Disclaimer: siehe Kapitel 1

Kapitel 15

Teil 1

„Eure Majestät!" Die Stimme des Zwerges klang etwas schriller als gewöhnlich. „Was... was tut Ihr denn hier?" Schnell überschlug Gimli alle Optionen die ihm nun noch offen blieben. Leider musste er sich eingestehen, dass es derer nicht allzu viele waren. Sein Gegenüber tat derweil die ungebührliche Begrüßung mit einer hochgezogenen Augenbraue ab.

„Danke, es freut mich auch Euch wieder einmal zu begegnen, Herr Zwerg." Erst der strenge Tonfall des Elbenkönigs ließ Gimli wieder seiner Manieren gedenken.

„Ähm, aber natürlich Eure Majestät, verzeiht meine Taktlosigkeit, doch ich bin etwas, nun ja, überrascht, Euch ausgerechnet hier anzutreffen, so fern Eurer Heimat." Mit jedem Wort, das den Weg aus seinem Munde fand, wurde seine Gesichtsfarbe eine Spur röter. Glücklicherweise wurde diese Tatsache vom Mondlicht und dessen Schatten geschickt kaschiert. Wie nur sollte er den König abwimmeln? Auf keinen Fall würde er einen Fuß in Legolas' Gemach setzen dürfen, jedenfalls nicht, solange der Elb sich in diesem misslichen Zustand befand. Innerlich fluchte er laut auf. Was zum Henker hatte Legolas' Vater in Gadara zu suchen?

„Nun, das ist eine längere Geschichte. Doch erwähntet Ihr eben nicht etwas von verliebten Elben?" Am liebsten hätte Gimli sich seine Zunge abgeschnitten. Da hatte er sich aber eine gehörige Suppe eingebrockt. Wie sollte er aus dieser Zwickmühle nur jemals wieder heraus kommen?

„Sagte ich verliebte Elben? Da habt Ihr Euch bestimmt verhört, mein König." Der Zwerg lachte verlegen auf. Dieser König war ein Elb. Er wusste ebenso gut wie Gimli, dass er sich nicht verhört hatte. Doch noch bevor er etwas hätte erwidern können setzte der Zwerg wieder zum sprechen an.

„Aber sagt Majestät. Welche Geschäfte führen Euch ausgerechnet in dieses Städtchen?" Gimli war sich nicht ganz sicher, ob der König sich so leicht abspeisen lassen würde. Für gewöhnlich war er es gewohnt, eine Antwort auf all seine Fragen zu bekommen – und durchaus dazu in der Lage eine Lüge als solche zu erkennen, wenn er sich denn einer gegenüber sah. Und ganz recht, während seine Augen gänzlich von einem verräterischen Glanz eingenommen wurden, verzog sich sein linker Mundwinkel zu der bloßen Andeutung eines Lächelns. Die Majestät schien aufs höchste belustigt.

„Mir dünkt Ihr wollt mich eher ablenken, als tatsächlich die Beweggründe für mein Handeln zu erfahren." Noch bevor der Zwerg entrüstet seine Einwände gegen diesen zugegebenermaßen nicht ganz von der Hand zu weisenden Vorwurf erheben konnte, winkte der Elbenkönig auch schon beschwichtigend ab.

„Nun denn. Um genau zu sein haben wir einer Horde Banditen unseren Aufenthalt hier zu verdanken."

Nun war Gimli wirklich überrascht. „Banditen?"

Der König seufzte. „In der tat, Banditen. Eine wahrlich unrühmliche Episode unserer Reise. Seit einiger Zeit unterhält mein Volk Handelsbeziehungen zum südlichen Gondor. Nun bin ich hergereist, um diese Beziehungen noch zu stärken, doch einige Meilen vor der Stadt sahen wir uns gezwungen, eine enge Schlucht zu passieren. Ein tragischer Umstand, den sich die Banditen sehr wohl zu Nutzen machen wussten. Sie erwarteten uns bereits und leider haben wir keine andere Möglichkeit aus dieser Bredouille gesehen, als ihnen all unser Geld und unseren Schmuck zu überlassen."

Plötzlich konnte sich der Zwerg ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Wie der Vater so der Sohn. Ob es wohl dieselben Banditen waren, mit denen Legolas und Ravena Bekanntschaft gemacht hatten? Wahrscheinlich. Es gab nicht mehr allzu viele Banden, die hierzulande noch ihr Unwesen trieben. Doch dieses mal erinnerte er sich an seine Manieren.

„Aber Euch und Euren Mannen ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?"

„Nein, glücklicherweise hatten sie es lediglich auf unsere Wertsachen abgesehen. Nichtsdestotrotz war es eine entwürdigende Erfahrung, die ich gerne hätte missen mögen." Die trockene Selbstironie des Königs zauberte ein kleines Lächeln auf Gimlis Lippen. Diese ausgefallene Art des Humors war wirklich nur dem König Düsterwalds zueigen. Manchmal auch Legolas, wenn er denn nicht gerade wegen einem ganz bestimmten Menschenmädchen in Selbstmitleid zerfloss.

„Also beschlossen wir, entgegen unseren ursprünglichen Reiseplänen, in Gadara halt zu machen. Und nun dürft Ihr einmal raten, was das erste Gerücht besagte, das mir mit Betreten der Stadt zu Ohren gekommen ist.", er wartete nicht auf eine Antwort Gimlis, sondern fuhr unverzüglich fort „Es heißt, ein Elb und ein Zwerg weilen in der Stadt. Nun, da mein Sohn wahrscheinlich der einzige Elb ist, der mit einem Zwerg durch die Lande zieht, bitte zu entschuldigen, kann es sich wohl nur um selbigen handeln. Erfreulicherweise hat sich der Baron als sehr großzügig erwiesen und uns in dieser misslichen Lage Obdach gewährt. Aber nun frage ich mich: wo treibt sich mein Sohn herum, wenn es doch gilt, seinen Vater zu begrüßen?"

Etwas sagte Gimli, dass sich der König dieses Mal nicht so leicht würde ablenken lassen.

„Nun ja, also das ist so..." So sehr er sich auch plagte, ihm wollten einfach nicht die rechten Worte einfallen. In was hatte Legolas ihn da aber auch schon wieder hineingeritten?

„Ist er gar in diesem Gemach?"

Plötzlich wurde es dem Zwerg unangenehm heiß. Nervös rieb er seine schwitzenden Hände ineinander, ein inbrünstiges Stoßgebet gen Himmel sendend. Er brauchte ein Wunder – und zwar auf der Stelle.

„Ähm... also... Eure Majestät", verlegen druckste Gimli herum, „Euer Sohn ist im Moment wohl etwas... hm, nun ja... unpässlich." Erleichtert atmete der Zwerg aus. Nun war es endlich heraus. Hoffentlich würde sich der Elbenkönig damit zufrieden geben, doch der schien alles andere als geneigt zu sein, sich so oberflächig abspeisen zu lassen.

„Unpässlich?" Ungläubig zog der König eine Augenbraue hoch, „Ein Elb und unpässlich?" Zu Gimlis großer Überraschung fing der König plötzlich an zu lachen. „Diese Unpässlichkeit meines Sohnes sieht mir doch eher nach einem Damenbesuch aus."

„Damenbesuch?" Nun war es an Gimli, überrascht nachzufragen.

„Nun, seine Unpässlichkeit hat in der Tat etwas mit einer Dame zu tun, Eure Majestät." Der Zwerg wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Das war ja nun schließlich noch nicht einmal gelogen. Nun würde sich der König bestimmt zufrieden geben.

„Dann dürft ihr jetzt zur Seite treten."

„Wie bitte?", fragte ein völlig entsetzter Gimli, „aber ihr wollt doch bestimmt nicht sogleich in sein Gemach?"

„Mein Sohn ist ein Elb, Herr Zwerg, und durchaus in der Lage uns zu hören. Nun wird er wohl Zeit genug gehabt haben um sich und seine Dame wieder in einen repräsentablen Zustand zu bringen." Damit schob er Gimli kurzerhand beiseite und öffnete die Tür. Ohne auf den Protest des entrüsteten Zwerges zu achten, betrat er resoluten Schrittes das Gemach. Erstaunt hielt er in der Mitte des Zimmers inne. So sehr er seine kühnen Augen auch anstrengte, in der dunklen Kammer war keine Dame auszumachen. Stattdessen fiel sein Blick auf ein Häufchen Elend, das er nach einem ungläubigen Blinzeln als seinen Sohn wiedererkannte. Im Nu war er an Legolas' Bett geeilt und wäre ihm nicht das schwere Aroma eines nur allzu bekannten Weines in die Nase gefahren, er hätte sich ernsthafte Sorgen um seinen einzigen Sprössling gemacht. Just in diesem Moment begann das Bündel sich in seinem Bett zu bewegen, einen mitleidserregenden Seufzer ausstoßend.

„Gimli?" Seine Stimme war kaum mehr ein Krächzen, „Du bist schon wieder da? Mir war als wärest du gerade erst gegangen. Was hat sie gesagt? Wie geht es Ravena?"

„Wer ist Ravena?"

Urplötzlich war das Häufchen Elend in die Höhe geschossen, sich schmerzhaft bewusst werdend, dass sein Kopf zu solch schnellen Bewegungen noch nicht in der Verfassung war. Ungläubig starrte er den im Dunkel des Zimmers stehenden Besitzer dieser Stimme an.

„Vater?" Er hielt sich den schmerzenden Kopf. Das waren wesentlich mehr Überraschungen an einem einzigen Tag als er in seinem jetzigen Zustand ertragen konnte.

„Na wenigstens scheinst du deinen eigenen Vater noch zu erkennen, wenn du ihn vor dir siehst."

„Was, was tut Ihr hier?", fragte Legolas unbeholfen nach, die versteckte Spitze geflissentlich überhörend.

„Nun, ich dachte mir, wenn mein Sohn es vorzieht mit einem Zwerg durch die Lande zu ziehen, anstatt seinem alten Vater hin und wieder einen Besuch abzustatten, muss es eben am Vater liegen, seinen Sohn aufzusuchen."

„Oh!" Legolas war keines klaren Gedanken mehr fähig, geschweige denn in der Lage dazu, die Ironie in der Aussage seines Vaters zu erkennen. Erst hatte er sich wegen Ravena völlig betrunken und nun stand auch noch wie aus dem Nichts sein König vor ihm. Legolas' Kopf dröhnte unaufhörlich, sagte ihm immer wieder, dass das alles sicherlich mehr Zufälle waren, als sie an einem Tag geschehen konnten. Wieder hielt er sich den Schmerzenden Kopf, versuchte vergeblich, die kegelnden Steinriesen darin zu einer Pause zu bewegen. Ob sein Vater wohl nur ein Trugbild war, ausgelöst durch sein übermäßiges Frönen am Alkohol?

Aber dort stand er, majestätisch wie eh und je. Auch wenn nur das nächtliche Himmelszelt das Zimmer erleuchtete, so war seine einnehmende Präsenz doch nicht zu leugnen. Sein goldenes, im Mondschein silbern scheinendes Haar wurde von einer Krone aus Beeren und rotem Laub geziert – ein Vorbote des nun rasch kommenden Herbstes. Legolas starrte ihn wohl so an, wie er einen plötzlich auftauchenden Waldgeist angeschaut hätte.

Plötzlich konnte sich der Elbenkönig eines Lächelns nicht mehr erwähren, froh darüber, endlich wieder seinen Sohn in die Arme schließen zu können. Zwei Jahre hatten sie sich nun nicht mehr gesehen, eine Zeitspanne kaum mehr als ein kurzer Wimpernschlag im ewigen Leben eines Elben und doch – in diesem Moment war er nicht viel mehr als ein liebender Vater, der seinen Sohn vermisst hatte, wohl auch in Sorge um ihn gewesen war. Grazil ließ er sich neben Legolas auf dem Bett nieder, umarmte ihn endlich. Erst dann fasste er seinen Sprössling an beiden Schultern und betrachtete ihn eingehend.

„Du siehst fürchterlich aus." Der Elbenkönig zwinkerte seinem Sohn zu, ließ sich nichts von seiner Verwunderung anmerken. Nicht ein einziges mal in den annähernd dreitausend Jahren, die sein Sohn nun schon in diesen Gefilden weilte, hatte er ihn in solch einem erbarmungswürdigen Zustand gesehen. Nicht einer einzigen Elbe im Düsterwald, in Bruchtal oder Lothlorien war das gelungen, was diese Ravena, wer immer sie auch sein mochte, nun geschafft zu haben schien: Legolas im wahrsten Sinne des Wortes um seinen Verstand zu bringen.

„Und du bist betrunken!" Es war eine Feststellung, die keine Wiederworte zuließ. „Streite es nicht ab Sohn, der Geruch des Weines umgibt dich wie eine träge Wolke."

Schuldbewusst senkte Legolas den Kopf. „Es tut mir leid, Vater, dass ich Euch nicht gebührend empfangen habe." Doch noch während der junge Elb diese Worte sprach, fasst der König ihn sanft, aber bestimmt am Kinn und zwang ihn somit, ihm in die Augen zu sehen. Zu Legolas' großer Überraschung sah er nicht das kleinste Zeichen von Zorn in ihnen, sondern nur unendlich scheinende Güte.

„Legolas, solange du lebst warst du noch nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, doch nun sehe ich dich betrunken, betrunken vor Verzweiflung wohlgemerkt, in einem düsteren Gemach liegen.", wie aus dem nichts verwandelte sich der eben noch besorgte Blick des Elbenkönig in ein schelmisches Lächeln, „also sie heißt Ravena?"

Mit einem gequälten Seufzer ließ sich Legolas wieder in seine Kissen sinken.

„Was lässt Euch vermuten, dass ich mich wegen einer Frau und nicht wegen einem nörgelnden Zwerg betrunken habe?"

Dieses mal musste der König ordentlich lachen.

„Weil nur Frauen einem Mann so etwas antun können." Das erste Mal seit der Ankunft des Elbenkönigs gelang es auch Legolas, in dessen herzhaftes Lachen mit einzustimmen. Wie sehr hatte er die vertrauten Momente mit seinem Vater vermisst, die langen Gespräche, seinen weisen Rat – doch für den Moment wog der Wunsch Mittelerde zu erobern, auf seinen eigenen Füßen zu stehen, noch stärker als die heimischen Bande. „Und nebenbei bemerkt, Sohn, wäre der Zwerg der Grund, dann hättest du dich wohl schon längst zu Tode gesoffen." So sehr Thranduil mittlerweile auch gelernt haben mochte, den besten Freund seines Sohnes zu akzeptieren, die ein oder andere Spitze wollte sich einfach nicht zurückhalten lassen.

„Und nun erzähl mir von ihr. Mir war nicht bewusst, dass hier in Gadara auch Elben leben." Erwartungsvoll sah der König seinen Sohn an. Der allerdings spürte urplötzlich wieder seine Kopfschmerzen mit solcher Kraft auf sich einschlagen, dass es Feanors Hammer nicht hätte besser tun können. Seufzend schlug er sich die Hände vors Gesicht. Thranduil, dem die plötzliche Veränderung seines Sohnes natürlich nicht entgangen war, zeigte sich umgehend alarmiert. „Was ist los, Legolas, sprich endlich, bei Eru!" 

„Vater?" Er machte eine kurze Pause, um sich seine folgenden Worte zurecht zulegen.

„Ja?"

Legolas lächelte seinen König gequält an. „Erinnerst Ihr Euch noch, wie Ihr einmal gesagt habt, dass Ihr mich sogar eine stinkende Orkfrau würdet heiraten lassen, wenn ich denn nur endlich heiraten würde?"

„Ja." Die Antwort des Elbenkönig kam langsam und bedacht. Was versuchte sein Sohn ihm gerade klar zu machen? Diesen Ausspruch hatte Thranduil in einem allgemeinen Zustand der Resignation gefällt. Für gewöhnlich war es unter Elben üblich schon bald nach dem Erreichen der Mündigkeit im zarten Alter von kaum mehr als hundert Jahren vermählt zu werden, Kinder zu zeugen. Legolas jedoch hatte der Sinn stets nach anderen Dingen gestanden. Galt es doch Abenteuer zu bestehen, die unendlich scheinenden Weiten Mittelerdes für sich zu erobern, sich schlichtweg die Hörner abzustoßen. Es waren Dinge, die ihn letztendlich sich selbst verlieren ließen. Sicher, er hatte unzählige Elbenfrauen beglückt, ihnen den Kopf verdreht, aber die einzige, alles verzehrende Liebe – die Liebe, die seinem rastlosen Herzen wieder eine Heimat, einen sicheren Hafen geboten hätte – war niemals darunter gewesen. Ach, wie würde er sich mit seinem Sohn freuen, sollte er endlich sein Glück, ja seinen Frieden gefunden haben.

Doch wieso zögerte er nun? Thranduil hatte niemals eine Standesgemäße Heirat von seinem Sohn verlangt. Er hatte Legolas wie jeden anderen Elb in seinem Waldlandreich erziehen lassen, ihm dementsprechend auch die freie Wahl seiner Braut gewährt. Plötzlich stahl sich ein vollkommen absurder Gedanke in seinen Kopf.

„Du hast doch nicht wirklich vor, eine Orkfrau zu heiraten?" Angesichts des langvermissten, trockenen Humors seines Vaters blieb Legolas nichts weiter übrig als schallend zu Lachen. Plötzlich fühlte er sich ihm so nah wie schon seit langen Zeiten nicht mehr.

„Nun, Vater, Ihr werdet froh sein zu hören, dass es keine Orkfrau ist, die ich zu ehelichen gedenke."

„Aber eine Elbenfrau ist es auch nicht?" Thranduils Stimme war leise, kaum mehr ein Hauch. Sie war es, die Legolas wieder ernst werden ließ, seinen Vater auf das vorzubereiten suchte, das nun unweigerlich kommen musste. Des Elbenkönigs letzte Hoffnung verflog, wie eine Pusteblume im aufkommenden Wind, als er seinen Sohn schließlich nicken sah.

„Sie ist ein Mensch."

„Ein Mensch." Wie in Trance wiederholte er die Worte seines Sohnes immer und immer wieder, wollte sich ihrer vollen Tragweite nicht bewusst werden. Gleichsam jedem anderen Elb wusste auch der König von Eryn Lasgalen um die Gefahren, die eine Verbindung zwischen Elben und Menschen mit sich brachte. Wenn sein Sohn dieses Mädchen aufrichtig und mit ganzem Herzen liebte, so war er verloren. Auf ewig an sie gebunden würde er ihr in den unausweichlichen Tod folgen und die Unendlichkeit in Mandos Hallen fristen. Er würde dazu verdammt sein bis ans Ende aller Tage ihren Verlust zu beklagen, denn der Tod hatte für die Völker der Menschen und Elben unterschiedliche Konsequenzen: So würden die Elben auf ewig an Mittelerde gebunden bleiben, während die Menschen an einen Ort entschwanden, der nur Eru allein bekannt war.

„Du weißt, was das für dich bedeutet, mein Sohn." Er sah Legolas lange in die Augen, hoffte inbrünstig auf ein Zeichen von Wankelmut, von Unentschlossenheit, doch alles, was er entdecken konnte, war grausame Determiniertheit.

Schließlich nickte Legolas. „Ich weiß es, doch für sie zu sterben wird niemals ein Opfer für mich bedeuten, denn ich liebe sie mehr als mein Leben."

Plötzlich fühlte sich Thranduil unermesslich alt. In den Augen der Menschen mochte er kaum älter als sein Sohn wirken, doch in diesem Moment schien ihn die schwere Last unzähliger Jahrhunderte schier zu erdrücken, schienen die Mühlen der Zeit für seine Unsterblichkeit ihren Tribut zu fordern. Es mutete ihm nicht richtig an, den leiblichen Sohn vor seiner eigenen Zeit gehen zu sehen – den Sohn gehen zu sehen und selbst zur Untätigkeit verdammt zu sein. Doch am Ende suchte man sich nicht aus, wen man liebte und so würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Entscheidung seines Sohnes zu akzeptieren.

„So sei es denn." Thranduils Seufzen hätte wohl selbst das Mitleid der Toten erweckt, wenn es bis zu ihren Gräbern vorgedrungen wäre.

*~*~*

Gimli war gerade im Begriff gewesen anzuklopfen, als die Tür kraftvoll aufgerissen wurde. Überrascht sah er sich dem Sorgenvollen Gesicht Ravenas gegenüber. Sie musste die gesamte Zeit am Fenster seine Rückkehr erwartet haben.

„Endlich!" Noch bevor sie es hätte verhindern können hatte sich auch schon ein Seufzer der Erleichterung seinen Weg über ihre Lippen gebahnt. Erst als sie bemerkte, dass Legolas noch immer nicht bei dem Zwerg war, begann wieder die Anspannung von ihr Besitz zu ergreifen. „Was ist geschehen, wo ist er? Ihr habt ihn doch gefunden? Sagt mir, dass ihr ihn gefunden habt!" Das einzige, was sie in den letzten Stunden getan hatte, war warten. Warten, und alle übrigen mit ihrer Rastlosigkeit zur Verzweiflung bringen. Schließlich hatte sie sich hinter dem kleinen Fenster gleich neben der Tür postiert, unentwegt Ausschau gehalten. Selbst ihr Bruder und Siägä hatte es nicht gelingen wollen, sie etwas von ihrer Sorge abzulenken.  

„Ja, ich habe ihn gefunden."

Ungeduldig wartete sie darauf, dass der Zwerg weiter sprechen würde, doch zu Ravenas immer größer werdendem Unwillen schien ihm der Sinn nicht nach vielen Worten zu stehen. „Und? Wo zur Hölle ist er jetzt?"

Gimli zuckte bei Ravenas rüder Wortwahl sichtlich zusammen, seine schweißnassen Hände zeugten von seiner ungeheuren Nervosität. Sicher würde sie über Legolas' dummes Verhalten erzürnt sein, sollte er ihr die Wahrheit erzählen. Doch für den Moment wollte dem Zwerg leider keine passende Ausrede für dessen miserablen Zustand einfallen. Plötzlich sah er Ravena erbleichen, sah, wie sie sich mit einer Hand am Türrahmen abstützte und ihn mit weiten Augen anblickte.

„Er ist doch nicht verletzt oder, oder gar schlimmer?" Sie wagte es nicht, ihre schlimmste Befürchtung in Worte zu kleiden, wagte es nicht einmal, sie überhaupt ernsthaft in Betracht zu ziehen. Dennoch konnte sie sich dem Zugriff einer kalten Hand nicht erwähren. Der Hand, die sich bereits beim bloßen Gedanken an einen möglichen Verlust des Geliebten um ihren Hals schloss, ihr sämtliche Luft zum atmen raubte. Plötzlich wurde Gimli wütend. Wütend auf Legolas, der an all ihren Sorgen schuld war. Hatte dieser Schwachkopf von einem Elb denn nicht erkennen können, wie tief ihre Liebe zu ihm reichte? Mitleidig sah er sie an.

„Nein, nein.", versicherte er also immer wieder, „Der Herr Elb weilt noch unter uns – obwohl ich gestehen muss, dass ich ihm am liebsten um seinen schönen Kopf kürzer machen würde, oder wenigstens seinen Hintern versohlen wollte."

Nun verstand Ravena gar nichts mehr. Wenn ihr Liebster also wohlauf war, wieso stand er dann nicht hier neben dem Zwerg, und was hatten diese seltsamen Wünsche Gimlis für einen Grund? Sie seufzte lauf auf.

„Aber wenn er noch lebt, wieso ist er dann nicht hier? Gimli, sagt es mir, will er mich nicht mehr sehen?" Noch während sie diese Worte sprach wusste sie bereits, wie absurd diese Frage eigentlich klang. Legolas liebte sie, hatte sie es nicht in seinen Augen gelesen? Dennoch begannen wieder die alten Zweifel an ihr zu nagen. Er war so schön, so stark, so perfekt und sie? Sie war nur ein Mensch, unbedeutend und klein. Konnte er es sich vielleicht anders überlegt haben? Ihre Verbindung war noch so neu, so zerbrechlich wie eine gerade erblühte Blume.

Plötzlich stöhnte Gimli laut und resignierend auf. „Jetzt fangt Ihr BITTE nicht auch noch so an, ein liebeskranker Elb reicht voll und ganz." Wie um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen verschränkte er die Arme resolut vor der Brust. Wieder seufzte er. „Was würdet ihr beide nur ohne mich tun?"

Auch wenn Ravena seinen Worten noch immer keinen rechten Sinn verleihen konnte, wurde sie wie aus dem Nichts von einem starken Gefühl der Rührung für diesen kleinen Mann ergriffen. Trotz seiner ständigen Sticheleien und Indiskretionen hatte er schon so viel für sie und Legolas getan – wohl mehr, als sie ihm jemals würde zurückgeben können. Einem Impuls folgend kniete sie sich schließlich auf den Boden nieder und umarmte den völlig verdutzten Gimli aufs stürmischste.

„Danke, für alles."

Der überrumpelte Zwerg wusste indes nicht recht, wie ihm geschah. Verlegen versuchte er seine Würde zu erhalten. Dieses Mädchen verstehe nun mal wer wolle. „Ist ja schon gut, Ravena, ist ja schon gut."  Er klopfte ihr versöhnlich auf die Schulter. „Und nun lass mich wieder los. Stell dir nur mal vor, Legolas würde uns so sehen. Er würde eifersüchtig werden und sich in der nächsten Taverne fürchterlich betrinken."

Das brachte das Mädchen wieder zum Lachen. Vergnügt entließ sie den Zwerg aus ihrer Umarmung und platzierte einen flüchtigen Kuss mitten auf seine Nase. Wieder einmal pries Gimli die Dunkelheit der Nacht. Für den Moment hätten seine runden Wangen dem kräftigen Rot von Ravenas Haaren wohl alle Ehre gemacht. Er glaubte langsam eine Ahnung davon zu bekommen, wieso es diesem Mädchen immer wieder gelang, alle Menschen um sie herum mit ihrem einzigartigem Wesen für sich einzunehmen. 

Ravena beobachtete amüsiert, wie der Zwerg verlegen mit seinen Füßen scharrte. Ihr neuer Freund schien sich bei solch überschwänglichen Gefühlsausbrüchen nicht wohl zu fühlen – schließlich hätte ja jemand bemerken können, dass er nicht notwendigerweise immer nur der vor sich hin grummelnde Zwerg war, den Fremde leichtfertig in ihm vermuteten.

„Ich denke Legolas würde wissen, dass er mir vertrauen kann."

Urplötzlich wurde Gimli von einem Hustenanfall geschüttelt. Ein schelmisches Grinsen stahl sich auf sein pausbäckiges Gesicht. Und wie er das würde. Er musste an Legolas denken, wie er mit den Nachwehen des Alkohols in seinem Bett gelegen hatte. Hoffentlich nahm dessen Vater ihn nun nicht zu sehr in die Mangel. Gleich nachdem der Elbenkönig auf so rüde Art und Weise den Eintritt in die Gemächer seines Sohnes gefordert hatte, war Gimli sehr darum bemüht gewesen, sich schnellst möglich zu entfernen. Vater und Sohn hatten sich lange nicht gesehen und Legolas hatte seinem König einige schmerzliche Nachrichten beizubringen. In solchen Situationen war er immer wieder aufs neue froh darüber, nicht die schwere Bürde der Unsterblichkeit tragen zu müssen.

„Und nun Gimli", Ravena wurde wieder ernst, „erkläre mir endlich, was mit Legolas geschehen ist."

Das brachte auch den Zwerg wieder zu ihrem eigentlichen Thema zurück. Legolas! Was sollte er Ravena jetzt nur erzählen? Sicherlich würde sie fürchterlich enttäuscht sein, wenn er ihr die Wahrheit sagen würde. „Nun, also das ist so: Legolas ist im Moment, nun ja, sozusagen verhindert."

Ungläubig lauschte Ravena dem undeutlichem Gestammel des Zwerges. „Verhindert?", hakte sie also nach, eine Augenbraue streng in die Höhe ziehend. Hier war eindeutig etwas im Busch. Etwas, das sich bereits auf hundert Meilen riechen ließ, doch sie war in keiner Weise gewillt, sich nun auf ein solches Spiel einzulassen. Dafür hatte sie sich an diesem Abend schon viel zu viele Sorgen gemacht, sich zu sehr nach ihrem ausbleibendem Liebsten verzehrt. „Wenn er verhindert ist, werden wir ihn eben aufsuchen."

„Nein, nein, dass ist überhaupt nicht notwendig", beeilte sich Gimli rasch zu versichern. Ein zweites Mal an diesem Tag rann ihm der Schweiß von der Stirn, suchte er händeringend nach einer plausiblen Erklärung für etwas so absurdes wie einen betrunkenen Elben. Er fühlte sich genauso unwohl wie einige Stunden vorher, als er noch dem Elbenkönig hatte Rede und Antwort stehen müssen. „Er, ähm, ist wohl nur etwas unpässlich, sozusagen, krank vielleicht, ein bisschen?"

„Krank? Unpässlich? Ein Elb? Gimli, das ist eine ziemlich schwache Ausrede, oder nicht?" Sich ertappt fühlend spürte der Zwerg wieder einmal die Röte, die ihm ungefragt in die Wangen schoss. Doch noch bevor er etwas zu seiner Verteidigung hätte hervorbringen können, hatte Ravena auch schon wieder das Wort ergriffen. „Gimli, ganz offensichtlich willst du mir nicht sagen, was mit Legolas geschehen ist und ich werde dich nicht weiter drängen, aber ich bin nicht dumm! Ich habe den ganzen Tag auf einen Elb gewartet, der nicht kam, mir fürchterliche Sorgen um ihn gemacht und mir die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Ich verlange jetzt, dass du mich zu ihm bringst! Sofort! Dann kann er mir selbst erklären was geschehen ist, denn das etwas nicht stimmt kann ich auf hundert Meilen riechen."

Schließlich gab der Zwerg es auf. Sollte Legolas es ihr tatsächlich selbst sagen – er hatte sein bestes gegeben. Resignierend schüttelte er den Kopf. „Also gut, dann komm eben mit, aber sag hinterher nicht ich hätte dich nicht gewarnt."  

Mit einem triumphierendem Lächeln warf sie sich ihren – Legolas' – Mantel über die Schultern, sog den betörenden Geruch ihres Geliebten in sich hinein, der noch immer daran haftete, wie eine nie verwelken wollende Blume. Versonnen erinnerte sie sich, unter welch peinlichen Umständen sie ihn damals bekommen hatte. Was sie wohl jetzt tun würde, sollte er sie noch einmal beim baden erwischen? Ihre ganz und gar nicht züchtigen Gedanken ließen sie laut kichern – und ihr wohl auch ein wenig die Hitze in die Wangen steigen. Gimli, dem Ravenas Stimmungswechsel natürlich nicht entgangen war, verdrehte scheinbar schockiert die Augen.

„Meine Dame, können wir uns dann bitte auf den Weg machen?"

„Na, ist dein Liebster endlich aufgetaucht?"

Überrascht sog Gimli die Luft ein. An der Tür war ein fremder Mann erschienen, der Ravena ungeniert in den Arm nahm. In dem spärlichen Licht, das aus dem Hausflur nach draußen trat, konnte der Zwerg lediglich dessen schemenhafte Konturen erkennen. Er schien ihm sehr groß für einen Mensch zu sein. Dies also war der dubiose Herr, mit dem Legolas sein Mädchen im Flagranti erwischt haben wollte. Ob sein Freund vielleicht doch recht gehabt haben könnte? Aber diesen Gedanken verbannte er sofort wieder aus seinem Geist. Ravenas Sorgen wahren ehrlich und aufrichtig gewesen. Doch nichts desto trotz kam der Zwerg nicht umhin anzumerken, dass die beiden sich ganz offensichtlich sehr nahe standen.

„Nein, Vilem, aber Gimli wird mich jetzt zu ihm führen." Damit wandte sie sich wieder an den Zwerg, lächelte ihn glücklich an. „Gimli, darf ich dir meinen Bruder Vilem vorstellen?"

„Dein Bruder?" Zum großen Erstaunen aller brach der Zwerg plötzlich in einen unerhörten Lachanfall aus. „Bruder!" Nur schwer konnte er sich wieder einbekommen, seine Würde zurückerlangen. Dieser Held von einem Elb war eifersüchtig auf ihren Bruder gewesen! Na, wenn das keine unterhaltsame Anekdote abgäbe würde Gimli auch nicht mehr weiter wissen. Insgeheim freute er sich schon diebisch darauf, sie Aragorn und den Hobbits zum besten geben zu können. Ihr Bruder! Hoffentlich würde er Legolas' Gesicht sehen können, wenn er es erfuhr – allein das wäre Belohnung genug für all die Mühen, die dieser Tag mit sich gebracht hatte.

„Ja, mein Bruder", erwiderte Ravena, angesichts des merkwürdigen Verhalten ihres neuen Freundes mehr als nur etwas verwirrt. „Stimmt irgendetwas nicht?"

Gimli bemühte sich sichtlich, wenn auch nur mit halbem Erfolg, wieder seine Fassung zurück zu gewinnen. „Nein, Nein, alles in bester Ordnung." Er wischte sich die letzten Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Alles in bester Ordnung", wiederholte er grinsend, mehr zu sich selbst sprechend, denn zu Ravena oder ihrem Bruder. Doch plötzlich kam Gimli ein anderer Gedanke in den Sinn.

„Aber sagtest du nicht einmal, all deine Brüder seien verschollen?"

Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Mittlerweile wusste sie über das Verbleiben von drei der fünf bescheid. Zwei waren tot, einer war am leben. Eindeutig nicht in der Stimmung dazu das plötzliche Auftauchen ihres Bruders zu erklären, mahnte sie in resolutem Ton zum Aufbruch.

„Das ist eine längere Geschichte. Ich werde sie erzählen, sobald ich Legolas gesehen habe. Und nun lass uns endlich gehen."

„Willst du, dass ich mitkomme?" Ravenas Bruder klang besorgt. „Ich will nicht, dass dir des Nachts auf dem Heimweg etwas zustößt."

„Seid unbesorgt, ich werde persönlich dafür Sorge tragen, dass ihr nichts geschieht." Unbewusst baute Gimli sich zu seiner gesamten Größe auf, sein Versprechen durch seine Körpersprache unterstützend.

„In Ordnung, dann vertraue ich euch meine Schwester an, Herr Zwerg." Vilem hatte genug Zwerge kämpfen gesehen, um zu wissen, dass sie wesentlich gefährlicher sein konnten, als mancher Mensch der sich Krieger nannte, und war der festen Überzeugung, diesem hier trauen zu können. Ravena stieß indes einen unwilligen Seufzer aus.

„Vilem, fang jetzt nicht auch noch so an wie Siägä! Ein überbesorgter Beschützer reicht voll und ganz." Der junge Mann quittierte das empörte Schnauben seiner Schwester mit einem amüsierten Lachen. Sie hatte ihm von der Bruderrolle erzählt, die Siägä für Ravena übernommen hatte. Etwas, wofür er mehr als nur dankbar war – war es doch beruhigend zu wissen, dass sich seine Schwester nicht gänzlich ohne eine schützende Familie durchs Leben hatte schlagen müssen.

„Und nun lass uns gehen, Gimli." Nachdem sie ihrem Bruder einen letzten Kuss auf die Wange gegeben hatte, war sie auch schon mit dem Zwerg im Dunkel der Nach entschwunden. Mit einem Seufzer schloss Vilem wieder die Tür hinter sich. Da ging sie hin zu ihrem Geliebten. Es schien, als würde seine kleine Schwester tatsächlich erwachsen sein. So viele Jahre waren ins Land gezogen bevor es ihm vergönnt gewesen war, sie wieder zu sehen. Und obwohl er sich darüber über alle Maßen freute, stimmte es ihn traurig, soviel von ihrem Leben verpasst zu haben. Nun, dann würde er eben Siägä ausfragen müssen. Grinsend machte er sich auf die Suche nach dem Jungen.

*~*~*