"Omi, Telefon für dich!", schrie Yohji aus dem Wohnzimmer.

„Wer ist es?", schrie Omi zurück. Er hatte gerade alle Hände voll zu tun und keine Zeit zum telefonieren. Es war Dienstag, da war bei Weiß Back- und Waschtag. Soll heißen, zwei Leute machten die Wäsche, die anderen beiden backten Kekse, Brot und ab und zu auch mal einen Kuchen. Heute waren Omi und Aya mit backen dran und er hatte gerade alles in den Ofen geschoben.

„Keine Ahnung, will er nicht sagen, komm her!"

„Jaja ist ja gut, sag ich komme gleich. Muss mir nur noch die Hände abtrocknen." Aya meinte er würde den Rest schon alleine schaffen. Omi beeilte sich und flitzte dann hinüber ins Wohnzimmer wo Yohji ihm schon den Hörer entgegenstreckte.

„Ja, hallo? Omi hier?"

„Ich bin's, Crawford, stör ich?"

„W…Was, bist du irre? Du kannst doch hier nicht so einfach anrufen!", rief Omi panisch. Was wenn Yohji seine Stimme erkannt hatte?

„Reg dich ab, ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich morgen nicht in die Schule komme. Ich bin… anderweitig beschäftigt, du verstehst."

„Ja, ich verstehe sehr gut", knurrte Omi. Er hätte beinahe vergessen dass Crawford ja auch noch diesen anderen Job hatte. Den, für den er ihn eigentlich hassen sollte.

„Komm stell dich nicht so an, ich sage auch nichts zu deinem kleinen Nebenjob", meinte Crawford.

„Und? Hast du die Aufgabe schon weiter gemacht? Ich wette du steckst fest", fuhr er grinsend fort.

„Davon träumst du wohl. Ich bin fertig und ich habe ein wunderbares Ergebnis raus, willst du's hören?"

„Meinetwegen."

„Ok, ich hol's eben. Lauf nicht weg!" Erst als Omi sich umdrehte merkte er, das Yohji noch immer in der Tür stand, die Hände in die Seiten gestützt und ihn neugierig ansah.

„Wer ist das? Ein Freund von dir?"

„Kennst du nicht. Jemand aus der Schule…Kann ich mal vorbei?"

„Das weiß ich nicht ob du kannst…"

„Yohji! Lass den Scheiß und lass mich einfach vorbei, ok!"

„Woah, immer mit der Ruhe, Chibi. Du bist wohl mit dem falschen Fuß zuerst aus dem Bett gefallen heute." Ohne darauf einzugehen zwängte Omi sich an dem Playboy vorbei und raste hinauf in sein Zimmer um seine Aufzeichnungen zu holen. Währenddessen trabte Yohji zum Telefon und hob den Hörer vom Boden auf.

„Hallo, hallo? Wer ist da?"

„Wer will das wissen?"

„Kudou Yohji, besser bekannt als Sexiest Man Alive, sehr erfreut Sie kennen zu lernen."

„…"

„Sagen Sie, Sie sind nicht zufällig Klein Omis heimlicher Liebhaber, oder?"

„Wie bitte?"

„Och, nur so ne Idee. Unser Omi bekommt nicht jeden Tag Anrufe von mysteriösen Fremden die ihren Namen nicht nennen wollen."

„Ich bin ein Kerl..."

„Na und, wir wissen alle längst dass unser Kleiner mehr auf Männer steht als auf Frauen. Aber was will man schon anderes erwarten wenn einer mit drei superhübschen Kerlen zusammen in einem Blumenladen arbeitet… Nur er weiß nicht, dass wir es wissen. Versucht immer noch dass zu vertuschen, total süß. "

„Tut mir Leid, ich fürchte nicht".

„Zu Schade, der Junge braucht eine feste Beziehung, dringend. Also, falls Sie es sich doch noch anders überlegen sollten, meinen Segen haben Sie!"

„…Ich werde bei Gelegenheit darauf zurückkommen."

„Nein wirklich, Sie glauben gar nicht was wir schon alles versucht haben um ihn zu verkuppeln. Aber leider immer ohne Erfolg. Dabei sind hier in der Gegend so viele hübsche Jungen. Aber wenn man sich den ganzen Tag nur vor dem PC aufhält ist das kein Wunder. Virtuelle Freunde sind bei Weitem nicht so befriedigend wie reale, wenn Sie wissen was ich meine" Yohji stieß einen gespielten Seufzer aus.

„Na ja, und außerdem hat Omi… Omi! Da bist du ja wieder"

„Yohji! Was hast du getan!"

„Nichts, ich habe mich nur ein bisschen mit deinem neuen Freund hier unterhalten, damit er nicht so einsam ist während du weg bist".

„Gib sofort den Hörer her!"

„Hey hey, kein Grund so eifersüchtig zu werden, hier haste ihn ja wieder. Na dann mal viel Spaß ihr beiden Turteltauben. Ich bin oben". Mit einem letzten viel sagenden Augenzwinkern war Yohji verschwunden.

„Bist du noch da?", fragte Omi – er war etwas außer Atem weil er so schnell die Treppe runter gelaufen war. Es schien nicht, dass Yohji Crawford erkannt hatte, aber der hatte mit Sicherheit die Schnauze voll gehabt und inzwischen aufgelegt.

„Na sicher bin ich noch da", antwortete Crawford.

„Was auch immer Yohji erzählt hat, es ist Blödsinn. Glaub ihm kein Wort!"

„Soso… aber ich muss sagen, es waren ein paar sehr interessante Sachen dabei" Omi konnte Crawford deutlich grinsen hören.

„Ich sage doch, Blödsinn. Der erzählt Müll sobald er nur den Mund aufmacht. Aber darum geht es jetzt nicht. Ich wollte dir sagen was ich raus habe…"

„Schieß los!"


Als Aya am Abend ins Wohnzimmer kam um Fernsehen zu gucken, wäre er beinahe über Omi gestolpert der noch immer auf dem Teppich lag, den Hörer in der Hand, die Mathezettel vor der Nase.

„Was machst du da?", fragte er und sah Omi prüfend an.

„Telefonieren, sieht man doch."

„Mit wem?"

„Ein… Freund…" Ayas Augen verengten sich zu Schlitzen. Oha, das kam nicht schnell genug. Zum Glück kam in dem Moment Yohji zu seiner Rettung herein und verkündete, dass er jetzt ausgehen werde.

„Oi, telefoniert ihr etwa immer noch? Aya, stör die beiden nicht! Sie haben sich noch so viel zu erzählen." Er zwinkerte Omi wohl wissend zu. Dieser rollte nur mit den Augen.

„Ich will wissen mit wem er telefoniert!", befahl Aya.

„Och Aya, komm mit in die Küche, dann erklär ich dir alles", grinste Yohji und zog einen protestierenden Aya hinter sich her. Omi stöhnte. Aber wenigstens hatte er wieder seine Ruhe. Yohji erzählte Aya währenddessen von seiner Vermutung woraufhin Aya sich vom Wohnzimmer fernhielt und stattdessen in sein Zimmer verschwand während Yohji in seinen Seven stieg und davon düste.

Erst jetzt fiel Omi auf wie spät es schon war. Er hatte über drei Stunden mit Crawford telefoniert. Und sie hatten nur die Hälfte der Zeit über die Matheaufgabe gesprochen. Dabei war heraus gekommen, dass Crawford tatsächlich einen schnelleren Weg gefunden hatte und das ärgerte Omi unsagbar. Aber Crawford hatte Recht gehabt, gegen einen ehemaligen Mathematik Studenten hatte Omi keine Chance.

Die restliche Zeit hatten sie sich über ganz normale Dinge unterhalten. Über die Schule, Filme, über ihr Zuhause, sogar ansatzweise über ihre Nachtjobs. Auch von PCs verstand Crawford einiges, Omi war begeistert. Er hätte nie gedacht das Crawford der Typ war, mit dem man stundenlang am Telefon quatschen konnte.

Wieder eine halbe Stunde später wurde Omi schon wieder gestört, diesmal von Ken, der sich irgendeine Komödie im Fernsehen ansehen wollte (Ja, der guckt auch was anderes als Fußball). Leider schaffte er es nicht, Ken davon zu überzeugen, den Film aufzunehmen und in später zu gucken. Also musste er wohl oder übel das Telefonat beenden. Dabei waren sie noch lange nicht fertig. Eins war klar, das nächste was in diesem Haushalt angeschafft wurde, war ein Schnurloses Telefon. Gleich morgen würde er losgehen und eins kaufen.

Alles in allem war es doch sehr nett gewesen, dass Crawford angerufen hatte. Vielleicht würden sie das bald mal wiederholen. Außerdem hatte er jetzt ja am nächsten Tag die erste Stunde frei und konnte ausschlafen.

Aus lauter Langeweile setzte er sich zu Ken aufs Sofa und sah sich mit ihm den Film an. Irgendwann bekamen sie Hunger und so beschlossen sie noch etwas zu kochen. Omi wollte gerade zu Aya hoch gehen und ihn fragen ob er auch etwas abhaben wollte, als dieser ihm bereits auf der Treppe entgegen kam.

„Ich geh noch mal weg", murmelte er und schwupps, vorbei war er. Omi sah ihm total verdattert hinterher, bevor er zu Ken ins Wohnzimmer zurückging.

„Sag mal, weißt du was mit Aya los ist?"

„Nein, keine Ahnung. Aber er benimmt sich echt merkwürdig. Stell dir vor, Freitag ist er erst gegen Mittag zur Schicht in den Laden gekommen. Ich hab schon gedacht ihm sei was passiert als er nicht auftauchte. Und nachmittags hat er dann Yohji gebeten er möge mit ihm die Schicht tauschen und ist gleich wieder weg."

„Sehr ungewöhnlich…was meinst du wo er hin ist? Ob er ne Freundin hat?", grinste Omi. Ken fing laut an zu lachen. „Das glaube ich eher weniger".

„Wieso nicht?"

„Ich bitte dich, wir reden hier von Aya, von Mr.Eisklotz himself, wie soll der denn an eine Freundin gekommen sein?"

„Jetzt bist du aber ungerecht."

„Ach was, sei mal ehrlich. Würdest du dich mit so jemandem einlassen?"

„Es gibt genug Mädchen die diese Reserviertheit sexy finden, siehst du doch an den Horden im Laden die ihn täglich umschwärmen", verteidigte Omi ihn.

„Hm, da hast du auch wieder Recht… Na ja zu wünschen wäre es ihm ja", meinte Ken nachdenklich.

„Ja, finde ich auch. Er ist einsam…"

„Komm, lass uns das Thema wechseln. Was willst du essen? Ich hab keine Lust was zu kochen wenn ich ehrlich sein soll…"

„Ja, ich auch nicht. Also lassen wir was kommen?"

„Ja, ausnahmsweise, weil's keiner mitkriegt. Aber lass das bloß nicht Aya hören", meinte Ken mit einem Augenzwinkern. Aya sah es nämlich gar nicht gerne wenn im Hause Weiss jemand Fast Food aß. Er verlangte, dass sich alle gesund ernährten. Nur so konnte, seiner Meinung nach, die volle Leistung während eines Auftrags gewährleistet werden.

So machten sich die beiden noch einen gemütlichen Abend mit Pizza und Fernsehen und Omi fühlte sich richtig gut. Bis Aya wiederkam. Er stand in der Wohnzimmertür, warf einen Blick auf die Pizza Kartons, drehte sich um und marschierte davon. Ken und Omi sahen sich an, dann sprang Omi auf und lief Aya hinterher.

„Aya was ist los mit dir? Du siehst nicht gut aus. Ich mache mir langsam Sorgen um dich." Er hatte Recht, Aya war blass und eindeutig übermüdet. Er sah Omi mit leeren Augen an und sagte nichts.

„Ayaaaa! Jetzt sag mir doch was los ist", jammerte Omi. Es machte ihn wahnsinnig dass er nicht wusste was mit Aya war.

„Omi, tust du mir einen Gefallen?"

„Klar, alles was du willst…"

„… nenn mich Ran!" Omi sah Aya einige Sekunden lang sprachlos an, ihm fehlten einfach die Worte. Was sollte das denn jetzt? Früher hatte Aya doch darauf bestanden dass alle ihn Aya nannten. Wieso denn jetzt auf einmal nicht mehr?

„Verrätst du mir auch wieso?"

„Nein!"

„Aber A… Ran! Wir sind doch Freunde. Vertraust du mir etwa nicht?" Omis Augen wurden wässrig und er blickte Ran traurig an. Das war zu viel für Ran. Er schob den armen Omi grob zur Seite und lief die Treppe wieder hinunter. Unten angekommen zog er sich Schuhe und Jacke wieder an und rannte aus dem Haus. Omi hätte schwören können er hätte Tränen in seinen Augen gesehen.

Kurz entschlossen rief er: „Ken, ich bin bald wieder da!" und zog sich ebenfalls Schuhe und Jacke an. Dann steckte er die Hausschlüssel in die Tasche und lief ebenfalls aus dem Haus. Rans Porsche war weg. Er konnte ihn hören wie er sich rechts die Straße entlang entfernte. Also startete er den Roller und folgte dem Porsche. Aber das war gar nicht so einfach, Ran hatte einen Affenzahn drauf und es dauerte nicht lange, da hatte Omi ihn aus den Augen verloren. Und so spät abends waren die Hälfte der Ampeln ausgeschaltet, das heißt er hatte keine Chance mehr ihn noch ein zu holen. Also hielt er an und überlegte, wo Ran wohl hinwollen könnte. Eigentlich kam da nur das Krankenhaus in Frage, das Krankenhaus in dem seine Schwester Aya lag. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, also versuchte er sich daran zu erinnern, wo dieses Krankenhaus lag. Es gab ja so viele in der Stadt. Aber nachdem er ein paar Passanten gefragt hatte, hatte er es doch endlich gefunden. Aber Rans Porsche konnte er auf dem großen Parkplatz nicht ausmachen.

„Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich denn das Zimmer von Fujimiya Aya?", fragte der an der Rezeption.

„Sind sie ein Familienmitglied?"

„Äh, nein. Aber ich bin ein Freund und ich mache mir Sorgen."

„Tut mir Leid, wenn sie nicht zur Familie gehören kann ich ihnen keine Auskünfte geben."

„Bitte, können sie mir dann wenigstens sagen ob ihr Bruder, Ran, eben hier rein gekommen ist? Es ist wirklich wichtig!" Die Rezeptionsdame sah Omi eindringlich an, dann seufzte sie und sagte: „Ja, er ist hier, Zimmer 520." Omi bedankte sich und rannte davon. Die Rezeptionsdame sah ihm mitleidig nach.

„520! 520!... hier…" Omi stand vor der Tür mit der Nummer 520 aber er traute sich nicht zu klopfen. Irgendetwas hielt ihn zurück. Er versuchte zuerst an der Tür zu lauschen, aber es war nichts zu hören. Im Zimmer war alles still. Irgendwann überwand er sich doch und klopfte. Er bekam keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt weit und sah hinein. Es war dunkel. Die Fenster waren auf, Omi konnte den kühlen Abendwind spüren. Er war noch nie zuvor in einem Zimmer für Komapatienten gewesen, aber er hatte es sich anders vorgestellt. Es sah fast genauso aus wie ein normales Einbett Zimmer, mit dem einzigen Unterschied, dass es Bilder an der Wand hatte. Vorsichtig betrat Omi jetzt den Raum und schloss die Tür wieder hinter sich.

„Ran? Bist du hier?", fragte er leise. Keine Antwort. Aber wenn er sich nicht täuschte saß dort jemand am Fenster.

„Ran?", fragte er noch einmal und ging auf die Gestalt zu.

„Was willst du?" Das war Rans Stimme. Aber sie klang komisch gepresst, als würde er weinen. Diese Vorstellung machte Omi Angst. Er hatte sich also doch nicht geirrt vorhin, Ran hatte tatsächlich geweint. Aber warum?

„Was ist mit dir?"

„Bitte geh!"

„Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Jetzt sag schon Ran, was ist passiert? Ich mache mir so große Sorgen! Ist etwas mit Aya-chan?" Ein unterdrückter Schluchzer, Omi war sich sicher.

„Also… ist was mit ihr? Geht es ihr schlechter?" Es folgte eine minutenlange Stille. Dann:

„Sie ist tot…"

„Das ist nicht dein Ernst…", flüsterte Omi mit belegter Stimme. Das Wimmern wurde wieder lauter. Langsam ging er auf das Bett zu. Das durfte nicht wahr sein. Aber als er hineinsah, war es leer. Keine Aya-chan.

„Ran… oh mein Gott, das tut mir so unendlich Leid", schluchzte Omi. Er war jetzt direkt neben Ran. Plötzlich hob Ran die Arme und klammerte sich an Omi. Dann fing er hemmungslos an zu weinen.

„Warum sie?", schluchzte er. „Was haben wir getan dass wir so etwas verdient haben? Ich habe es doch alles ihr zu liebe getan. Damit sie wieder gesund wird. Warum musste sie sterben, ich verstehe das nicht!" Jetzt konnte Omi nicht anders und fing auch an zu weinen. Ran tat ihm so furchtbar Leid. Das musste ihm das Herz brechen. Er hatte doch niemanden mehr gehabt außer Aya-chan. Was sollte denn nun aus ihm werden?

So lagen sie sich noch eine ganze Weile in den Armen und weinten, bis keine Träne mehr kam. Dann saßen sie ganz still und starrten aus dem Fenster in die Nacht. Plötzlich brach Ran die Stille: „Danke… danke dass du gekommen bist."

„Keine Ursache, du bist doch mein Freund." Omi versuchte zu lächeln, aber ohne Erfolg. Aber Ran hätte es sowieso nicht sehen können in der Dunkelheit. Wieder schwiegen sie eine Weile.

„Wann ist sie gestorben?", fragte Omi leise.

„In der Nacht von Donnerstag auf Freitag… sie haben mich angerufen… Ich bin gleich hergekommen… aber es war zu spät..."

„Ich habe das Telefon gehört, aber ich habe nicht mit gekriegt dass du weg gefahren bist… warum hast du es uns nicht gleich erzählt?"

„Ich konnte es doch selber nicht glauben. Wollte es nicht glauben."

„Ach darum hast du all die Sachen mit uns unternommen? Du wolltest dich ablenken…"

„Ja… es tut mir Leid… dass ich euch nichts gesagt habe."

„Ist schon in Ordnung, ich verstehe das… wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dann sag es, ok?"

„Danke Omi… ich bin so froh dass es dich gibt…"

„Lass uns nach Hause fahren", entschied Ran nach einer Weile. Er klang wieder einigermaßen gefasst.

„Wie du willst. Ich kann aber auch alleine fahren, wenn du gerne noch etwas alleine sein möchtest…", meinte Omi.

„Nein, ist schon in Ordnung. Ich will jetzt nicht alleine sein."

So erhoben sie sich, Omi schloss das Fenster und Ran warf einen letzten Blick auf das leere Bett.

„Weißt du, sie haben alle Sachen schon weg gebracht… normalerweise sieht ihr Zimmer nicht so kahl aus…" er ließ einen traurigen Blick durchs Zimmer schweifen. Omi wartete geduldig an der Tür.

Ran flüsterte noch ein letztes „Ich hab dich lieb, Aya-chan… Leb wohl!" bevor Omi und er den Raum endgültig verließen.

Die Rezeptionsdame sprach Ran noch einmal ihr herzlichstes Beileid aus, sie alle kannten Aya und Ran schon seit vielen Monaten. Sie wünschten ihr eine gute Nacht und stiegen gemeinsam in Rans Porsche. Den Roller würden sie ein andermal holen kommen.

„Omi, es gibt da doch etwas was du für mich tun kannst", begann Ran.

„Was ist es? Ich tue alles was ich kann!"

„Ich werde ein paar Tage weg fahren. Ich weiß noch nicht wohin. Kannst du es den anderen beibringen? Ich kann es ihnen nicht sagen…"

„Aber natürlich Ran, ich sage es ihnen."

„Danke!"

„Soll ich Ken ablenken während du deine Sachen packst?", fragte Omi, als sie vor dem Koneko anhielten.

„Ja, das wäre gut. Ich will jetzt niemanden sehen."

„Ok… park etwas weiter weg, ich werde ihn weg locken… aber Ran, versprichst du mir etwas?"

„Was…"

„Versprich mir dass du gesund wieder kommst, ok? Auch wenn es vielleicht so aussehen sollte als… hätte alles keinen Sinn mehr… denk immer daran dass du noch uns hast, ja?"

„Ich verspreche es dir!"

„Danke", flüsterte Omi erleichtert. Dann stieg er aus und ging zur Haustür. Sobald er drinnen war kam ihm auch schon Ken entgegen gelaufen. Omi erzählte ihm, dass er Ran nicht gefunden hatte und er bat Ken ihm bei der Suche zu helfen. Ken war sofort dabei und zwei Minuten später kamen sie wieder zur Tür hinaus und verschwanden die Straße hinunter.

Als sie nach einer Stunde wieder kamen war Ran bereits weg. Omi wollte nach diesem Tag einfach nur schlafen, aber Ken machte sich die größten Sorgen – es war bereits weit nach Mitternacht. Also kam Omi nicht drum herum ihm die Wahrheit zu sagen. Zuerst war Ken so geschockt dass er gar nicht verstand was Omi ihm erzählte. Er hatte ihm auch erklärt, dass Aya von nun an nur noch Ran genannt werden wollte. Ken versprach, sich alle Mühe zu geben, damit er es nicht vergaß.

Damit begaben sich die beiden Weiss ins Bett und fielen in einen unruhigen Schlaf. Aber nicht halb so unruhig wie der von Ran.


Als Yohji am nächsten Morgen in die Küche gestolpert kam und nach einer Aspirin verlangte, war es ungewöhnlich still. Ken saß vor einem unangerührten Pott Kaffee und Omi saß einfach nur da und starrte vor sich hin. Musste der nicht eigentlich in der Schule sein?

„Hey was ist denn mit euch los? Ist wer gestorben?" er lachte über seinen Witz, bis er bemerkte, dass niemand mit lachte.

„Omi, was ist los?"

„Aya-chan ist tot…" Yohji starrte ihn mit offenem Mund an.

„Ja aber… ja aber das… und Aya… wo ist Aya?"

„Er ist weg."

„WEG? Wie weg? Für immer?"

„Nein, nur für ein paar Tage. Er braucht etwas Zeit für sich alleine. Und bitte, nenn ihn nie wieder Aya…"

So erzählte Omi Yohji die gleiche Geschichte noch Mal, die er gestern schon Ken erzählt hatte. Am Ende saßen sie alle drei am Küchentisch und rührten sich nicht mehr.

„Ich geh wieder ins Bett", verkündete Yohji nach einer Weile.

„Ich auch", schloss sich Ken an. So blieb nur noch Omi übrig. Er wollte nicht ins Bett, er hatte Angst dass er wieder Alpträume kriegen würde, wie damals, nachdem er entführt worden war. Das passierte immer, wenn ihn etwas so sehr beschäftigte wie jetzt. Er wollte lieber etwas Produktives tun, also fertigte er als erstes ein „Wegen Trauerfall geschlossen" Schild an und hängte es an die Ladentür. Dann rief er in der Schule an um sich für den heutigen Tag zu entschuldigen. Die Sekretärin hatte vollstes Verständnis dafür und versprach ihm, es an seine Lehrer weiter zu geben. Er solle erst wieder in die Schule kommen wenn er sich dafür bereit fühlte. Aber Omi hatte nicht vor an nächsten Tag auch noch zu fehlen. Ayas Tod ging ihm zwar sehr nahe, aber er hatte sie ja auch kaum gekannt, eigentlich gar nicht. Im Grunde tat ihm Ran viel mehr Leid. Und er fand es nicht richtig dass er deshalb die Schule schwänzen sollte.

Als nächstes ging er in ihr kleines Gewächshaus im Garten und machte dort erst einmal richtig Ordnung. Er brauchte fast den ganzen Morgen dafür, aber wenigstens war er abgelenkt. Irgendwann klingelte dann das Telefon und Omi beeilte sich dran zu gehen, in der Hoffnung es könnte Ran sein. Aber es war nur Nao der wissen wollte warum Omi nicht in der Schule gewesen war und ihm die Hausaufgaben sagen wollte. Omi sagte, dass es ihm nicht gut ginge, dass er aber Morgen wieder kommen würde. Er beendete das Gespräch so schnell wie möglich. Anschließend machte er sich gleich an seine Hausaufgaben. Aber bald war er auch damit fertig und er hatte wieder nichts zu tun. Er beschloss, etwas zu lesen, aber im Haus fand sich nichts Interessantes. Also zog er sich um, nahm seinen Büchereiausweis und machte sich zu Fuß auf den Weg in die nächste Bücherei.

Dort angekommen zog er durch alle Abteilungen, auf der Suche nach etwas Interessantem. Als er zwei Stunden später die Bücherei wieder verließ, hatte er einen Roman und ein PC Fachbuch unter dem Arm. Er wollte gerade den Weg nach Hause einschlagen, als ein schwarzer BMW neben ihm hielt. Zuerst beachtete Omi ihn nicht weiter. Aber der Wagen fuhr im Schritttempo neben ihm her und das Fenster wurde herunter gefahren. Als er sich nun doch endlich umwandte, sah er, dass Crawford in dem Wagen saß. Was wollte der denn von ihm?

„Hallo Omi", grüßte er und hielt an. Auch Omi blieb stehen.

„Bitte tu mir den Gefallen und steig ein", meinte er und deutete auf den Platz neben ihm.

„Wieso?", fragte Omi. Was sollte das denn jetzt werden? War das ein Trick? Aber Crawford rollte nur mit den Augen.

„Dein ewiges Gefrage kann einem echt auf die Nerven gehen. Und jetzt beeil dich, ich stehe hier im absoluten Halteverbot!" Omi sah Crawford skeptisch an aber dann öffnete er doch die Beifahrertür und ließ sich neben Crawford auf den Sitz fallen. Das erste was ihm auffiel war, dass er total komisch saß, vor allem sehr viel höher als sonst. Er war ja bisher nur Rans Porschesitze gewohnt. Hier hatte man auch viel mehr Beinfreiheit. Aber was die Sauberkeit betraf stand dieser Wagen Rans in nichts nach. Alles sah aus wie geleckt und glänzte und blitzte und es roch wunderbar nach Leder.

„Willst du dich nicht mal anschnallen?", unterbrach Crawford seine Gedanken. Erst da merkte er, dass Crawford bereits los gefahren war. Schnell ließ er seine Bücher los und schnallte sich an. Dann wandte er sich an Crawford: „Also, warum sollte ich jetzt einsteigen?"

„Weil es gleich regnen wird".

„Hä?" Crawford seufzte.

„Es wird gleich regnen und du wirst so sehr trödeln dass du den Bus zurück verpasst. Da die Bushaltestelle nicht überdacht ist, wirst du eine halbe Stunde lang im Regen stehen müssen. Und da du deine Jacke vergessen hast, wirst du dir eine ordentliche Erkältung einfangen und bis zum Wochenende im Bett bleiben müssen." Wie um seine Worte zu bestätigen fing es in dem Augenblick an zu nieseln. Erst ganz leicht aber sehr bald goss es wie aus Eimern.

„Warum interessiert es dich ob ich krank bin oder nicht?", fragte Omi misstrauisch.

„Eigentlich dürfte ich es dir ja nicht sagen, aber ich habe vor am Freitag einen weiteren Überraschungstest zu schreiben. Ich will nicht, dass du den verpasst. Außerdem habt ihr morgen eine Mission und da ihr ja nur zu dritt seid im Moment würde es für deinen Kollegen nicht gut enden, wenn du auch noch ausfallen würdest", erklärte Crawford ohne auch nur einen Augenblick seine Augen von der Fahrbahn zu nehmen.

„Woher weißt du das? Das mit der Mission und dass wir nur zu dritt sind", fragte Omi leise. Bis eben hatte er es geschafft nicht an Ayas Tod denken zu müssen. Aber jetzt…

„Ich kann in die Zukunft sehen, schon vergessen?"

„Wenn das so ist… kannst du mir dann sagen ob… wann Ran wieder zurückkommen wird?", fragte Omi hoffnungsvoll.

„Nein."

„Schade…" Crawford warf einen flüchtigen Blick auf den Jungen neben ihm, der jetzt wieder traurig vor sich hin starrte.

„Ich kann nicht kontrollieren was ich sehe und wann. Aber wenn ich eine Vision habe dann sage ich Bescheid".

„Das wäre sehr nett, danke", sagte Omi und lächelte wieder ein bisschen.

„Das mit seiner Schwester tut mir Leid", meinte Crawford unvermittelt.

„Wann hast du das denn gesehen?"

„Schon vor Monaten."

„Ich wünschte ich hätte es auch schon so früh gewusst, dann hätte man sich drauf einstellen können", seufzte Omi. Aber Crawford schüttelte den Kopf.

„Glaub mir, es ist nicht schön wenn du schon Monate vorher weißt, dass ein Mensch, der dir nahe steht, sterben wird."

„Hm, vielleicht hast du Recht… aber was genau hast du jetzt eigentlich mit mir vor?"

„Nun, ich fahr dich nach Hause."

„Was soll ich denn zu Hause…"

„Also gut, wo willst du dann hin?"

„Keine Ahnung… schmeiß mich halt irgendwo raus, wo's dir passt…"

„Glaubst du ich habe mir die Mühe gemacht dich hier auf zu sammeln, nur um dich dann 5 Minuten später doch wieder auf die Straße zu setzen?"

„Erzähl mir nicht du bist extra meinetwegen los gefahren!"

„Bin ich nicht, ich habe dir doch erzählt dass ich einen Job zu erledigen hatte. Da ich also sowieso schon im Auto saß, habe ich mir gedacht ich könnte wenigstens dafür sorgen, dass ihr nicht noch einen Trauerfall zu beklagen habt." Omi sah Crawford ungläubig an. Noch einen Trauerfall? Sollte das heißen, nur wenn er jetzt zu Fuß gegangen wäre, wäre einer seiner Freunde morgen umgekommen?

„Heißt das…"

„Ja."

„Dann hast du ja quasi einem von uns das Leben gerettet…"

„Ja."

„…Danke…"

„Keine Uhrsache."

„Aber wer…", fragte Omi nach einer kleinen Pause.

„Der Braunhaarige." Ken!

„Aber wieso hast du…"

„Ich weiß es nicht. Mir war halt so danach. Außerdem, wenn ihr irgendwann mal dran glauben müsst, dann nur weil wir es so beschlossen haben!" Ein fieses Grinsen legte sich auf Crawfords Gesicht.

„Danke!"

„Bedank dich nicht zu viel, du könntest es eines Tages bereuen." Omi zuckte leicht mit den Schultern und sah aus dem Fenster. Er konnte es immer noch nicht richtig glauben. Wenn Ken wüsste das Crawford ihm soeben das Leben gerettet hatte… Eine Weile herrschte Schweigen und man hörte nur das Pladdern des Regens auf dem Auto, bis Crawford plötzlich anhielt. Als Omi sich umsah bemerkte er, dass sie vor einer großen Villa standen, mit einem riesigen Garten und einem großen Tor. Mit einer kleinen Fernbedienung öffnete Crawford das Tor und fuhr hindurch. Omi sah sich mit großen Augen um. Er hatte so eine Villa noch nie richtig von Nahem gesehen, immer nur im Vorbeifahren oder bei Nacht, wenn sie einen Auftrag zu erledigen hatten.

„Was wollen wir hier?"

„Ich muss eben ein paar Kleinigkeiten holen. In der Zwischenzeit kannst du dir ja was einfallen lassen, wo du hin willst. Sonst überlege ich es mir doch noch anders und setzt dich irgendwo aus. Aber bleib im Wagen!" Crawford hielt direkt vor der großen Haustür und stieg aus. Es schüttete immer noch wie aus Eimern. Schnell rannte er unter das Vordach und verschwand durch die Tür. Total perplex starrte Omi dem Mann hinterher. Hatte der Schwarz Leader ihn etwa tatsächlich zu sich nach Hause gefahren? Ins Schwarz Hauptquartier? Der musste sich ja sehr sicher fühlen wenn er sich so was traute. Wenn er schon mal hier war konnte er die Gelegenheit auch nutzen und sich etwas umsehen, dachte Omi. Aber aussteigen… besser nicht. Sonst wurde er am Ende wirklich krank und dann… Nein, besser nicht. So begnügte er sich damit, sich die Umgebung an zu sehen und so gut es ging einzuprägen.

Plötzlich erschien ein Schatten an der Fahrertür und im ersten Moment glaubte Omi, Crawford sei bereits zurück. Aber dann wurde die Tür mit voller Wucht aufgerissen. Omi hätte beinahe einen Herzanfall bekommen als er sah, wer sich da zu ihm in den Wagen beugte. Es war Berserker, der irre Kerl mit der Augenklappe und den Messern.

„Wen haben wir denn da?", fragte der weißhaarige mit einem fiesen, breiten Grinsen, während er sich zu Omi rüber beugte. Dieser handelte jetzt ohne nachzudenken, riss die Tür auf und stürzte aus dem Auto. Er dachte weder an den Regen, noch an Crawfords Anweisung im Wagen zu bleiben sondern rannte um sein Leben auf das große Tor zu. Das grölende Gelächter des weißhaarigen verfolgte ihn. Am Tor angekommen musste Omi feststellen, dass es sich bereits wieder geschlossen hatte. Er saß fest. Dieser verdammte Crawford, er war doch tatsächlich direkt in seine Falle gelaufen. Dabei war sie so offensichtlich gewesen, jedes Baby hätte sie erkannt. Aber um den würde er sich später kümmern, jetzt musste er erst einmal sein Leben retten. Vielleicht konnte er hinten irgendwo über die Mauer klettern.

So schnell ihn seine Füße trugen rannte er über den Rasen, vorbei an wunderschönen Oleander Büschen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, bis er auf der Rückseite des Hauses ankam. Aber nirgendwo konnte er eine geeignete Stelle zum rüberklettern erkennen. Panik begann sich in ihm breit zu machen. Und in dem Augenblick ging auch noch der Alarm los. Ob er ihn ausgelöst hatte oder ob jemand im Haus ihn eingeschaltet hatte, wusste Omi nicht. Aber es war ihm auch egal. Er wollte nur so schnell wie möglich weg von hier. Plötzlich schob sich der Rasen unter ihm zur Seite und er fiel in ein mehrere Meter tiefes Loch. Der Aufprall war sehr schmerzhaft und Omi sah für kurze Zeit Sterne. Hier würde er nie alleine wieder rauskommen. Die Wände waren aus Beton und boten keinerlei Halt zum rausklettern. Das war es also, sein Ende war gekommen. Wer weiß was diese kranken Verbrecher mit ihm vorhatten! Vielleicht würden sie ihn foltern und dann ganz langsam zu Tode quälen. Oder wohlmöglich brauchten sie diesmal ihn für eins ihrer verrückten Wiederbelebungsrituale. Je länger Omi darüber nachdachte, desto grausamer wurden die Sachen die er sich ausmalte. Aber kampflos würde er sich nicht ergeben!

Aber bis auf die Tatsache, dass der Regen ein kleines bisschen nachließ, passierte erst einmal gar nichts. Erst nach einer langen Weile, die Omi wie eine Ewigkeit vorgekommen war, verstummte der Alarm und wenige Minuten später erschien ein orangefarbener Haarschopf am Rand der Grube. Mastermind!

„Tsk tsk tsk, für einen Profikiller hast du aber keine guten Nerven", grinste der Mann. „Und dein rationales Denken ist wohl auch irgendwo auf der Strecke geblieben, eh? Wir haben euch doch nun schon oft genug erklärt dass es keinen Sinn hätte euch zu entführen oder gar zu töten. Ich weiß doch schon alles über euch was ich wissen will."

„Schuldig, hol gefälligst eine Leiter!" Crawfords Stimme.

„Was zur Hölle machst du da! Ich habe dir doch gesagt, du sollst beim Wagen bleiben!"

„Ja, haha. Und mich von eurem Hauspsychopathen aufschlitzen lassen? Vergiss es!" Crawford nahm die Brille ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann setzte er die Brille wieder auf und sah Omi hart an.

„Farf ist weder verrückt noch ein Psychopath noch sonst etwas. Er ist nur manchmal etwas schwierig. Aber er tut niemandem etwas zu Leide, wenn ich es ihm nicht sage".

„Ich wusste doch von Anfang an, dass ich dir nicht trauen kann", rief Omi zornig. Da kam auch schon Schuldig mit der Leiter wieder und ließ sie neben Omi in die Grube gleiten.

„So ein Schwachsinn. Wir hatten eine Abmachung und ich halte mich an Abmachungen. Und jetzt komm da raus!"

„Hol mich doch!" Crawford rollte genervt mit den Augen.

„Wie du willst…" Mit einem Sprung landete er neben Omi, welcher überrascht aufschrie.

„So und jetzt stell dich nicht so an und steig die Leiter hoch!", befahl Crawford.

„Nein!", rief Omi bockig und verschränkte die Arme. Sollte er doch versuchen ihn hier raus zu bekommen. Schuldig, der immer noch oben am Rand stand, fing an laut zu lachen. Das war einfach zu lustig. Bald tauchte auch Farf neben ihm auf und sah neugierig in die Grube hinunter. Crawford verlor jetzt endgültig die Geduld und packte Omi hart am Arm. Mit einem Ruck zog er ihn auf die Beine und schubste ihn in Richtung Leiter. Aua, das hatte wehgetan.

„Gehst du jetzt von selber oder soll ich dich auch noch hoch tragen? Aber meinetwegen kannst du auch hier unten versauern. Dann sehe ich aber schwarz für deinen Freund." Omi warf ihm einen feindseligen Blick zu, stieg dann aber doch widerwillig die Leiter hoch. Oben angekommen wurde er sogleich von Schuldig in Empfang genommen.

„Jetzt sag uns, Crawford, was der Junge in deinem Wagen zu suchen hatte?", fragte Farf während er Omi misstrauisch beäugte.

„Ich bin sicher, Schuldig weiß das bereits. Obwohl es ihn nichts angeht." Der Angesprochene setzte sein breitestes Grinsen auf und zog, nachdem Crawford ebenfalls heraus geklettert war, die Leiter wieder hinauf.

„Worauf du einen lassen kannst!" Crawford funkelte ihn böse an bevor er ihm befahl die Leiter wieder weg zu bringen und ihm aus den Augen zu gehen.

„Zu Befehl, Chef", rief Schuldig und salutierte. Dann zog er, mit Farf und der Leiter im Schlepptau, wieder ab. Unterwegs erzählte er Farf, was es mit Omis Besuch auf sich hatte (jedenfalls soweit er das aus den Gedanken des Jungen hatte entnehmen können).

„Wenn Farf dich erschreckt hat, dann tut es mir Leid. Aber glaub mir, er wollte dir nichts tun", erklärte Crawford und blickte Omi ernst an. Omi wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Vielleicht sagte Crawford ja doch die Wahrheit und sie wollten ihm wirklich nichts antun.

„Du hättest mich vorwarnen können!"

„Ich habe dir gesagt du sollst im Wagen bleiben. Ich hätte nicht gedacht, dass er zu dir rein kommt. Ich hatte sowieso nicht geglaubt dass er überhaupt raus gehen würde, bei dem Wetter." Omi sah ihn durchdringend an. Er war fast geneigt ihm zu glauben.

„Na ja, wenigstens weiß ich jetzt dass es keinen Zweck hätte bei euch einzubrechen", meinte Omi mit einem leichten Lächeln.

„Das hast du gut erkannt. Aber jetzt komm, du bist pitschnass!"

Zusammen gingen sie zurück zum Wagen. Omi wollte gerade einsteigen, als Crawford ihn zurück hielt.

„Vergiss es, so kommst du mir nicht in meinen Wagen! Komm rein, da kannst du dich abtrocknen." Wie bitte? Crawford wollte ihn mit rein nehmen? Jetzt wurde Omi doch etwas mulmig zu Mute.

„Keine Angst, dir passiert nichts", meinte Crawford und öffnete die Tür.

Im Haus war es angenehm warm und Omi war sofort froh, dass er mit rein gekommen war. Crawford führte ihn eine breite Treppe hinauf und durch einen langen Flur bis zu einer Tür.

„Das Badezimmer. Im Regal sind frische Handtücher und die Dusche wirst du wohl finden. Ich gehe mal gucken ob ich bei Nagi irgendwelche Sachen für dich finden kann."

„Ich will keine Umstände machen…", beteuerte Omi. Er wusste nicht ob ihm die Idee, im Haus seiner Feinde zu duschen, so gut gefiel.

„Wenn du nicht duschen willst dann lass es. Aber wenn du in den nassen Klamotten bleibst holst du dir eine Lungenentzündung", meinte Crawford gleichgültig und verschwand. Omi sah ihm noch eine Weile unschlüssig hinterher. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und lugte hinein. Als er sah, dass das Bad tatsächlich leer war, trat er ein und schloss blitzschnell die Tür hinter sich ab.

Das Badezimmer von Weiss war nichts im Vergleich zu dem hier. Marmor wohin das Auge sah, eine riesige Whirlpool Badewanne, eine Dusche in die locker fünf Leute auf einmal hinein passten und alles glänzte und strahlte als wäre es noch nie benutzt worden. Hier konnte man bestimmt ohne Bedenken vom Boden essen…

/Na, wenn du das so lecker findest... ich will dich nicht zurück halten. Aber zur Not hätten wir auch noch einen schönen Küchentisch…/

„Aah, was ist das?", rief Omi erschrocken.

/Na was wohl, ich bin's, Schu! Hast noch nicht sehr viele Telepathen kennen gelernt, wie/

„Nein, eigentlich nicht…"

/Merkt man. An meine Anwesenheit wirst du dich wohl gewöhnen müssen. Ich stöbere nämlich für mein Leben gern in den Gedanken anderer Leute rum./

„Ich will aber nicht dass du meine Gedanken liest! Verzieh dich!", rief Omi.

/Nö, keine Lust/

„Im Frühtau zu Berge wir ziehn, falleraa…", fing Omi schnell an zu singen, in der Hoffnung dass er den Deutschen so wegekeln konnte.

/Himmel Arsch, du singst ja noch schiefer als Nagi/

„…es grünen die Wälder und Höhn, falleraa…"

/Ist ja gut, ich hab's kapiert. Aber glaub ja nicht dass du mir so leicht davon kommst. Ich komme wieder/ Mit einem irren Lachen verschwand Schuldig vorerst wieder aus Omis Kopf. Was war denn das für ein Verrückter, fragte er sich kopfschüttelnd.

Wie Crawford es gesagt hatte, waren in einem Regal an der Wand bergeweise weißer Handtücher gestapelt. Omi nahm sich eins und begann dann langsam, sich aus seinen nassen Klamotten zu schälen. Aber dann kamen ihm doch noch einmal Zweifel und er sah sich nach Kameras um. Irgendwie fühlte er sich beobachtet. Aber er konnte nichts entdecken. Und warum sollten Schwarz überhaupt Kameras in ihrem Badezimmer anbringen? Omi machte sich einfach zu viele Gedanken. Also stieg er nun endlich in die gigantische Dusche und drehte das Wasser auf. Es war unglaublich. Man konnte sich frei drehen ohne mit den Ellenbogen dauernd gegen die Wand zu stoßen. Omi überlegte, ob er sich waschen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er war ja sauber, er wollte nur warm werden. Außerdem kam er sich irgendwie komisch dabei vor das Duschgel von Schwarz zu benutzen. Nicht dass es irgendwie aufgefallen wäre, bei den tausend verschiedenen die hier herum standen. Hier hatte wohl jeder zehn eigene. Bei Weiß kamen alle mit dem Gleichen aus, nur Yohji hatte ein eigenes, extra Pflege für seine zarte Haut, wie er sagte. Es war ja nicht so, dass sie nicht genug Geld gehabt hätten, aber bisher hatten sie keine Notwendigkeit darin gesehen ihre eh schon kleine Dusche mit vier verschiedenen Duschgels voll zu stopfen.

Irgendwann fiel Omi dann ein, dass Crawford ja vielleicht auch duschen wollte, er war ja schließlich auch tropfnass geworden. Also beeilte er sich fertig zu werden und wollte gerade anfangen die Dusche trocken zu wischen, als es an der Tür klopfte.

„Ja?"

„Wenn du fertig bist habe ich hier ein paar Sachen für dich. Ich weiß aber nicht ob sie dir passen." Eilig wickelte Omi sich in ein Handtuch und öffnete die Tür. Vor ihm stand Crawford. Er hatte seinen beigen Anzug gegen eine ebenfalls cremefarbene, aber trockene, Hose und ein Weißes Hemd getauscht und er roch frisch geduscht. In der Hand hielt er ein Bündel Kleider. Als er Omis verwirrten Blick sah, erklärte er ihm, dass sie zwei Badezimmer hatten. Das zweite war gewöhnlich nur für Schuldig, weil der sich dort oft Stundenlang einschloss um intensive Körperpflege zu betreiben. Omi nickte verstehend.

„Ich bin unten im Wohnzimmer. Komm runter wenn du fertig bist."

„Ok, ich mach schnell noch die Dusche trocken, dann komme ich", antwortete Omi und nahm die Sachen entgegen.

„Brauchst du nicht."

„Na gut…" Damit verschwand Crawford nach unten und Omi schloss schnell die Tür wieder. Die Sachen die Crawford ihm gegeben hatte – eine scheinbar ungetragene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und Unterwäsche – passten wie angegossen. Nachdem er sich umgezogen hatte, hängte Omi noch seine Klamotten sorgfältig über die Heizung und das Handtuch über den Rand der Badewanne zum trocknen. Anschließend machte er sich auf die Suche nach dem Wohnzimmer.

Crawford hatte die Tür aufgelassen, daher konnte er es leicht finden. Neben einem gigantischen Breitbild Fernseher gab es in dem Raum einen ganzen Haufen Zimmerpflanzen, ein supergroßes schwarzes Ledersofa und in der Ecke einen offenen Kamin. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich und an den Wänden hingen einige Bilder mit moderner Kunst. Aber sonst gab es eigentlich nichts, nur eine Fernsehzeitung lag ordentlich auf dem Tischchen. Alles in allem sah das Wohnzimmer zwar super ordentlich, dafür aber auch total unbewohnt aus. Wenn Omi da an ihr Wohnzimmer zu Hause dachte… kein Vergleich. Ran versuchte zwar immer alles, damit die Wohnung halbwegs ordentlich war, aber da die Jungs den ganzen Tag im Laden beschäftigt waren, hatte keiner richtig Zeit zum aufräumen. Außerdem war Ken Weltmeister darin jedes Zimmer innerhalb kürzester Zeit in einen Zustand totaler Verwüstung zu versetzen.

Als Omi das Zimmer betrat saß Crawford auf dem Sofa und las Zeitung. Er bedeutete Omi, sich zu setzten, was dieser dann auch tat.

„Möchtest du einen Tee? Oder Kaffee oder Saft?"

„Ähm, Tee wäre ganz gut…"

„Gut. Ich bin gleich wieder da, mach's dir solange bequem", antwortete Crawford und stand auf. Kurze Zeit darauf kam er mit einem Tablett mit zwei Tassen Tee und einem Teller Keksen wieder.

„Danke", murmelte Omi und nahm die Tasse vorsichtig entgegen.

„Hast du deine Sachen zum trocknen aufgehängt?"

„Ja, über die Heizung. Ich hoffe das war richtig…"

„Ja, ist in Ordnung."

Es folgte eine lange bedrückende Stille. Das lag nicht an Crawford, es gab genug Dinge über die Omi mit ihm reden könnte. Es lag an der Umgebung. Dieser Raum machte Omi unruhig. Er traute sich gar nicht, seine Tasse auf dem Tisch ab zu stellen weil er Angst hatte, er könnte Flecken auf dem Glas hinterlassen.

„Du kannst Fernsehen gucken wenn du möchtest", schlug Crawford vor. Omi zuckte nur unschlüssig mit den Schultern.

„Der Tee ist lecker…", bemerkte er nach einer Weile.

„Danke."

„Ich wollte mich noch Mal entschuldigen, wegen vorhin. Ich habe wohl etwas überreagiert…"

„Ein wenig… aber es ist ja nichts passiert. Sei froh, dass es nur die Grube war. Wir haben noch ganz andere Sachen in unserem Garten um Diebe fern zu halten."

„Ach wirklich? Aber dann könnt ihr ja gar nicht richtig in den Garten gehen wenn überall Fallen sind."

„Wir gehen nie in den Garten."

„Oh…"

„Ich weiß, ihr braucht euren Garten sicher für eure ganzen Blumen, nicht wahr?" Omi musste lächeln als er an ihren Garten dachte.

„Ja, und wir haben auch ein Gewächshaus. Falls ihr mal irgendwelche Blumen braucht, sagt Bescheid. Wir ziehen auch auf Sonderwunsch."

„Ich werd's mir merken."

Wieder folgte Stille.

„Ihr seid wohl nicht oft zu Hause?", fragte Omi.

„Nein. Wir wohnen oft wochenlang im Hotel oder bei einem unserer Kunden um sie besser beschützen zu können."

„Ach so…"

„Wieso fragst du?"

„Ach, nur so…"

„Nein, sag!" Omi druckste ein wenig herum, dann sagte er: „Weil hier alles so sauber ist. Selbst wenn ihr 20 Putzfrauen hättet könnten die das nicht so sauber halten wenn hier ständig jemand leben würde… glaube ich zum Mindest." Crawford lachte laut auf als er das hörte.

„Wir bekommen häufig Besuch von potentiellen Kunden, da kann es hier natürlich nicht aussehen wie auf einem Schlachtfeld. Aber das macht Schuldig mit seinem Zimmer alles wieder wett, du hast unter Garantie noch nie ein solches Chaos gesehen. Aber solange er es nicht aufs ganze Haus ausbreitet soll mir das egal sein." Omi fing an zu grinsen.

„Also ist das hier mehr das Besucher-Empfangs-Zimmer und nicht das Wohnzimmer, da bin ich aber beruhigt."

„Ja, so könnte man es ausdrücken. Wir sind alle sehr selten hier unten, die meiste Zeit ist jeder auf seinem eigenen Zimmer. Und nur zu deiner Information, wir haben nur zwei Putzfrauen."

„Oh… vielleicht sollten wir uns auch mal eine zulegen", überlegte Omi. Ihre Wohnung hätte es wirklich nötig.

„Es ist schwer eine ehrliche und dabei gründliche und gewissenhafte zu finden, glaub mir."

„Stimmt, wer weiß, nachher durchwühlt die noch unsere Sachen und dann findet sie unsere Missionsberichte oder so und rennt zur Polizei. Nein, da putzen wir doch lieber weiter selber."

„Weißt du, ich stelle mir das ziemlich lustig vor wenn im Weiss Haus Putztag ist", grinste Crawford plötzlich.

„Es ist immer wieder ein Theater ohne Gleichen", lachte Omi als er daran dachte.

„Vor allem Yohji weigert sich jedes Mal vehement. Aber Ran hat da seine eigenen Methoden ihn zum Aufräumen zu bewegen. Und wenn man Ken zum Aufräumen schickt sieht es hinterher schlimmer aus als vorher." Crawford schüttelte den Kopf.

„Das würde bei uns auch nicht anders ablaufen. Wobei Schuldig hier wohl Yohji und Ken verkörpern würde. Nagi würde einen Anfall kriegen wenn wir so was von ihm verlangten und unter Donnergrollen das Haus verlassen. Farf wäre wohl der einzige der hier was tun würde, aber nur, wenn er gerade Lust dazu hätte. Und ich würde mich zu so einer Arbeit sowieso nicht herab lassen", zwinkerte Crawford. Omi lachte. Ja, das konnte er sich auch gut vorstellen. Putztag im Hause Schwarz und Weiss… ein Desaster.

Von da an kam das Gespräch in Gang. Es war fast so wie beim telefonieren, nur dass Omi sich nicht auf dem Boden räkelte, sondern gesittet auf einem teuren Ledersofa saß. Mit der Zeit wurde er auch ein bisschen lockerer. Es gab wirklich eine ganze Menge über die Omi und Crawford sich unterhalten konnten. Aber die meiste Zeit redeten sie wohl über ihre Team Kameraden. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Schuldig und Yohji wohl Seelenverwandte sein mussten – es gab fast nichts in dem sie sich grundlegend unterschieden hätten.

Alles in allem kamen sie – also zumindest Omi – zu völlig neuen Erkenntnissen, was ihre Feinde betraf. Es war, wie er es schon immer befürchtet hatte: Schwarz waren auch nur Menschen.

„Oh mein Gott, jetzt habe ich dich die ganze Zeit von deiner Arbeit abgehalten. Du wolltest doch noch etwas erledigen. Es tut mir sehr Leid!", rief Omi auf einmal erschrocken, nachdem er auf die Uhr geschaut hatte. Es war bereits kurz nach acht und draußen war es längst dunkel geworden. Der Regen hatte aufgehört aber von allen Bäumen tropfte es noch.

„Nein hast du nicht, beruhigte Crawford ihn, das hat keine Eile."

„Aber vielleicht sollte ich jetzt trotzdem besser gehen, die andern machen sich sonst noch Sorgen."

Crawford nickte.

„Ich kann dich fahren." Aber Omi wehrte ab.

„Nein, nein. Ich habe dir schon genug Umstände gemacht, ich kann ruhig dem Bus nehmen."

„Ist schon in Ordnung. Ich muss ohnehin Nagi von seiner Abendschule abholen."

„Abendschule?"

„Ja, irgend ein Programmierkurs."

„Cool!"

„Na ja, man kann es auch übertreiben mit dem PC. Aber wenn's ihm Spaß macht…"

„Ok, geh mal hoch und guck nach, ob deine Sachen trocken sind!", meinte Crawford nach einer kurzen Pause. Omi nickte und stand auf.

Nach einer Weile kam er wieder runter, diesmal wieder in seinen eigenen Sachen.

„Die sind ja immer noch feucht", bemerkte Crawford und zupfte an Omis Pulli herum. „Zieh mal ganz schnell die anderen Sachen wieder an!", befahl er.

„Aber ich muss doch nach Hause!", wehre Omi ab.

„Du kannst du Sachen behalten wenn du willst."

„Aber ich kann doch nicht einfach Nagis Sachen behalten!"

„Ach was, der hat genug. Außerdem zieht der die sowieso nie an. Diese Hose hat er glaube ich noch nicht ein Mal getragen. Immer nur seine Schuluniform." Omi schüttelte sich.

„Das wäre mir viel zu unbequem." Crawford zuckte mit den Schultern.

„Reine Gewohnheitssache." Omi gab seufzend nach und verschwand erneut nach oben ins Bad. Als er zurück kam stand Crawford bereits fertig angezogen in der Tür. Schnell schlüpfte Omi in seine Schuhe und die beiden gingen zum Auto.

Die Fahrt verlief relativ Ereignislos. Als sie bei der Abendschule ankamen, stand Nagi bereits an der Straße und guckte gelangweilt vor sich hin. Crawford hielt direkt neben ihm und Nagi wollte gerade hinten einsteigen, als er Omi bemerkte. Hatte er sich im Auto geirrt? Nein, da saß Crawford. Was war denn jetzt los? Misstrauisch öffnete er die Tür und sah hinein.

„Was macht der Weiss hier drin?", fragte er. Omi stutzte. Er hatte das jüngste Schwarzmitglied noch nie Sprechen gehört. Er fand, dass er eine sehr schöne Stimme hatte. Leise aber klar.

„Wir müssen auf dem Rückweg noch bei ihm zu Hause vorbei fahren", antwortete Crawford und Nagi fragte nicht weiter nach. Omi fand das etwas komisch. Er hätte schon ziemlich blöd geguckt wenn Ran auf einmal mit Nagi im Auto angekommen wäre. Aber Nagi vertraute seinem Boss. Wenn Crawford den Weiss Jungen in seinem Auto mitfahren ließ, dann hatte das auch seinen Grund.

Es herrschte eine bedrückende Stille. Bei Schwarz schien es nicht üblich zu sein zu fragen, was der andere am Tag so gemacht hatte. Eigentlich interessierte es Omis Freunde auch nicht wirklich, wie es in der Schule gewesen war, aber sie fragten trotzdem. Es gehörte halt irgendwie dazu auch wenn seine Antwort meistens nur „Ganz gut" war. Omi warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Nagi vollkommen desinteressiert aus dem Fenster in die Dunkelheit starrte. Omi hätte ihn gerne in ein Gespräch verwickelt um das Schweigen zu beenden, aber er wusste nicht wie er anfangen sollte. Außerdem sah Nagi nicht so aus, als wäre er an einem Gespräch mit ihm interessiert. Kurz darauf waren sie auch schon in der Straße, in der Omi wohnte, angekommen und Crawford hielt an.

„Ich lasse dich besser hier raus. Es wäre nicht so gut, wenn deine Kollegen sehen würden wie du aus unserem Auto steigst."

„Stimmt… also Vielen Dank noch mal. Für alles…"

„Keine Ursache."

„Dann bis morgen. Tschüss Nagi!" Nagi drehte sich überrascht zu Omi nach vorne, aber dieser war bereits ausgestiegen.

Langsam schlenderte Omi auf den Blumenladen zu. Das Schild, welches er am Morgen gemacht hatte, hing noch immer und im Laden hatte sich nichts getan. Also hatten die anderen beiden den Laden nicht zwischenzeitlich doch geöffnet. Mit seinem Bündel Kleider und den Büchern unterm Arm stellte er sich vor die Haustür und klingelte. Er hätte zwar einen Schlüssel gehabt, aber er hatte keine Hand frei. Es dauerte nicht lange und Yohji öffnete die Tür.

„Wird aber auch Zeit dass du kommst!", fuhr er Omi zur Begrüßung an.

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht! Du hättest anrufen können dass du später kommst!", schimpfte er. Omi sah betreten zu Boden. Yohji hatte Recht, er hätte wirklich anrufen sollen. Schließlich hatte er gesagt er würde nur schnell zur Bücherei gehen und in spätestens zwei Stunden wieder da sein.

„Es tut mir Leid. Ich habe einen Freund getroffen und bin mit zu ihm gegangen. Dann haben wir die Zeit vergessen", log er. Yohji sah ihn ernst an, aber dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln.

„Ist schon gut Kleiner, kann ja mal passieren. Aber dass mir das nicht noch einmal vorkommt!"

„Versprochen", meinte Omi und sah Yohji erleichtert an.

„Na dann, komm endlich rein. Essen steht in der Küche. Ach ja, und Manx war da, wir haben morgen einen Auftrag. Aber Ken und ich schaffen das alleine." Omi riss die Augen auf und sah Yohji alarmiert an.

„Ich komme mit!", rief er. Yohji sah ihn schief an und fragte: „Wieso? Du brauchst wirklich nicht mit kommen, wir schaffen das schon!"

„Nein, ich will mit!"

„Du weißt noch nicht einmal worum es geht…"

„Egal. Ich… muss mich ablenken." Yohji seufzte.

„Na meinetwegen."

Nachdem Omi gegessen hatte, fuhr Yohji mit ihm zum Krankenhaus um den Roller zu holen.

„Was meinst du, wann kommt Ran wieder?", meinte Yohji nachdenklich.

„Hoffentlich bald, ich vermisse ihn", antwortete Omi traurig.


In dieser Nacht hatte Omi einen sehr kuriosen Traum. Er träumte von Crawford, wie er mit einer Schürze und einem Kopftuch im Garten die Betongrube putze, als plötzlich eine gigantische Aya-chan ankam und das Haus mitsamt Garten und Crawford in einen Koffer packte. Omi saß währenddessen auf einem fliegenden Keks und musste hilflos mit ansehen, wie Aya-chan mit dem Koffer in den Himmel davon flog.

Wer weiß, was er noch alles geträumt hätte, hätte nicht auf einmal der dämliche Wecker angefangen zu piepen.

Aber heute schaffte er es pünktlich zur Schule. In den ersten beiden Stunden hatte er Englisch und musste sich von seiner Lehrerin eine ordentliche Standpauke anhören, weil er das Buch immer noch nicht durch gelesen hatte und ihre Fragen nicht beantworten konnte. Was hatte ihn da bloß geritten als er Englisch gewählt hatte! Das Ergebnis war jedenfalls, dass er als Strafe eine Analyse des Verhaltens der Hauptperson in den Kapiteln 10 bis 13 vorbereiten und in der nächsten Stunde vortragen sollte. Und die war bereits am nächsten Tag.

Mit einem Wörterbuch bewaffnet setzte Omi sich also in seinen beiden Freistunden in den Aufenthaltsraum und versuchte, die Kapitel 10 bis 13 zu lesen. Als er sich am Ende der zweiten Stunde dann vollkommen verzweifelt auf den Weg in die Klasse machte, fiel ihm auch noch siedendheiß ein, dass er ganz vergessen hatte, seine Mathe Hausaufgaben zu machen. Und Crawford hatte ihn extra noch darauf angesprochen… na wunderbar. Viel schlimmer konnte es ja fast nicht mehr kommen. Jetzt würde er von Crawford auch noch eine Extra Aufgabe bekommen, so dass er heute Abend Englisch und Mathe machen musste und noch eine Mission hatte. Das würde eine schlaflose Nacht werden.

Er sollte Recht behalten. Als Crawford fragte, wer die Hausaufgaben nicht gemacht hatte und Omi sich mit gesenktem Kopf meldete, guckte Crawford zwar etwas überrascht, befahl ihm aber, nach dem Unterricht zu ihm zu kommen um seine Extra Aufgabe ab zu holen. Die ganze Stunde über saß Omi da und starrte mürrisch vor sich hin, seine Laune war auf einen Tiefpunkt gesunken. Das lag nicht nur an den Strafaufgaben, sondern vor allem daran, dass ihm eingefallen war, dass er auch noch etwas für ihre Mission recherchieren musste. Jetzt hieß es, einen Zeitplan aufstellen und Prioritäten setzen. Die Mission kam an erster Stelle, das war klar, ebenso die Recherche. Danach kam die Englisch Aufgabe, weil sie wohl das Zeitaufwendigste war und weil er unbedingt auf seine Note aufpassen musste. Als letztes kam dann die Mathe Extraaufgabe, die aber das einfachste von allem war. Das war doch alles nicht fair.

Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck, den man von Omi sonst nicht so gewohnt war, ging er nach der Stunde nach vorne. Dabei war dieser Stress doch eigentlich nichts Neues für ihn, er hatte schon weitaus schlimmeres überstanden. Zum Beispiel eine vierstündige Klausur, nach einer Nacht ohne Schlaf. Dafür aber mit einem verstauchten Knöchel, den er erst nach der Schule behandeln konnte weil er nach der Mission gerade mal Zeit gehabt hatte, sich noch im Auto umzuziehen und sofort weiter zur Schule zu fahren.

Aber jetzt kam noch die Geschichte mit Ran dazu und die Gewissheit, dass Ken bei der Mission sterben konnte, wenn Omi nicht vorsichtig war – das alles zerrte doch ziemlich an seinen Nerven.

„Wie war das? Hattest du mir nicht erzählt die Hausaufgabe wäre so easy, dass du sie in 10 Minuten schaffen würdest?" Omi sah zähneknirschend zu Boden. Er wollte das hier so schnell wie Möglich hinter sich bringen.

„Ich habs halt vergessen, ich hatte echt genug anderes zu tun in den letzten Tagen."

„Tsk tsk tsk"

„Halt die Klappe und sag mir endlich was ich machen soll. Ich hab heute noch was Besseres vor!", schnauzte Omi.

„Warum so gereizt?"

„Geht dich nichts an, also lass mich bloß in Ruhe!"

„Hey, hey, reiß dich mal ein bisschen zusammen hier, ja! Ich weiß, dass du's im Moment nicht so leicht hast. Aber du solltest dich trotzdem ein bisschen beherrschen."

„Ja ist ja gut. Krieg ich jetzt die Aufgabe?"

„Es wäre wohl Zeitverschwendung, wenn ich dir eine Aufgabe zu unserem jetzigen Thema geben würde. Ich habe mir für dich etwas Schwierigeres überlegt, hier." Er reichte Omi einen Zettel. Omi überflog die Aufgabe, dann blickte er Crawford ungläubig an.

„Das ist nicht dein Ernst. Und das willst du bis Morgen haben?"

„Ja."

„Hast du sie nicht mehr alle?"

„Jetzt reicht's aber langsam. Ich bin immer noch dein Lehrer also pass auf was du sagst!"

„Tschuldigung. Aber das ist unmöglich, das kann ich nicht."

„Versuch es!"

„Hallo? Du weißt genau dass ich heute Abend eine Mission habe! Außerdem muss ich für Englisch auch noch so eine dämliche Extra Aufgabe machen, auch bis morgen."

„Wo ist das Problem? Das wirst du doch wohl schaffen."

„Werd ich eben nicht!"

„Tja… dann denk halt nächstes Mal an deine Hausaufgaben." Omi funkelte Crawford so böse an, wie er noch nie jemanden angefunkelt hatte. Aber dann kam ihm eine Idee.

„Und was passiert, wenn ich die Aufgabe nicht mache?"

„Nun, dann gibt das erst einmal eine sechs für nicht erbrachte Leistungen und du darfst eine Woche lang nachsitzen"

„Kann ich verkraften."

„Außerdem werde ich mit deinen Eltern reden müssen…"

„Das wagst du nicht…"

„Willst du's wirklich drauf ankommen lassen?"

„Verdammt ich schaff das nicht bis morgen, warum verstehst du das denn nicht?", rief Omi aufgebracht.

„Kann ich's dir nicht am Montag geben? Ich bring's dir auch am Wochenende vorbei wenn du willst!", versuchte er.

„Bis morgen, sieh zu wie du das auf die Reihe kriegst." Ein sadistisches Grinsen legte sich auf Crawford Lippen. Das machte ihm Spaß. Und wie ihm das Spaß machte.

„Bitte, ich bring's dir am Samstag! Oder morgen Abend, was hältst du davon?"

„Morgen in der Mathestunde und keine Minute später!" Crawford blieb hart.

„Ich mach zwei Aufgaben. Bis morgen Abend! Komm schon!", bettelte Omi verzweifelt.

„Je länger du hier diskutierst desto weniger Zeit hast du zum rechnen!", meinte Crawford ungerührt.

„Ich hasse dich!", meinte Omi giftig.

„Ich weiß." So, das reichte. Wütend schmiss Omi sich seinen Rucksack über die Schultern und stampfte zur Tür. Aber Crawford hielt ihn zurück.

„Einen Moment bitte noch!"

„WAS?"

„Deine Aufgaben…" Omis Augen funkelten wild, als er zurück kam und Crawford den Zettel aus der Hand riss. Dieser Verzog keine Miene.

„Ich hoffe du bist zufrieden!", rief Omi hitzig und verließ mit einem lauten Türenknall die Klasse. Crawford konnte sich nicht mehr beherrschen und grinste sein aller hinterhältigstes Grinsen. Schüler quälen machte teuflischen Spaß. Und diesen besonders. Das war die sadistische Seite in ihm, die immer mal wieder zum Vorschein kam.


Am Nachmittag hatte Omi sich noch immer nicht wieder beruhigt. Er reagierte gereizt auf alles und jeden. Er wusste dass es in dieser Situation am besten war, wenn er für eine Weile alleine gelassen wurde. Also rief er schnell zu Hause an um Bescheid zu sagen, dass er vermutlich erst spät nach Hause kommen würde und machte sich auf den Weg in den Park. Dort suchte er sich ein abgeschiedenes Plätzchen unter einer dicken Eiche. Der Boden war noch immer nass, daher setzte er sich auf seine Jacke. Seufzend holte er sein Englisch Buch hervor und versuchte so gut es ging eine Analyse anzufertigen. Aber er war nicht sehr erfolgreich. Ständig musste er an Crawford denken. Warum war er vorhin so gemein zu ihm gewesen? Es war gerade mal einen Tag her, da hatten sie sich super verstanden und geredet wie alte Freunde. Und jetzt so was. Omi kapierte es einfach nicht.

Knapp eine Stunde später hatte Omi sich wieder beruhigt. Konzentriert arbeitete er an seiner Analyse und nach einer weiteren halben Stunde war er endlich fertig. Erleichtert, dass er das wenigstens schon mal hinter sich hatte, lehnte er sich zurück um einen Augenblick zu verschnaufen. Aber er wusste, irgendwann würde er Mathe sowieso machen müssen, also wollte er es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Das Problem, soweit er das bisher gesehen hatte, war nicht, dass er die Aufgabe nicht lösen konnte, sondern dass sie so aufwendig war, dass er garantiert mehrere Stunden dafür brauchen würde. Da hatte Crawford sich echt was einfallen lassen. Mistkerl. Alleine der Gedanke an den Mann brachte Omi wieder auf die Palme. Auf die Weise würde er die Aufgabe niemals fertig bekommen. Also versuchte er sich so gut es ging zu beruhigen und nicht mehr an ihn zu denken sondern sich nur noch auf die Aufgabe zu konzentrieren. So sehr er sich aber auch bemühte, er konnte es nicht verhindern, dass er die ganze Zeit über leise vor sich hin schimpfte. Das hatte etwas sehr beruhigendes.

Omi war so in seine Aufgabe und sein Geschimpfe vertieft, dass er die Person, die sich ihm näherte, nicht bemerkte. Als Crawford den Jungen dort unter dem Baum hatte sitzen sehen, dachte er erst, er gucke nicht richtig. Er wollte sich eigentlich nur in Ruhe die Beine vertreten. Er war in letzter Zeit viel zu wenig an der frischen Luft, immer nur in seinem Arbeitszimmer oder in der Schule. Und redete der Kleine da etwa mit sich selber? Nein, wie putzig.

Als Crawford näher kam erkannte er, dass Omi über ihn schimpfte. Der war doch nicht etwa immer noch sauer? Man, war der nachtragend.

Omi sah erst auf, als ihm ein Schatten die letzten Strahlen der Herbstsonne klaute.

„Was willst du denn schon wieder!", rief er, als er erkannte wer ihm da im Licht stand.

„Ob du's glaubst oder nicht, ich bin ganz zufällig hier. Und da seh ich dich hier sitzen und mit dir selber reden und da dachte ich mir, ich schaue mal, was du so machst."

„Verzieh dich, ich will dich nicht sehen!", schnauzte Omi.

„Sag bloß du bist immer noch sauer wegen vorhin."

Omi zog es vor nicht zu antworten. Sollte Crawford sein Schweigen doch interpretieren wie er wollte. Er entschied, dass er den Mann einfach ignorieren würde. Das wäre allerdings viel leichter gewesen, wenn er ihm nicht im Licht gestanden hätte.

„Merkst du nicht dass du mir im Licht stehst!"

„Doch."

„Dann geh gefälligst bei Seite, ich versuche hier zu arbeiten!"

„Sag ‚Bitte'!"

„Fick dich, Crawford!" Crawford zog mit gespieltem Entsetzen die Luft ein.

„Jetzt hast du's mir aber gegeben!"

„Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen!"

„Wenn du ‚Bitte' sagst." Sollte er jetzt darauf eingehen oder nicht? Was wäre schon dabei einmal ‚Bitte' zu sagen? Abgesehen davon, dass Crawford dann, wieder mal, seinen Willen bekäme…

„Na schön. Bitte!", knirschte Omi.

„Und jetzt hau ab!"

„Bitte was?" Das war doch zum aus der Haut fahren!

„Bitte. Geh. Aus. Der. Sonne!"

„Na siehst du, geht doch." Sofort trat Crawford einen Schritt zur Seite und lehnte sich gegen die Eiche. Omi wartete eine Weile, aber Crawford rührte sich nicht.

„Was ist? Willst du jetzt da stehen bleiben!"

„Ja."

„Ich hab gesagt du sollst verschwinden!"

„Ich kann mich hier hinstellen wo ich will!"

„Na gut, dann gehe ich eben" Er wollte gerade aufstehen, als Crawford ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn nach unten drückte.

„Findest du nicht, dass du etwas übertreibst?"

„Lass mich los!"

„Du benimmst dich wie ein kleines Kind, weißt du das?"

„Und du wie ein Riesen Arschloch!"

„Du musst lernen, nicht immer alles so ernst zu nehmen. Du bist viel zu hitzköpfig."

„Danke, ich nehm's zur Kenntnis."

„Komm mit, ich gebe dir ein Eis aus."

„Was?"

„Bei kleinen Kindern macht man das auch immer so wenn sie bockig sind. Und es heißt ‚Wie bitte'"

„Arschloch!"

„Erstens: du wiederholst dich, denk dir mal was Neues aus. Zweitens: Du solltest ein bisschen auf deine große Klappe achten. Ich habe schon Leute für weniger umgebracht!" Omi schnaubte verächtlich. Stimmt, wie konnte er das nur vergessen. Der Kerl war ja nicht nur ein gemeiner Sadist sondern auch ein brutaler Killer. Mit was gab er sich hier nur ab…

Eine Weile passierte gar nichts. Aber dann entschied Omi, seine Taktik zu ändern.

„Also gut, her mit dem Eis!"

Jetzt war es an Crawford blöd zu gucken. Omi grinste innerlich. Das war doch schon einmal ein Anfang.

„Ja was? Ich warte. Du hältst mich für ein kleines Kind? Bitte, dann bestehe ich aber auch auf mein Eis. Vielleicht lasse ich mich dann sogar dazu überreden, dir zu verzeihen. Dumm und naiv wie ich bin…"

„Also jetzt benimmst du dich wirklich kindisch."

„Jepp." Schnell packte er seine Sachen ein, erhob er sich und Schüttelte seine Jacke ab. Dann warf er Crawford einen herausfordernden Blick zu und ging ein paar Schritte voraus. Als Crawford ihm nicht folgte, drehte er sich um und meinte: „Was ist nun? Kommst du oder was?"

„Schön!", knurrte Crawford und folgte ihm.

Natürlich gab es zu dieser kalten Jahreszeit keine Eiswagen mehr im Park und so mussten sie eine ganze Ecke laufen, bis sie an einer Eisdiele ankamen, die auch zu dieser Jahreszeit noch auf hatte. Ohne auf Crawford zu warten ging Omi zum Tresen und bestellte sich ein großes Eis mit vier Kugeln Schokolade. Crawford wollte seinen Augen nicht trauen, der meinte das wirklich ernst. Na warte!

Äußerlich lies er sich nichts anmerken, als er das Eis bezahlte. Aber innerlich war er stinksauer. Wie kam er bitte dazu, diesem verfressenen kleinen Weiss Bengel ein Eis auszugeben? Und dann auch noch so teuer! Wann zur Hölle war eine Kugel Eis nur so verdammt teuer geworden? Er hatte wohl etwas länger keine Eisdiele mehr von innen gesehen.

„Vielen Dank noch Mal", grinste Omi als sie wieder draußen waren und schlechte fröhlich sein Eis.

„Isst du immer so viel?"

„Nein, nur wenn ich es umsonst kriege."

„Ich verstehe."

„Du solltest dir auch eins holen, es schmeckt sehr gut."

„Seh ich so aus? Außerdem ist mir das viel zu teuer."

„Als wenn du es nötig hättest auf den Preis zu gucken. Du könntest dir vermutlich die ganze Eisdiele kaufen."

„Das könnte ich in der Tat. Aber das ist ja kein Grund das Geld einfach so zum Fenster raus zu schmeißen!"

„Das sagt Ran auch immer." Omi wollte gerade noch etwas hinzufügen, als Crawfords Augen plötzlich ganz glasig wurden und er sich nicht mehr bewegte. Omi fragte, was los sei, aber er bekam keine Antwort. Er wedelte mit den Armen vor Crawfords Gesicht herum aber auch das ohne Erfolg. Nach zwei Minuten ohne Reaktion von Crawford begann Omi, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Also tot war er auf jeden Fall nicht, sonst würde er nicht mehr stehen. Und betäubt war er ebenfalls nicht. Aber was hatte er dann? Das wurde Omi langsam unheimlich. Er sah sich nach Feinden um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

Plötzlich wurden Crawfords Augen wieder klar und… braun? Seine Augen waren braun? Der Traum neulich Nacht, wäre es möglich das… Nein! Niemals!

„Was ist? Warum guckst du mich so entsetzt an? Das sieht immer so aus wenn ich eine Vision habe."

„Du hast braune Augen…"

„Ja ich weiß… Wieso? Passt dir was nicht an meinen Augen?"

„Nein, nein, ist schon in Ordnung. Vergiss es…" Crawford sah Omi kritisch an. Was hatte der denn jetzt mit seiner Augenfarbe? Den Jungen verstehe mal einer.

„Was… hast du gesehen?", wollte Omi wissen.

„Nichts Wichtiges. Ein Mann wird von einem Bus angefahren werden, aber er wird es überleben und Schuldig wird einen Rotwein Fleck auf mein Hemd machen."

„Was für ein Mann?"

„Keine Ahnung."

„Du hast Visionen von Leuten die du nicht kennst?"

„Ja, manchmal. Ab und zu sehe ich Leute, wie sie in einen Zug steigen, oder etwas ähnlich Banales und fünf Jahre später steht der Mensch als Kunde vor unserer Tür. Es kann aber genauso gut sein, dass ich ihm niemals begegne. Aber meistens sind es schon Visionen die Schwarz betreffen." Da fiel Omi plötzlich etwas ein.

„Du hast gesagt, du kannst es nicht kontrollieren, wann diese Visionen kommen. Was machst du denn, wenn die mal beim Auto fahren kommen oder so?"

„Mit der Zeit lernt man, die Vorzeichen zu erkennen und wenn man genug übt, kann man Visionen auch unterdrücken."

„Ach so…"

„Sag mal, findest du vier mal Schokolade nicht ein bisschen eintönig?", bemerkte Crawford nach einer Weile und verzog den Mund.

„Schon, aber das schmeckt mir halt am Besten", antwortete Omi und schob sich den Rest der Waffel in den Mund.


Omi zappelte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Nachdem er sein Eis aufgegessen hatte, hatte Crawford gemeint, er wolle einen Kaffee trinken und Omi hatte – er wusste selbst nicht warum – gar keine Lust mehr, alleine zu sitzen und Hausaufgaben zu machen. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich zu unterhalten. Und Crawford machte sich so eilig auf den Weg zu einem Café, dass Omi gar keine Zeit hatte, groß darüber nach zu denken, und ihm spontan einfach hinterher lief. Er konnte ja später immer noch gehen, wenn Crawford ihm zu sehr auf die Nerven ging.

Allerdings hatte Crawford keine Lust zu reden, sondern überzeugte Omi, dass es wohl besser wäre, er würde mit seiner Mathe Strafaufgabe weiter machen. Aber jetzt musste Omi erst einmal dringend auf Toilette.

„Hol mir doch mal bitte schon mal den Zettel raus! Ich geh eben auf Klo", bat er Crawford und hievte seinen Rucksack auf den kleinen, runden Café Tisch.

„Wo ist der?", fragte Crawford, der Omi gegenüber saß, eine große Tasse schwarzen Kaffee vor der Nase.

„Irgendwo in meinem Block." Crawford seufzte, warf dann aber doch einen Blick in Omis Rucksack. Der war überraschenderweise ordentlicher als er erwartet hätte. Schnell fand er den Block und blätterte ihn durch. Dabei stieß zufällig auf seine Englisch Aufgabe.

„Du weißt, dass das ziemlich schwach ist, was du hier fabriziert hast?", fragte er Omi, als dieser vom Klo wieder kam und hielt ihm den Zettel vor die Nase.

„Woher willst du das denn bitte wissen!"

„Ich kenne das Buch und das sind mit Sicherheit nicht ihre Hauptbeweggründe."

„Soso, und welche sind es dann, deiner Meinung nach?"

„Nun, zu erst einmal ist fast alles was sie sagt ironisch gemeint. Und hier, die Szene mit dem Hund, auch alles Ironie. Aber als sie sagt: „You're welcome", bitte sie ihren Mann mit Sicherheit nicht ins Haus!"

„Woher soll ich das denn bitte wissen. Ironie ist so schon schwer zu erkennen. Und dann auch noch auf Englisch, also bitte", murrte Omi.

„Hast du überhaupt ein Wort von dem verstanden, was im Text steht?", fragte Crawford mit durchdringendem Blick.

„Natürlich habe ich!", rief Omi empört.

„Ja, sicher doch… Gib mal das Buch her!", forderte Crawford ihn auf. Widerwillig holte Omi das Buch aus seiner Tasche. Er hatte eigentlich gar keine Lust sich noch länger mit dieser Hausaufgabe zu beschäftigen. Das was er hatte reichte ihm vollkommen. Aber Crawford schlug ohne Zögern das Buch auf, suchte den richtigen Absatz und hielt es Omi hin.

„Hier, lies! Das ist mit die wichtigste Stelle. Wenn du die verstanden hast, hast du die Hälfte deiner Analyse schon so gut wie fertig."

Omi warf einen letzten unzufriedenen Blick auf Crawford, dann begann er, sich den Teil noch einmal durchzulesen. Aber schon nach dem zweiten Satz stoppte er.

„Was heißt das? Dieser Satz ergibt doch überhaupt keinen Sinn…"

„Du kannst „eventually" nicht mit „eventuell" übersetzen. Dann gibt das natürlich keinen Sinn!", meinte Crawford mit einem Kopfschütteln. Omi gab ein schlecht gelauntes „Hm" von sich und las weiter. Aber nach einer Weile hielt er wieder inne.

„Und was soll das jetzt heißen? Da fehlt doch voll die Hälfte."

„Da fehlt nicht „voll die Hälfte", da fehlt nur das Subjekt. Versuch doch mal ein bisschen nach dem Zusammenhang zu gehen. Du musst nicht jedes Wort kennen."

Zusammen kämpften sie sich noch eine geschlagene Stunde durch die Kapitel. Und nachdem Omi erst einmal die Situation richtig erkannt hatte, verstand er auch den Rest sehr viel leichter. Und weil sie schon mal dabei waren, las Omi das Buch auch endlich zu Ende und einige grundlegende Fragen aus den vorherigen Kapiteln konnten auch geklärt werden. Seine Analyse wurde komplett umgeschrieben und Omi musste zugeben, dass sie jetzt auch viel besser klang. Außerdem hatte er sehr viel mehr geschrieben als das erste Mal, das sah immer gut aus. Jetzt musste er es nur noch schaffen, das Ganze fehlerfrei vorzutragen und seine Note wäre erst einmal gesichert. Es war doch von Vorteil, einen gebürtigen Amerikaner zu kennen. Crawford kannte wunderbare Redewendungen und konnte Omi präzise Vokabeln angeben, die er sonst mühevoll hätte umschreiben müssen.

„Danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich morgen wohl wieder einen gehörigen Anschiss bekommen…"

„Nichts zu danken. Aber du solltest wirklich Vokabeln lernen und mehr lesen." Omi nickte.

„Mal sehen, wenn ich Zeit habe. Ich hole mir noch ne Cola. Soll ich dir was mitbringen?", fragte Omi und stand auf. Er streckte sich ausgiebig und wühlte dann in seinem Rucksack nach seinem Portemonnaie.

„Ja, noch einen Kaffee bitte."

„Zu viel Kaffee ist ungesund. Macht hohen Blutdruck und so." Crawford seufzte „Also gut, dann ein Wasser." Omi stöhnte.

„Warum könnt ihr Erwachsenen nicht auch einfach mal Cola trinken? Du bist ja genauso schlimm wie Yohji und Ran."

„Cola ist mindestens genauso schädlich wie Kaffee", erklärte Crawford mit ernster Miene.

„Schmeckt aber besser", grinste Omi und machte sich auf den Weg zur Theke. Crawford sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Warum machte er das hier eigentlich? Er könnte jetzt genau so gut zu Hause sitzen und endlich seine Zeitung lesen, was er heute Morgen nicht mehr geschafft hatte (er hatte dummerweise etwas verschlafen). Aber nein, er saß hier mit seinem Erzfeind in einem Café, kaufte ihm Schokoladeneis und half ihm bei seinen Strafaufgaben. Wenn das jemals raus kam… Crawford wollte gar nicht daran denken.

Er konnte nicht genau sagen was es war, aber irgendetwas faszinierte ihn an diesem Jungen. Es war nicht nur sein Aussehen – er sah wirklich unverschämt gut aus – es war auch seine ganze Art. Seine Offenheit vielleicht, oder seine Fähigkeit, von einer Sekunde zur anderen von tot ernst zu total albern zu wechseln? Crawford konnte sich nicht erinnern, dass er jemals mit irgendwem mehrere Stunden telefoniert hatte, ohne dass es dabei um einen Auftrag ging. Aber sie hatten sich nur über belanglose Dinge unterhalten, wie zum Beispiel Filme, die sie gesehen hatten, oder was ihnen alles so kurioses passiert war, und plötzlich war es acht Uhr Abends gewesen.

In dem Moment kam Omi auch schon wieder und stellte Crawford schwungvoll ein Glas Wasser vor die Nase.

„Und was jetzt?", fragte er und setzte sich zurück auf seinen Platz.

„Jetzt machst du Mathe!" Beinahe hätte Omi seinen Schluck Cola wieder ausgespuckt.

„Was? Aber ich habe schon genug gearbeitet heute. Ich hab keine Lust mehr!"

„Na, du musst es ja nicht jetzt machen. Aber wenn du mir die Aufgabe morgen nicht vorlegst kannst du was erleben", meinte Crawford mit Unschuldsmiene. Omi sah ihn bitterböse an.

„Du gibst echt nie auf, was?"

„Nein."

„Hilfst du mir wenigstens? Das ist eine Schweinerechnerei."

„Ich weiß, ich hab die Aufgabe schließlich ausgesucht… aber meinetwegen. Weil ich sowieso nichts Besseres zu tun habe."


„Puh, Omi, wie gut dass du doch mit gekommen bist. Dieser eine Typ hätte mich voll erwischt", stöhnte Ken, als sie nach einer harten Mission endlich wieder im Weiss Haus angekommen waren. Jetzt standen sie zu dritt in der Küche und Ken vernichtete den restlichen Kuchen, während Yohji sich Kaffee kochte. Omi lächelte müde. Wenn du wüsstest…

„Also gut Jungs, es ist bereits drei Uhr morgens. Alle ab ins Bett jetzt!", erklärte Yohji und schob die beiden Jüngeren aus dem Zimmer.

Tot müde fiel Omi wenige Zeit später ins Bett und schlief sofort ein. Crawford hatte Recht behalten. Wenn er die anderen beiden bei der Mission nicht begleitet hätte, wäre Ken wahrscheinlich von einem der Wachleute erschossen worden.