Kapitel 2 – Die Musik der Nacht
Die Sonne war gerade untergegangen, als Eanur die Festung von Emyn Arnen erreichte.
Als er die Burg das erste Mal erblickte, war er gerade drei Jahre alt. Damals fand die Hochzeit von Barahir und Morwen statt und Barahirs Vater hatte seine Pflichten als Truchsess und Fürst an seinen Sohn abgegeben.
Eanur war jedes Mal, wenn er die Festung wieder sah, erstaunt und fasziniert. Auch wenn man die Burg nicht mit Minas Tirith oder Edoras vergleichen konnte, war sie trotzdem durch ihre Größe beeindruckend. Sie sah aus, als wäre sie aus dem Boden gestampft und schien schon immer an diesem Ort gestanden zu haben. Außerdem zeigte sie bis heute keine Spuren von den Jahrhunderten, die sie schon überdauert hatte.
Als Eanur nun den Weg zum Tor hinauf ritt, erkannte er eine schemenhafte Figur auf der Burgmauer. Es war bestimmt eine seiner Schwestern, die den Ausblick genossen. Besonders Gilraen liebte die Natur und verbrachte teilweise Nächte mit dem Beobachten des Sternenhimmels. Ihre Mutter sagte oft, dass Gilraen nach ihrer Großmutter, Königin Arwen, kam, denn sie ähnelte den Elben in ihrem Handeln und Verhalten sehr. Sie hatte dasselbe schwarze Haar wie Arwen und eine blasse Haut. Außerdem war sie relativ groß.
Kurz nachdem Eanur die Gestalt gesehen hatte, verschwand sie auch schon. Wahrscheinlich benachrichtigte seine Schwester gerade Lalaith, dass er angekommen war. Und als er durch das große Tor der Burg ritt, warteten dort auch schon seine Mutter und seine Schwestern.
Als er seine Zwillingsschwestern nebeneinander stehen sah, fiel ihm mal wieder auf, wie unterschiedlich sie waren. Emeldir hatte im Gegensatz zu ihrer Schwester hellbraunes Haar und war zierlich. Außerdem war sie ziemlich aufbrausend und abenteuerlustig, während Gilraen eher zurückhaltend war und die Ruhe genoss.
„Da bist du ja endlich! Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht", rief Lalaith ihm entgegen, „bist du ohne Probleme durchgekommen?" Sie war eine Adelige aus dem Westen Mittelerdes und war in der Nähe von Fornost aufgewachsen. Ihre Haare waren braun und ganz glatt. Außerdem war sie sehr zierlich und hatte graue Augen.
Eanur stieg von Leo ab, umarmte seine Mutter und antwortete ihr: „Ja, Mutter! Der Gastwirt Ranugad vom Gasthaus ‚Zur Sternenkuppel' hat mich sehr gut bewirtet und den Weg von Osgiliath bis hierher habe ich ohne Zwischenfälle zurückgelegt."
„Dann komm mit uns. Dein Vater und das Fürstenpaar essen bereits zu Abend. Wir wollten nur auf dich warten. Mach dich eben frisch und komm dann in den Speisesaal. Um Arinleo werden sich die Stallburschen kümmern", damit ging Lalaith mit Eanurs Zwillingsschwestern in das Hauptgebäude.
Kurz darauf kamen zwei Stallburschen und ein Kammerdiener auf den Prinzen zu. Die Stallburschen nahmen Eanur Leo ab und führten ihn in den Stall, während der Kammerdiener ihn ins Hauptgebäude brachte und ihm seine Unterkunft zeigte. Dort machte Eanur sich frisch und verließ sein Gemach wenig später, um endlich eine Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Als er die Tür zum Speisesaal öffnete, hörte er schon das laute Lachen seines Vaters. Wahrscheinlich hatte Barahir gerade einen Witz erzählt oder sich einen anderen Spaß erlaubt.
Er war ein typischer Mann aus Gondor, von großem Wuchs und braunes Haar.
„Da bist du ja endlich!" sprach Eldarion seinen Sohn an, „beinahe wäre kein Essen mehr für dich da gewesen, wenn Morwen mich nicht zurückgehalten hätte. Es schmeckt einfach vorzüglich!" Eldarion sah seinem Vater unheimlich ähnlich.
„Danke, ich werde meiner Köchin davon berichten", entgegnete Morwen dem Kompliment vom König. Die Fürstin war eine Frau aus dem Volk. Sie war relativ klein und hatte strohblondes Haar.
Eanur setzte sich an den Tisch neben seine Schwester Emeldir und füllte sich etwas Essen auf seinen Teller. Inzwischen war er wirklich hungrig geworden.
Er hatte noch nicht viel gegessen, als sie plötzlich einen lieblichen Gesang hörten, den man in Mittelerde nur noch selten vernehmen konnte. Morwen fing an zu Grinsen, als sie die verblüfften Gesichter ihrer Gäste sah.
„Was ist das?", fragte Emeldir, wobei sie flüsterte, um die Stimmung nicht zu zerstören.
Noch bevor Morwen antworten konnte, stürmte ein kleiner, weißer Engel mit blonden Haaren in den Saal und rief: „Mama, Papa, die Elben kommen, die Elben kommen!"
Nun wusste auch die Königsfamilie, woher der Gesang kam. Sie standen auf und liefen auf den Balkon, der an den Speisesaal angrenzte. Von dort hatten sie einen wunderbaren Blick auf den Burghof und die umliegende Umgebung.
Nun sahen sie auch die Elben, die sich langsam der Burg näherten. Währenddessen sangen sie ununterbrochen ihr Lied, das alle Anwesenden verzauberte. Keiner konnte ein Wort sagen oder sich von der Stelle rühren, sie lauschten nur dem Gesang:
A Elbereth Gilthoniel,
silivren penna míriel
o menel aglar elenath!
Na-chaered palan-díriel
o galadhremmin ennorath,
Fanuilos, le linnathon
nef aear, sí nef aearon!
Erst als die Elben durch das Burgtor den Innenhof betraten, beendeten sie ihren Gesang. Alle waren einheitlich in lange dunkle Mäntel gehüllt und die männlichen Elben konnte man nur an den Bögen erkennen, die sie über dem Rücken trugen.
Nun konnten sich auch die Zuschauer dieses Schauspiels wieder rühren und König Eldarion sagte: „So etwas habe ich schon lange nicht mehr miterlebt. Ich habe ganz vergessen, wie atemberaubend es ist."
„Ja, du hast Recht. Schade, dass die Elben nur noch selten durch Mittelerde reisen", entgegnete seine Gemahlin.
Die Kinder der beiden Paare blieben stumm, da sie noch immer wie verzaubert waren.
Währenddessen verließ das Fürstenpaar den Balkon und ging ihre Gäste begrüßen.
Die Elben kamen aus Ithilien, wo sie sich seit einigen Jahren angesiedelt hatten, und seitdem wuchs der Kontakt zwischen dem Fürstenpaar und den Elben.
Erst jetzt bemerkte Lalaith, wie spät es war. „Ich finde ihr solltet ins Bett gehen. Du, Eanur, bist bestimmt müde von der Reise und du, Emeldir, könntest vielleicht mit Gilraen zusammen Rían wieder ins Bett bringen, bevor ihr selbst schlafen geht."
„Aber Mama, ich möchte noch mehr von den Elben sehen und sie kennen lernen!", protestierte Gilraen, während Eanur schon den Balkon verließ.
„Die Elben sind auch morgen noch hier und sie sind bestimmt ebenfalls müde von ihrer Reise. Und jetzt geh bitte mit deiner Schwester mit", entgegnete Lalaith.
Gilraen gab sich geschlagen und verließ mit ihrer Schwester zusammen, die Rían auf dem Arm hatte, ebenfalls den Balkon.
Unterdessen verließ nun auch das Königspaar Arm in Arm den Balkon, während die Fürsten immer noch bei den Elben standen. Doch auch sie trennten sich bald und schließlich kehrte in der ganzen Burg eine himmlische Ruhe ein.
Als Eanur am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.
Es musste schon später Vormittag sein, weshalb er sich schnell ankleidete und eilig das Zimmer verließ.
Da gestern alle etwas später als normal in den Betten lagen, hoffte er, dass im Speisesaal noch immer das Frühstück angerichtet war. Außerdem wünschte er sich insgeheim, dass er dort den einen oder anderen Elben antraf. Eanur hatte bisher nur sehr wenige Elben getroffen, worunter auch König Legolas war.
Als er so in Gedanken durch die Flure der Burg lief, achtete er nicht auf das, was um ihn herum geschah. Und als er etwas zu schnell um eine Ecke stürmte, rannte er geradewegs in eine andere Person hinein.
Sie fielen beide zu Boden und lagen wie ein Knäuel in dem Gang der fürstlichen Burg.
Als Eanur sich endlich wieder aufrappelte, brummelte er die ganze Zeit ein ehrlich gemeintes „Entschuldigung". Erst als er vollkommen stand bemerkte er, dass die Person, mit der er zusammengestoßen war, eine Frau war. Sofort beugte er sich zu ihr herunter und versuchte ihr aufzuhelfen.
Er entschuldigte sich nochmals bei der Frau und betrachtete sie vorsichtig von unten bis oben.
Sie hatte ein wunderschönes matt grün schimmerndes Kleid an, das sehr gut zu ihren dunklen Augen passte. Ihre Haare waren blond und zu einem Zopf geflochten, der ihr bis an die Taille reichte. Als er dann ihre Ohren sah, stockte ihm der Atem.
‚Dies war eine der Elben, die gestern Abend angereist waren!', dachte er nervös.
„Habt Ihr Euch etwas getan? Es tut mir unendlich Leid, dass ich so stürmisch um die Ecke gerauscht bin. Ich war in Gedanken und habe nicht bemerkt, was um mich herum geschieht", stotterte Eanur vor sich hin.
„Ihr müsst Euch nicht bei mir entschuldigen, ich war auch nicht sehr aufmerksam. Außerdem habe ich mir nichts bei dem Sturz getan", beruhigte die fremde Elbe Eanur, „wohin sollte es denn so eilig gehen?"
„Ich wollte frühstücken gehen, da ich verschlafen habe. Ich war einfach zu müde von der gestrigen Reise hierher", antwortete der Prinz und sah die Elbe dabei vorsichtig an.
„Dann tut es mir ebenfalls Leid", sagte die Elbe plötzlich ganz leise. Ihre Stimme war melodisch und sie hatte etwas Befremdliches an sich, vielleicht den Akzent mit der sie sprach.
„Was tut Euch Leid?", fragte Eanur nun verdutzt. Er konnte der Elbe nicht ganz folgen.
„Das Frühstück wurde soeben abgeräumt. Auch ich habe etwas länger geschlafen, aber ich kam noch rechtzeitig, um eine kleine Mahlzeit zu mir nehmen zu können. Ihr müsst euch wahrscheinlich in der Küche melden, wenn ihr noch ein Frühstück haben wollt", entgegnete sie lächeln.
„Vielen Dank für den Rat. So brauch ich den Weg nicht bis zum Saal laufen, sondern kann gleich in die Küche gehen", damit verabschiedeten die beiden sich und gingen in verschiedene Richtungen auseinander.
Erst als Eanur ein kleines Stück gegangen war, kam ihm der Gedanke, dass er die schöne Elbe gar nicht nach ihrem Namen gefragt hatte...
