Es war ein kalter, regnerischer Mittwochnachmittag. Omi hatte am Tag zuvor angefangen, für Schwarz einen Missionsplan zu erstellen. Nagi hatte ihm per ICQ schon einige Informationen gegeben, aber es fehlten noch immer wichtige Details. Eigentlich sollte Crawford unten im Wagen warten, während Omi schnell in sein Zimmer flitzte und die Unterlagen holte, als ihm einfiel, dass bei Weiss gar keiner zu Hause war. Ken war bei einem Finalspiel seiner Kinder Fußballmannschaft, Yohji war mit seinem Wagen beim TÜV und wollte hinterher gleich weiter zum Frisör und Ran besuchte die Gräber seiner Eltern und seiner Schwester und wollte anschließend einen alten Freund seiner Mutter besuchen, den er vor kurzem durch Zufall wieder getroffen hatte. Ken und Yohji würden frühestens gegen 6 Uhr zurück sein und Ran noch viel später.
Also schlug Omi vor, dass sie doch dieses Mal bei Weiss zu Hause die Planung machen könnten. So würden sie sich einigen Umstand ersparen, denn die Fahrt von und zur Schwarz Villa dauerte immer sehr lange. Irgendwann gab Crawford nach und stieg ebenfalls aus.
„Also… es ist wirklich nichts im Vergleich zu eurem Haus…", meinte Omi ein wenig unsicher. Er wusste nicht warum, aber es war ihm ein bisschen peinlich dass Crawford sehen würde, wie bescheiden ihre Wohnung war.
„Und aufgeräumt ist es auch nicht… eigentlich wollten wir gestern Sauber machen, aber irgendwie hatten wir alle keine Zeit und…"
„Ist ja in Ordnung, so schlimm wird es schon nicht sein", unterbrach Crawford ihn. Immer noch etwas unsicher öffnete Omi schließlich die Tür und ließ den Älteren eintreten.
„Mein Zimmer ist oben", erklärte er. Aber bevor sie hochgingen, machten sie noch einen Abstecher in die Küche um Tee zu kochen.
„Ah, Vorsicht, da ist Mehl!", rief Omi und holte schnell einen Lappen um den Tisch abzuwischen, bevor Crawford sich mit dem Ärmel noch hinein legte.
„Yohji und Ken waren gestern dran mit Brot backen. Aber die nehmen das mit dem Aufräumen hinterher leider nicht so genau, weißt du, darum das Mehl… tut mir Leid."
„Schon gut… backt ihr öfter?"
„Ja, jeden Dienstag. Ist immer ganz lustig eigentlich. Außerdem schmeckt es besser als gekauftes Brot."
Kurz entschlossen schnitt Omi noch ein paar Scheiben Brot ab und als der Tee fertig war, machten sie sich mit einem kleinen Tablett auf den Weg nach Oben in Omis Zimmer.
Die einzigen Gedanken, die Omi in dem Moment durch den Kopf gingen waren, ob das Zimmer aufgeräumt genug war und ob er vielleicht irgendwelche peinlichen Sachen wie Unterwäsche oder Kuscheltiere irgendwo herum liegen hatte. Aber als sie das Zimmer betraten stellte er erleichtert fest, dass das nicht der Fall war. Mit Ausnahme von ein bisschen Geschirr sah das Zimmer, für Omis Geschmack, richtig ordentlich aus. Crawford überlegte, dass Nagi alleine für das Geschirr einen gehörigen Anschiss bekommen hätte, aber das hier war nicht Nagis Zimmer, hier hatte er nichts zu sagen. Also hielt er sich zurück. Und irgendwo fand er das auch auf eine merkwürdige Art und Weise putzig. Es passte zu dem Jungen. Als er die gestapelten Puzzlespiele unter dem Schreibtisch und die vielen J-Rock Poster an den Wänden sah, musste er unwillkürlich grinsen. Ja, so ähnlich hatte er sich Omis Zimmer vorgestellt. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie der Junge an diesem Schreibtisch ordentlich Hausaufgaben machen konnte. Auf jeden Fall hatte das Zimmer Charakter. Auch die drei Wecker, die neben Omis – ungemachtem – Bett, und ein paar Meter weiter auf der Fensterbank standen, sprachen Bände über den Bewohner des Zimmers. Crawford hätte Omi nie für den auf-den-Wecker-hauen-dann-umdrehen-und-weiter-schlafen Typ gehalten, der drei Wecker brauchte um aufzustehen.
Auch Omi hatte, wie Nagi, eine Ecke seines Zimmers zur PC-Ecke umgebaut, allerdings nicht ganz so extrem wie Nagi. Während Crawford sich mit großem, aber verhohlenem, Interesse in seinem Zimmer umsah, machte Omi sich daran, die Unterlagen zusammenzusuchen und ein paar Dinge auszudrucken. Als er alles beisammen hatte, sah er Crawford einen kurzen Moment lang unentschlossen an, dann legte er sie – wie er es gewohnt war – auf den Boden. Crawford hob kurz eine Augenbraue, zog es jedoch vor, sich auf Omis Bett zu setzen, während Omi im Schneidersitz auf dem Boden hockte.
Missmutig stand Ken vor dem Stadion und spielte mit dem Fußball in seinen Händen. Alle anderen waren schon längst gegangen, nur er stand noch da und fror einsam vor sich hin. Eigentlich hätte das Spiel noch längst nicht zu Ende sein sollen, aber die gegnerische Mannschaft war gar nicht erst angetreten und so hatten Kens Kids automatisch gewonnen. Ken fand das sehr ärgerlich. Jetzt hatten sie über eine Stunde umsonst gewartet und dabei hatte er sich so darauf gefreut. Die Mannschaft galt als äußerst stark und seine Kids hatten extra für dieses Spiel hart trainiert.
Aber das war noch längst nicht alles, denn als Ken das Stadion wieder verlassen hatte um nach Hause zu fahren, musste er feststellen, dass irgendein Arschloch ihm die Reifen zerstochen hatte. Zum Glück hatte er sein Handy dabei und so rief er Yohji an und bat ihn, ihn abzuholen. Sein Motorrad würde er dort stehen lassen und es am nächsten Tag in die Werkstatt bringen lassen. Dummerweise war Yohji, als der Anruf kam, gerade mitten beim Haare Schneiden und musste Ken deshalb noch eine Weile vertrösten. Aber er versprach, ihn sofort holen zu kommen, wenn er fertig wäre. Sowieso habe er Glück gehabt, dass es beim TÜV so schnell gegangen war, sonst hätte er noch viel länger stehen müssen.
Endlich, nach über einer Stunde Warten, konnte Ken Yohjis Seven auf sich zurasen sehen. Beinahe hätte er ihn erwischt, wäre Ken nicht reflexartig zur Seite gesprungen.
„Sag mal hast du sie noch alle? Willst du mich umbringen?", rief er aufgebracht, als Yohji grinsend die Tür aufstieß.
„Sorry, war keine Absicht. Fällt dir nichts an mir auf?" Ken rollte mit den Augen.
„Du siehst so anders aus, warst du beim Frisör?", murrte er lustlos. Aber Yohji ließ sich durch Ken nicht die Laune verderben. Stolz drehte und wendete er den Kopf, damit Ken auch ja alles sehen konnte und besah sich dabei immer wieder verzückt im Rückspiegel. Ja, das hatte der Frisör diesmal wirklich gut hingekriegt, er sah spitze aus.
„Och, komm schon Kenny, warum so miesepeterig? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?"
„Ach, niiichts, mir geht's super… mal abgesehen davon, dass ich hier seit über einer Stunde in der Kälte stehe, mein Motorrad kaputt ist, meine Kids nicht spielen konnten und der ganze Tag so was von überflüssig war! Ich hätte heute lange schlafen können und dann den ganzen Tag Fernsehen gucken. Aber nein!", knurrte er und ließ sich mit Gewitter Miene neben Yohji ins Auto fallen. Dieser zuckte nur seufzend mit den Schultern und gab, nach einem letzten Blick auf seinen schlecht gelaunten Freund, Gas.
Derweil arbeiteten Crawford und Omi friedlich an den Missionsplänen. Sie hatten schon fast alles besprochen, als plötzlich Crawfords Handy klingelte. Es war Schuldig, der sich wunderte, wo Crawford den ganzen Tag über war und ihm mitteilen wollte, dass am Abend noch ein Kunde vorbeikommen würde.
„Dann musst du wohl gleich fahren", meinte Omi, aber Crawford verneinte.
„Erst machen wir das hier zu Ende, der Kunde kann warten." Darauf zuckte Omi nur die Schultern und die beiden machten sich wieder an die Arbeit. Aber es dauerte nur knapp zehn Minuten, dann wurden sie wieder unterbrochen, diesmal von einer von Crawfords Visionen.
„Tut mir Leid Omi, aber ich muss doch gehen. Schu kann es wieder nicht lassen und wird gleich an meinen PC gehen. Und da er ein totaler Vollidiot ist, was PCs angeht, rechne ich mit dem Schlimmsten. Abgesehen davon, dass er in meinem Arbeitszimmer sowieso nichts zu suchen hat!" Omi lachte laut auf.
„Ja, ich habe meinen Freunden auch immer wieder gesagt, sie sollen die Hände von meinem PC lassen, aber natürlich hält sich kein Arsch daran. Und ich darf dann hinterher den Schaden wieder gut machen und werde natürlich noch angeschnauzt, weil die Missionspläne futsch sind".
„Zum Glück habe ich nur einen von diesen Deppen im Haus. Nagi hat Ahnung und Farf interessiert sich nicht für die Sachen anderer Leute. Aber Schu kann schon echt eine Plage sein", meinte Crawford kopfschüttelnd und begann, die Unterlagen zusammenzusammeln. Schnell hatte er alles beisammen und Omi stand auf, um die Sachen auszudrucken, die er vorhin noch aus dem Internet geholt hatte. Crawford bedankte sich bei Omi für seine Hilfe und meinte, den Rest würde er auch alleine schaffen.
Omi brachte Crawford noch zur Tür und wollte sich gerade daran machen, die Teetassen in die Spülmaschine zu stellen, als die Haustür erneut aufging. Im ersten Moment dachte Omi, Crawford hätte etwas vergessen und wollte schon rufen, aber dann fiel ihm ein, dass Crawford keinen Schlüssel hatte. Also guckte er vorsichtshalber um die Ecke in den Flur und bekam beinahe einen Herzanfall. Dort standen Yohji und Ken und zankten sich darum, wer seine Schuhe auf den Schuhständer stellen durfte, und wer seine in den Schrank räumen musste. Am Ende konnte sich Yohji durchsetzen und erst da bemerkte er, dass ein ziemlich blasser Omi in der Tür stand.
„Omittchi! Wie geht's? Was hast du so schönes gemacht heute?"
„Sag, geht's dir nicht gut? Du siehst etwas blass aus", meinte Ken besorgt, nachdem auch er den Jungen bemerkt hatte.
„N…nein, schon in Ordnung… Aber was macht ihr so früh hier? Ihr… ihr wolltet doch erst in einigen Stunden kommen!", stammelte er. Der Schock saß ihm noch im Nacken. Was, wenn die beiden nur etwas früher gekommen wären? Eine Minute hätte schon gereicht und sie wären Crawford direkt in die Arme gelaufen. Oder was, wenn Crawford nicht diese Vision gehabt hätte? Wahrscheinlich hätten sie dann noch friedlich in seinem Zimmer gesessen, wenn die beiden herein gekommen wären. Nicht auszudenken.
„Na ja, Kennys Fußballspiel ist ausgefallen, weil die gegnerische Mannschaft gekniffen hat, und beim TÜV ging's auch sehr viel schneller als erwartet. Und da wir uns nicht einigen konnten, wo wir Essen gehen könnten, sind wir halt wieder nach Hause gefahren", erklärte Yohji.
„Und das wichtigste hast du natürlich wieder vergessen!", rief Ken aufgebracht. „Mir haben sie nämlich die Reifen zerstochen! Sonst wäre ich ja nie freiwillig mitgefahren. Und außerdem gehe ich doch nicht alleine mit dir essen, am helllichten Tage. Die Leute gucken sowieso schon immer komisch aber du musst dich dann natürlich auch noch so zweideutig wie möglich benehmen", schimpfte Ken.
„Was soll das denn heißen, Kenken? Bin ich dir etwa peinlich?", meinte Yohji mit einem gespielt entsetzten Ausdruck.
„Du weißt ganz genau was ich meine", knurrte Ken.
„Hey, Omi, du siehst wirklich nicht gut aus. Bist du sicher, dass du ok bist? Du siehst aus, als wäre dir der Teufel persönlich begegnet".
„Ja, oder Schwarz", lachte Ken, „Apropos, du glaubst nicht, was uns eben passiert ist! Wir kommen da so nichts ahnend die Straße entlang, wollen gerade aus dem Wagen steigen, was glaubst du, wen ich da plötzlich auf der anderen Straßenseite stehen sehe? Crawford von Schwarz! Natürlich nur jemand, der ihm ähnlich sieht, was würde der Schwarzbastard schon hier vor unserem Haus suchen, die wissen ja auch gar nicht, wo wir wohnen, aber einen Schock haben wir schon bekommen, nicht wahr, Yohji? Total gruselig. Wenn ich mir das vorstelle… brrr…"
„Hähä…"Omi versuchte zumindest zu lächeln, aber es sah doch ziemlich mickrig und gequält aus.
Plötzlich hielt Yohji, der sich bei dem Gedanken auch geschüttelt hatte, inne, streckte die Nase in die Luft und begann angestrengt zu schnüffeln. Was war denn in den gefahren, wunderte sich Omi.
„Wonach riecht das hier?", fragte er. Ken und Omi schnüffelten ebenfalls, konnten aber nichts Auffälliges entdecken.
„Also ich riech nichts. Was soll denn sein?"
„Es riecht nach… Aftershave!" Oh, shit… bitte nicht schon wieder…
„Omi, komm doch mal her…" Zögernd ging Omi zu Yohji und ließ sich von ihm beschnuppern.
„Nein, du bist es nicht. Hätte mich auch gewundert. Aber ich kenne den Duft. Ist irgendwas teures, vertraut mir, ich kenne mich da aus", erklärte er. Verdammt, wieso hatte der Kerl so eine gute Nase! Gerade war ihm der erste Stein vom Herzen gefallen und jetzt das…
„Omi, Omi, Omi, ich hab da so einen Verdacht", meinte er dann mit einem breiten Grinsen und machte sich auf den Weg in Omis Zimmer. Die anderen beiden folgten ihm, Ken mit Neugierde, Omi mit einem ganz miesen Gefühl im Bauch.
„Da haben wir's, der Geruch geht eindeutig in dein Zimmer. Omi, du bist ertappt!", rief er triumphierend. Auch Ken sah Omi jetzt erwartungsvoll an. Jetzt hieß es schnell denken und mit einer guten Ausrede kommen.
„Ja und? Mein Nachhilfelehrer war hier und wir haben Englisch gemacht… Ist das verboten?"
„Auf deinem Bett?"
„…Irgendwo musste er ja sitzen, oder?" Ein triumphierendes Grinsen legte sich auf Yohjis Gesicht. Mist, er war ihm in die Falle gegangen. Das mit dem Bett war nur geraten. Das hätte er sich aber auch denken können. So gut konnte seine Nase gar nicht sein. Toll gemacht, Omi.
„Nachhilfelehrer… Nein,nein, Omilein, das überzeugt mich nicht. Da musst du dir schon was Besseres ausdenken."
„Aber es ist die Wahrheit!", beteuerte er. Na jedenfalls fast…
„Jetzt sei doch nicht so, erzähl uns was von ihm!", bettelte Ken.
„Darf ich mal raten?", meinte Yohji, noch bevor Omi zu einer Antwort ansetzen konnte. „So… Ende 20, dickes Auto, Kohle und mit einem sehr abstrakten Sinn für Humor?". Der entgeisterte Ausdruck in Omis Gesicht verriet ihm, dass er richtig gelegen haben musste.
„Woher… Wie?", stammelte er.
„Ich war Privat Detektiv, schon vergessen? Die tiefe Stimme am Telefon, holt dich mit dem Auto ab, teures Aftershave, nennt sich Pinguin… was bitte würdest du daraus schließen!"
„Ja aber…"
„Och Omitchi, jetzt gib's doch endlich zu. Wir haben dich durchschaut", grinste Yohji und tätschelte Omi die Wange.
„Wirklich Omi, wir akzeptieren das. Einer mehr in deinem Alter wäre mir zwar lieber gewesen, aber das musst du wissen", pflichtete Ken ihm bei. Omi konnte nur ungläubig gucken und mit dem Kopf schütteln als er das hörte.
Natürlich war das das Beste, was ihm passieren konnte, wenn er tatsächlich etwas mit Crawford gehabt hätte. Was ja nicht der Fall war… Und das würde auch nie der Fall sein! Ok… vielleicht hatte er schon mal ganz kurz daran gedacht was wäre wenn. Aber das was alles nur rein hypothetisch und sowieso vollkommen ausgeschlossen.
„Na? Hat's dir die Sprache verschlagen? So schlimm ist das doch nun wirklich nicht…" Hm, vielleicht war das doch gar nicht so schlecht… er könnte einfach mitspielen und sie in dem Glauben lassen. So würden sie wenigstens keine dummen Fragen stellen, wenn er mal wieder kurzfristig weg musste, oder sogar mal über Nacht wegblieb.
„…Aber wir wollen ihn mal kennen lernen!"
„NEIN! Ich meine, das…äh, geht nicht… nein. Unmöglich!", rief Omi erschrocken.
„Wieso denn nicht?"
„Das ist… ähm… kann ich nicht sagen. Aber es geht nicht." Yohji runzelte die Stirn. Er verstand das nicht. Sie hatten ihm doch gesagt, dass es vollkommen in Ordnung war. Wenn Omi gesagt hätte, er müsse das erst einmal mit ihm bereden wäre das auch ok gewesen. Aber das hier? So vehement? Da stimmte doch irgendwas nicht…
Auch Ken ließ enttäuscht die Schultern sinken. Aber er wollte seinen Freund nicht weiter drängen, sie hatten ihm heute schon genug zugesetzt, fand er. Wenn Omi bereit war, würde er schon mit ihnen reden, er brauchte sicher nur etwas Zeit. So lächelte er Omi noch einmal aufmunternd zu, bevor er Yohji vor sich her aus dem Zimmer schob. Ran würde bald wieder kommen und dann wollten sie ihm die Neuigkeiten so schnell wie möglich erzählen.
An diesem Abend sollte Ken jedoch nicht mehr dazu kommen, mit Ran zu reden. Es war bereits nach Mitternacht, als die drei endlich den Schlüssel im Haustürschloss hörten. Noch etwas länger und sie hätten sich ernsthaft Sorgen gemacht. Sie hörten das gewohnte Rascheln von Mantel und Schuhen und dann Schritte auf der Treppe. Dann war alles wieder still. Die drei im Wohnzimmer warfen sich irritierte Blicke zu. Da stimmte was nicht. Ran hatte ein festgelegtes Ritual, wenn er das Haus betrat. Dazu gehörte zum einen, dass er seine Schlüssel auf die Ablage legte und zum anderen, dass er einen Blick ins Wohnzimmer warf um zu erfahren, wer alles zu Hause war.
„Ich sehe besser mal nach ihm", meinte Omi und stand auf. Die anderen beiden nickten und wandten sich wieder ihrem Kartenspiel zu.
„Ran? Ist alles in Ordnung?", fragte Omi besorgt nachdem er mehrmals an Rans Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten hatte. Er hatte zum mindest ein ‚verschwinde!' erwartet.
„Ich komme rein, ok?", warnte Omi und öffnete die Tür. Dann machte er vorsichtig ein paar Schritte in das stockdunkle Zimmer. Gerade horchte Omi angestrengt nach einem Zeichen von Ran, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Vor Schreck machte er einen großen Satz nach vorne.
„Was machst du in meinem Zimmer!", erklang Rans tiefe Stimme hinter ihm. Er war böse, Omi konnte es deutlich hören.
„Ich… ich wollte nur nach dir sehen. Ist alles ok mit dir?", stammelte Omi und drehte sich um. Er versuchte, in Rans Gesicht zu lesen, aber gegen den hell erleuchteten Flur, konnte er ihn nur als schwarze Silhouette erkennen.
„Nein, nichts ist ok. Und jetzt raus mit dir!", fauchte Ran und zog Omi unsanft am Arm hinaus in den Flur, bevor er ihm die Tür vor der Nase zuknallte.
„Aber Ran, was ist denn passiert…", fragte Omi betrübt. Ran war doch sonst nicht so grob zu ihm. Aber statt einer Antwort hörte er nur, wie von innen der Schlüssel umgedreht wurde. Traurig ließ Omi den Kopf hängen. Das war eindeutig. Anscheinend brauchte ihr Leader etwas Zeit für sich und das würde er akzeptieren, auch wenn es ihm schwer fiel.
Lange lag Ran an diesem Abend noch wach. Es tat ihm Leid, Omi weh zu tun, aber er brauchte Zeit zum Nachdenken. Das Treffen mit dem Freund seiner Mutter hatte alte Wunden wieder aufgerissen und dann kam auch Aya-chans Tod hinzu. Heute Abend hatte er nicht die Kraft, sich mit seinen Teamkollegen rum zu schlagen, heute musste er alleine sein.
„Omi? Ich bin's Crawford. Ich brauche deine Hilfe."
„Was ist passiert?" Sofort war Omi hellwach.
„Nagi ist krank geworden und wir haben morgen Abend einen Auftrag."
„Du willst, dass ich für euch recherchiere?"
„Auch, aber vor allem will ich, dass du für ihn einspringst. Du hast zwar nicht seine Fähigkeiten, aber ich denke, du bist auch so gut genug als Bodyguard."
„Aber… ich hab so was noch nie gemacht. Ich weiß doch gar nicht, wie ich mich verhalten soll!"
„Wir sagen dir, was du machen sollst. Und wenn was ist, frag einfach telepathisch Schu, er wird dir weiterhelfen."
„Darf ich fragen, warum ihr mich so dringend braucht, wenn ich doch kräftemäßig so gut wie keine Hilfe für euch bin?"
„Nicht am Telefon. Können wir uns gleich noch treffen?" Omi sah auf die Uhr.
„Es ist schon ziemlich spät…"
„Es geht ganz schnell. Aber dieser Auftrag ist wirklich wichtig für uns".
„Na ja, also ich kann dir nichts versprechen, aber ich helfe euch natürlich. Ist doch das Mindeste".
„Gut. Dann komm zu dem Parkplatz vor dem Autohaus, bei euch rechts die Straße runter! Ich stehe da irgendwo mit dem Wagen, wir können dort alles besprechen. Dann bist du ganz schnell wieder zu Hause, ohne das deine Freunde etwas merken".
Na wunderbar, Omi als Bodyguard, das würde in einer Katastrophe enden.
Vorsichtig lugte Omi aus seiner Tür. Aus Kens Zimmer konnte er laut Musik hören und Yohjis Zimmertür stand sperrangelweit offen. Der Playboy war dabei, sein Outfit für sein heutiges Date zu Recht zu legen. Omi wartete, bis der Blonde sich kurz umdrehte, um dann blitzschnell und lautlos aus seinem Zimmer zu verschwinden. Vorsichtig schlich er die Treppe hinunter, vorbei am Wohnzimmer, wo Ran eine Quizsendung sah. Auch der bemerkte nichts. So leise wie möglich zog Omi sich Schuhe und Jacke an, nahm seine Schlüssel und verschwand aus dem Haus. Als er das Weiss Grundstück verlassen hatte, fing er an zu laufen.
Am Autohaus angekommen musste er erst einmal verschnaufen. Seine Kondition ließ in letzter Zeit etwas zu wünschen übrig, er würde wohl wieder mehr trainieren gehen müssen. So, wo war nun Crawfords BMW? Ah, da hinten kam ein Wagen angefahren, ob er das war? Ja, eindeutig. Schnell lief Omi zu einer freien Parklücke und wartete, bis Crawford neben ihm anhielt und die Beifahrertür öffnete.
„Steig ein!"
„N'abend… Oh, hi Schu", grüßte Omi, als er sah, wer auf der Rückbank saß.
„Hey Kleiner. Tut mir ja schrecklich Leid, aber hier muss ich dich auch schon wieder verlassen". Omi warf ihm einen verwirrten Blick zu.
„Brad war so nett mich hierher mitzunehmen. Ich hab schon ein bissl was getrunken und der Boss wollte mich nicht mehr fahren lassen. Aber ihr habt da nen ganz klasse Club bei euch um die Ecke, weißt du das?", grinste Schuldig.
„Nein… das ist eher Yohjis Gebiet…"
„Du sollst mich nicht Brad nennen!", knurrte Crawford. Schuldig fuhr fort, als hätte Crawford nichts gesagt: „Na ja, macht ja auch nichts. Aber da solltest du wirklich mal hingehen. Wer weiß, vielleicht nehm ich dich mal mit." Er zwinkerte Omi zum Abschied zu und stieg aus.
„So ein Idiot", knirschte Crawford. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit ganz Omi zu.
„Also… zur Mission…"
Eine Dreiviertelstunde lang erklärte Crawford Omi, worin ihre Mission genau bestand und was er beachten musste. Sie sollten eine reiche Industrielle nebst Ehemann, sowie einen weiteren Geschäftsmann und dessen Sohn beschützen. Die vier hatten ein wichtiges, geschäftliches Meeting und mit dem Abschluss der Verträge an diesem Abend würden sie sehr vielen Leuten arg auf die Füße treten. Daher hatten sie sich an Crawford gewand und ihn gebeten, sie zu bewachen und eventuelle Angreifer auszuschalten. Aber Omi weigerte sich, irgendjemanden umzubringen. Er würde nur seine Betäubungspfeile mitnehmen, nicht aber die tödlich giftigen. Crawford empfand das zwar als ein unnötiges Risiko, willigte aber doch ein. Er konnte diese Leute zur Not ja selber umbringen, wenn Omi sie erst einmal betäubt hatte.
Er erzählte Omi auch, dass sie jeder einen der vier zugeteilt bekommen würde, weshalb sie auch unbedingt zu viert sein mussten. Omi würde den Mann der Industriellen bewachen müssen, da der am wenigsten gefährdet war. Dann erzählte er noch, dass Schuldig mit ihnen allen während der ganzen Mission telepathisch Kontakt halten würde. Wenn etwas nicht stimmte, sollte er sofort Bescheid geben. In dem Punkt waren Schwarz Weiss mit ihren Headsets eindeutig überlegen.
Nachdem alles Wichtige geklärt war, verabschiedete Omi sich von Crawford und lief zurück zum Haus. Dort wäre er beinahe Yohji in die Arme gelaufen, konnte sich aber durch einen beherzten Sprung hinter die Hecke gerade noch retten. Yohji schien nichts bemerkt zu haben, denn er stieg ohne zu zögern in seinen Seven und fuhr davon. Na ganz toll, die Hose hatte Omi eigentlich am nächsten Tag noch anziehen wollen, das konnte er jetzt auch vergessen. Außerdem war es arschkalt und er sehnte sich nach seinem warmen Bett. Aber vorher würde er für Schwarz noch ein paar Nachforschungen anstellen müssen. Es waren immer noch zu viele Fragen offen, was diesen Vertrag betraf.
„Omi, oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?", rief Ken entsetzt, als Omi die Küche betrat.
„Ich, ähm… bin in eine Schlägerei geraten…"
„Wie bitte?"
„Ich dachte, du warst im Kino!", mischte sich jetzt auch Yohji ein, der am Tisch saß und Gemüse schnippelte.
„War ich auch… aber dann haben uns so ein paar Typen angemacht und dann… na ja… wie's halt so passiert, ne?"
„Wie geht es Nao?"
„Dem geht es gut, der hat sich raus gehalten. Ich bin schon ganz gut alleine mit den Typen klar gekommen", log Omi. Er konnte seine Freunde dabei nicht ansehen.
„Geh schnell ins Bad und versorg deine Wunden. Wenn du Hilfe brauchst sag Bescheid!", befahl Yohji.
„Schon ok, sieht alles schlimmer aus als es ist. Ich schaff das schon alleine." Damit verschwand er aus der Küche und ging ins Bad. Dort angekommen zog er sich erst einmal seine Blutverschmierten Sachen aus und holte Verbandszeug und Desinfektionsmittel aus dem Arzneischrank.
Die Mission war leider nicht so glatt gelaufen, wie sie gehofft hatten. Dieser Vertrag musste echt mächtig wichtig sein, denn es stellte sich heraus, dass gleich drei Killer von verschiedenen Leuten auf die vier angesetzt waren. Schwarz hatten allerhand zu tun um ihre Auftraggeber zu beschützen. Aber dann hatte Omi einen Moment lang nicht aufgepasst und sofort hatte er zwei der drei Kerle auf dem Hals gehabt. Zum Glück war Farfarello in der Nähe gewesen und hatte ihm geholfen, aber vorher musste Omi doch noch einige heftige Schläge einstecken.
Im Auto hatte Crawford ihm dann erst einmal eine Strafpredigt gehalten, dass er nicht aufmerksam genug gewesen sei und so. Aber Schuldig hatte ihm telepathisch mitgeteilt, dass er sich das nicht so zu Herzen nehmen solle, das sei nur Crawfords Art zu zeigen, dass er sich um sie Sorgen mache. Eine etwas eigentümliche Art, aber, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt habe, kein Problem mehr.
Nachdem er sich um seine Verletzungen gekümmert hatte, ging Omi schnell noch einmal in die Küche um sich etwas zu trinken zu holen, bevor er sich an seinen PC setzte. Eigentlich wollte er nur schnell seine E-Mails nachgucken und dann ins Bett gehen, aber dann entdeckte er, dass Nagi ihm eine super lange Mail geschickt hatte, und die musste er natürlich erste einmal beantworten. Nagi schrieb unter anderem, dass es ihm Leid täte, dass er nicht mit ihm chatten könne, aber Crawford hatte ihm strengste Bettruhe verordnet und er konnte nur die Zeit der Mission nutzen um Omi wenigstens eine Mail zu schicken. Das nächste, was er sich kaufen würde, wäre ein neuer Laptop – sein letzter war bei einer Mission kaputt gegangen – dann könnten sie auch chatten wenn er im Bett bleiben musste. Da Nagi ziemlich anfällig für Krankheiten war, war das gar keine so schlechte Idee. Omi erzählte ihm von seinem „Unfall" bei der Mission und dass er jetzt wohl die nächsten Tage mit einem hübschen Feilchen auf dem linken Auge herum laufen würde, dass er allerdings selbst daran Schuld war. Danach schrieb er noch einige belanglose Sachen, wünschte Nagi gute Besserung und schickte die Mail weg. Dann legte er sich so schnell wie möglich ins Bett. Er war hundemüde und sein Kopf tat ihm weh.
Als er am nächsten Morgen in die Küche kam, hätte Ran beinahe seine Tasse fallen lassen.
„Omi, was ist mit dir passiert?"
„Kleine Prügelei… Nichts Ernstes", log er erneut. Sein Auge war inzwischen tiefblau angelaufen und angeschwollen. Am Arm hatte er noch immer leuchtend rote Kratzwunden und um ein Handgelenk hatte er einen Verband gewickelt.
„Mit wem hast du dich bitte geprügelt, dass du so aussiehst? Mit Schwarz!" Hähä, fast…
„Es waren mehrere und ich war kurz unaufmerksam. Ich weiß, es ist peinlich und ich will auch nicht mehr darüber reden, alles klar?", meinte Omi etwas genervt. Wenn Ran ihm jetzt auch noch eine Predigt von wegen Aufmerksamkeit halten wollte dann vielen Dank. Darauf konnte er jetzt gut und gerne verzichten.
Auch in der Schule starrten ihn alle ganz schockiert an. Es war zwar nicht das erste mal, dass Omi verletzt zur Schule kam, aber meistens handelte es sich nur um nicht sichtbare Wunden am Bauch oder Rücken oder um verstauchte Knöchel. Besonders Nao sah Omi sehr skeptisch an. Omi hatte ihn angerufen und ihn gebeten so zu tun, als würde er mit ihm ins Kino gehen. Das sollte er auch seinem Vater sagen, falls einer von Omis Freunden bei ihnen anrufen sollte. Omi wollte ihm zwar nicht sagen, was er vorhatte, aber Nao hatte dennoch zugestimmt und den Abend bei einem anderen Kumpel verbracht. Aber jetzt, da er sah, wie verletzt Omi war, machte er sich doch Gedanken. Und wieder holte Omi seine Prügelei Lüge hervor. Nao sagte ihm, dass er jeder Zeit mit ihm über alles reden könne und Omi dankte ihm dafür. Er wusste, dass er das Angebot wohl nie annehmen würde, jedenfalls nicht um ihm zu sagen, was wirklich in dieser Nacht geschehen war, aber es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass Nao sich so um ihn sorgte.
Fast zwei Monate waren seit Omis erster Nachhilfestunde bei Crawford vergangen. Sie hatten sich so oft wie möglich getroffen – bei Schwarz zu Hause, während Freistunden in der Schule oder in Cafés. Omi hatte inzwischen große Fortschritte gemacht, auch seine Englisch Lehrerin hatte das bereits bemerkt und ihn dafür gelobt. Wenn sie zum Beispiel Hausaufgaben einreichen mussten, ließ Omi sie immer noch einmal von Crawford Korrektur lesen, was ihm am Ende immer sehr gute Noten einbrachte. Auch Crawford war stolz auf Omi und er konnte seine bisherigen schlechten Noten schlicht auf mangelnden Fleiß schieben. Sie waren inzwischen auch dazu übergegangen, jedes Mal, nachdem sie die Hausaufgaben erledigt hatten, ein bisschen Mathe zu machen. Denn daran hatte Omi nach wie vor mehr Spaß und manchmal glaubte Crawford, das sei der Hauptgrund für Omi, zu ihm zum Lernen zu kommen. Nicht, dass es ihn störte. Er genoss die endlosen Gespräche mit dem Jungen und die Hingabe, mit der er sich auch den kniffeligsten Aufgaben zu wand.
„Bitte mach, dass es aufgeht! Bitte mach, dass es aufgeht… neeein! Warum passt das denn wieder nicht!", enttäuscht warf Omi den Stift auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war ein kalter Samstagmorgen Ende November, nur noch wenige Wochen bis Weihnachten. In der Nacht hatte er zum ersten Mal richtig heftig geschneit und Omi war um 8 Uhr morgens von einem total aufgedrehten Ken aus dem Bett geschmissen worden, der unbedingt und jetzt sofort eine Schneeballschlacht mit ihm veranstalten wollte. Irgendwann hatte Omi dann nachgegeben und war mit Ken und ein paar seiner Fußballkids in den Park gegangen. Allerdings waren sie vorher nicht mehr zum Frühstücken gekommen und so kamen sie, gerade mal eine Dreiviertelstunde später, total durchnässt und mit knurrendem Magen zurück. Ran, der inzwischen auch aufgestanden war, hatte einen riesen Aufstand gemacht, weil sie mit ihren tropfnassen Sachen einmal quer durch die Wohnung bis ins Bad gelaufen waren und überall Pfützen hinterlassen hatten. Aber nachdem sie – genauer gesagt Omi, weil Ken gerade heute eine extra lange, ausgedehnte Dusche nehmen wollte – alles wieder sauber gemacht hatten und Ran versprochen hatten, es nie wieder zu tun, war alles wieder in Ordnung.
Jetzt hatte er aber das Problem, dass er wach war und nicht wusste, was er mit der ganzen Zeit anfangen sollte. Noch Mal einschlafen konnte er nicht, dafür war er durch die Schneeballschlacht zu aufgekratzt. Also hatte er sich eine von insgesamt drei angefangenen Aufgaben von Crawford geholt und versucht, sie endlich zu lösen, aber ohne Erfolg. Was er auch versuchte, er bekam einfach kein vernünftiges Ergebnis heraus und so gab er es nach einer Dreiviertelstunde nachrechnen und hin und her überlegen wieder auf.
Kurze Zeit später:
„Och komm schon Ran, bitte!"
„Nein! Du hast genug Mathebücher!"
„Aber die habe ich doch alle schon durch. Ich gehe ein hier vor Langeweile. Und du hast doch selber gesagt, dass du dir „bei Gelegenheit" ein neues Buch kaufen willst. Warum nicht heute?"
„Weil ich heute keine Lust habe".
„Raaaan!" Also gut, es war mal wieder höchste Zeit für den patentierten Omi Chibi Bettelblick. Und auch dieses Mal verfehlte er seine Wirkung nicht. Es dauerte nur kurze Zeit und Ran ließ ergeben die Schultern sinken, ein deutliches Zeichen, dass Omi gewonnen hatte. Überglücklich und über das ganze Gesicht strahlend bedankte er sich bei Ran und huschte davon um sich umzuziehen. Mürrisch drehte Ran sich um, um sich ebenfalls fertig zu machen. Das würde Yohji ihm noch büßen. Es war seine Aufgabe den Chibi überall hinzufahren, solange der noch kein Auto hatte. Aber was machte der Kerl? Besoff sich so sehr, dass er den ganzen Morgen nur über der Kloschüssel hing und noch elender aussah als sonst. Heute Abend würde Ran Omelett machen, das hasste Yohji wie die Pest und würde ihn gleich wieder zum Kotzen bringen. Das hatte er dann davon.
Beflügelt von seinen Rachegedanken ging Ran beinahe gut gelaunt zum Auto um auf Omi zu warten. Der ließ auch nicht lange auf sich warten und so machten sie sich auf den Weg in die Stadt. Natürlich würde er es nie zugeben, aber er war froh, dass Omi ihn gefragt hatte. Er brauchte dringend ein neues Buch, den ganzen Tag fernsehen war einfach nichts für ihn und er war jetzt seit über einem Monat nicht mehr einkaufen gewesen, hatte also keine Chance gehabt, sich endlich ein neues zu besorgen.
Im Buchladen angekommen trennten sie sich sofort. Omi ging in die Schulbücher Abteilung, die ganz hinten in der Ecke hinter großen Regalen versteckt lag, und Ran verschwand wer weiß wohin. Da die Mathematik Bücher ganz unten im Regal standen, und Omi nach einer Weile vom ständigen Bücken Rückenschmerzen bekam, setzte er sich kurzerhand im Schneidersitz auf den Boden und fuhr mit seiner Suche fort. Um diese Jahreszeit interessierte sich sowieso kein Mensch für Schulbücher, also brauchte er auch keine Angst haben, dass er irgendwem im Weg sitzen könnte.
„Ah, wieder fleißig, wie ich sehe", kam plötzlich eine wohlbekannte Stimme von der Seite. Omi war so vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass sich ihm jemand genähert hatte – wieder mal. Erschrocken sah er auf und erkannte Crawford, der, wie immer in einem eleganten, beigefarbenen Anzug, auf ihn herab blickte.
„Bist du wahnsinnig? Ran ist hier irgendwo!", rief Omi, während er aufsprang und sich fast panisch umsah.
„Keine Angst, der ist irgendwo da hinten", meinte Crawford gelassen und zog willkürlich ein Buch aus dem Regal, blätterte es einmal desinteressiert durch und steckte es zurück.
„Was machst du hier? Willst du, dass er uns sieht?", schimpfte Omi und sah sich noch immer unsicher um.
„Darf ich nicht auch mal in einen Buchladen gehen?"
„Doch, aber…"
„Na also. Schau dir mal das blaue Buch dort an, das könnte was für dich sein". Misstrauisch sah Omi erst Crawford an und warf anschließend noch mal einen prüfenden Blick in die Runde, bevor er sich wieder hinkniete und tat, was Crawford ihm geraten hatte. Er überflog es und stellte fest, dass es tatsächlich gar nicht so schlecht war.
„Du hast Recht, das ist ganz gut. Woher…"
„Ich hab das Gleiche und ich kenne deine Vorlieben auf diesem Gebiet", unterbrach Crawford ihn.
„Danke… ich glaube, das nehme ich. Und wenn ich eine Aufgabe nicht rauskriege, frage ich dich".
Ran hatte derweil zwei Bücher gefunden, die ihm gefielen und sich auf die Suche nach Omi begeben. Aber als er in den Gang mit den Schulbüchern eintrat, traute er seinen Augen kaum. Dort stand Brad Crawford und der blonde Junge, der da vor ihm kniete, war niemand anderes als Omi. Da er Ran den Rücken zugekehrt hatte, bemerkte er ihn nicht gleich. Erst als Crawford an ihm vorbei sah, drehte er sich ebenfalls um und erstarrte.
„R…Ran…", brachte er nur hervor. Aber gerade, als er zu einer Erklärung ansetzen wollte, schüttelte Crawford unmerklich den Kopf und flüsterte: „Halt dich da raus!"
„Schwarz Bastard! Was…", fing Ran an, doch Crawford ließ ihn gar nicht erst ausreden.
„Ich weiß was du sagen willst, spar dir den Atem. Da wir hier in einem öffentlichen Gebäude sind, sollten wir das Ganze so zivilisiert wir möglich regeln…"
„Was hast du mit Omi gemacht, du Mistkerl!", rief Ran aufgebracht. Crawfords Augen verengten sich. Er hatte es nicht gerne, wenn er unterbrochen wurde.
„Wie ich bereits sagte, so zivilisiert wie möglich regeln… Ich bin nur hier, um ein Buch zu kaufen und habe wirklich keine Lust, mich jetzt hier mit euch Weiss Versagern rum zu schlagen. Also brauchst du dich gar nicht so aufzuregen, ich bin schon so gut wie weg."
„Was. Hast. Du. Mit. OMI GEMACHT!", schrie Ran und machte Anstalten, sich auf Crawford zu stürzen, ob mit Katana oder ohne.
„Nichts. Ich bin nur beinahe über den Bengel gestolpert. Du solltest deinen Leuten mal sagen, dass man in Buchläden nicht einfach so auf dem Boden hocken kann, hier wollen schließlich auch noch andere Leute lang…" Omi sah, dass Ran kurz vorm Explodieren war und er betete nur, dass Crawford das ebenfalls bemerkte und sich schleunigst aus dem Staub machte. Ran würde sich nicht darum kümmern, dass sie hier in einer öffentlichen Buchhandlung unter Leuten waren. Erleichtert stellte er fest, dass Crawford es in der Tat bemerkt hatte. Denn mit einem letzten, abwertenden Blick auf Ran drehte er sich um und ging wortlos davon.
Ran wollte ihm hinterher stürzen, aber Omi hielt ihn auf.
„Nicht Ran, hier sind zu viele Leute!" Unschlüssig sah Ran zwischen Omi und Crawford hin und her, entschied sich dann aber doch, Crawford ziehen zu lassen. Omi hatte Recht. Aber er verfolgte Crawford mit seinem Blick, bis dieser den Laden verlassen hatte und nicht mehr zu sehen war. Erst dann wandte er sich Omi zu, der noch immer etwas geschockt am Boden saß.
„Steh auf! Hat dieser Mistkerl dir etwas angetan?"
„Nein… was er gesagt hat war die Wahrheit", bestätigte Omi Crawfords Worte. Er hatte das Gefühl, dass Ran Crawford kein Wort geglaubt hatte. Zu Recht.
„Komm Omi, wir gehen!"
„Aber er ist doch weg…"
„Wir gehen!" Seufzend stand Omi auf, nahm aber noch das Buch mit, welches Crawford ihm empfohlen hatte und die beiden gingen zur Kasse um zu bezahlen. Nicht wenige Kunden wichen ängstlich vor Rans Gesichtsausdruck zur Seite. Das hatte den Vorteil, dass sie sehr schnell an der Reihe waren und bezahlen konnten.
Zuhause verzog Omi sich sofort mit dem neuen Buch in sein Zimmer. Aber statt gleich damit anzufangen, warf er sich aufs Bett und dachte über das Geschehene nach. Es sah nicht so aus, als habe Ran Verdacht geschöpft. Wie gut, dass Crawford Omi befohlen hatte, sich raus zu halten. Wer weiß was passiert wäre, wenn Omi sich eingemischt hätte. Er hätte bestimmt etwas verraten und Rans Misstrauen geweckt. Aber wenn er Crawford das nächste Mal sah, würde er ihm gehörig die Meinung sagen. Das war unverantwortlich von ihm, da einfach so aufzutauchen und mit ihm zu reden. Immerhin hatte er gewusst, dass Ran in der Nähe war.
„Komm schon Yohji, fahr etwas schneller, ich bin spät dran!", meckerte Omi. Er war auf dem Weg in die Stadt, wo er sich „Der Herr der Ringe 2" im Kino ansehen wollte. Und zwar mit Crawford! Das war nämlich das Buch, welches Omi bei ihm als letztes gelesen hatte und da der Film gerade im Kino lief, hatte Crawford vorgeschlagen, dass sie ihn sich gemeinsam ansehen könnten. Im Original natürlich. Zuerst hatte Omi Bedenken gehabt. Es war ja nicht so, dass er nicht gerne ins Kino ging, und den Film würde er auch gerne noch einmal sehen, aber irgendwie kam es ihm komisch vor, mit Crawford hin zu gehen. Nur Mädchen konnten zu zweit ins Kino gehen ohne schief angeguckt zu werden. Obwohl er genau wusste, dass es nicht so war, kam ihm die ganze Sache doch sehr date-mäßig vor und das war ihm einfach viel zu peinlich. Also hatte er zunächst abgelehnt und Crawford hatte das akzeptiert. Er hatte es nicht gesagt, aber Omi wusste, dass er ahnte, warum Omi nicht wollte. Wer weiß, was Crawford jetzt von ihm dachte?
Aber dann kam doch alles anders, denn Nao rief am Abend an mit dem Wunsch, dass sie mal wieder etwas gemeinsam unternähmen, zum Beispiel ins Kino gehen. Omi überlegte nicht lange und erzählte Nao von Crawfords Angebot. Der verstand Omis Problem und erklärte, dass er gerne mitkommen würde, wenn Omi sich dann besser fühle. Auch wenn sie den Film auf Englisch sehen müssten. Omi konnte gar nicht sagen wie dankbar er Nao war und rief sofort Crawford an. Der hatte nichts gegen Naos Gesellschaft einzuwenden und so verabredeten sie sich für den kommenden Samstag.
Seinen Teamkollegen hatte Omi logischerweise nichts von Crawford erzählt. Umso erleichterter war er, als Nao vor dem Kino auf sie zugelaufen kam. Er hatte ihnen erklärt, dass er mit Nao hingehen wollte und Yohji hatte ihm natürlich kein Wort geglaubt. Aber jetzt, da Nao wirklich kam, würde Yohji hoffentlich nicht auf die Idee kommen, ihnen zu folgen. Denn dann könnte es in der Tat hässlich werden.
Aber nach einem prüfenden Blick auf die beiden Jungs und dann die Straße hinab setzte Yohji sich enttäuscht wieder in seinen Wagen und fuhr davon. Erleichtert atmete Omi aus.
„Du kommst ganz schön spät. Es ist arschkalt hier. Noch ein paar Minuten und wir wären ohne dich gegangen", meinte Nao und wickelte sich den Schal enger um den Hals.
„Pünktlichkeit war noch nie seine Stärke", kam es von der Seite. Omi konnte nur mit den Augen rollen. Er wusste, dass Crawford auf eine Mission anspielte, die beinahe ins Wasser gefallen wäre, weil Omi verschlafen hatte und damit nicht rechtzeitig bei Schwarz gewesen war.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen." Crawford warf ihm einen herausfordernden Blick zu, sagte aber nichts.
„Also gut, wollen wir dann?", fragte Nao und marschierte schnurstracks auf die Kasse zu, die anderen beiden folgten.
„Es scheint hier nicht sehr viele Fans von Originalversionen zu geben", bemerkte Omi, als sie den noch fast vollständig leeren Kinosaal betraten. Außer ihnen waren nur ein älteres Pärchen und ein junges Mädchen anwesend. Aber wenigstens würden sie hier sofort erkennen, wenn Yohji ihnen gefolgt war, dachte Omi.
„Na ja, die wissen halt alle nicht was ihnen entgeht", erklärte Crawford und Nao zuckte nur gleichgültig die Schultern.
Nachdem sie sich gute Plätze gesucht hatten, kam ein Eisverkäufer, der allerdings erfolglos versuchte, sein Eis los zu werden und bald darauf wieder verschwand.
„Eis! Hat der Typ mal nach draußen geguckt heute? Spinner", meinte Nao leise zu Omi.
„Na ja, kann er ja nichts für, er wird halt dafür bezahlt", erwiderte Omi.
„Haha, erinnerst du dich an den Typen letztes Jahr während… welcher Film war das noch gleich? Na egal, jedenfalls der, der sich so erschrocken hat, dass er seinen ganzen Popcorn Topf ausgeschüttet hat? Auf uns? Gratis Popcorn bis zum Abwinken. Das war sooo cool", lachte Nao und auch Omi stimmte mit ein.
„Ja genau, oder diese Kindergartengruppe in „Findet Nemo", man, das war ja wohl unerträglich! Die haben so einen Krach gemacht, wenn wir nicht noch ein zweites Mal rein gegangen wären, hätte ich dir wohl nicht mal sagen können, welcher der beiden Nemo und welcher Dori war. Total gruselig. Ich will nie Kinder haben."
„Stimmt, genau wie die beiden neulich vor uns, die haben doch von dem Film überhaupt gar nichts mitgekriegt, die waren pausenlos am knutschen. Dafür würde ich doch nicht soviel Geld ausgeben! Und hast du die Zungen gesehen? Immer so…" Amüsiert sah Crawford zu, wie Nao Omi die Zunge rausstreckte soweit es ging, und dann versuchte, einen Zungenkuss nachzuahmen. Dazu machte er noch extrem laute und extrem ekelige Schmatz- und Knutschgeräusche, so dass Omi vor Lachen fast vom Stuhl gefallen wäre und die anderen Leute sich schon nach ihnen umdrehten. Bevor die Sache noch mehr ausartete, wies Crawford sie darauf hin, dass der Film jeden Moment anfing und die beiden versuchten, sich wieder etwas zu beruhigen.
Als die drei einige Stunden später wieder vor dem Kino standen, war es längst dunkel geworden und es hatte erneut angefangen zu schneien. Nao gab dazu nur ein Murren von sich. Er war mit dem Fahrrad und fand es gar nicht so lustig, eiskalten Schnee ins Gesicht zu bekommen. Omi hatte ihm angeboten, ihn mit nach Hause zu nehmen, aber Nao wollte sein Fahrrad nicht alleine zurück lassen.
„Und? Hast du alles verstanden?", fragte Crawford. Es fiel ihm schwer, nicht wieder in seine Muttersprache zurück zu verfallen. So ging es ihm immer wenn er ein englisches Buch gelesen oder einen Film gesehen hatte.
„Ja, denke schon. Wenn man das Buch kennt und den Film schon zwei Mal gesehen hat, dann geht es", grinste Omi.
„Also ich hab alles verstanden", meinte Nao stolz.
„Du hast den Film ja auch schon mindestens zehn Mal gesehen!"
„Ja, und Aragorns Stimme ist auf Englisch tatsächlich noch viel geiler."
„Aragorn ist nicht geil, der ist hässlich. Fettige Haare, verschwitzt und Stoppelbart", Omi schüttelte sich angeekelt.
„Quatsch, der ist nicht hässlich, der ist männlich", lachte Nao „Aber ich weiß, du stehst ja mehr auf Mister Ich-reise-monatelang-durch-Dreck-und-Schnee-und-hab-trotzdem-immer-frisch-gewaschene-und-perfekt-frisierte-Haare Legolas, nicht wahr?"
„Na und? Der ist ja wohl auch total sexy mit den spitzen Ohren und dem coolen Bogen", schwärmte Omi. Nao konnte nur mit den Augen rollen.
„Wissen Sie was, Herr Crawford, ich suche mir auch mal einen Nachhilfelehrer, der mit mir ins Kino geht. Das war cool. Vielen Dank noch mal, dass ich mitkommen durfte."
„Kein Problem. War vielleicht sogar besser so."
„Klar, wenn man Sie alleine mit einem Schüler im Kino gesehen hätte… das hätte die Gerüchteküche ordentlich zum brodeln gebracht."
„Korrekt!"
„Also dann Omi, ich glaub ich mach mich mal besser auf den Weg. Mein Vater flippt aus wenn er erfährt, dass ich im Dunkeln alleine mit dem Fahrrad gefahren bin, und dann auch noch bei Schnee. Ich ruf dich dann nachher an, ne? Auf Wiedersehen, Herr Crawford!"
„Ja, mach's gut. Bis nachher!"
„Auf Wiedersehen und fahren Sie vorsichtig!"
„Nao hat Recht, es war wirklich nett", meinte Omi nach einer kleinen Pause.
„Habe ich dir ja gleich gesagt. Ich nehme an, du musst auch in die Richtung?"
„Japp".
So schlenderten sie schweigend nebeneinander her. Die meisten Läden hatten bereits geschlossen und es waren kaum noch Menschen unterwegs. Plötzlich hielt Omi neben einem Juweliergeschäft an und sah in das Schaufenster. Dort, zwischen vielen anderen Ohrringen, lag eine kleine Kreole, Silber, mit einem winzigen, eingravierten Kätzchen.
„Ist die nicht süß? Wie kriegen die bloß so ein Bild in so einen kleinen Ohrring?", wunderte sich Omi.
„Ja, süß, in der Tat... für ein Mädchen." Omi zog einen Schmollmund.
„Ich finde Ohrringe schön", meinte er fast etwas trotzig. Crawfords Mund zuckte.
„Du weißt ja, was man über Kerle mit Ohrringen sagt".
„So was Lächerliches. Wer das mal eingeführt hat gehört eingesperrt." Ohne dass er es bemerkte, griff Omis Hand nach seinem kleinen Ohrring und spielte daran herum. Crawford konnte sein Grinsen kaum noch unterdrücken. Wusste der Junge eigentlich, was für ein süßes Bild er in dem Augenblick abgab? Er sollte mal einen Blick in die Schaufensterscheibe werfen!
Aber den Gefallen tat Omi Crawford nicht. Stattdessen warf er einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das kleine Schmuckstück und setzte dann seinen Weg fort. An der nächsten Kreuzung mussten sie sich dann trennen und so ging, nach einer eher knappen Verabschiedung, jeder seines Weges.
Es war 9 Uhr abends und Weiss saßen alle gemeinsam um den Küchentisch beim Abendbrot. Auch Nao war dabei. Omi und er hatten den ganzen Nachmittag gelernt und anschließend zusammen gekocht.
„Und", brach Ken nach einer Weile die Stille, „habt ihr schön gelernt?"
„Jepp", antworteten Nao und Omi im Chor.
„Nein wirklich, Omi ist der perfekte Lehrer, ich hab alles verstanden."
„Was habt ihr denn gelernt?"
„Mathe"
„Ach ja genau, was hatte Nao da neulich gesagt? Ihr habt einen neuen Lehrer? Das hast du uns gar nicht erzählt", meinte Ken und griff nach dem Brot. Beinahe hätte Omi seine Suppe wieder ausgespuckt vor Schreck. Entsetzt sah er erst Nao und dann seine Teamkollegen an. Sie wussten von Crawford? Und sie hatten noch nichts unternommen? Oh mein Gott, das war das Ende, jetzt war alles vorbei. Warum hatte Nao bloß mit ihnen gesprochen!
„Ja, wie hieß er noch mal? Wir haben den Namen nicht so mitgekriegt, weil du in dem Moment gerade angerufen hattest", wandte sich Yohji an Nao. Er hatte Omis entsetzten Gesichtsausdruck nicht gesehen und auch Ken schien nichts gemerkt zu haben. Nur Ran sah ihn sehr misstrauisch an. Omi schaltete schnell. Noch bevor Nao zu einer Antwort ansetzen und Omi damit um Kopf und Kragen reden konnte, sagte er hastig: „Crane, er heißt Crane". Nao wollte sich gerade mit einem irritierten Blick zu ihm umdrehen und ihm widersprechen, besann sich dann aber doch eines Besseren und versuchte so normal wie möglich zu gucken. Omi würde schon seine Gründe haben.
„Crane?", fragte Yohji skeptisch und sah Omi schief an.
„Ja, er ist… Ausländer… daher der Name…", erklärte Omi und versuchte sein überzeugendstes Lächeln.
„Hm… und wie ist der so?"
„Och, ganz gut…"
„Ja, gut", pflichtete ihm auch Nao bei. Oh bitte, hoffentlich hatte Nao ihnen nicht zuviel erzählt, betete Omi innerlich. Aber zu seiner unendlichen Erleichterung schienen die anderen drei nicht weiter interessiert zu sein und schnell wechselt das Thema zum abendlichen Fernsehprogramm.
Nach dem Essen, Yohji und Ken waren bereits im Wohnzimmer und stritten sich um die Fernsehzeitung, räumten Omi und Nao so schnell wie möglich das Geschirr weg und machten, dass sie raus kamen. Sobald sie in Omis Zimmer angekommen waren und die Tür hinter sich zugemacht hatten, stellte Nao Omi zur Rede.
„Crane? Was bitte sollte das denn eben!", fuhr er ihn an.
„Nao hör zu, es tut mir Leid, dass ich gelogen habe, aber es war nötig. Es ging einfach nicht anders! Bitte behalt es für dich!", flehte Omi.
„Ich bin ganz Ohr…", meinte Nao und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Also Crawford und Wei… äh, also wir, wir hatten in der Vergangenheit ein paar… Differenzen…"
„Differenzen… inwiefern?"
„Nun ja, das ist nicht so leicht zu erklären… auf jeden Fall sind die anderen nicht gut auf ihn zu sprechen."
„Ja, das habe ich gemerkt. Ich hab schon gedacht mich tritt ein Pferd als du plötzlich angefangen hast ihn zu duzen und zu beschimpfen. Was ist passiert?"
„Das kann ich dir nicht sagen. Aber die anderen dürfen auf keinen Fall, hörst du, auf keinen Fall von ihm erfahren, sonst endet das hier in einer Katastrophe, soviel ist sicher." Omi sah seinen Freund beschwörend an.
„Ach komm, jetzt sag schon, was war zwischen euch?"
„Ich sagte doch, ich kann's dir nicht sagen, bitte frag nicht!"
„Ist es… illegal?" Omi antwortete nicht, aber das war Nao Antwort genug. Er überlegte eine Weile, dann ließ er ergeben die Hände sinken.
„Ok, Omi, ich frage nicht weiter. Ich kann zwar nicht sagen, dass es mich nicht interessieren würde, aber wenn du nicht darüber reden willst, akzeptiere ich das. Ich verspreche dir, ich werde den anderen nichts sagen." Als Omi das hörte, fiel ihm ein Stein vom Herzen und er war so erleichtert, dass er Nao stürmisch umarmte.
Unten in der Küche schaltete Ran gerade die Spülmaschine ein. Omi war immer schon schlecht darin gewesen, seine Gefühle zu unterdrücken, Ran konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Warum nur hatte er vorhin so entsetzt geguckt? Irgendetwas war mit diesem Mathelehrer nicht in Ordnung und er würde keine Ruhe geben bis er wusste, was es war. Vielleicht sollte er mal in der Schule vorbei fahren und diesen Lehrer selber in Augenschein nehmen.
Der ein oder andere würde das jetzt vielleicht sagen, dass das doch etwas übertrieben war, aber Ran hatte gelernt, dass man nie vorsichtig genug sein konnte.
Die Nacht war dunkel und durch den heftigen Schnellfall war es in der ganzen Stadt totenstill. Auch im Hause Schwarz war alles ruhig. Farfarello schlief, Nagi schlief und Schuldig vertrieb sich die Zeit indem er in ihren Träumen rumpfuschte und Farfarello, als Ritter verkleidet, auf Drachenjagd schickte um Nagi, die Jungfrau in Nöten, aus dessen Klauen zu befreien. Schuldig und Farfarello amüsierten sich königlich, Nagi weniger.
Auch Crawford schlief tief und fest, als ihn plötzlich das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf riss. Zuerst ignorierte er es, aber nach einer Weile konnte er es nicht mehr ignorieren. Wer auch immer das war würde ordentlich was zu hören bekommen. Es war – er warf einen Blick auf seinen Digitalwecker – kurz nach 3 Uhr morgens.
„Crawford!", knurrte er in den Hörer.
„442,5!"
„…"
„Hör zu, wenn du mich verarschen willst…", zischte Crawford.
„Das ist das Ergebnis. Die Fläche die man braucht um die…"
„Omi!"
„Ja, wer sonst?", meinte Omi ungeduldig.
„Warum zur Hölle rufst du hier an? Weißt du eigentlich wie spät es ist?"
„Ja… Tut mir ja auch Leid, aber ich musste dir das unbedingt sofort erzählen".
„Verzeih, aber du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Es ist 3 Uhr Morgens!"
„Ich weiß, ich weiß. Aber ich kam gestern einfach nicht weiter. Und jetzt eben im Schlaf kam mir die Lösung. Ich hab das Ganze einfach in eine Funktion verwandelt und zack hatte ich a und dann war der Rest nur noch ein Kinderspiel. Ist das Ergebnis denn richtig?", sprudelte Omi begeistert.
„Ja… aber Omi hör mal, ich finde das ja ganz toll, dass du dich sogar im Schlaf mit dieser Aufgabe beschäftigst, aber hättest du mir das nicht morgen sagen können!"
„Nein, ich musste dir das sofort erzählen. Komm schon, du weißt doch, wie das ist. Und jetzt bin ich so wach, ich glaube ich werde heute Nacht kein Auge mehr zu kriegen", kam es aufgedreht aus dem Hörer. Crawford rollte die Augen. Klar kannte er das Gefühl, aber im Moment war er einfach zu müde um sich für Omi zu freuen.
„Omi, ich bin stolz auf dich. Aber jetzt bin ich vor allem eins und zwar müde. Also wenn es dir nichts ausmacht würde ich jetzt gerne weiterschlafen." Er konnte Omi murren hören.
„Es ist doch Sonntag, warum regst du dich so auf? Ich hab jetzt richtig Lust weiter zu rechnen. Willst du nicht mitmachen? Mir ist nämlich etwas eingefallen, wie man die Sache noch etwas Aufwendiger angehen könnte und ich will unbedingt wissen ob das so funktioniert wie ich mir das gedacht habe."
„Ist das dein Ernst?"
„Ja, natürlich. Ich bin voll wach und voller Tatendrang. Gib mir ein paar Zahlen und ich rechne dir aus was du willst!", lachte Omi fröhlich.
Crawford wusste es war schwachsinnig. Aber Omis Euphorie war extrem ansteckend. Wach war er jetzt ja ohnehin schon. Und solange er nicht erfuhr, was Omi sich überlegt hatte, würde er eh keinen Schlaf finden. So tastete er den Nachttisch nach seiner Brille ab und schaltete anschließend das Licht ein. Als er sich einigermaßen an das grelle Licht gewöhnt hatte, stand er auf und holte sich Papier, einen Kugelschreiber und seinen Taschenrechner. Also Omi das hörte, quietschte er vor Vergnügen – und Übermüdung, wie sich schnell herausstellen sollte.
Es dauerte nicht lange und Crawford konnte nur noch Omis regelmäßige Atemzüge hören. Der Junge war über seiner Aufgabe eingeschlafen. Crawford konnte nur hoffen, dass der Bleistift, mit dem er gewöhnlich zu schreiben pflegte, nicht all zu spitz war, so dass er sich im Schlaf nicht versehentlich verletzte. Er wünschte dem schlafenden Omi eine Gute Nacht und legte, mit einem leichten Lächeln im Gesicht, den Hörer auf.
Da Omi die, für Crawford zunächst nervige, Angewohnheit hatte, während des Rechnens leise vor sich hinzumurmeln, war es jetzt, wo Crawford aufgelegt hatte, ungewohnt still. Fast unangenehm still. Also legte auch Crawford bald seine Sachen zur Seite und legte sich wieder schlafen. Er würde zu gerne Omis Gesicht sehen, wenn er am nächsten Morgen aufwachte und das Telefon in seinem Bett fand.
Es war Donnerstagmittag, die vierte Stunde war gerade vorbei. Crawford saß, mit einigen anderen Lehrern zusammen, im Lehrerzimmer, trank seinen Kaffee und bereitete den Unterricht für die nächsten Stunden vor. Gerade wollte er aufstehen um zum Unterricht, in Omis Klasse, zu gehen, als der Direktor ihn zurückhielt.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber ich würde gerne ein paar Worte mit ihnen reden. Unter vier Augen." Misstrauisch sah Crawford seinen Gegenüber an. Der ernste Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht. Er nickte wortlos und folgte ihm dann in sein Büro.
„Setzen Sie sich doch bitte", forderte er Crawford auf, bevor er sich selber hinter seinen Schreibtisch setzte und ihn mit besorgter Mine musterte.
„Ich komme am besten gleich zum Punkt", erklärte er.
„Das wäre nett, ich habe gleich Unterricht."
„Ja, um genau diesen Unterricht geht es, genauer gesagt, um diese Klasse. Oder, um noch präziser zu werden, um einen Ihrer Schüler." Der Dirketor seufzte schwer aber Crawford warf ihm nur einen ungeduldigen Blick zu. Er hatte es eilig, er kam nicht gerne zu spät.
„Um welchen Schüler geht es also?", fragte er, nachdem der Direktor keine Anstalten machte, von sich aus weiterzuerzählen.
„Um Tsukiyono Omi. Es gibt… wie soll ich das ausdrücken… also mir sind da ein paar Gerüchte zu Ohren gekommen. Vermutlich sind sie nichts weiter als das, Grüchte, aber ich wollte es trotzdem gerne von ihnen persönlich hören."
„Was für Gerüchte?" Das war also seine Art gleich zum Punkt zu kommen? Beeindruckend.
„Nun ja, wie soll ich es ausdrücken… einige Schüler glauben, dass sie zu dem Jungen eine engere Beziehung haben könnten, als es für ein Lehrer/Schüler Verhältnis üblich ist..."
„Das ist korrekt".
Ungläubig starrte ihn der Direktor an. Er hatte sich bereits alle möglichen Antworten überlegt, aber mit dieser hatte er nicht gerechnet.
„Wie bitte?", fragte er nach, vielleicht hatte er ihn ja falsch verstanden.
„Ich sagte, das ist korrekt. Omi und ich kennen uns von früher und ich gebe ihm Nachhilfe in Englisch und mache mit ihm Mathe."
„Ja aber… gut, woher kennen Sie sich, wenn ich fragen darf?"
„Das ist privat." Der Direktor sah ihn beinahe traurig an.
„Ich glaube ihnen ja, dass sie ihm wirklich nur Nachhilfe geben, aber sie wissen ja wie Schüler sind. Da wird im Handumdrehen aus einer Mücke ein Elefant und ein lächerliches Gerücht zu einem Skandal. Das kann ich an meiner Schule nun wirklich nicht gebrauchen, Sie verstehen das sicher"
„Ich verstehe. Was soll ich also ihrer Meinung nach tun?"
„Herr Direktor, das ist ungeheuerlich. Der Junge hat eindeutig Talent, es wäre unverzeihlich ihn nicht zu fördern. Was für andere Möglichkeiten neben dem regulären Mathematikunterricht hat er denn schon? Es ist mir egal was die Eltern sagen. Ich bin schließlich Lehrer geworden, um den Schülern etwas beizubringen und nicht, um den Eltern zu gefallen", meinte Crawford entschieden.
„Ich verstehe ja, was Sie meinen, aber bedenken Sie doch bitte auch die Position in der ich mich befinde. Vielleicht könnten Sie ja einmal in der Woche eine Nachmittagsstunde opfern und eine Mathematik AG gründen. Dann wäre alles ganz offiziell und legal und die Eltern wären beruhigt."
„Tut mir Leid, aber dafür sehe ich keine Notwendigkeit. Aber ich kann ihnen versichern, dass ich so diskret wie möglich vorgehen werde. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich müsste schon seit über einer Viertelstunde in meiner Klasse sein. Guten Tag!"
Damit stand Crawford auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Direktorenbüro.
Hatte dieser Kerl ihn doch tatsächlich gebeten, den außerschulischen Kontakt zu Omi abzubrechen! Nur weil ein paar überängstliche Eltern diese lächerlichen Gerüchte ernst nahmen und jetzt Angst um ihre Kinder hatten. Soweit kommt es ja noch, dachte er mürrisch. Niemand sagte Brad Crawford mit wem er sich zu treffen hatte und mit wem nicht. Es war ja nicht illegal, was sie taten.
Omi merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als Crawford in die Klasse kam. Abgesehen davon, dass er sich bisher noch nie zu irgendetwas verspätet hatte, war sein grimmiger Blick Indiz genug. Es musste schon einiges passieren, damit Crawford sich dazu hinreißen ließ, seine Stimmung so öffentlich zu zeigen. Allerdings schienen die meisten anderen Schüler nichts zu bemerken. Erst als ein Mädchen eine saftige Strafaufgabe aufbekommen hatte, nur weil sie sich während des Unterrichts zu einer Freundin umgedreht und nach einem Radiergummi gefragt hatte, erkannten sie, dass mit Crawford heute nicht zu spaßen war. Am Ende der ersten Stunde hatten bereits drei weitere Schüler Strafaufgaben bekommen, von denen sie nur einer wirklich verdient hatte.
Die zweite Stunde war die ruhigste Mathestunde, die diese Klasse jemals gehabt hatte. Alle beteten, dass sie nicht auch Strafen bekamen und benahmen sich so unauffällig wie nur irgend möglich. Auch Omi machte sich keinerlei Illusionen. Crawford hatte schon mehrmals gezeigt, dass er ihn den andern Schülern gegenüber keineswegs bevorzugte, eher das Gegenteil. Und wenn Omi eins nicht brauchen konnte, dann eine Strafaufgabe, eine Woche vor Weihnachten.
Es war schon lange her gewesen, dass eine Mathestunde so lange gedauert hatte, aber irgendwann ging auch sie zu Ende. Erleichtert flohen die Schüler so schnell sie konnten aus der Klasse. Diesmal war auch Omi ganz vorne mit dabei. Er würde Crawford fragen was los war, sobald der sich wieder etwas abreagiert hatte.
Zurück in der Klasse überlegte Crawford, wie er sich jetzt verhalten sollte. Natürlich hatte der Direktor kein Recht, ihm den Umgang mit Omi zu verbieten, aber er war immer noch der Direktor und Crawford hatte keine Lust, einen Streit mit ihm anzufangen und am Ende noch auf eine andere Schule versetzt zu werden. Auch wenn er es nie öffentlich zugeben würde, hatte er Omi inzwischen richtig gerne. Er mochte seine lockere, fröhliche, manchmal fast alberne, Art, aber er schätzte auch seinen Ernst, wenn es um Missionen ging, oder seine Ausdauer und Disziplin, wenn er ihm Mathe beibrachte. Alles in allem freute er sich eigentlich immer, wenn er den Jungen um sich hatte. Natürlich hatte Schuldig einen Riesenspaß daran, ihn damit aufzuziehen, aber komischerweise störte es ihn längst nicht so sehr, wie es eigentlich sollte.
Na ja, vorerst würde er gar nichts unternehmen. Aber auf keinen Fall durfte er sich weiterhin nach dem Unterricht oder in den Freistunden mit Omi beschäftigen. So würde er den Gerüchten den Nährboden entziehen und es würde nicht mehr lange dauern und kein Mensch redete mehr darüber.
Am nächsten Tag ging Omi mit gemischten Gefühlen zum Matheunterricht. Ob Crawford sich wieder beruhigt hatte? Die beiden Mädchen, die mit ziemlich finsterer Miene vor der Tür standen, ließen das Gegenteil befürchten. Die Englischlehrerin hatte Omi noch zu seiner herausragenden Hausaufgabe gratulieren wollen und ihm gesagt, dass er sich inzwischen wohl keine Sorgen mehr um seine Versetzung machen müsse. Leider war er deshalb jetzt etwas zu spät.
„Warum steht ihr beiden hier draußen?", fragte Omi seine Mitschülerinnen.
„Wir haben unsere Bücher vergessen. Wer kein Buch hat, meint er, könne auch nicht am Unterricht teilnehmen. Ich möchte bloß mal wissen, was den gebissen hat", knurrte eins der Mädchen woraufhin die andere zustimmend nickte.
„Also hat er immer noch schlechte Laune?", fragte Omi und verzog missmutig das Gesicht.
„Ja, definitiv. Ich wette, seine Frau hat ihn raus geschmissen oder so und jetzt muss er das an uns auslassen". Die beiden fingen bei dem Gedanken an zu kichern und Omi fragte sich immer mehr, was nun wirklich dahinter stecken mochte.
Er atmete einmal tief ein und öffnete die Tür. Sofort waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Auch Crawford hielt in seiner Rede inne und blickte Omi streng an.
„Ah, Herr Tsukiyono beehrt uns mit seiner werten Anwesenheit, wie nett. Sie sind genau… elf Minuten zu spät. Melden Sie sich am Ende der Stunde, Sie werden das Verpasste nächsten Montag in der Nachsitzstunde nachholen!", erklärte Crawford kühl.
„Aber ich war…"
„Ich will es nicht wissen, Sie halten den Unterricht auf. Setzen Sie sich!"
Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Wegen elf Minuten! Omi warf Crawford einen wütenden Blick zu, aber nachdem dieser ihm nur kalt entgegenblickte, gab er nach uns ließ sich trotzig auf seinen Platz fallen. Die anderen sahen ihn Mitleidig an, aber niemand, nicht mal Nao, wagte es, mit ihm zu reden. Überhaupt war es in der Klasse wieder so mucksmäuschenstill wie am Tag zuvor. Alle beteten nur, dass die Zeit schneller verstreichen möge, was sie natürlich nicht tat. Im Gegenteil, die Stunde zog und zog sich und als es endlich zur ersten Kleinen Pause schellte, konnten die meisten Schüler es gar nicht glauben, dass sie gerade erst die Hälfte hinter sich hatten. Dafür machten alle, dass sie so schnell wie möglich aus der Klasse kamen. Alle bis auf Omi. Denn der musste nach vorne gehen um sich seine Strafpredigt und die Bescheinigung zum Nachsitzen abzuholen.
„Bitte, ich wurde nach Englisch aufgehalten, es ist nicht meine Schuld. Frau Sakai hatte noch was mit mir zu besprechen, da kann ich doch nichts für", beteuerte Omi. Aber Crawford ließ sich nicht umstimmen.
„Es geht hier nicht um die Frage der Schuld, sondern darum, dass Sie Stoff verpasst haben, den Sie nachholen müssen. Und zwar beim Nachsitzen, wie es üblich ist".
„Aber das ist doch unfair! Ich kann das doch alles", rief Omi aufgebracht.
„Glauben Sie nicht, Sie würden hier eine Sonderbehandlung bekommen, nur weil Sie alles schon können!", meinte Crawford kalt. Zwei Mitschüler, die in diesem Moment den Raum betraten, warfen sich viel sagende Blicke zu. Auch sie hatten schon von den Gerüchten gehört. Aber so böse wie Crawford den armen, verwirrten Omi gerade anfunkelte, welcher gar nicht wusste, womit er das verdient hatte, konnten die beiden unmöglich etwas miteinander haben. Es sei denn, Omi wäre extrem masochistisch veranlagt und stünde auf so was. Aber das bezweifelten die beiden doch stark, nicht der liebe, kleine, immerfreundliche Omi.
„Schön!", rief Omi, „Wie Sie wollen, Herr Crawford!" Mit einem bitterbösen Blick schnappte er nach der Bescheinigung für Ran in Crawfords Hand, auf der stand, dass er am Montag nachsitzen müsse. Dabei geschah es. Crawford ließ den Zettel unerwartet widerstandslos los, so dass Omis rabiate Geste sich nicht gegen Crawford richtete, sondern gegen die rote Kursmappe, die auf dem Tisch lag. Mit einem lauten Klatschen fiel sie zu Boden, während die Hausaufgaben der letzten Stunde teilweise bis zum Fenster geschleudert wurden. Omi stand wie versteinert da und sah den Zetteln erschrocken hinterher. Das hatte er nicht gewollt. Oh, jetzt würde Crawford richtig sauer werden. Er traute sich gar nicht, seinen Lehrer anzusehen, geschweige denn, sich zu entschuldigen. Aber der erwartete Wutausbruch blieb aus.
„Heb sie auf!", befahl Crawford, aber seine Stimme war so ruhig wie immer. Einen kurzen Moment zögerte Omi noch, bevor er seine Bescheinigung langsam wieder aufs Pult legte und neben dem Papierhaufen auf die Knie sank um alle Blätter wieder einzusammeln. Er konnte Crawfords Blicke auf seinem Rücken förmlich spüren und auch die der anderen Schüler die die Klasse inzwischen wieder betreten hatten. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so geschämt wie in diesem Moment.
Als er endlich alle Zettel beisammen hatte und sie wieder ordentlich in die Mappe gesteckt hatte, legte er sie so vorsichtig ab, als wäre sie aus Glas. Dabei murmelte er eine Entschuldigung, von der er nicht mal sicher war, ob Crawford sie überhaupt gehört hatte, nahm sich erneut seine Bescheinigung und ging schnurstracks zurück zu seinem Platz. Crawford, der seine Entschuldigung durchaus gehört hatte, verzog keine Miene. Stattdessen wartete er, bis Omi sich gesetzt hatte, nur um ihn dann aufzufordern, den beiden Mädchen von vorhin mitzuteilen, dass sie die zweite Stunde wieder am Unterricht teilnehmen dürften. Es fiel Omi unglaublich schwer, Crawford nicht anzuschreien und ihm all die Beleidigungen an den Kopf zu werfen, die ihm gerade im Kopf herum gingen, aber er schaffte es. Ohne den Mann mit der Brille auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er aus der Klasse und suchte in dem Schülerknäuel die beiden „Glücklichen" heraus.
„Hey Omi, wir machen uns vom Acker. Kommst du mit?" Oh ja, das klang verlockend… Aber Omi wollte wirklich nicht wissen, was Crawford mit ihm anstellte, sollte er die zweite Stunde schwänzen. Und weil er die drei mochte, die ihn das gefragt hatten, riet er ihnen, es auch lieber bleiben zu lassen. Aber nur einer ließ sich umstimmen – er würde es nicht bereuen. Als es kurz darauf zum Ende der Pause klingelte, beeilte Omi sich, schnell in die Klasse zu kommen. Er wollte Crawford nicht noch einen Grund geben, ihn bloß zu stellen.
„Du musst WAS?" Yohji traute seinen Ohren nicht.
„Nachsitzen", presste Omi mürrisch hervor.
„Unser Omi, unser Musterschüler muss NACHSITZEN? Wie hast du denn das angestellt?"
„Ja, schrei's ruhig noch lauter! Als wenn's mir nicht schon peinlich genug wäre!", knirschte Omi.
„Tut mir Leid Kleiner, aber ich kann's einfach nicht glauben. Wie konnte das denn passieren?"
„Na ja… wir haben dir doch von unserem neuen Mathelehrer erzählt und…"
„Was? Auch noch in Mathe? Omi, ich mache mir ernsthaft Sorgen! Ist irgendwas nicht in Ordnung in der Schule? Hast du Probleme?"
„Nein Yohji, habe ich nicht!", beschwichtigte Omi seinen Freund sofort. Also das konnte er jetzt nun am allerwenigsten gebrauchen, dass seine Freunde ihm ein Problem andichteten und am Ende vielleicht noch in der der Schule aufkreuzten um das zu klären.
„Nun, wie ich bereits sagte, unser neuer Mathelehrer. Und der hat anscheinend einen Pünktlichkeitsfimmel, denn ich bin elf Minuten zu spät gekommen und das ist jetzt das Ergebnis."
„So ein Blödsinn, für elf Minuten nachsitzen? Was für einen idiotischen Lehrer habt ihr denn da erwischt!", schimpfte Yohji. Er war ernsthaft sauer, so eine Frechheit.
„Wenn du willst rede ich mit ihm, oder mit dem Direktor wenn's sein muss. So geht das ja wohl nicht!"
„Nein! So schlimm ist es ja nun wirklich nicht… ich wollte dich nur bitten, dass du den Zettel vielleicht unterschreibst… bitte", bat Omi und hielt seinem blonden Freund besagten Zettel hin. Dieser nahm ihn und las ihn mit kritischen Augen durch.
„Da steht, dass Ran den unterschreiben soll. Gib ihm den besser, er ist für diesen schulischen Kram und die ganzen Unterschriften zuständig", meinte Yohji und gab Omi den Zettel zurück.
„Bitte Yohji, kannst du den nicht unterschreiben? Ran ist doch gerade unten im Laden beschäftigt und so…"
„Du willst nicht, das Ran etwas davon erfährt, habe ich Recht?", meinte Yohji nach einer Pause. Omi nickte beschämt.
„Es ist einfach so peinlich und außerdem würde er genauso reagieren wie du, vermutlich schlimmer. Der bringt das fertig und läuft wegen so was direkt in die Schule weil er glaubt, ich hätte sonstwelche Probleme. Das ist ja ganz nett von ihm, dass er sich so kümmert, aber er macht da viel zu viel Aufsehen von. Mir geht's wunderbar und in der Schule ist auch alles so wie immer. Verstehst du das?" Er sah Yohji mit flehendem Blick an. Nach einer Weile nickte dieser und nahm den Zettel wieder an sich.
„Also gut, aber nur dieses eine Mal. Und wenn ich auch nur den leisesten Verdacht habe, dass in der Schule was nicht stimmt, erzähle ich alles Ran, verstanden?"
„Ja! Danke Yohji, vielen Dank. Ich schwöre dir, es ist alles in bester Ordnung", beteuerte Omi mit dem ehrlichsten Lächeln, dass er aufbringen konnte. Aber es reichte um Yohji zu überzeugen, so dass dieser ohne weiteres unterschrieb und auch keine Fragen mehr stellte.
Das würde Crawford ihm noch büßen…
