron hat mir erzählt, dass du den Todesser ermordet hast, aber mir wirst du nichts tun..."
„Mensch! Komm von dem Rand weg!"
Simon machte ebenfalls ein paar Schritte auf Justin zu.
Justin wich weiter zurück. Zu weit. Die Steine am Rand des Vorsprungs, auf dem er stand hielten seinem Gewicht nur einen Moment stand, bevor sie unter ihm nachgaben. Ein erstaunter Ausdruck trat auf sein Gesicht, seine Arme griffen ins Leere, dann stürzte er mit einem Aufschrei in die Tiefe.
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A/N: So, ich hoffe, es ist jetzt niemand allzu traurig ... ;o) Der ARME Justin... keiner hatte ihn lieb... tragisch...
Charara? Die Drachenlanze ist von Margret Weis & Tracy Hickman geschrieben. Allerdings ist das kein einzelnes Buch, sondern eine Saga, die inzwischen um die 70 Bände umfasst. (Nur die ins deutsche übersetzten. Im Original gibt es um die 150 Bände!) Ne Leseliste gibt es auf Drachenlanze.de. Die Bücher nicht durcheinander lesen, das gibt nur heillose Verwirrung. Aber ich kann sie nur allen wärmstens empfehlen. Ich liebe sie mehr als HdR und HP zusammen!
