Kapitel 8

Teil 2

„Legolas?"

„Ja?"

„Seit Ihr verletzt?" Sie saßen Rücken an Rücken gefesselt in der Nähe eines der vielen Lagerfeuer. Zwei Männer waren damit beauftragt, sie zu bewachen.

„Nein, meine Dame, sorgt Euch nicht um mich. Mir geht es gut.", versicherte er ihr. Er fragte sich nicht zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme, wie sie so ruhig bleiben konnte. Er war sich sicher, dass jede andere Frau zu diesem Zeitpunkt schon ohnmächtig geworden wäre.

„Ich habe aber ein schlechtes Gewissen."

Erstaunt zog Legolas eine Augenbraue hoch. „Aber weshalb?"

„Na, weil Ihr Euch diese Hiebe doch wegen mir eingefangen habt."

„Grämt Euch nicht, meine Dame. Dieser Schurke hatte kein Recht, auf diese Weise mit Euch umzuspringen. Wenn jemand sich entschuldigen sollte, dann bin ich das." Er wirkte auf Ravena nun ernsthaft zerknirscht. „Wenn ich nicht gewesen wäre, währet ihr nun in Sicherheit." Zu seiner Verwunderung hörte er die junge Frau lachen.

„Auch wenn ich es nie zugeben werde, so lasse ich mich doch immer wieder gerne von Euch entführen. Außerdem ward es mir, seit ich Euch nun kenne, noch nie langweilig." Ravena konnte es nicht fassen, dass sie ihm das gerade wirklich offenbart hatte. Wahrscheinlich hatte diese Gefangennahme ihre Psyche doch ernsthafter beeinträchtigt, als sie zunächst angenommen hatte. Immerhin hatte sie Legolas wieder zum Lachen bringen können. Er ergriff Ihre Hand und drückte sie.

„Ich wünschte nur, Euch unterhalten zu können, ohne Euch gleich in solch eine Gefahr zu bringen."

„Ach was", wiegelte sie schnell ab, „Von diesem Wedigo einmal abgesehen scheinen mir die Männer nicht sehr gefährlich.", dann senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern herab, „wartet ab, bis sie heute Abend einen über den Durst getrunken haben, dann wird sich schon eine Gelegenheit zur Flucht bieten."

„He, ihr zwei, geflüstert wird nicht!"

Schnell verfielen die beiden wieder in ein angenehmes Schweigen. Einmal mehr konnte Legolas sich nur wundern. Jetzt sah sie sich sogar schon veranlasst, ihn aufzumuntern. Er seufzte kurz auf. Sollte das nicht eigentlich anders herum laufen?

„Legolas?"

„Ja?"

„Auch wenn Euer Vater unsterblich ist, dann sucht ihn doch bestimmt eines Tages der Ruf der See heim?" Es dauerte ein bisschen, bis der Elb erkannte, dass sie ihr Gespräch von vorhin wieder aufgegriffen hatte. Während Ravena gespannt auf Legolas' Antwort wartete, konnte der sich trotz ihrer gegenwärtigen Situation ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. Es war erfrischend, einmal mit einer Frau zu sprechen, die es eben nicht wollte, dass er eines Tages den Thron besteigen sollte.

„Nein, das Schicksal meines Vaters liegt hier in Mittelerde und er wird sein Königreich nicht verlassen, bis auch der letzte Waldelb gen Westen gefahren ist – zu tief sind seine Wurzeln."  Nur zu gerne würde Legolas den Grund für all diese Fragen wissen. Ob er ihn nicht schon ahnte?

„Das heißt also, dass ihr wahrscheinlich nie den Thron besteigen werdet?"

„Genau das bedeutet es. Und ehrlich gesagt bin ich auch nicht besonders unglücklich darüber." Legolas hätte schwören können, von Ravena einen Seufzer der Erleichterung zu hören.

*~*~*

„Ravena."

„Shhht, Ravena."

„Raveeeeenaaaaaa, wacht auf." Langsam aber sicher begann Legolas zu verzweifeln. Für ihn als Elb war es unbegreiflich, wie man solch einen festen Schlaf haben konnte – vor allem, wenn man gefangen und gefesselt im Feindeslager ausharren musste.

Ravenas Prophezeiung war tatsächlich eingetroffen. Je älter der Abend, desto trunkener  wurden die Banditen. Mittlerweile war es bereits tiefste Nacht und nur hier und dort war noch das Lallen einiger Lieder zu hören. Auch ihre beiden Wächter hatten sich schon seit längerer Zeit ins Land der Träume verabschiedet. Nun wäre also der perfekte Augenblick gekommen, um einen Fluchtversuch zu wagen.

„Wenn Ravena sich denn endlich einmal geruhen würde, aufzuwachen." Er unternahm einen weiteren Versuch.

„Ravena!", flüsterte er dieses Mal vielleicht etwas zu laut. Erschrocken hörte er sich um, doch sein feines Gehör konnte niemanden ausmachen, der von seiner Stimme aufgeweckt worden war – niemanden außer Ravena. Endlich!

„Hm?", kam es auch schon verschlafen von der jungen Frau. Gegen seinen Willen stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Ravena, seid ihr nun endlich wach?"

„Ja", flüsterte sie sogleich alarmiert zurück. Ein kurzer Blick auf die sterbenden Feuer sagte ihr, dass es Zeit für ihre Flucht war.

„Wir müssen irgendwie unsere Fesseln loswerden."

„Ja, aber wie?" In Legolas brodelte schon länger eine Idee. Geschickt ahmte er den Ruf der Vögel nach. Es dauerte nicht lange, bis sich einige Piepmätze zu ihnen gesellten und sich eifrig bemühten, die Fesseln mit den spitzen Schnäbeln zu zersägen. Verwundert starrte Ravena auf das ungewöhnliche Schauspiel.

„Wie...?"

„Pssst, später. Mein Volk ist der Vögel Freund und Verbündeter."  Nach einer, wie es schien, halben Ewigkeit, fielen ihre Fesseln endlich zu Boden. Während Legolas sich in einer fremden Sprache bei den Vögeln bedankte, rieb sich Ravena, immer noch aufs höchste erstaunt, ihre schmerzenden Gelenke – doch es war keine Zeit sich auszuruhen. Geschwind hatte der Elb Ravenas Hand ergriffen. Er bedeutete ihr nun keinen Laut von sich zu geben. Mit seinen Augen, die auch in der tiefsten Nacht noch in der Lage waren ihm den Weg zu weisen, suchte er sich den sichersten Pfad aus dem Lager. Dem leichtfüßigen und vor allem leisen Legolas hinterhertappend, fühlte Ravena sich wie ein grobschlächtiger Ork. Jeder Schritt, den sie tat schien ihr tausendfach verstärkt durch den Wald zu hallen. Hoffentlich würde sie niemanden aufwecken. Legolas, der ihre Unruhe zu spüren schien, verstärkte den Druck auf ihre Hand. Jetzt nur nicht die Ruhe verlieren!

Sie hatten die Lagergrenzen schon hinter sich gelassen, als Ravena plötzlich eine kalte Fläche an ihrem Hals wahrnahm. Erschrocken blieb sie stehen. Jemand packte sie unsanft an der Schulter und riss sie grob zurück. Sie spürte, wie sie gegen jemandes Brust prallte. Legolas, durch den Verlust von Ravenas Hand aufgeschreckt, drehte sich um. Der Anblick, der sich ihm nun bot, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Seine Geliebte war in den Fängen dieses Hünen Wedigo. Das Messer an Ravenas Hals ließ ihn sofort jedwede Art des Wiederstandes vergessen. Er durfte nun nichts tun, was sie gefährden würde.

Wütend auf sich selbst erkannte der Elb, dass der Haudegen hier auf sie gewartet haben musste – hätte er einen Verfolger doch sofort ausgemacht. Sein Versagen am Nachmittag hin oder her, dieses Mal waren seine Sinne geschärft und nicht von der Frau seiner schlaflosen Nächte beschlagnahmt.

„Ihr werdet sie jetzt ganz langsam loslassen, oder..."

„Oder was? Das sind leere Drohungen, Elb, und du weißt es. Die Klinge ist mit Schierling getränkt. Eine Bewegung und sie ist tot!" Er ließ sein grausamstes Lachen hören. „Du glaubst gar nicht, was für eine Freude es mir bereiten wird deine Kehle durchzuschneiden und mir dann das Weibsbild hier zu nehmen." Ravena gefiel diese Wendung der Dinge überhaupt nicht. Wenn ihr nicht bald etwas einfallen würde, wären sie beide zum Tode verdammt. Plötzlich spürte sie, wie ihr Peiniger, in einem Anflug von Übermut, für einen kurzen Moment den Druck seiner Hand auf ihren Mund verringerte. Ihre einzige Chance ergreifend, biss sie ihn mit aller Kraft ins Fleisch. Sie nutzte seine Überraschung, um ihm zusätzlich noch einen gezielten Tritt zwischen die Beine zu versetzten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank er zu Boden. Dabei versuchte er verzweifelt Ravena noch mit seinem Messer zu erreichen, doch weil sie den Angriff hatte kommen sehen, gelang es ihr, sich noch rechtzeitig zur Seite zu retten. Einzig eine kleine Schramme am linken Oberarm konnte ihr die Klinge beibringen.

Diese Ablenkung war alles, was Legolas brauchte. Mit einer ungeheuren Geschwindigkeit griff er Wedigo an, doch der war alles andere als bereit sich so schnell geschlagen zu geben. Er lieferte dem Elb einen harten Kampf.

Um ihren Liebsten bangend sah Ravena sich den Kampf der beiden Gegner an. Wedigo führte sein giftiges Messer mit einer geschickten Hand gegen den unbewaffneten Legolas. In einem hohen Tempo folgte ein Hieb dem anderen, denen der Elb aber immer wieder ausweichen konnte. Schließlich gelang es Legolas, dem Räuber die Füße unter den Beinen wegzuziehen. Unverzüglich sprang der Elb auf ihn, sodass sie ihren Kampf nun auf dem Waldboden rollend weiterführten. Gerade als Ravena sich noch überlegte, wie sie dem Elb wohl die beste Hilfestellung bieten könne, spürte sie, wie ihre rechte Hand einen dicken, auf dem Boden liegenden, Ast umfasste. Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte sie ihn auch schon aufgehoben und war an die Kämpfenden herangetreten. Gerade als Wedigo es sich auf der Brust des Elben bequem gemacht hatte und Legolas zu würgen begann, nahm sie all ihren Mut zusammen. Sie hieb ihm das Holz so fest sie nur konnte ins Genick. Er brach sofort auf einem schwer atmenden Legolas zusammen. Der Elb hatte alle Mühe, sich unter dem schweren Menschen herauszurollen. Kaum, dass er wieder auf seinen eigenen Beinen stand überprüfte er Wedigos Puls.

„Er ist nur bewusstlos.", stellte er zu Ravena gewandt fest. Erleichtert seufzte sie auf. Wenn sie über seinen Tod auch nicht besonders unglücklich gewesen wäre, so wollte sie doch nicht, dass er durch ihre Hand starb.

Sie drängte Legolas zum weiterlaufen. Es war mehr als wahrscheinlich, dass man den Kampeslärm bis ins Lager hinein gehört hatte und die Meute schon sehr bald die Verfolgung aufnehmen würde.

„Ihr wollt die Lady doch bestimmt nicht ohne Waffen nach Hause geleiten?" Erschrocken drehten Ravena und Legolas sich in Richtung der fremden Stimme herum. Hinter einem nahen Baumstamm kam eine menschliche Gestalt zum Vorschein, deren Gesicht jedoch durch die dunklen Schatten des Waldes im Verborgenen blieb. Sie warf Legolas einen Bogen und einen Köcher zu. Völlig überrascht bemerkte der Elb, dass es sich dabei um seine eigene Waffe handelte.

„Was...?", versuchte der Prinz anzusetzen, bevor er von dem fremden Mann unterbrochen wurde. Er klang eher belustigt als verärgert.

„Also Ihr seid mir ein stolzer Elb. Zuerst überhören Eure Ohren eine Meute Banditen, die durchs Unterholz streicht und dann flüstert Ihr auch noch so laut, wie ein Olifant trompetet. Ehrlich gesagt ist es mir ein Rätsel, wie Ihr den Ringkrieg überleben konntet." Noch immer klang er aus höchste amüsiert. Plötzlich konnte auch Ravena ein kleines Kichern nicht mehr unterdrücken.

„Habt Ihr das heute nicht schon einmal gehört, mein Prinz?", fragte sie unschuldig. Legolas seufzte auf. Das war aber auch überhaupt nicht sein Tag.

„Nun geht. Man hat Euren Lärm bis ins Lager gehört und man befindet sich bereits auf Eurer Fährte. Euer Pferd müsst ihr selbst wieder finden, denn nach allem, was ich weiß, lief es weg, noch bevor man es einfangen konnte. Jetzt beeilt Euch, um den hier werde ich mich kümmern.." Damit packte er den stöhnenden Wedigo und war wieder genauso schnell im Unterholz verschwunden, wie er aufgetaucht war. Was, und vor allem wer, war das gerade gewesen? Plötzlich hörten sie die ersten Verfolger näher kommen. Geschwind liefen sie los, Legolas Ravena hinter sich herziehend. Doch das Mädchen war keine Elbe. Ihre Beine gaben immer öfters unter ihr nach und gerade als sie dachte, dass sie keinen Schritt mehr würde weiter laufen können, ohne dass ihre Lunge explodierte, blieb Legolas stehen. Nachdem er einige Sekunden in die Nacht hinein gelauscht hatte legte er seine Finger an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus. Kurz darauf kam Arod herangaloppiert. Wieder bestaunte Ravena die ungewöhnlichen Talente ihres Begleiters. Geschwind waren sie aufgesessen und in Richtung Gadara unterwegs.

 Ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung bemächtigte sich seiner, als er erkannte, dass sie der Gefahr, zumindest für den Moment, entronnen waren. Als Krieger hatte Legolas gelernt, dem Tod ohne Angst zu begegnen, doch niemand hatte ihn auf den Verlust von etwas viel wichtigerem als seinem Leben vorbereitet – den Verlust seiner Liebe. Sich dem Schatz in seinen Armen wieder bewusst werdend, breitete sich ein seliges Lächeln um seine Lippen aus.

„Haltet Euch gut fest." Obwohl sie ihre Verfolger nun scheinbar endgültig abgehängt hatten, wollte der Elb nichts mehr riskieren. Das Tempo noch ein letztes Mal anziehend, hielt er auf Gadara und das Schloss zu.

Schnell wie der Wind fegten sie einige Zeit später durch das geöffnete Stadttor hindurch und weiter zum Schlosshof, wo Arod schließlich schwer atmend zum stehen kam. Behände schwang Legolas sich von dem Rücken seines Pferdes und hob anschließend Ravena herunter. Als sie ihm endlich, noch etwas zittrig auf den Beinen, gegenüber stand, hatte er immer noch keine Anstalten gemacht, seine Hände von ihren Hüften zu nehmen. Er sah ihr tief in die Augen. Was hätte er nur getan, wenn er sie verloren hätte?

„Danke", brachte er schließlich heraus. Seine Hände, die nun ihre Arme hoch wanderten, jagten Ravena einen angenehmen Schauer durch den Körper – und ließen sie fast vergessen zu fragen, weshalb er sich bei ihr bedankte. 

„Aber ich bin doch die, die sich bedanken muss. Ohne Euch wäre ich da wahrscheinlich nie wieder heraus gekommen." Sie schenkte ihm ein scheues Lächeln. Nun war es an Legolas, zu erschauern. Dennoch verfinsterte sich seine Miene.

„Ohne mich wärt Ihr gar nicht erst in diese Situation gekommen."

„Ihr kennt mich doch, natürlich wäre ich das.", lachte sie und brachte, angesichts der ganzen Palette ihrer Missgeschicke, auch Legolas wieder zum schmunzeln. 

Plötzlich wurde er sich dessen bewusst, dass seine Hände immer noch auf ihren Oberarmen ruhten. Mit einem zufriedenem Gefühl registrierte er, dass diese Tatsache Ravena alles andere als zu stören schien. Schweren Herzens ließ er sie los – beobachteten die umstehenden Menschen sie doch schon.

Als er auf seine rechte Hand starrte, erschrak er nicht schlecht. Blut. Er sah wieder zu Ravena. Auf ihrem linken Oberarm klaffte eine kleine Wunde. Er schalt sich selbst, dass es ihm nicht schon früher aufgefallen war. Ravena sah ihn fragend an, als er sie plötzlich wieder ergriff.

„Wo habt ihr die Wunde her?" Die Wunde? Ravena konnte sich die plötzliche Angst in der Stimme des Elben nicht erklären. Es war doch nur ein Kratzer.

„Der Kratzer? Der ist von dem Messer dieses Banditen." Sie sah, wie Legolas bei ihren Worten immer bleicher wurde. Ohne ein weiteres Wort packte er sie und trug sie im Laufschritt in Richtung Schloss.

„Legolas, was soll das? Es ist nichts." Er ließ ihr keine Chance zu protestieren.

„Seit still." Damit schnitt er ihr unbarmherzig das Wort ab. Ravena wusste das merkwürdige Verhalten des Elben nicht zu deuten.

Derweil spürte Legolas, wie eine Welle der Hilflosigkeit über ihm zusammenbrach.

„Oh Eru, lass sie nicht sterben.", betete er in Gedanken. Sie konnten den Räubern doch nicht nur entkommen sein, um jetzt schon wieder voneinander getrennt zu werden. Er hielt nur einmal kurz an, um eine verdutzte Dienerin nach dem Aufenthaltsort von Herr Elrond zu fragen.

„Herr Elrond? Soviel ich weiß, befindet er sich gerade in der Bibliothek, aber..." Noch bevor sie ihren Satz zuende bringen konnte, war der Elb auch schon weiter gelaufen.

„Legolas, ich glaube nicht..."

Wieder schnitt er ihr das Wort ab. Es galt jede Sekunde und in dieser Situation würde er keine Diskussionen mit ihr dulden. „Still!"

Während er mit Ravena in seinen Armen durch das Schloss lief, verfluchte er dessen schier endlose Gänge. Doch nach einigen wertvollen Minuten sah er endlich den langersehnten Eingang der Bibliothek vor sich. Da er keine einzige Hand frei hatte, schmiss er sich kurzerhand mit seinem Rücken gegen die Tür, um sie zu öffnen. Nachdem er nun endlich eintreten konnte, sah sich der Elb vier sehr erstaunt dreinblickenden Gesichtern gegenüber. Glorfindel lag schon ein lustiger Kommentar über den merkwürdigen Anblick, den die beiden boten, auf der Zunge, als er plötzlich inne hielt. Legolas schien über alle Maßen besorgt zu sein. Schnell war Elronds Berater aufgesprungen und hatte die kurze Distanz zwischen sich und dem Elbenprinzen überwunden.

„Was ist geschehen?", fragte er atemlos.

Ravena war die Lage höchst unangenehm. Sie konnte nicht verstehen, weshalb Legolas solch einen Wirbel um einen kleinen Kratzer veranstaltete – als hätte sie sich vor ihrem König und ihrem Baron nicht schon oft genug in Verlegenheit gebracht. Sie unternahm einen letzten Versuch, um ihre verloren gegangene Würde wiederzugewinnen. „Es ist nichts. Ich glaube wirklich nicht, dass das alles Notwenig ist..."

Doch ihre hilflosen Worte verblassten neben dem, was Legolas nun zu berichten hatte. „Eine Schierlingsvergiftung", begann er atemlos, „Eine in Schierling getränkte Klinge hat ihren Arm gestreift. Herr Elrond, Ihr müsst sie untersuchen – bitte!", setzte er noch verzweifelt hinzu, nachdem er sich seines befehlenden Tones, dem weiseren Elben gegenüber bewusst geworden war.

„Schierling?", ertönte es jetzt zeitgleich aus den Mündern von König Elessar und dem Baron. Sie warfen sich besorgte Blicke zu. Was konnte ihnen nur zugestoßen sein? Währenddessen bedeutete Herr Elrond Legolas, ihm mit Ravena in ein kleines Nebenzimmer der riesigen Bibliothek zu folgen. Dort angekommen zeigte er auf einen kleinen Holztisch in der Mitte des Raumes. Sanft ließ Legolas eine immer wütender werdende Ravena darauf nieder.

„Was bitte schön soll all das Theater? Es ist doch nur ein Kratzer.", begann sie empört sich zu wehren.

Dieses mal war es Herr Elrond, der sie nicht zu Wort kommen ließ. „Seit still!", ließ er bestimmt verlauten. Diesem Befehl wagte selbst Ravena sich nicht zu widersetzten – allerdings nicht, ohne durch ein letztes Schnauben ihren Widerwillen gegen ihre Behandlung kundzutun. Doch alles Klagen änderte nichts daran, dass Herr Elrond nun sorgfältig begann, ihre Verletzung zu untersuchen. Legolas, inzwischen arbeitslos geworden, ging in der kleinen Kammer sichtlich nervös auf und ab. Erst ein mahnender Blick des Heilers ließ ihn inne halten.

„Wie alt ist diese Wunde?"

Noch bevor Ravena überhaupt zu einer Antwort ansetzen konnte, sprudelte es auch schon aus Legolas heraus: „Etwa zwei Stunden." Innerlich musste Herr Elrond über das ungestüme Verhalten des jüngeren Elben schmunzeln. Nur sehr selten brachte etwas Thranduils Sohn derart aus der Fassung. Was genau geschah hier zwischen Legolas und dieser Sterblichen? Aber wie dem auch sei, er musste eine Beschäftigung für den jungen Elb finden, bevor er noch anfangen würde, sich in seiner Sorge die Haare zu raufen.

„Bringt mir Wasser und Tücher her."

„Aber..."

„Beeilt Euch. Ihr seid mir keine Hilfe, wenn ihr hier Löcher in den Boden lauft.", und etwas sanfter fügte er noch hinzu: „Ich verspreche Euch, dass sie mir unter meinen Händen nicht wegsterben wird." Das genügte Legolas. So schnell wie der Wind stürzte er aus dem Raum, um die benötigten Dinge aufzutreiben. Währenddessen war Ravena wieder hellhörig geworden.

„Ähm, wegsterben?" Das hörte sich aber alles andere als gut an, doch der Elb schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.

„Seid unbesorgt. Wenn ihr nach dreißig Minuten noch immer keine Symptome aufweisen könnt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese ominöse Klinge wirklich in Schierling getränkt war."

Erleichtert seufzte Ravena auf- bis ihr ein neuer Gedanke kam. „Aber..."

„Aber weshalb habe ich Legolas nichts davon gesagt?", setzte er den Satz mit einem Schmunzeln fort. „Nun, ich wollte ihn während der Behandlung aus den Füßen haben. Er scheint mir – nun", Herr Elrond suchte nach den passenden Worten, „in letzter Zeit nicht ganz er selbst zu sein."

„Nicht ganz er selbst?" Ravena wurde das Gefühl nicht los, dass der weise Elb damit etwas andeuten wollte. Doch gerade als Herr Elrond zu einer weiteren Erklärung ansetzten wollte, kam Legolas in den Raum gestürzt. Er war mit einem Eimer Wasser und viel zu vielen Tüchern bewaffnet. Der gehetzte Anblick, den der sonst immer so ausgeglichene Elb bot, brachte Herr Elrond nun zu einem herzhaften Lachen. Dieses Mädchen hatte es doch wirklich fertig gebracht, Legolas' Verstand auszuschalten. Der Elbenprinz hingegen schien angesichts der Begrüßung etwas verstört, doch Elrond winkte nur ab.

„Danke, Legolas. Stellt die Sachen hier ab und dann wartet draußen."

„Aber..." Legolas wollte protestieren, doch wieder einmal ließ Herr Elrond ihn nicht aussprechen.

„Die Klinge war nicht vergiftet und sie ist außer Gefahr. Aber bitte – um Himmels Willen – verlasst jetzt das Zimmer, oder ich werde mich gezwungen sehen, Euch hier anzubinden!"  Der Elbenprinz war nach dieser frohen Nachricht nur allzu gerne bereit, zu gehorchen. Mit einem letzten Blick auf eine sehr amüsierte Ravena verließ er den Raum. Erst als er sich draußen gegen eine kühle Wand lehnen und zum ersten Mal seit vielen Stunden wieder zur Ruhe kommen konnte, erkannte er, wie kopflos er sich gerade in Ravenas Gegenwart benommen hatte. Was sie nun wohl von ihm denken mochte? Er seufzte auf. Es zählte nur, dass der Dolch nicht vergiftet gewesen war – und, dass sie leben würde.

In diesem Moment öffnete ein immer noch köstlich amüsierter Elrond die Tür. Legolas' Ohren begannen gefährlich zu brennen. Wenn er es nun sogar schon geschafft hatte, den immer gestrengen Herr Elrond zum Lachen zu bringen, musste er sich wirklich unmöglich aufgeführt haben. Dennoch sah er ihn erwartungsvoll an.

„Ihr könnt nun zu ihr. Ich erwarte Euch dann später in der Bibliothek, um die Ereignisse des heutigen Tages zu besprechen." Damit verabschiedete er sich. Legolas war froh, dass kein weiterer Kommentar mehr über sein Verhalten gefallen war – das würden seine Freunde bestimmt noch mit dem größten Vergnügen zur Genüge übernehmen. Er holte noch einmal tief Luft, bevor er die Tür öffnete und beinahe schüchtern seinen Kopf in die kleine Kammer hineinsteckte.

Sie saß nicht mehr auf dem Tisch, sondern stand gedankenverloren vor dem einzigen großen Fenster dieses Raumes. Sie schien ihn nicht eintreten gehört zu haben.

„Ravena.", begann er zaghaft. Er konnte erkennen, wie ihr Körper mit einem leichten Zittern auf seine Stimme reagierte. Doch sie bekam sich schnell wieder in ihre Gewalt und drehte sich langsam zu ihm um. Auf ihren Lippen lag noch immer dieses amüsierte Lächeln.

„Seht ihr, ich habe Euch doch gesagt, dass es nichts ist." Sie deutete auf ihren linken Oberarm, der nun von einem weißen Verband geziert wurde. Herr Elrond hatte die Wunde sorgfältig ausgewaschen und verbunden. Ravena musste sich eingestehen, dass es ihr großes Vergnügen bereitete, zur Abwechslung auch einmal den Elb in Verlegenheit zu sehen – denn das war er, seinen roten Ohren nach zu urteilen, ganz offensichtlich.

„Es tut mir leid, dass ich so grob zu Euch war, aber ich dachte, die Klinge..."

„...wäre vergiftet?", setzte sie seine ins Stocken geratene Entschuldigung fort. Er nickte. Legolas hatte sich also Sorgen um sie gemacht. Seinem merkwürdigen Verhalten nach zu urteilen sogar ganz erhebliche, und obwohl sie sich dafür hasste, ihm Schmerzen zu bereiten, musste sie sich eingestehen, dass ihr Herz über die Tatsache, dass sie ihm nicht gleichgültig war, in einem unerhörten Maße jubelte.

„Ich danke Euch." Sie versuchte, ihm etwas von seiner Verlegenheit zu nehmen. Er schien mit diesem Gefühl nicht allzu vertraut zu sein. Plötzlich musste sie schmunzeln. Was würde er wohl tun, wenn er einmal einen Tag in ihrer Haut stecken müsste – schafft sie es doch ständig, sich in die unmöglichsten Situationen zu bugsieren.

„Mir danken? Weshalb?" Legolas machte einen kleinen Schritt in den Raum hinein.

„Nun, weil ihr mich gerettet habt.", antwortete sie so, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre. Plötzlich musste der Elb lachen.

„Ihr macht mir nicht gerade den Eindruck, als würdet Ihr Rettung benötigen, meine Dame."

„Und das betrübt Euch nun?", erwiderte sie frech. Doch dann wurde sie sich wieder bewusst, mit wem sie eigentlich redete – mit dem Prinzen des Düsterwaldes. Durfte sie sich solche Kommentare in seiner Gegenwart überhaupt herausnehmen? Bei ihrem Stand bestimmt nicht. Reuevoll senkte sie den Kopf. Sie wagte es erst wieder aufzuschauen, als sie an ihrem linken Arm ein angenehmes Prickeln vernahm. Ihre überraschten Augen verrieten ihr, dass Legolas mittlerweile die kurze Distanz zwischen ihnen überbrückt hatte und nun mit seiner Hand sehr behutsam über ihren Verband strich. Von der Sanftheit seiner Liebkosungen vollkommen entwaffnet schloss sie ihre Augen und lehnte sich leicht in seine Berührungen.

„Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn Euch etwas geschehen wäre." Obwohl sie erahnen konnte, dass sie ihm nicht gleichgültig war, traf sie dieses Geständnis ganz und gar unvorbereitet. Überrascht riss sie ihre Lider auf – nur, um sich gleich darauf wieder in den unendlichen Weiten von Legolas' Augen zu verlieren. Sie spürte, wie seine andere Hand langsam ihre Wange hinabglitt, nur um eine verirrte Strähne ihres Haares aus ihrem Gesicht zu streichen.

„Ravena, ich...", Legolas wusste nicht weiter. Diese Frau raubte ihm alle Sinne. Wie nur sollte er ihr klar machen, was er für sie empfand, wie viel sie ihm bedeutete? Er sah tief in ihre Augen, die ihn nun erwartungsvoll ansahen. Augen, deren Gefangener er war. Der Elb sah keine Möglichkeit mehr ihnen zu entfliehen – nicht, dass er das zu diesem Zeitpunkt noch gewollt hätte.

„Ja?" 

„Ich..."

Die beiden fuhren erschrocken auseinander, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.

„Pippin!" Man konnte Legolas seinen Unwillen über diese Unterbrechung deutlich ansehen. „Was hast du hier zu suchen?"

„Ich...ich..." Der kleine Hobbit war sichtlich verlegen. Dennoch kam er nicht um eine gedankliche Notiz umhin, seinen Freunden von dem eben gesehenen zu unterrichten. Das war allerfeinster Stoff für neue Sticheleien – es kam aber auch wirklich allzu selten vor, dass man diesen Elb aus der Ruhe bringen konnte. „Aragorn lässt nach dir schicken. Er will wissen, was Euch zugestoßen ist – wir warten nur noch auf dich und deinen Bericht."

Legolas seufzte auf. „In Ordnung." Als der Hobbit immer noch keine Anstalten machte, zu gehen, setzte er mit etwas mehr Nachdruck hinzu: „Sag den anderen, dass ich gleich komme, Pippin." Jetzt verstand sogar der Hobbit den Wink. Mit schnellen Schritten war er aus dem Raum verschwunden. Legolas wandte sich wieder Ravena zu. Sie hatte während dem kurzen Wortwechsel der beiden mit hochroten Wangen zu Boden gestarrt. Sicher würde er allen seinen Hobbitfreunden erzählen, was er gesehen hatte. Sie spürte wieder Legolas Hand, die abschiednehmend noch ein letztes mal ihre Wange hinabglitt.

„Ich muss gehen." Hörte sie da etwa Bedauern in seiner Stimme?

„Ich weiß.", antwortete sie resignierend. Wann würde sie ihn wohl wiedersehen?

„Werden wir uns wiedersehen?" Angesichts dieser Frage machte ihre Herz einen kleinen Sprung. Sollte er etwa Gedanken lesen können? Unter seinem Blick schienen ihre Lippen ihren Dienst zu verweigern. Also nickte sie bloß.

„Seid Ihr morgen Abend auch auf dem Fest?", fragte er hoffnungsvoll.

Das Fest! Ravena hatte es in der Aufregung des heutigen Tages beinahe vergessen. Es würde der letzte Tag sein und für die Nacht war ein krönender Abschluss geplant. Niemand in der gesamten Gegend würde sich dieses Spektakel entgehen lassen.

„Ja", gelang es ihr endlich hervorzubringen, „Ich werde auch dort sein."

Legolas' Herz jauchzte vor Freude über diese Worte. „Dann lasst Euch versichert sein, dass ich nach Euch Ausschau halten werde." Und obwohl Ravena sich nicht sicher war, wie er es unter all den Menschen anstellen wollte, ausgerechnet sie zu finden, war sie sich nach einem weiteren Blick in seine Augen sicher, dass er es durchaus ernst gemeint hatte. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen griff er nach ihrer Hand und hauchte einen zärtlichen Kuss darauf. Ravena wurde wieder rot – noch nie hatte ihr jemand einen Handkuss geschenkt. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, also nahm sie es als Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war. Langsam bewegte sie sich zur Tür, doch Legolas war alles andere als gewillt, ihre Hand schon so bald wieder freizugeben. Erst als er einen fragenden Blick von Ravena erntete ließ er von ihr ab – wenn auch nur sehr wiederwillig. Bevor sie zur Tür heraus war, drehte sie sich noch einmal um und beugte zum Abschied ihren Kopf. Dann war sie verschwunden.