Geliebter Feind
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich hier bin. Es ist dunkel und kalt, so kalt, dass mein Atem graue Wölkchen in der Nachtluft bildet. Eigentlich ist es ein Abend, an dem man zu Hause bleiben und sich irgendeine dieser Familiensendungen oder Sportshows ansehen sollte.
Vielleicht bin ich einfach nur hergekommen, um nachzudenken, wie ich es in letzter Zeit so oft getan habe. Der Nebel stört mich dabei nicht, ganz im Gegenteil. Er schirmt mich von jeglichen Anzeichen menschlicher Zivilisation ab, nur gelegentlich wird er vom schwachen Licht einer Straßenlaterne durchbrochen. Kein Laut dringt durch ihn hindurch und ich kann endlich allein sein, allein mit meinen Gedanken...
Doch plötzlich stehst du da. Deine Gestalt zeichnet sich nur undeutlich in den dichten Schwaden ab, aber trotzdem weiß ich, dass du es bist. Eiskalt ruhen deine Augen auf mir, deine Blicke bohren sich wie feine Nadeln in mich hinein. Trägst du Waffen bei dir? Bist du gekommen, um mich zu töten? Nicht durch eine Regung verrätst du was du vorhast.
Bilde ich es mir ein, oder lächelst du?
Mein Unterbewusstsein schreit nach deinem Blut und jede Faser meines Körpers will nach der Waffe greifen, die ich bei mir trage, aber etwas hält mich zurück. Wie immer... Obwohl ich mir nichts mehr wünsche als deinen Tod.
Du hättest ihn verdient.
Damals, vor dem Haus meines Vaters hätte ich dich bestimmt erschossen, wäre nicht sie dazwischen gegangen. Später, wann auch immer ich auf dich traf, war stets jemand zur Stelle, um es zu verhindern, und wenn sich mir die Gelegenheit bot, ohne Zeugen über dich zu richten, war da jedes Mal dieses Gefühl, dass mich davon abhielt. Vor meinem inneren Auge sah ich dich bereits getroffen zusammensinken, deinen Blick langsam brechen.
Warum konnte ich es nie tun? Warum fällt es mir so schwer, den Mörder meines Vaters zu töten?
Oder leugnest du etwa immer noch, Schuld daran zu tragen? Wahrscheinlich war es nicht deine Idee, das mag sein, aber dennoch hast du es getan. Du hättest lieber mich als Ziel gehabt, doch deine Auftragsgeber erlaubten es dir nicht, da sie einen regelrechten Kreuzzug fürchteten, nicht wahr? Ich weiß, dass du dich mit Freuden über meine Leiche beugen würdest, also was hält dich zurück?
Ist es dasselbe, das auch mich nie abdrücken lässt? Fühlst auch du trotz all des Hasses zwischen uns eine gewisse Verbundenheit? Wie Brüder, die lange getrennt waren...
Etwas, das ich weder heute noch morgen erfahren werde, denn schon bist du verschwunden, bist wieder zu dem lautlosen Schatten geworden, der du immer warst...
Und ich bin allein mit meinen Gedanken...
