Kapitel 7

1.Teil


"Ravena, bist du dir eigentlich im Klaren darüber, wie viel Glück du gerade gehabt hattest? Ich fasse es nicht, dass du so leichtsinnig sein konntest, einfach deine Verkleidung aufzugeben. Ich muss es noch einmal sagen: wäre unser König nicht so gütig, wärst du jetzt tot. Hast du verstanden? TOT."

Ravena seufzte auf. Leider musste Siägä es ihr nicht nur noch einmal, sondern gleich zehn Mal sagen. Sie befanden sich auf dem Weg aus der Stadt und in der vergangenen halben Stunde hatte sie von ihrem Freund noch nichts anderes gehört als eine einzige lange Standpauke, die er nur zum Luftholen unterbrach. So fuhr er denn auch unbeeindruckt fort:

"Doch der König hat dich in seiner Güte nicht nur ungeschoren davonkommen lassen, sondern dich auch noch zu seinem Ball eingeladen. Weißt du eigentlich was für eine Ehre das für dich bedeutet?" Jetzt horchte Ravena auf und schaute Siägä entgeistert an:

"Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich da wirklich hingehe?"

Daraufhin war es an Siägä entgeistert zu schauen: "Natürlich wirst du dahin gehen", sagte er in einem befehlendem Ton, "oder hast du etwa vor, den König noch ein weiteres mal zu brüskieren?"

"Nein, natürlich nicht", stellte sie kleinlaut fest, setzte aber dennoch bestimmt hinzu, "doch ich werde mich ganz sicherlich nicht zum Gespött dieser Adeligen machen. Ich habe kein Kleid für solch einen Anlass. Was sollte ich anziehen- diese Lumpen etwa?" Die letzte Eigenschaft die Ravena besaß war Eitelkeit, aber dennoch konnte sie sich amüsantere Szenerien ausmahlen, als von einem Mob dieser Adeligen wegen ihrem Aussehen beleidigt und ausgelacht zu werden. Sie hatte sich wegen ihrer roten Haare und den Sommersprossen schon so manche ausfallende Bemerkung anhören müssen- deswegen wollte sie sich auch gar nicht erst ausmalen wie diese, so von sich selbst eingenommene Adelsschicht, über sie herziehen würde. Doch Siägä war alles andere als gewillt sie diesmal mit ihrem Sturkopf durchkommen zu lassen.

"Oh nein, Ravena. Und wenn du tatsächlich in diesen Lumpen dort auftauchen müsstest- du wirst die Konsequenzen für dein Handeln tragen."

Keiner der beiden bemerkte den Lauscher, der ihnen gefolgt war und sich nun auf leisen Sohlen entfernte. Er hatte genug gehört.


Genervt stieg Ravena die Treppen zu ihrer kleinen Kammer hoch. Nachdem sie das Wirtshaus erreicht hatten, durfte sie sich auch noch von ihrer Chefin eine Predigt anhören, die Siägäs in nichts nachgestanden hatte. Natürlich war sie während dem Turnier ebenfalls anwesend gewesen und natürlich war sie auch Zeugin des Kusses geworden. Bei dem Gedanken stieg ihr wieder die Schamesröte ins Gesicht. Wie hatte sie sich nur so in Legolas Berührungen verlieren können? Sie kannte sich selbst nicht wieder. Der bloße Gedanke an seinen Kuss reichte schon aus um ihr immer wieder angenehme Schauer durch den gesamten Körper zu jagen- Schauer, die sie in dieser Intensität noch nie verspürt hatte. Ravena war gleichermaßen verwirrt und aufgeregt. Dieser Kuss war nicht ihr erster gewesen und dennoch ließ er alle anderen verblassen. Nie zuvor waren ihre Lippen so zärtlich liebkost worden.

Irritiert versuchte sie ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Sollte sie sich tatsächlich in diesen Elben verliebt haben? Was wusste sie denn über ihn? Nichts. Er gehörte einer Art an, über die sie nicht sehr viel mehr wusste als das, was sie in den zahlreichen Märchen und Geschichten ihrer Kindertage gehört hatte. Mit einem versonnenen Lächeln auf dem Gesicht erinnerte sie sich daran, wie sie früher ihren Vater immer um Geschichten über das "Schöne Volk" angebettelt hatte um somit die Schlafenszeit auf unbestimmte Zeit nach hinten zu verschieben. Er konnte dem bittenden Blick ihrer großen, blauen Kulleraugen nur selten widerstehen, sodass sie sich oftmals bis tief in die Nacht in einer Geschichte über die Elben wieder fand, denn ihr Vater konnte so lebhaft erzählen, dass sie sich immer in das Geschehen hineinversetzt sah. Ach, wie sehr hatte sie sich damals gewünscht ein solches Geschöpf zu erblicken. Mit ihrer lebhaften Fantasie hatte sie sogar die ithilischen Wälder in der festen Absicht einen Elben zu überraschen, durchstreift- hatte ihr Vater ihr doch erzählt, dass sie sich gerne vor menschlichen Augen verborgen hielten. Aber leider waren ihre Hoffnungen nie mit Erfolg gekrönt worden. Mit der Zeit schlich sich die Realität in ihre Tagträume, aber die Faszination über dieses schwergreifbare Volk war geblieben.

Waren ihre Gefühle für Legolas nun lediglich von dieser Faszination geprägt oder gingen sie tiefer? Ravena lies sein Bild Revue passieren. Er war überirdisch schön und seine Bewegungen besaßen eine Eleganz, die sie nie zuvor bei einem Lebewesen beobachtet hatte. Doch all diese Eigenschaften besaßen die anderen Elben, die sie gesehen hatte auch. Glorfindel oder Haldir standen Legolas in ihrem Aussehen und ihren Talenten um nichts nach- so objektiv erlaubten Ravenas Gefühle ihr noch zu sein. Nein, da war mehr an diesem ganz besonderen Elb. Jedes Mal, wenn sie sich in seinen Augen verlor, hatte sie das Gefühl auf unsichtbaren Schwingen davongetragen zu werden. Dann war es ihr, als wäre er fähig bis in die tiefsten Regionen ihres Herzen zu schauen und was Ravena am meisten Überraschte: Sie ließ ihn gewähren.

Dennoch versuchte Ravena sich nicht allzu viele Illusionen über die Erwiderung ihrer Gefühle zu machen. Sicher, er hatte sie geküsst- aber dazu ist er von König Elessar ja auch mehr oder weniger genötigt worden. Doch andererseits hätte er sie dann auch fliehen lassen können. Nein, stattdessen hatte er sie wieder eingefangen und Maßnahmen ergriffen, damit sie ihm nicht noch einmal entfliehen würde.
Erneut ergriff sie die Verwirrung. Seufzend beschloss sie abzuwarten und dabei zu versuchen in so wenige Fettnäpfchen wie möglich hinein zu stolpern.

Das erinnerte sie an ein weiteres leidliches Problem: den Ball. Trotz ihrer Standpauke hatte ihre Chefin ihre Aufregung über Ravenas Einladung nicht verbergen können. Alle ihre Einwände hatte sie mit einem "Ach Kindchen, lass das mal meine Sorge sein." vom Tisch gewischt und sie stattdessen zum Baden geschickt. Dieses Mal hatte kein Elbenprinz sie gestört- eine Tatsache, worüber sie beinahe ein wenig enttäuscht gewesen war. Nun, das gab ihr Zeit genug, sich mit dem Entwirren ihrer Haarmassen zu befassen. Hätte ihre Großmutter ihr nicht noch auf dem Sterbebett das Versprechen abgetrotzt, niemals ihre Haare zu schneiden, wären sie schon ein gutes Stück kürzer. Ravena musste über die weise Vorrausicht ihrer Großmutter lächeln, denn genau dass hatte sie nun erfolgreich verhindert. Sie hatte immer zu behaupten gepflegt, dass das einzige, das Ravena als Mädchen identifizieren würde, ihre Haare wären.

Nun stand sie nur mit einem großen Handtuch bekleidet, dass sie um ihren Körper geschlungen hatte, vor ihrer Kammer und fragte sich, mit welchen Einfällen ihre Chefin wohl aufwarten würde. Langsam drehte sie den Knauf um die Tür zu öffnen. Knarrend sprang sie auf. Als sie einen Schritt in das Zimmer hinein trat, glaubte sie einen Schatten aus dem offenen Fenster verschwinden zu sehen. Ravena hielt inne, offenes Fenster? Sie war sich sicher, es am frühen Morgen geschlossen zu haben. Dann fiel ihr Blick plötzlich auf ihr Bett und ein überraschter Schrei entfuhr ihren Lippen. Litt sie nun schon an Erscheinungen? Schnell war sie am Fenster um noch einen Blick auf den vermeintlichen Schatten zu werfen, doch der war längst hinter alle Berge. Immer noch mit einem vor Staunen offenem Mund wandte sie sich wieder ihrer Schlafstelle zu. Dort lag das mit Abstand schönste Kleid, dass ihr jemals vor die Augen gekommen war. Vorsichtig berührte sie den Stoff- so als fürchte sie, dass es verschwinden würde. Es war von einem solchen hellen Blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel. Plötzlich realisierte sie, dass es die Farbe ihrer Augen war. Das Kleid genauer in Augenschein nehmend, erkannte sie, dass es ungefähr ihre Größe haben müsste. Ravena berührte ein weiteres Mal den Stoff. Welch ein Material war das? Es fühlte sich so weich und fließend an. Sie war sich sicher, noch nie einen solchen Stoff berührt zu haben. Vorsichtig, aus Furcht etwas durch ihre Tollpatschigkeit kaputt zumachen, nahm sie es hoch.

Das Oberteil bestand aus einem Mieder, dass am Rücken geschnürt wurde. Es war durch kunstvolle, silberne Stickereien verziert. Seine Ärmel lagen eng an und begannen ab dem Ellbogen wieder auseinander zu gehen. Der Rock floss, ein anderes Wort wollte ihr bei dessen Anblick nicht in den Sinn kommen, bis auf den Boden. Staunend betrachtete sie das Kunstwerk. Was hatte es in ihrem Zimmer zusuchen? Noch nicht einmal an den Adeligen Frauen der Stadt hatte sie jemals solch eine Pracht bewundern können. Plötzlich vernahm Ravena einen erstickten Aufschrei. Als sie sich dem Ursprungsquell des Geräusches zuwandte, sah sie ihre Chefin und Siägä im Türrahmen stehen. Sie hatte sich vor lauter Überraschung eine Hand vor den Mund gepresst.

"Oh Kindchen, wir haben deinen Schrei gehört. Was ist geschehen und wo hast du denn solch ein Kleid her?" Ravena wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzten, als ihre Chefin mit geweiteten Augen fortfuhr: "Und sieh nur, diese Schuhe. Hast du schon einmal so etwas gesehen?" Ravena schaute in die angewiesene Richtung. Nein, hatte sie nicht. Vorsichtig legte sie das Kleid beiseite und wandte sich erstaunt den Schuhen zu. Sie war vorher zu sehr von dem Kleid abgelenkt gewesen, als dass sie ihr aufgefallen wären. Es waren Pantoffel aus blauem Glas, sodass sie perfekt zu dem Kleid passten.

"Nun, damit wäre das Kleidungsproblem wohl gelöst." Endlich konnte sich auch Siägä zu Wort melden. Ravena, sich plötzlich ihrer spärlichen Bekleidung erinnernd, jagte ihren lachenden Freund erschrocken aus ihrer Kammer. Sie seufzte auf, irgendwie schien sie in letzter Zeit ein Händchen dafür zu haben halb nackt von diversen Männern erwischt zu werden.

"Also Mädchen, ich hab ja keine Ahnung wie solch ein Kleid in dein Zimmer kommt, aber es scheint, dass du mit deinem Sieg heute einen reichen Gönner gewonnen hast."

Ravena dachte nach. Einen Gönner? Wer würde ihr den schon solch ein kostbares Geschenk machen? Weshalb nur entzog sich in den letzten Tagen alles, aber auch wirklich alles ihrer Kontrolle? Seufzend strich sie wieder über das Kleid. Siägä hatte Recht, damit wäre das Kleiderproblem tatsächlich gelöst- und dennoch behagt ihr der Gedanke in jemandes Schuld zu stehen ganz und gar nicht.


"Raveeeeeeeena, nun stell dich nicht so an und komm schon runter!" Siägäs Stimme hallte nach oben zu ihrer Kammer.

"Nein."

"Wieso nicht? Esmee hat gesagt du wärst fertig." Oh ja, Esmee. Siägäs Beinaheverlobte- wenn er denn endlich mal den Mut aufbringen würde um ihre Hand anzuhalten- war kurze Zeit nach dem kostbaren Fund erschienen, um Ravena über das Turnier, Legolas und natürlich auch den Ball auszufragen. Während der Zeit, die Ravena sich nun schon in Gadara befand, war Esmee zu einer ihren besten Freundinnen geworden. Diese Tatsache allein war schon merkwürdig genug, denn es gab in ganz Mittelerde wohl kein unterschiedlicheres Paar als Ravena und Esmee. Nun, vielleicht Legolas und Gimli ausgeschlossen, dachte Ravena mit einem Lächeln. Esmee war das genaue Gegenteil von ihr. Sie war das, was man allgemein hin als wunderschön bezeichnete. Oh wie beneidete Ravena sie um ihre langen, blonden Haare, die nicht durch ein einziges Löckchen gestört wurden. Ihre Intelligenz konnte es jeder Zeit mit ihrer Schönheit aufnehmen und sie war das Bild einer gut erzogenen, fleißigen Frau, die ihre Aufgaben genau kannte. Dementsprechend erfreute sie sich auch größter Beliebtheit. Siägä sollte sich wohl mit seinem Antrag besser beeilen, wenn er nicht wollte, dass ihm jemand zuvor kommt.

"Zu eng!"

"Was?"

"Dieses Kleid ist mir definitiv zu eng!" Ravena betrachtete sich zweifelnd im Spiegel. Esmee hatte ihr kurzerhand beim Anziehen und Zurechtmachen geholfen. Eine Tatsache wofür Ravena ihr sehr dankbar gewesen war- hätte sie alleine doch noch nicht einmal das Kleid anbekommen. Aber das größte Kunstwerk stellten eindeutig ihre Haare dar. Esmee hatte darauf bestanden Ravenas Haare offen zu lassen, sodass sie nun in langen Wellen über ihren Rücken fielen und erst an ihren Kniekehlen endeten. Während dem stundenlangen Kämmen hatte sie Ravena über Legolas ausgefragt, denn natürlich war nicht nur ihr, sondern auch allen anderen Zuschauern aufgefallen, dass ihr Kuss ‚etwas' länger gedauert hatte, als es vielleicht schicklich gewesen wäre. Ravena war froh endlich einmal ihr Herz erleichtern zu können.

"Das Kleid ist nicht zu eng, sondern figurbetont, Ravena.", ließ sich nun auch Esmees vergnügte Stimme vernehmen. Sie kannte Ravenas Gefühle zu dem Elbenprinzen und hatte alles unternommen, damit sie ihm auch auffallen würde- falls das überhaupt noch nötig sein sollte. Amüsiert erinnerte sie sich an das selige Lächeln auf den Lippen des Elben kurz nach dem Kuss. Sie gönnte Ravena diese Liebe von Herzen und hoffte, dass alles klappen würde, denn seit sie Ravena nun kannte hatte sie niemals erlebt, dass sie sich einem Verehrer so geöffnet hatte.

"Ich bekomme keine Luft." Wieder betrachtete Ravena ihr Spiegelbild. Das hier war nicht sie. So weit sie zurückdenken konnte war sie schon immer wild und unbändig gewesen- in etwa so wie ihre Haare- und nun sollte sie plötzlich in ein Korsett eingeschnürt werden? Nein, das war gegen ihre Natur. Sie konnte jetzt schon vorhersagen, dass an diesem Abend etwas schief gehen würde. Esmee hätte an ihrer Stelle auf diesen Ball gehen sollen. Sie würde sicherlich in kein Fettnäpfchen treten.

"Ravena, du machst dich jetzt auf der Stelle hier herunter." Sie seufzte auf. Gegen den dominanten Befehl ihrer Chefin würde sie wohl kaum ankommen können. Vorsichtig, so als hätte sie Angst ihre Glasschuhe zu zerbrechen, machte sie sich auf ihren Weg nach unten. Amüsiert betrachtete sie die offenen Münder die sie unten erwarteten. Natürlich hatte sich die Nachricht von Ravenas Einladung schnell herumgesprochen, sodass nicht wenige vorwitzige Nachbarn dem Wirtshaus einen Besuch abgestattet hatten- schließlich bekam man Ravena so nicht allzu oft zu Gesicht.

"Ravena", Siägä starrte sie mit offenem Mund an, "du siehst ja wie eine richtige Frau aus."

Wenn Blicke töten könnten, wäre Siägä nun mit tausend Pfeilen durchbohrt worden.

"Du verstehst es wirklich einer Frau Komplimente zu machen.", meinte Ravena ironisch, "ich frage mich wirklich was Esmee an dir findet."

"Da bist du ja wieder, Ravena", erwiderte er nun mit einem frechen Grinsen, "ich dachte schon du hättest dich komplett in eine dieser Dame verwandelt. Aber mit deinem Mundwerk solltest du dich vorsehen. Du weißt in welche Schwierigkeiten dich das immer bringt."

"Und du solltest auf deinen Rücken aufpassen. Du weißt wir haben wegen dem Fluss noch eine Rechnung offnen.", flüsterte sie daraufhin drohend in Siägäs Ohr, sodass nur er es hören konnte. Das hielt ihn von weiteren Kommentaren ab.

"Ach hör nicht auf ihn, Ravena. Du siehst toll aus.", meinte nun Esmee solidarisch.

"Ja, du hast gute Arbeit geleistet. Danke für alles." Sie umarmte ihre Freundin.

"Viel Glück." Ravena fragte sich ob Esmees Kommentar auf den Ball oder auf Legolas bezogen war- wahrscheinlich auf beides.

"Und jetzt zeig diesen Adeligen einmal wie man richtig feiert."

"Und pass auf, dass du nichts kaputt machst oder niemandem auf die Füße trittst." Mit so oder so ähnlichen Ratschlägen wurde Ravena in Richtung des Schlosses verabschiedet.


Das große Tor wurde von vier Soldaten bewacht. Unschlüssig bewegte sie sich darauf zu. Was wenn man sie nicht einlassen würde? Immerhin war sie keine von ihnen. Sobald sie die Wächter erreicht hatte, wurde sie misstrauisch in Augenschein genommen. Sie musste ziemlich verloren ausgesehen haben. Außerdem war sie alleine- höchst ungewöhnlich für eine Frau zu so später Stunde. Ihr Pferd Luke, auf dem sie her geritten war, hatte sie einige Straßen vorher bei einem Freund ihres Chefs untergestellt.

"Name?" Die Stimme des Wächters klang nicht unfreundlich, doch man merkte ihm an, dass er sie nicht für einen geladenen Gast hielt.

"Ravena.", antwortete sie unsicher. Was, wenn man sich nur einen großen Scherz mit ihr erlaubt hatte? "Ravena Dunkirk."

Der Soldat ging eine Liste durch. Ravenas Herz begann immer schneller zu schlagen, doch plötzlich hellte sich seine Miene auf.

"Ja hier haben wir Euch.", und etwas freundlicher setzte er hinzu, "Sie sind der Ehrengast."

Ehrengast? Ravena war sich nicht sicher ob das etwas gutes bedeutete. Sie war noch nie auf einem Ball gewesen und das letzte was sie an diesem Abend brauchen konnte, war Aufmerksamkeit. Auf ein Zeichen des Wachmanns hin öffneten zwei seiner Männer das Tor, sodass Ravena eintreten konnte.

"Ach übrigens" Ravena drehte sich zu dem Soldaten um. Würde man sie etwa doch nicht einlassen? "Euer Siegesschuss wird noch lange seinen Gleichen suchen."

Erleichtert stieß sie einen Seufzer aus und schenkte dem Soldaten ein schelmisches Lächeln. "Das will ich meinen." Damit trat sie durch das Tor.

Nur unbewusste registrierte sie noch, wie das Tor hinter ihr wieder ins Schloss fiel, denn diese vollkommen andere Welt in der sie sich jetzt befand, beanspruchte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Staunend blickte sie sich um. Sie war, wie alle Gäste an diesem Abend, durch das Parktor eingetreten. Von diesem Tor aus führte eine prächtige Allee gerade auf das Schloss zu. Die Bäume, die auf beiden Seiten des Pfades wuchsen trafen sich mit ihren Ästen in der Mitte des Weges, sodass sie ein schützendes Blätterdach bildeten. Dieser Anblick würde unter normalen Umständen schon zum träumen anregen, doch für die heutige Nacht war alles noch prunkvoller geschmückt worden. Überall säumten Fackeln, die der gesamten Szenerie etwas Märchenhaftes verliehen, die Pfade. Das ungetrübte Sternenzelt am Himmel, das sich nur vereinzelt durch das Blätterdach seinen Weg bahnen konnte, tat sein übriges. Angezogen von den Lichtern und Stimmen am Ende der Allee, raffte Ravena ihr Kleid und begann sich in Bewegung zu setzen.

Als sie das Ende der Allee erreicht hatte, blieb sie ein weiteres Mal staunend stehen, um alle neuen Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Der große Gartenbereich vor dem Schloss war ebenfalls zum Tanzen hergerichtet worden. Er war mit prachtvollen Zelten, fremdartigen Lampions und unzähligen Fackeln geschmückt. Auf Ravena machte alles einen unwirklichen Eindruck. Plötzlich wurde sie wieder in die Realität zurückgeholt, denn mit ihrem Erscheinen zog sie jede Menge teils misstrauische, teils interessierte Blicke auf sich.

"Wer ist diese rothaarige Fremde in diesem wundervollen Kleid?", konnte man es überall flüstern und raunen hören. Ravena versuchte es so weit wie möglich zu ignorieren und den Menschen, an denen sie vorüber kam, freundlich zuzunicken. Plötzlich musste sie lächeln. Höchstwahrscheinlich kannten all diese Menschen sie bereits von dem Turnier am heutigen Mittag- ohne Schmutz im Gesicht und in ihrem jetzigen Aufzug erkannte man sie bloß nicht.

Bemüht selbstsicher zu wirken, nahm sie die letzten Stufen zum Ballsaal in Angriff. Doch als sie oben angekommen war zögerte sie. Was hatte sie hier nur zu suchen? Nichts. Man würde sich allerhöchstens einen Spaß aus ihrem Turnierauftritt machen. Plötzlich überkam sie ein ungeheures Bedürfnis, sich auf dem Absatz umzudrehen und sich davon zu machen. Aber ihre Flucht fand ein jähes Ende, als sie während ihrer gehetzten Kehrtwendung mit jemandem zusammenstieß. Ravena wollte am liebsten im Boden versinken. Noch keine halbe Stunde da, und schon hatte sie sich bis auf die Knochen blamiert. Plötzlich spürte sie die Hände an ihren Oberarmen, die sie kurz nach dem Zusammenprall aufgefangen hatten, damit sie nicht zurückfallen konnte. Zögernd schaute sie nach oben und hoffte dabei inständig nicht den König über den Haufen gerannt zu haben. Ihr ganzer Körper zuckte zusammen, als sie sich plötzlich den blauen Augen des Elbenprinzen gegenüber sah. Unwillkürlich musste sie an den Kuss denken und sich fragen wie es wohl wäre diese Lippen noch ein weiteres mal auf den ihren zu spüren. Doch gleich darauf brachte sie sich selbst zur Räson. Sie durfte sich nicht schon wieder in ihren Gefühlen verlieren- vor allem wenn sie nicht wusste ob sie auch erwidert wurden. Plötzlich bemerkte sie, dass der Elb noch keinerlei Anstalten gemacht hatte, seine Hände von ihr zu nehmen. Er hielt sie mit seinen Augen gefangen. Wie lange standen sie so dort? Ravena hatte bereits zum zweiten Mal an diesem Tage jedwedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Sie musste etwas sagen. Er erwartete bestimmt eine Entschuldigung.

"Es...es tut mir leid." Legolas musste lächeln. Da war sie schon wieder: diese Röte auf ihren Wangen, die anscheinend unweigerlich jedem ihrer Zusammentreffen folgte. Er konnte sich einfach nicht überwinden sie wieder loszulassen. Dazu war er viel zu sehr in ihrem Duft und ihrer Schönheit gefangen. Sie war vielleicht keine Schönheit im konventionellen Sinne, doch da war etwas, das tief aus ihrem Inneren nach draußen schien und dieses etwas machte sie schöner als jede Elbe, die er je erblickt hatte. Er musste an den Kuss denken. Was gäbe er dafür nur noch ein einziges Mal ihre Lippen spüren zu können- aber er durfte nichts überstürzen. Heute Mittag hatte er ihr nicht die geringste Chance einer Entscheidung gelassen, doch beim nächsten Mal, wenn es denn eins geben sollte, sollte es aus ihrem freien Willen heraus geschehen.

"Es ist keine Entschuldigung von Nöten, meine Dame, denn ich kann mir nichts berauschenderes vorstellen als ihre Nähe." Ihre Wangen verfärbten sich noch einen Tick mehr ins Rötliche. Legolas bemerkte schnell, dass sie diese Art von Komplimenten nicht gewohnt war. Dennoch kam er nicht umhin sich einzugestehen, dass er es liebte der Grund für ihre roten Wangen zu sein- gaben sie ihm doch einen Einblick in ihr Innerstes. Solch eine Natürlichkeit erlebte er selten bei den abgebrühten Damen, die solche Komplimente täglich zu hören bekamen.

"Vielleicht sollten wir hinein gehen? Ich hoffe doch nicht, dass sie vorhatten uns schon zu verlassen? Der Tanz hat noch nicht einmal richtig angefangen." Ravena verfluchte sich ein weiteres Mal dafür, dass sie die Farbe ihrer Wangen nicht mehr kontrollieren konnte, sobald sie in die Augen dieses Elben sah. Wieso nur brachte er sie immer wieder aus dem Konzept?
Sie seufzte auf und gab sich geschlagen.

"Nein, natürlich können wir hinein gehen." Damit reichte er ihr seinen Arm, den sie vorsichtig nahm. In diesem märchenhaften Licht wirkte er noch schöner. Er trug nicht seine gewöhnliche braungrüne Kleidung, in der sie ihn sonst immer gesehen hatte, sondern eine funkelnde tiefblaue Tunika zu einer schwarzen Hose. Gemeinsam traten sie schließlich ein. Die meisten Gäste saßen bereits, das Abendmahl erwartend, an ihren Tischen. Sofort wandten sich ihnen alle Blicke zu. Wieder wunderte man sich über die Identität dieser rothaarigen Schönheit, die in Begleitung des Elbenprinzes erschienen ist. Aber nicht alle Blicke waren wohl gesonnen. Viele anwesende Damen packte angesichts Ravenas wunderschönem Kleid und der Beachtung die man ihr zuteil werden ließ der Neid- nicht zuletzt, weil man sich selbst an die Seite des Elben wünschte. Doch von alldem bekam Ravena nichts mit, denn sie wurde zu sehr von der Pracht des Ballsaals eingenommen. Sie war froh über Legolas an ihrer Seite, der sie sanft führte. Ohne ihn wäre sie sich ziemlich verloren vorgekommen.

Doch als sie plötzlich bemerkte in welche Richtung er sie dirigierte wurde sie unsicher. Ihr Griff um den Arm des Prinzen wurde fester. Legolas bemerkte das und sah sie fragend an.

"Ihr geht genau auf den Tisch des Königs zu.", zischte sie ihm leise zu. Unwillkürlich musste Legolas wieder lächeln. Es schien, als habe sie mit dem Äpfelbombardement und dem Bogenschießen noch nicht ganz abgeschlossen.

"Aber natürlich. Dort ist unser Platz."

"Da ist Euer Platz, aber bestimmt nicht meiner." Sie hörte sich etwas verunsichert an.

"Sicher ist dort Euer Platz. Ihr seit doch der Ehrengast." Einmal mehr verwünschte Ravena sich selbst. Jetzt musste er schon mit ihr reden wie mit einem kleinen Kind. Was er jetzt wohl schon wieder von ihr halten mochte? Aufseufzend ließ sie sich von ihm in ihr Schicksal führen. Sie wartete nur darauf, dass irgendetwas schief gehen würde. Als sie am Tisch des Königs ankamen, wurden sie sofort aufmerksam beäugt. Legolas machte Ravena mit allen bekannt. Neben der gesamten Ringgemeinschaft und der Königin, war auch noch deren Vater, Lord Elrond mit seinen Beratern anwesend. Außerdem gaben sich der Baron, Herzog Randulf, die Abordnung aus Lothlorien und einige hochrangige Adelige aus Gadara die Ehre. Angesicht dieser Persönlichkeiten hätte Ravena nichts lieber getan, als sich im hintersten Ecken des Ballsaals zu verkriechen. Hier hatte sie wirklich nichts zu suchen. Außerdem spürte sie bei dem Gedanken, dass sie alle ihren Kuss mitbekommen hatten, wieder eine, mittlerweile nur allzu bekannte, Wärme in ihr Gesicht steigen.

"Würdet Ihr mir die Ehre erweisen meine Tischdame zu sein?", sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Legolas zu, der sie abwartend ansah. Als sie durch ein Nicken ihre Zustimmung signalisiert hatte, zog er glücklich den Stuhl neben Pippin für sie zurück und setzte sich, nachdem sie sich darauf niedergelassen hatte, neben sie. Ravena harte derweil der Dinge die da kommen würden. Wie würden wohl Herzog Randulf und die Elben auf ihre Täuschung reagieren?