Ravena starrte ihn vollkommen entgeistert an. Tausend Dinge schwirrten durch ihren Kopf – nicht zuletzt die Frage, wie es überhaupt einem Lebewesen, Elb hin oder her, erlaubt sein konnte, mit solchen Augen durch Mittelerde zu wandern.
‚Verdammt, wenn man nicht Acht gibt, kann man sich wirklich in ihnen verlieren.', warnte sie sich selbst.
Plötzlich realisierte sie, dass er sie nun schon zum zweiten mal innerhalb weniger Stunden dabei erlebt hatte, wie sie Männer zur Strecke gebracht hatte. Was für einen Eindruck er nun wohl von ihr haben mochte?
‚Wahrscheinlich habe ich ihn jetzt einfach nur noch in seinem Bild bestätigt, das er sich heute morgen sowieso schon von mir gemacht haben muss – das einer nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Furie.'
Sie merkte förmlich, wie ihr Gesicht verdächtig zu glühen begann.
‚Oh nein, jetzt bekommt mein Gesicht auch noch die Farbe meiner Haare.'
Aber sie konnte doch hier nicht bis in alle Ewigkeit stehen bleiben und ihn einfach nur anstarren – obwohl sie sich eingestehen musste, dass es wahrscheinlich schrecklichere Wege gab, die Ewigkeit zu verbringen. Dennoch, sie musste etwas erwidern oder er würde sie entgültig für Verrückt erklären – falls er das nicht schon längst getan hatte.
‚Verflucht sei dieses dämliche, grinsende Elbengesicht und vor allem diese Augen! Dabei kann man ja keinen klaren Gedanken fassen.'
„Ich werde Euch gewiss früh genug warnen, denn ich würde es zutiefst bereuen Euch einmal einen Pfeil durch die Rippen schießen zu müssen, mein Herr." Oh nein, DAS hatte sie gerade nicht laut ausgesprochen! Oh doch, sie hatte, wie sie an den gespielt hochgezogenen Augenbrauen des Elben erkennen konnte.
„Also versteht Ihr es nicht nur mit Äpfeln und Peitschen, sondern auch noch mit Pfeil und Bogen umzugehen?", fragte er neckend. Dieses feine Lächeln umspielte noch immer seine Mundwinkel.
Ravena fragte sich, in was sie sich nun schon wieder reingeritten hatte. An diesem Tag würde sie noch alle ihre Peinlichkeitsrekorde brechen. Glücklicherweise schien der Elb Humor zu haben, denn er wirkte durch ihre unüberlegte Antwort eher amüsiert als wirklich beleidigt.
„Etwas.", erwiderte sie, „Obwohl ich gestehen muss, dass ich ein wenig aus der Übung bin." Und das war noch nicht einmal gelogen. Seit die Orks sich, dank König Aragorn, nicht mehr in Stadtnähe blicken ließen, hatte sie es nicht mehr nötig gehabt zu den Waffen zu greifen. Nur noch hin und wieder, wenn ihre stressige Arbeit es zuließ, ging sie in den Wald um zu üben. Schließlich wollte sie nicht alles vergessen. Wer konnte denn schon voraussagen, wann man es wieder brauchen würde? Immerhin musste eine Frau sich zu verteidigen wissen.
„Nur zu gern würde ich erfahren was genau ‚etwas aus der Übung' aus Eurem Munde bedeuten mag." Da war es schon wieder, dieses wissende und zugleich neckende Grinsen.
Erneut ergriff ein Anflug von Verwirrung Ravena. War er gerade dabei sie herauszufordern? Aber nein, immerhin war er ein Elb, ein Prinz noch dazu. Er würde doch niemals an sie seine Zeit verschwenden, oder doch? Immerhin war es das, was Legolas gerade tat.
‚Wahrscheinlich macht es ihm nach seiner Demütigung von heute morgen einfach nur Spaß, mich rot werden zu sehen – was ihm auch ohne Frage prima gelingt.'
Plötzlich musste Ravena über sich selbst lachen. Da stand sie nun und versuchte dem wahrscheinlich besten Bogenschützen von ganz Mittelerde weiß zu machen, dass sie fähig wäre, ihn zu besiegen. Doch noch bevor sie auf seine ‚Herausforderung' etwas erwidern konnte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen: „Raveeeeeeeena! Wo bleibst du nur schon wieder? Ich werde mit den vielen Kunden doch nicht alleine fertig."
Leonie! Wie hatte sie ihre Arbeit nur vergessen können. Schnell murmelte sie mit hochrotem Kopf eine Entschuldigung in Richtung des Elben und ließ sich von den Menschenmengen zu ihrem Marktstand treiben. Das Pferd trottete gemütlichen Schrittes hinter ihr her.
„Was er wohl jetzt schon wieder von mir halten mag?", dachte sie noch, als ihr plötzlich etwas dämmerte: Wie um Himmels Willen sollte sie bloß Leonie und ihrem Chef das Pferd erklären?!
*~*~*
„Legolas, da bist du ja. Ich habe den Menschenauflauf gesehen – und war das nicht die Kleine von heute Morgen? Sag nicht sie hat schon wieder jemanden vom Pferd bombardiert." Lachend war Gimli hinter Legolas getreten.
Der Elb starrte noch immer auf die Stelle, an der Ravena verschwunden war. Irgendwie musste er sie wieder sehen. „So etwas in der Art."
Verwundert registrierte Gimli ein seliges Lächeln auf den Zügen seines Freundes.
*~*~*
Es klopfte an der Tür.
„Wer das wohl zu so später Stunde noch sein kann?" Vorsichtig zog Frau Memel den Fenstervorhang etwas zur Seite, um zu sehen, wer des nachts noch um Einlass bat. Als sie die Person erkannte, erschien ein erleichtertes Lächeln auf ihren Zügen. Schnell öffnete sie die Tür.
„Ah Ravena", begrüßte sie den Gast herzlich, „was führt dich zu uns?"
„Es tut mir wirklich leid, dass ich um diese Zeit noch störe, aber früher bin ich leider nicht dazu gekommen."
Frau Memel winkte ab: „Das kann ich mir denken. Du hast wahrscheinlich allerhand zu tun wegen dem Fest."
„Oh ja, so ein vollbelegtes Gasthaus verursacht eine Menge Arbeit. Außerdem beginnen jetzt auch noch die Äpfel reif zu werden." Bei dem Gedanken an die Äpfel machte sich plötzlich ein roter Schimmer auf Ravenas Wangen bemerkbar, den man zu dieser abendlichen Stunde allerdings auch dem Schein des Feuers hätte zuschreiben können.
„Ach ja, weswegen ich hier bin", setzte Ravena an, während sie in ihrem Korb herumkramte, „Meine Chefin hat mir die Medizin hier für Tarek mitgegeben." Damit reichte sie Frau Memel eine Flasche, die eine grünliche Flüssigkeit enthielt.
Mit einem dankbaren Lächeln nahm die ältere Frau das Fläschchen entgegen. „Ach Ravena, sprich deiner Chefin meinen Dank aus. Du weißt, wie nötig wir sie haben", Frau Memels Stimme begann gleichzeitig leiser zu werden und zu schwanken, „Vor allem jetzt, da wir uns keinen Arzt mehr leisten können." Eine einzige Träne entfloh ihren Augenwinkeln. Sie hatte schon so viele Tränen um ihren kranken Sohn vergossen, dass es sie immer wieder überraschte, wenn sich doch noch die eine oder andere ihren Weg an die Oberfläche bahnte.
„Ist denn immer noch keine Besserung eingetreten?", fragte Ravena mit wenig Hoffnung auf eine frohe Botschaft. Tarek, Frau Memels Sohn, litt seit einiger Zeit an einem mysteriösen Fieber, das einfach nicht aus seinem Körper weichen wollte.
Ein Kopfschütteln von Seiten der älteren Frau bestätigte Ravenas Annahme. Doch mit einem Seufzen setzte sie hinzu: „Aber immerhin ist es nicht schlimmer geworden. Mittlerweile bedeutet gar keine Veränderung wohl bereits eine gute Nachricht."
„Kann ich ihn sehen?"
„Aber natürlich, du kennst ja den Weg." Mit einem Nicken legte Ravena die wenigen Schritte zurück, die sie von Tareks Kammer trennten. Sie seufzte, als sie die ärmliche Hütte durchschritt. Noch war es Sommer, doch schon bald würde es hier drinnen bitter kalt werden.
‚- und das Dach scheint auch nicht gerade das Stabliste zu sein.', stellte Ravena mit einem kurzen Blick zur Decke fest. Mit diesen Lecks würde es bei einem Regenschauer alles andere als trocken bleiben.
Als sie die Kammer des Jungen betrat, war das erste, das Ravena wahrnehmen konnte, der penetrante Geruch von Krankheit. Dann fanden ihre Augen den Jungen, der mit seinen acht Jahren noch ein kleines Kind war. Er lag vor Fieber glühend in seinem Bett. Die Decke hatte er von sich geschlagen, sodass das Mädchen den abgemagerten Körper des Jungen erkennen konnte. Seine Mutter hatte ihm kühlende Wadenwickel angelegt, die er nun im Schlafe versuchte los zu werden.
Langsam näherte sie sich dem Bett und fuhr zärtlich mit ihrer Hand über die glühende Stirn des Kindes. Wieso musste so etwas immer wieder den Menschen geschehen, mit denen das Schicksal es so oder so schon nicht besonders gut meinte? Zuerst war Frau Memels Mann im Ringkrieg gefallen und nun lag allem Anschein nach auch noch ihr einziger Sohn im sterben.
„Gibt es denn überhaupt keine Möglichkeit mehr, ihm zu helfen?" Teilnahmsvoll drehte sich Ravena zu der gerade in der Tür erschienenen Frau Memel um, die hoffnungslos den Kopf schüttelte.
„Ich habe keine Möglichkeit mehr, den Arzt zu bezahlen. Schon seit dem Tod meines Mannes ging es finanziell mit uns bergab. Doch wir kamen über die Runden. Aber jetzt... ich habe alles verkauft. Das einzige von Wert, das noch in unserem Besitz ist, ist die Kuh. Doch von was soll ich uns ernähren, wenn auch sie weg ist?"
Ravena wurde wütend. Weshalb konnte man dem Jungen nicht einfach helfen? Sie dachte an den aufgeweckten und lebendigen Jungen, der Tarek gewesen war, als sie vor kaum einem Jahr hier in Gadara ankam. Sie beschloss, sich etwas einfallen zu lassen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, genug Geld zusammen zu bekommen, um ihn von einem anständigen Arzt untersuchen zulassen...
*~*~*
