Während dem Ritt in Richtung Stadt wurde kaum gesprochen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, die sich noch immer um den Vorfall mit dem Mädchen drehten.
Gimli grinste vor lauter Schadenfreude auch weiterhin in seinen Bart hinein und hin und wieder konnte man sogar ein unterdrücktes Glucksen hören, das sich seinen Weg nach draußen bahnte. Auch wenn Legolas mittlerweile zu seinem engsten und besten Freund geworden war, so konnten es die beiden einfach nicht lassen, sich gegenseitig aufzuziehen. Und ein vom Pferd fallender Elb war nun mal ein Bild für die Götter – und damit perfekt zum aufziehen geeignet. Außerdem durfte natürlich unter keinen Umständen die Rolle der Äpfel und Legolas' scheinbar zu lang geratener Mantel verschwiegen werden. Wieder konnte sich der Zwerg ein Lachen nur schwer verkneifen. Sein Freund hatte nicht viel vorteilhafter als eine eingewickelte Wurst ausgesehen.
Gimli konnte es kaum erwarten, die Geschichte Merry und Pippin zu erzählen. Zu dritt würde es wohl noch wesentlich mehr Spaß machen, Legolas zu ärgern.
„Der immer wachsame und ach so graziöse Elb wurde von einer kaum mehr als zwanzig Sommer zählenden Sterblichen vom Pferd geschmissen." Erneut verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.
Ja, sie waren von einer Frau im wahrsten Sinne des Wortes vom Pferd bombardiert worden. Auch Aragorn konnte sich auf Grund der Absurdität der gesamten Situation ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Sie, die Helden des Ringkrieges, die schon unzählige lebensgefährliche Situationen gemeistert hatten, waren von einer gewöhnlichen Frau schmachvoll besiegt worden. Doch war sie wirklich so gewöhnlich? Mit einem kurzen Aufstöhnen dachte er an all die schmerzenden Stellen seines Körpers, die von den Äpfeln getroffen worden waren. Dieses Mädchen – wie war ihr Name doch gleich gewesen – Ravena, ja, Ravena hatte in der Tat einen ziemlich harten Schlag drauf gehabt. Wo sie wohl diese Kraft, vor allem aber diese schmerzhafte Treffsicherheit her haben mochte? An Mut schien es ihr auf jeden Fall nicht zu mangeln. Eigentlich war es schade, dass sie nicht als Mann geboren worden war, denn mit der richtigen Ausbildung hätte sie wohl einen hervorragenden Krieger abgegeben.
Eines war klar, hätte Ravena einen Bogen anstelle der Äpfel in den Händen gehabt, würden Legolas und er jetzt nicht mehr in diesen Gefilden weilen. Dennoch war sie ohne Bestrafung davongekommen. Schnell war klar gewesen, dass das Mädchen ihn in seiner abgerissenen Waldläuferkleidung einfach nicht als ihren König erkannt hatte. Er machte ihr keinen Vorwurf deswegen – war es doch genau das, was er mit seiner Kleiderwahl im Sinn gehabt hatte. Sie musste ihn wohl für einen Dieb gehalten haben. Somit war ihr das mutige Verhalten gegenüber den potenziellen Schurken noch höher anzurechnen.
Doch damit ließ er das Thema hinter sich und seine Gedanken in ganz andere Bahnen wandern... Arwen. Schon diese eine Woche der Trennung war eindeutig zu lange gewesen. In den drei Jahren, die nun schon seit Saurons Vernichtung vergangen waren, hatte er all seine Energie in den Wiederaufbau des verwüsteten Gondors gesteckt und dabei hervorragende Arbeit geleistet. Gadara, aber allen voran Minas Tirith waren die besten Beispiele dafür. Dennoch war der Verlust seines alten Waldläuferleben, der Nähe zur Natur, schmerzlich gewesen, sodass er kurzerhand beschlossen hatte, der alten Zeiten willen die Gemeinschaft des Rings wieder zu versammeln. Also war er Legolas und Gimli entgegengeritten, um dann gemeinsam mit ihnen an den Festlichkeiten in Gadara teilzunehmen – wo er dann auch endlich wieder seine Frau würde in die Arme schließen können. Beim Gedanken an sie stahl sich wie von Zauberhand ein breites Lächeln auf seine Züge. Allein diese eine Woche hatte bereits genügt, um ihm klarzumachen, wie sehr er sie vermisste, ja geradezu brauchte. In den vergangenen Jahren war sie ihm eine große Stütze gewesen und er liebte sie sehr dafür. Schon bald würde er sie wiedersehen können.
Indes sah Legolas sich gezwungen, sein Schicksal zu akzeptieren und die Sticheleien des Zwerges mit stoischer Miene zu ertragen. Er war sich sicher, dass Gimli, wäre er unsterblich, ihn noch in den nächsten zwei Zeitaltern damit aufziehen würde.
Dennoch spürte er keine Wut gegenüber Ravena – ja, das war ihr Name – sondern vielmehr eine angesichts der eben erlebten Peinlichkeit nur schwer zu erklärende Heiterkeit. Eine Heiterkeit, die er in dieser reinen Form sonst nur erlebte, wenn er sich in einem verbalen Schlagabtausch mit seinem Freund Gimli befand.
Obwohl Legolas einräumen musste, im Verhalten menschlicher Frauen nicht gerade bewandert zu sein, konnte er sich nicht vorstellen, dass jede Dame so selbstlos reagiert hätte. Wäre da nicht die Tatsache, dass er ein Elb war, würde er am nächsten Morgen wohl an einer Menge blauer Flecken leiden. Amüsiert beobachtete er, wie Aragorn immer wieder versuchte eine neue, für seine schmerzenden Glieder angenehmere Sitzposition zu finden. Der sonst so agile Mann saß auf seinem Pferd wie auf einem alten, unbequemen Stuhl. Die Äpfel schienen auch beim König Gondors ihre Spuren hinterlassen zu haben.
So viel Kraft hätte er diesem dürren, vor Aragorn kniendem Mädchen keinesfalls zugetraut. Noch nie hatte er sich zu einer Sterblichen in irgendeiner Art und Weise hingezogen gefühlt. Dazu waren die eleganten Elbenfrauen mit ihrer unvergleichlichen Schönheit den Menschen einfach in jeglicher Hinsicht um ein vielfaches überlegen. Und auch diese Ravena hätte seine Aufmerksamkeit wohl nicht erregt, wären da nicht drei kleine aber feine Dinge gewesen, die sie von jeder anderen gewöhnlichen Menschenfrau unterschieden haben.
Da wäre zunächst einmal ihr roter Lockenkopf. Noch nie in seinem nun doch schon fast dreitausend jährigem Leben hatte er eine derartige Haarfarbe bei einer Elbe bemerkt. Die erste und einzige Assoziation, die ihm beim Gedanken an Ravenas Haarpracht in den Sinn kam, war die von brennendem Feuer -
„Das sie bewiesenermaßen ja auch in sich trägt." Schmunzelnd rieb er sich seine schmerzende Schulter. Sie hatte einen ganz besonders gut platzierten Apfel abbekommen. Ob wohl viele Menschen solch eine Haarfarbe besaßen? Er musste sich bei Gelegenheit einmal bei Aragorn danach erkundigen.
Als zweites waren ihm ihre Augen aufgefallen. Ihr Blau war so hell, wie das des wolkenlosen Himmelszeltes an seinen schönsten Sonnentagen. Sie strahlten eine Tiefe und Klugheit aus, die ihn überrascht hatte. Das verwunderte ihn, war es doch nur ein Atemzug gewesen, während dem er in die Abgründe ihrer Augen geschaut hatte. Etwas verriet ihm, dass sie wohl schon mehr gesehen hatte, als eine Frau in ihrem Alter es vielleicht getan haben sollte.
„Obwohl Elben anscheinend nicht darunter waren." Amüsiert erinnerte er sich an ihr überraschtes Gesicht, nachdem sie ihn entdeckt hatte.
Ja, und zu guter letzt wäre da noch ihr entschlossenes Auftreten gewesen, bevor sie Aragorn als ihren König erkannt hatte. Legolas konnte sich schon nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte mal unbemerkt „aus dem Hinterhalt" angegriffen worden war.
„Zum Glück hatte sie keinen Bogen in der Hand gehabt", dachte er erleichtert, „sonst würde ich jetzt bereits in Mandos Hallen wandeln. „Doch was soll dieses Grübeln, höchstwahrscheinlich werde ich sie sowieso nie wieder sehen."
Da die Gefährten nach der Unterbrechung auf der Apfelpflanzung ihren weiteren Weg unbehelligt fortsetzen konnten, erreichten sie schon kurze Zeit später die Stadtmauern. Gadara hinterließ zwar nicht einen solch imposanten Eindruck wie die Hauptstadt Minas Tirith, hatte aber durchaus etwas für sich. Dazu trug wohl nicht zuletzt deren Blauschimmer bei. Alle Mauern bestanden aus einem ganz besonderen, blauen Stein, der sich nur im Umkreis von Gadara finden ließ. Wenn nun die Sonne, so wie an diesem Tag, auf die flachen Dächer und die Stadtmauern schien, glänzten sie förmlich in dieser ihr so eigenen Farbe. Dementsprechend wurde Gadara auch „die Blaue Stadt" genannt. Schweigend genossen die drei das ungewohnte Bild, das sich ihnen bot. Selbst Legolas, die unübertroffene Elbenarchitektur gewohnt, musste die Schönheit der Stadt anerkennen.
Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Die Straßen waren mit Menschenmengen überfüllt, die ihrem König und den beiden Helden des Ringkrieges zujubelten. Kaum vorankommend mussten sie sich mühsam ihren Weg in Richtung des Stadtschlosses bahnen, der Residenz des Stadtverwalters Baron von Minok.
Wie der Rest der Stadt glänzte auch das Schloss in einem schimmernden Blau. Die weißen Edelsteine, die Tore und Fenster umrahmten, zeugten von dem ungeheuren Reichtum der Stadt. Vollkommen eingenommen vom Farbenschauspiel des sich in den Brillianten brechenden Lichts, warteten die drei auf den Baron. Doch nicht er war es, der seine hohen Gäste zuerst begrüßte, sondern die Königin Arwen selbst.
Aragorn konnte vor lauter Glück seinen Augen kaum glauben, als er sie auf der obersten Treppe des Schlosses stehen sah. Behände sprang er von seinem Pferd herunter und überwand so schnell wie nur irgend möglich die letzten Stufen, die ihn nun noch von seiner geliebten Frau trennten. Der folgende Kuss wurde von den zuschauenden Menschenmassen mit frohem Jubel kommentiert.
„Arwen", setzte Aragorn noch völlig außer Atem an, „ich dachte, du würdest erst heute Nachmittag hier eintreffen."
„Nun, ich hatte vor, meinem Lieblingskönig eine Überraschung zu bereiten.", erwiderte sie lachend, „doch ich habe dich früher erwartet." Besorgt betrachtete sie sein zerzaustes Äußeres, einen sich bildenden Bluterguss unter Aragorns linkem Auge. „Was ist geschehen?", fragte sie, die verletzte Stelle zärtlich mit ihren Fingern liebkosend.
„Ich würde es folgendermaßen beschreiben: Dein Gatte und der Herr Elb hatten ihre erste Bekanntschaft mit den hiesigen Früchten nicht ganz verkraftet." Wieder lachend richtete Arwen ihr Aufmerksamkeit nun auf Gimli, der gemeinsam mit Legolas die Treppen zu ihnen hinaufstieg.
„Gimli und Legolas, es freut mich, euch gesund und munter wieder zu sehen. Doch sagt, was hatte die Anspielung mit den Früchten zu bedeuten?"
„Ja das würden wir auch gerne erfahren." Wie aus dem nichts waren plötzlich vier Hobbits am Eingang erschienen, begleitet von einem alten Mann mit einem langen, weißen Bart und einem spitzen Hut auf dem Kopf.
„Ich bin sicher, Gimli wird es die größte Freude bereiten euch die Geschichte zum besten zu geben, Peregrin Tuck", sagte ein über das Wiedersehen sehr erfreuter Legolas. Schnellstens schloss er Pippin, Merry, Sam und Frodo zur Begrüßung in die Arme und machte anschließend auch Gandalf seine Aufwartung.
„Aber erst nachdem wir alle vor etwas Essbarem sitzen. Mein erstes Frühstück liegt schon über eine ganze Stunde zurück.", räumte Merry unter dem Lachen seiner Freunde noch ein.
Nachdem nun jeder jeden in die Arme geschlossen und begrüßt hatte, und auch der Baron endlich einige Worte zu seinen hohen Gästen hatte sprechen können, begab man sich schließlich mit einem letzten Winken zu den Zuschauern in das Schloss. Man bezog die Zimmer, tauschte Neuigkeiten aus und, immerhin war man unter Hobbits, nahm etwas Nahrhaftes zu sich.
***
Am Nachmittag machten sich Gimli und Legolas auf, um die Stadt zu erkunden. Während des Mittagessens war es dem Zwerg endlich gelungen, seine Geschichte über den Zwischenfall mit dem Mädchen zum Besten zu geben. Damit hatte er nicht nur die Hobbits zum Lachen gebracht, sondern auch Gandalf und Arwen köstlich amüsiert. Das Resultat waren ein Zwerg und vier Hobbits, insbesondere Merry und Pippin, die allem Anscheinen nach nichts besseres zu tun hatten, als Legolas und Aragorn durch ihre neckischen Kommentare wieder „aufzubauen". Dabei unterschlug Gimli allerdings geflissentlich die Tatsache, dass er lediglich von dem Apfelbombardement verschont geblieben war, weil er auf seinem kleinen Pony nicht mit dem von Aragorn und Legolas vorgelegtem Tempo mithalten konnte.
Gadara bestand aus vielen winzigen verwinkelten Gassen, in denen allesamt ein reges Treiben herrschte, denn schließlich traf man die letzten Vorbereitungen für das morgen beginnende Fest.
Sie erregten einiges an Aufsehen. Der große und erhabene Elb neben dem kleinen Zwerg war ein Anblick, den man nicht alle Tage zu Gesicht bekam. Doch meistens war man einfach zu beschäftigt, um sie am vorwärtskommen zu hindern. Auf diese Weise kam es, dass die meisten Menschen die beiden zwar mit neugierigen Blicken musterten, sie aber ohne Zwischenfälle ihres Weges gehen ließen.
So erreichten sie schließlich den Marktplatz. Auch hier herrschte allerlei Gedränge, doch anders als in den engen Straßen und Gassen waren sie nun auf einem sehr großen Platz. Unzählige Händler boten schreiend die unterschiedlichsten Waren feil. Es gab Gemüse- und Früchtestände, aber auch welche mit Schmuck oder Tand. Außerdem offerierten einige Handwerker, wie zum Beispiel Schmiede oder Schumacher, ihre Dienste.
Plötzlich glaubte Legolas, inmitten der Menge einen roten Haarschopf ausgemacht zu haben. Konnte es möglich sein? Doch so schnell wie er vor seinen Augen aufgetaucht war, war er auch schon wieder verschwunden.
„Wer ist denn dieses Mädchen, dass ich jetzt schon beginne ihren Geist zu sehen?" Er war immer noch dabei, sich selbst zurecht zuweisen, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich zog: Wiehern und Hufgetrappel. Sollten ihm seine Sinne schon wieder einen Streich gespielt haben? Aber nein, am anderen Ende des großen Platzes konnte er einen Pferdemarkt ausmachen. Erfreut begann er sich in diese Richtung zu bewegen. Doch als er merkte, dass Gimli vor dem Stand eines Steinwerkers stehen geblieben war, schloss er wieder zu seinem Freund auf.
„Einmal Zwerg, immer Zwerg.", dachte Legolas nachsichtig. Er konnte dieser Kunst nichts abgewinnen. Viel lieber erfreute er sich an der lebenden Natur. Er teilte Gimli mit, dass er beim Pferdemarkt auf ihn warten würde.
„Einmal Elb, immer Elb.", resignierte Gimli, plötzlich mit Legolas Ignoranz gegenüber der hohen Kunst der Steinbearbeitung konfrontiert – freilich nicht, ohne einen letzten Versuch zu starten, den Elb zu bekehren. „Wie kannst du diese stinkenden Biester bloß einer solchen Kunst den Vorzug geben?" Mit einer ausschweifenden Geste zeigte er auf den Stand des Steinwerkers, aber Legolas hatte sich bereits lachend abgewandt, um sich zum Pferdemarkt zu begeben. Kopfschüttelnd widmete sich Gimli wieder dem Handwerker, der der Konversion der beiden Freunde mit steigender Verwirrung zugehört hatte.
Unbewusst noch immer nach dem Rotschopf Ausschau haltend, erreichte Legolas schließlich den Pferdemarkt. Obwohl es soviel Platz gab, dass die Tiere nicht allzu gedrängt stehen mussten, konnte Legolas mit seinem feinen Gespür für Tiere wahrnehmen, dass sich die meisten der Pferde eine angenehmere Situation vorstellen konnten.
In dieser Hinsicht konnte er die Menschen nicht verstehen. Warum taten sie ihren Tieren so etwas an? Er machte sich daran, einige der Pferde näher in Augenschein zu nehmen. Natürlich konnte keines mit den prächtigen Tieren aus Rohan oder gar den elbischen Pferden seiner Heimat mithalten, aber dennoch war es ihm möglich, das ein oder andere schöne Exemplar ausmachen.
Doch plötzlich lenkte ein vor Schmerz wieherndes Pferd Legolas' Aufmerksamkeit auf sich. Wachsam schaute er sich um, machte mit all seinen Sinnen den Standort des Pferdes aus – und sah es schließlich: Ein finster aussehender Mann schlug unbarmherzig auf ein dürres Pferd ein, das von einem zweiten Mann am Zügel festgehalten wurde. Es versuchte verzweifelt, aber ohne jede Aussicht auf Erfolg, seinen Peinigern zu entkommen.
Diesen Anblick konnte sein Elbenherz nicht ertragen. Er wollte sich gerade in Bewegung setzten um diesen Menschen ein „Lektion" im Umgang mit Pferden zu erteilen, als er SIE sah.
Diesmal war er sich sicher, dass ihm seine Augen keinen Streich spielten. Ravena platzierte sich unbemerkt hinter dem Mann, der die Peitsche immer und immer wieder auf den Rücken des Pferdes schnellen lies. Mit einer schnellen Bewegung riss sie dem überraschten Mann die Peitsche aus der Hand, nur um sie gleich darauf gegen ihn einzusetzen. Mit einem gekonnten und gut platziertem Hieb fuhr sie ihm mit der Peitsche über die Beine, sodass er mit dem Rücken auf den Boden fiel. Dabei schrie sie ihn wütend an.
„Jetzt spürt Ihr mal, was Ihr dem Tier antut. Wie kann man nur so grausam sein und ein Lebewesen zu Tode quälen?" Angewidert schaute Ravena auf den Mann herab, der sich mühsam daran machte, wieder auf seine schmerzenden Beine zu kommen. Die Wunde war nicht so tief, wie sie hätte sein können.
„Du dämliche kleine Schlampe wirst es nicht wagen, mir in den Weg zu kommen. Ich..." Ein erneutes Drohen mit der Peitsche ließ in wieder verstummen.
Inzwischen hatten sich eine große Menge Schaulustiger versammelt, die die Szene zwar verfolgten, aber noch keine Anstalten machten einzugreifen. Legolas konnte nicht glauben, was er da gerade beobachtet hatte. Keine Frau, deren Bekanntschaft er jemals gemacht hatte, ob Elbe oder Mensch, hätte es gewagt, sich so zu benehmen. Andererseits passte dieses Verhalten genau in das Bild, das er sich bereits von ihr gemacht hatte. Sie verteidigte jemanden, ohne an sich oder die möglichen Konsequenzen zu denken – einmal ganz davon abgesehen, dass er genau dasselbe vorgehabt hatte. Er schlich sich etwas näher an den Schauplatz des Geschehens um im Notfall eingreifen zu können.
***
Ravena lud die schweren Apfelkisten von ihrem Wagen ab, um sie an ihrem Stand verkaufen zu können. Nach dem Zwischenfall mit dem König am frühen Morgen war sie noch einige Zeit wie betäubt gewesen und Siägä, der ein guter Freund von ihr war, hatte schon begonnen, sich ernsthafte Sorgen um sie zu machen. Als sie ihm allerdings die gesamte Geschichte erzählt hatte, konnte er sich vor lauter Lachen nicht mehr halten.
„Mensch, Ravena, solche Sachen können aber auch nur dir passieren", hatte er während einem Lachanfall mühsam herausgebracht, „Du hast Glück, dass der König so ein gütiger Mann ist." Ja, sie hatte Glück gehabt und ja, solche Sachen geschahen immer nur ihr. Sie konnte nichts dagegen unternehmen. Bevor sie sich versah, steckte sie immer wieder bis zum Kopf in diversen Schwierigkeiten. Ravena seufzte auf. Sie würde versuchen, sich zu bessern. Nein, sie war gezwungen sich bessern, wenn sie nicht doch irgendwann noch wegen eines Missgeschicks am Pranger oder gar am Galgen landen wollte. Doch dann musste sie selber über sich lachen.
„Immerhin hab ich es geschafft, einen Elb von seinem Pferd zu bombardieren." Beim Gedanken an den Elb wurde ihr plötzlich ganz anders zumute. Sie musste wieder an diese blauen Augen denken, die sie geradezu durchbohrt hatten – eben so, als hätte er versucht, alles über sie mit einem einzigen Blick herauszufinden. Was er wohl von ihr dachte?
„Er denkt, dass ich eine verrückt gewordene Menschenfrau bin.", wies sie sich in Gedanken selbst zurecht, „Immerhin würde ich mich selbst dafür halten."
„Und jetzt schlag dir endlich diesen dämlichen Elb aus dem Kopf und konzentriere dich auf deine Arbeit. Eine ausgeschüttete Kiste Äpfel ist jetzt wirklich das Letzte, was ich brauchen kann.", dachte sie noch, als sie es hörte.
Sie hatte ihren Stand nicht allzu weit vom Pferdemarkt entfernt aufgebaut und konnte deswegen ganz eindeutig das Geräusch eines gequälten Tieres ausmachen. Eine Apfelkiste auf den Boden stellend rief sie Leonie – einer schon älteren Frau, die ebenfalls in dem Gasthaus arbeitete – zu, sie würde gleich wiederkommen und machte sich auf in Richtung des Geräusches. Leonies Gezeter über die „Jugend von heute" ignorierte sie kurzerhand.
Als sie um die Ecke kam, spielte sich vor ihren Augen eine fürchterliche Szene ab. Ein Mann schlug immer wieder auf ein dürres Pferd ein, während ein weiterer Mann es am Zügel festhielt, sodass es nicht weglaufen konnte.
Ihren eben erst gefassten Vorsatz, sich nicht mehr in Schwierigkeiten zu bringen vergessend, rannte sie auf die beiden zu. Bevor sie sich selbst darüber im klaren war, was sie eigentlich tat, hatte sie dem überraschten Mann auch schon die Peitsche aus der Hand gerissen und mit ihr über dessen Beine geschlagen, sodass er vor ihr auf den Boden fiel. Nichts wollte sie lieber, als ihm am eigenen Leibe klar zu machen, wie sich das von ihm gequälte Tier wohl fühlen musste. Nachdem sie seine Beschimpfungen mit einem Drohen mit der Peitsche ausgeschaltet hatte fragte sie ihn: „Was für einen gottverdammten Sinn soll es haben, ein Pferd so zu quälen?"
„Ich hab dieses Biest von einem Betrüger gekauft.", setzte er, vor Wut schnaubend, an und erklärte weiter: „Aber es ist ein sturer Bock. Nichts hat geholfen, um seinen Willen zu brechen." Ravena wollte sich nicht ausmalen, was genau er mit ‚nichts' meinte.
„Also habt Ihr Beschlossen, es zu Tode zu prügeln, oder was?" schrie sie ihn an, die Peitsche dabei drohend in der Hand haltend. Mittlerweile hatte sich schon ein großer Kreis von Menschen um sie gebildet und langsam realisierte Ravena, in was sie sich da schon wieder reingeritten hatte. Wenn jemand diesem Kerl zu Hilfe kommen würde, hätte sie keine Chance mehr. Mal ganz davon abgesehen, dass sie für ihr Verhalten ins Gefängnis kommen würde, denn immerhin gehörte das Pferd nicht ihr, sondern dem Mann, den sie gerade mit der Peitsche geschlagen hatte. Aber glücklicherweise schien niemand es für nötig zu halten, einzugreifen.
„Ich hatte beschlossen", entgegnete der Mann, mit Blick auf die Peitsche jetzt etwas ängstlicher, „das Bist zum Abdecker zu bringen. Aber es hat sich gewehrt als wüsste es, wohin ich es bringen würde."
„Und das wundert Euch?", Ravena konnte die Kurzsichtigkeit des Mannes nicht begreifen. War ihm denn nicht klar, dass man mit Gewalt bei einem Tier nichts erreichte? Doch plötzlich formte sich in ihrem Kopf eine Idee, wie sie heil aus dieser Situation herauskommen und dabei beide Seiten zufrieden stellen konnte. Zumindest hoffte sie das.
„Ihr habt also keine Verwendung mehr für das Pferd?", begann Ravena nun entspannter.
„N...nein", entgegnete ihr Gegenüber, von Ravenas plötzlichem Stimmungswechsel alarmiert. Würde sie ihn jetzt vielleicht töten? Aber die Menschen würden doch eingreifen, oder nicht? Immerhin hat sich noch niemand angeschickt, ihm zu helfen, obwohl es doch ganz offensichtlich war, dass er hier den Schaden davon trug. Der Schmerz in seinen Beinen meldete sich wieder.
„Und den Abdecker müsstet ihr für seine Dienste doch sicherlich auch entlohnen?"
„Ja...a", der Mann würde immer nervöser. Was wollte diese rote Furie nur von ihm?
„Und es ist doch auch offensichtlich, dass ihr aus dem Fleisch eines so dürren Pferdes kaum noch Kapital schlagen könntet?"
„Ja...a, wie ich schon sagte, ich wurde hereingelegt. Das ist ein reines Verlustgeschäft für mich." Was beabsichtigte sie mit diesem Verhör nur?
„Dann", Ravena musste über den verwirrten Gesichtsausdruck des Mannes beinahe lächeln, „dann macht es Euch doch bestimmt auch nichts aus, das Pferd mir zu überlassen."
Jetzt zeigte der Bedrohte ganz offensichtlich seine Überraschung. Mit offenem Munde starrte er sie an.
„Was?"
„Ihr würdet den Abdecker sparen und das Pferd bliebe am Leben. Also was sagt ihr?"
Der Mann, der anscheinend immer noch eine Falle vermutete, gab zögernd sein Einverständnis und entfernte sich so schnell wie möglich. Sein Partner hatte bereits nach Ravenas Peitschenschlag das Weite gesucht und jetzt begannen auch die Schaulustigen, wieder auseinander zu laufen. Erleichtert drehte sie sich zu dem Pferd um, das nun ihres war und streichelte seinen Kopf. Es zeigte keine Anzeichen von Gewaltbereitschaft.
„Ja du bist ein ganz lieber. Jetzt brauchst du nichts mehr zu befürchten." Es war schon wieder geschehen. Einmal mehr hatte sie gehandelt ohne nachzudenken. Wo sollte das nur mal alles noch hinführen?
„Erst die Äpfel, dann die Peitsche – erinnert mich daran, niemals wieder Euer Missfallen zu erregen, meine Dame."
Ravena erstarrte. Erst einmal in ihrem Leben hatte sie solch eine wunderschöne Stimme gehört – und das war noch gar nicht mal solange her. Aber das war doch nicht, das konnte doch nicht...!
„Oh ihr Götter, lasst das bitte, bitte, bitte NICHT den Elben sein...", bat sie in einem schnellen Stoßgebet, bevor sie sich langsam umdrehte...
...und sich den schönsten und tiefsten blauen Augen gegenüber sah, die es, da war sich Ravena sicher, in ganz Mittelerde gab – den Augen von Legolas Grünblatt.
