Disclaimer: siehe Kapitel 1

Kapitel 17

‚Ein Rückblick der etwas anderen Art'

*~*~*ca. 14 Jahre zuvor in Ithilien*~*~*

„Mensch Vilem, musst du denn immer deine dumme Schwester mitbringen? Sie ist ein Mädchen!" Malachi legte so viel Verachtung in das Wort ‚Mädchen' wie ein zehnjähriger Junge es nur aufzubringen vermochte – und das war eine ganze Menge. „Wahrscheinlich will sie sogar noch mitspielen!"  Den letzten Satz spie er beinahe, so entrüstet war er.

„Ach was, so schlimm ist Ravena doch gar nicht. Außerdem hätte meine Mutter mich nicht aus dem Haus gelassen, wenn sie nicht mitgekommen wäre." Eigentlich mochte Vilem seine kleine Schwester sehr gerne, doch verständlicherweise würde er das vor seinen Freunden nur schwerlich zugeben können. So beschränkte er sich denn auf Schadenbegrenzung.

„Hey, ich bin nicht dumm, du Blödian!" Das kleine Mädchen an Vilems Hand bedachte Malachi mit bösen Blicken. Sie war ihrem Bruder nahezu aus dem Gesicht geschnitten. Das rote Haar floss ihr in ungezähmten Wellen über den Rücken, ihr Haupt im Angesicht des Sonnenaufgangs kupfern erstrahlen lassend. Unzählige winzige Sommersprossen ergossen sich über ihr gesamtes Gesicht, verliehen ihr etwas spitzbübisches. Fast hätte man meinen können, sie sei einmal durch den Strahl einer Gießkanne gelaufen, die zuvor mit brauner Farbe angefüllt worden war. Zwei Augen, so blau wie ein ungetrübtes Himmelszelt, ließen ihr Antlitz hell erleuchten und betrachteten wach die Welt um sich herum.

„Nein, nur ein nerviger, kleiner Waschbär." Malachi seufzte so schwer, als wäre er gezwungen alle Weltenlast auf seinem Rücken zu tragen. „Dann kommt, die anderen warten bestimmt schon." Schnellen Schrittes ließen die beiden Jungen das Dorf hinter sich und folgten eine Weile lang der staubigen Straße. Sie verlief neben einem emsig plätschernden Bach, der den Kindern des Dorfes schon an manch einem sonnigen Tag Abkühlung gewährt hatte. Das Mädchen bemühte sich eifrig mit den beiden Schritt zu halten, doch ihr aufmerksamer Blick wurde immer wieder von den Wundern des neuen Tages abgelenkt.

Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich weite Wiesen, Blumen in unzähligen Farben und Formen beherbergend. Erst am Horizont erhob sich der große Wald, erhaben wie eh und je. Manche seiner Geräusche drangen sogar bis zu Ravenas feinen Ohren vor. Die Luft war geschwängert vom Zwitschern aller möglichen Vögel, sowie dem einstimmigen Summen der Grillen. Gefesselt lauschte das Mädchen diesem wahrlich abwechslungsreichen Konzert der Natur.

„Ravena, wo bleibst du denn? Nun komm schon!" Ungeduldig rief Vilem ihr nach. Seine Schwester war bereits ein ganzes Stück hinter ihnen zurück geblieben. Der Ruf seines Freundes veranlasste auch Malachi nach Ravena zu sehen. Unwillkürlich stieß er ein weiteres Mal einen geplagten Seufzer aus.

„Guck mal Vilem, die ganzen schönen Blumen." Ravena stand inmitten der riesigen Wiese. Das hohe Gras umwogte sie, umschmeichelte ihren kindlichen Körper wie die sanften Wellen des fernen Meeres. Triumphierend ihren erbeuteten Blumenstrauß in die Höhe haltend, winkte sie ihnen zu. Ihre Augen leuchteten heller, als das strahlende Sonnenlicht, das sich tanzend an den goldenen Dächern Wyns brach.  

„Unfassbar! Jetzt pflückt die auch noch Blumen!" Malachi wurde sichtlich ungehalten. „Wegen der werden wir noch zu spät kommen." Doch Vilem lachte nur. Er wusste genau, was es bedurfte, um seine Schwester zu ködern.

„Jetzt komm schon Ravena, du willst doch auch all die vielen Pferde sehen, oder?", lockte er sie in verschwörerischem Tonfall. In der Tat verfehlte die Frage ihre Wirkung nicht. Schneller noch wie der Wind sah man Ravenas roten Schopf durch das hohe Gras huschen. Als sie schließlich ihren Bruder erreichte war sich sichtlich außer Atem.

„Werden denn viele Hottehüs da sein?" Aus großen Augen schaute sie Vilem an. Ravena an einem weiteren Ausbüxen hindernd, ergriff er sogleich ihre Hand. In der anderen trug das Mädchen den bunten Strauß, den sie sich zuvor zusammen gepflückt hatte. Stolz hielt sie ihn immer wieder gegen das Licht, betrachtete die vielen Farben im Schein der Sonne. Wie schön sie doch leuchteten.

„So viele, dass du sie nicht einmal alle zählen kannst." Amüsiert beobachtete er, wie seine Schwester ungläubig die Augen aufriss und ihn mit offenem Mund anstarrte.

„Ich kann aber schon bis hundert zählen", erwiderte sie sichtlich skeptisch. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig, neunzig, hundert." Beinahe überschlugen sich die Worte in ihrem Mund, so schnell stieß Ravena sie hervor.

„Dann werden wohl hundert Pferde kommen.", lachte Vilem. Er brachte es nicht recht übers Herz dem Eifer seiner Schwester einen Dämpfer beizubringen – sollten seine Eltern ihr das rechte Zählen beibringen.

„Hundert Pferde?" Ravenas Stimme klang fast schon ehrfürchtig.

„Bei allen Valar, Vilem, wie hältst du das bloß aus?" Im Angesicht solch kindlicher Unkenntnis konnte Malachi nur schwerlich an sich halten. „Die ist ja fast noch schlimmer als meine eigene Schwester."

„Pah" Wie immer war Ravena um eine Antwort nicht verlegen. Während sich ihre Stirn zu einem wahren Gewitter aus Zornesfalten zusammenbraute, bedachte sie Malachi mit bitterbösen Blicken. „Wie hält DIE es bloß mit DIR aus, du Mondkalb, du Blödian." Sichtlich erregt suchte sie nach weiteren passenden Beleidigungen. Erst ihrem Bruder wollte es gelingen, sie wieder zu Besänftigen.

„Psst, Kleines." Er ließ für einen Moment von ihrer Hand ab, um ihr beruhigend durchs Haar zu streichen. „Malachi meint das doch gar nicht so. Er macht nur Spaß." Über Ravenas Kopf hinweg zwinkerte er seinem Freund zu, bedeutete ihm mit flehendem Blick auf sein kleines Spiel einzugehen. Seufzend gab der sich schließlich geschlagen. Wenn er Ravena auch nicht leiden mochte, so war Vilem doch sein bester Freund.

„Ja, Kleines, ich hab nur Spaß gemacht." Malachis Stimme klang zuckersüß, fast schon hämisch. Zu zuckersüß für Ravenas Geschmack, doch für den Moment war sie durchaus in der Stimmung darüber hinwegzusehen. Näher an eine Entschuldigung würde sich der Junge wahrscheinlich sowieso niemals heranwagen.

Statt dessen konzentrierte sie sich wieder auf den Weg. Sie gab sie sich alle Mühe ihre kleinen Füße der raschen Gangart Vilems anzupassen. Doch für jeden Schritt, den die beiden Jungen zurücklegten, musste Ravena zwei tun, sodass sie schon bald ins Straucheln geriet. 

„Hoppla" In letzter Sekunde gelang es Vilem das Mädchen zu fassen und somit einem schmerzhaften Sturz vorzubeugen. „Vielleicht sollten wir etwas langsamer gehen." Aufmunternd lächelte er ihr zu, aber davon wollte Ravena nun nichts mehr hören. Eben hatten sie eine sachte Anhöhe erklommen, von der aus sie endlich ihr Ziel ausmachen konnten: Den Wyner Pferdemarkt.

An diesem ganz besonderen Tag hatte das tanzende Volk die große Festwiese den edlen Tieren überlassen. Sie war etwas außerhalb des Dorfes gelegen und schmiegte sich eng an den sanft ansteigenden Hügel. Für den Moment, freilich, war der Anger geprägt vom Schnauben und Wiehern etlicher Pferde, die sich allerorts auf der Wiese tummelten.

Aufgeregt riss sich das Mädchen von ihrem Bruder los, nur um ihm anschließend lachend voraus zu laufen.

„Nein, ich will die Hottehüs sehen!" Ihr froher Ruf hallte über die Flur.

„Mädchen!", Malachi warf seinem Freund einen bedeutungsvollen Blick zu, „Die wird uns heute noch eine Menge Probleme bereiten."

*~*~*

„Was guckt ihr denn da? Was guckt ihr da?" Auf allen Vieren kroch auch Ravena unter den Planwagen, immer den Freunden ihres Bruders hinterher. Bei ihrer Ankunft waren die drei bereits erwartet worden. Sichtlich aufgeregt hatten die Jungen des Dorfes Vilem und Malachi von seltsamen Gestalten berichtet, die auf dem Markt ihr Unwesen trieben, alles und jeden in Angst und Schrecken versetzend.

So gingen sie denn einer nach dem anderen hinter den mächtigen Rädern des Fahrzeuges in Position, ja, versteckten sich regelrecht. Merklich erregt rieb sich das Mädchen die Hände. Sie hatte nicht alles verstehen können, was die Jungen so schnatternd erzählten, doch augenscheinlich galt es ein neues Abenteuer zu bestehen.

Ravena konnte sich an den unzähligen Pferden und dem bunten Treiben einfach nicht satt sehen. Bereits den gesamten Vormittag lief sie begeistert von Tier zu Tier, sich jedes noch so kleine Detail anschauend. Alles war so schön, so aufregend. Überall gab es Neues zu entdecken, Neues zu erforschen. Vilem hatte alle Mühe, seine Schwester nicht aus den Augen zu verlieren. Es genügte schon ein einziges Pferd, um Ravena ganz aus dem Häuschen bringen zu lassen.

Und auch auf der anderen Seite dieses Wagens schien nun ein Abenteuer zu lauern. Ein Abenteuer, an dem die Jungen sie einmal mehr nicht teilhaben lassen wollten. Aber sie wäre nicht Ravena, würde sie sich von deren Meinung aus der Ruhe bringen lassen.

„Pssst", ungestüm fuhr Malachi sie an, „Kannst du nicht einmal dein vorlautes Mundwerk halten? Du versaust uns noch den ganzen Plan."

„Halt doch selbst dein Mundwerk." Malachi geflissentlich ignorierend, versuchte sie nun ihrerseits einen Blick unter dem Wagen hindurch zu werfen. Doch so weit sie ihren Hals auch reckte und streckte – die Jungen blockierten ihr Sichtfeld. „Sag mir lieber, was es da so zu schauen gibt." Amüsiert lächelte Vilem in sich hinein. Malachi galt als ihr unbestrittener Anführer und seine Schwester war wohl die einzige, die es wagte, ihn derart offen in Frage zu stellen. Aber schließlich war sie auch erst fünf Sommer alt.

„Komm her, Ravena." Vilem flüsterte nur mehr, bedeutete ihr durch bloße Gesten, zu ihm zu kriechen. Als sie seiner Aufforderung endlich entgegen kam, rückte er ein Stück zur Seite, bereitete auch seiner aufgeregten Schwester einen Platz. „Aber sei leise, Kleines." Zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, hielt sie sich selbst eine Hand vor den Mund – gerade so, als schriebe sie den Worten, die ihre Kehle verließen, ein Eigenleben zu, als müsse sie verhindern, dass sie ihr entflohen. Intuitiv schmiegte sie sich näher an ihren großen Bruder, wissend, dass sie bei ihm sicher war, dass er immer auf sie aufpassen würde.

Zum allgemeinen Unverständnis der Jungen schien Vilem nichts dagegen zu haben, ständig auf Ravena aufpassen zu müssen. Ganz im Gegenteil, es sah sogar so aus, als mochte er sie sehr gerne. Aber das war schließlich unmöglich, geradezu eine Ungeheuerlichkeit – oder vielleicht doch nicht? Schlussendlich hatte man sich daran gewöhnt, Vilem kaum noch ohne seine Schwester anzutreffen. Sie war von dem ruhigen Jungen mit den roten Haaren einfach nicht mehr wegzudenken. 

Vilem schenkte seiner Schwester ein warmes Lächeln und deutete auf eine bestimmte Stelle jenseits des Wagens. „Schau genau hin." Er flüsterte die Worte in ihr Ohr, kitzelte Ravena mit bloßen Worten, sodass sie ein leises Kichern nicht mehr unterdrücken konnte. Lachend rieb sie sich das Ohr.

„Hör auf, du kitzelst mich!"

„Psst." Die Aufforderung ertönte von allen Seiten. Erschrocken schlug sich das Mädchen ein weiteres mal die Hand vor den Mund, eine aufkeimende Schamesröte nicht verbergen könnend. Wenn sie so weiter machte, würden die Jungen sie erst recht nicht mehr dabei haben wollen. Sich heimlich Besserung gelobend, wandte sie ihren Blick schließlich der Stelle zu, die Vilem ihr zuvor gezeigt hatte.

Zunächst vermochte sie nichts besonderes auszumachen. Ganz im Gegenteil – die unzähligen Beine, die geschäftig an ihnen vorbeieilten, zeugten davon, dass jenseits ihres Wagens alles seinen gewohnten Gang nahm. Ravena sah große Schuhe, kleine Schuhe, Kinderschuhe und Schuhe von Erwachsenen. Sie sah Schuhe von Frauen, von Mädchen, von Männern und von Jungen. Da gingen neue Schuhe, staubige Schuhe und Schuhe, die man als solche kaum noch  zu erkennen vermochte. Ab und an sah man sogar die kräftigen Beine eines Pferdes vorbeistolzieren. Doch so sehr sie sich auch anstrengte – etwas ungewöhnliches wollte ihr dabei nicht auffallen. 

Dann aber fiel ihr Blick auf ein Paar Schuhe, das sie so in seiner Art noch nie gesehen hatte. Es handelte sich um leichtes Schuhwerk, das den gesamten Fuß bedeckte und kurz über dem Knöchel endete. Auch wenn ihr das braunfarbene Leder nicht unbekannt war, so wunderte sie sich doch über den fremden Schnitt und die scheinbare Undurchlässigkeit des Stoffes. Obwohl der Besitzer dieser Schuhe in einer schwindenden Pfütze stand, schien ihm dieser Umstand nicht das geringste auszumachen. Neugierig ließ sie sich ganz zu Boden gleiten, ihr eingeschränktes Sichtfeld auf diese Weise vergrößernd.

Der Träger der Schuhe stand keine fünf Schritte von dem Wagen entfernt. Obwohl er ihnen den Rücken zukehrte, schloss Ravena aus dessen breiten Schultern, dass es sich um einen Mann handeln musste – wenn es auch ein Sonderling zu sein schien. Sein Haar war wesentlich länger als das jeden Mannes in ihrem Dorf. In einer Flut aus gewobenem Gold floss es seinen Rücken hinab. Fast reichte es bis hin zum Gesäß. Sein Waldgrüner Umhang entbehrte jeglichen Prunks. Erst bei näherem Hinsehen gelang es dem Mädchen feinste Verziehrungen auszumachen, die sich farblich allerdings kaum vom Mantel abhoben. Dennoch erschienen sie Ravena sehr kunstvoll.

„Was...?!" Seine Hand fest auf ihren Mund gepresst, erstickte Vilem die Frage seiner Schwester gerade noch im Keim.

„Passt. Warte etwas." Unverzüglich entspannte Ravena sich wieder, sich innerlich selbst scheltend. Dass sie aber auch immer so ein geschwätziges Plappermaul sein musste. Beinahe seufzte sie laut auf. Dieser merkwürdige Mann war aber auch zu interessant. Woher er wohl kommen mochte? Dass er nicht aus Wyn oder seiner Umgebung stammen konnte war unverkennbar. Ob er vielleicht aus Rohan war? Sie meinte sich erinnern zu können, dass ihr Vater ihr einst eine Geschichte von den wilden Männern aus dem Pferdeland erzählt hatte. Männer, die ihre Haare wild vom Kopf wachsen ließen. Sie wusste sich nicht recht zu helfen. Der hier sah auf jeden Fall nicht besonders wild aus. Wenn er sich doch nur endlich einmal umdrehen würde!

Als hätte er ihr stummes Flehen tatsächlich erhört, schaute die Gestalt plötzlich zur Seite, den Kindern ihr Profil offenbar werden lassend. Unwillkürlich hielt Ravena sich den Mund zu, ihr Plappermaul daran hindernd, sich ein weiteres mal selbstständig zu machen. Instinktiv wusste sie, dass sie niemals zuvor ein schöneres Wesen erblickt hatte. Dabei waren es nicht die nachtblauen Augen, war es nicht das makellose Antlitz, nicht einmal dieses goldene Haar, das sie so sehr in ihren Bann zog. Nein, für solche Oberflächlichkeiten fand ein Kind, das fähig war, mit dem Herzen zu sehen, nur schwerlich Verwendung.

Von diesem Wesen schien vielmehr eine unbestimmte Magie auszugehen, eine Anziehungskraft, der man sich kaum widersetzen konnte. Eine Magie, die es vermochte, sie einen schwarzen Ozean hinab zu reißen und gleichzeitig in unerwartete Höhen zu katapultieren. Ob er vielleicht ein Zauberer war? Fast schien es ihr, als habe er sie mit seiner bloßen Erscheinung verhext.

„Achtung, er schaut her." Der schrille Kinderschrei durchfuhr ihre andächtige Stille gleich einem messerscharfen Säbel. „Schnell weg." Noch bevor es ihr vergönnt war des Wesens Antlitz gänzlich zu betrachten, spürte sie, wie ihr Bruder sie mit sich zerrte.

„Mensch, Vielem, lass mich los." Sie wollte widersprechen, wollte dieser Gestalt auch weiterhin nahe sein, doch sooft der Junge ihren Wünschen auch nachgab – dieses Mal ließ er keine Widerworte zu. So schnell sie es vermochten, waren die Kinder im Getümmel der Tiere und Menschen verschwunden, sich ein sicheres Versteck vor der Rache dieses Zauberwesens suchend.

*~*~*

Amüsiert beobachtete Legolas die kopflose Flucht seiner kindlichen Verfolger, brachte durch ein einziges Lächeln die Menschen um ihn herum dazu stehen zu bleiben, diesem Schauspiel beizuwohnen, als beobachteten sie das Erwachen einer flammenden Sonne. Er schüttelte den Kopf. Allem Anschein nach waren diese Kinder wohl noch nicht sehr häufig einem Elb über den Weg gelaufen. Wenn doch nur alle seine Verfolger so leicht in die Flucht zu schlagen wären. Dabei hatte er ausgerechnet mit diesen gar nichts Böses im Sinn gehabt. Lediglich fragen ob er ihnen helfen konnte, hatte er gewollt. Schließlich war es ihm nicht entgangen, dass sie bereits den gesamten Morgen seiner Fährte folgten, stets den richtigen Moment abpassend, ihn zu beobachten. Wieder musste er lächeln. Wahrscheinlich waren sie nur neugierig, begierig noch Unbekanntes zu erforschen. War er denn anders gewesen?

„Ist alles in Ordnung, mein Sohn?" Legolas spürte eine beruhigende Hand auf seiner Schulter. Aus einem nahen Zelt war ein weiteres dieser anmutigen Wesen geschritten, diesem hier beinahe aufs Haar gleichend. Auch wenn die Umstehenden es nicht vermochten ihrem Wortwechsel zu folgen – schließlich wurde er in einer ihnen fremden Sprache geführt – so war man doch einhellig der Meinung, dass es sich hier um Brüder handelte, ja, dass es gar keine andere Erklärung für diese Ähnlichkeit geben konnte.

„Ja, Adar." Legolas schenkte dem Neuankömmling ein warmes Lächeln, „Die Kinder waren wieder einmal auf meinen Fersen." Hätten die Menschen gewusst, dass es sich bei den vermeintlichen Brüdern um Vater und Sohn handelte, sie wären wohl bis auf die Grundfesten ihrer Herzen erschüttert worden, hätten eine Welt nicht mehr verstanden, in der Väter plötzlich keinen Deut älter erschienen, als ihre Nachkommen.

Auf diese Antwort vermochte sich nun auch der ältere Elb ein wohlklingendes Lachen nicht zu verkneifen. Plötzlich ward es den Menschen, als spiele der Wind ein leises Lied, als wolle er die Schönheit dieses Lachens durch das sanfte Rauschen der Wiesen und Felder noch untermalen.

„Das erinnert mich an ein kleines Elbenkind, das auch ständig und überall seine Nase hinein stecken musste. Ob es nun zu seinem Besten war oder nicht." 

„In der Tat?" Verschmitzt zog Legolas seine linke Augenbraue in die Höhe, diese, für seinen Vater so typische Geste, gekonnt nachahmend. „Ich habe nicht einmal die entfernteste Ahnung, wen du damit meinen könntest."

„Wahrlich nicht?" Den Blick in die Vergangenheit richtend, mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen, erinnerte er sich: „Iarbeleth und du, ihr beide habt manch ein gemeinsames Abenteuer bestritten."

Verblüfft schaute der Königssohn auf. „Mein alter Stoffbär?" Nun musste auch Legolas herzlich lachen. „Ich frage mich was aus ihm geworden ist. Er muss schon weit über 2000 Jahre alt sein."

„Ich kann dir versichern, mein Sohn, er ist noch am Leben. Wenn das Alter auch nach wie vor an ihm zehrt."

Legolas bedachte seinen Vater mit einem überraschten Blick. „Du hast ihn wirklich aufbewahrt?" Ehrliche Rührung ergriff ihn, hier, inmitten einer Menge von lärmenden Menschen, inmitten eines Pferdemarktes. War es nicht seltsam an welch gewöhnlichen Orten man sich plötzlich seines Glückes bewusst wurde? Thranduil, sein König, war ihm stets ein liebender Vater gewesen, hatte sich unentwegt darum bemüht, ihn das Fehlen einer Mutter, einer sanften Hand, nicht spüren zu lassen und er, Legolas, hatte es ihm mehr als einmal gedankt. Nirgendwo, in niemandes Obhut, hätte er eine schönere Kindheit verleben können, als bei ihm.

„Nun, das war ich ihm schuldig. Schließlich war er dir über lange Jahre hinweg ein treuer Freund gewesen." Jäh spürte der Elbenkönig, wie eine plötzliche Wehmut ihn ergriff, wie längst vergessen geglaubte Reue zurückkehrte, ihre kalte Klaue nach ihm ausstreckte. Reue wegen all den vielen Stunden, in denen er seinen Pflichten hatte nachgehen müssen, in denen er gezwungen war, seinen Sohn in den Armen einer Amme zurückzulassen. „Leider war es mir nie möglich gewesen, die Zeit für dich zu haben, die du verdient hattest. Das tut mir leid, Legolas." Seit dem Verlust seiner Frau hatte in manch einer Nacht kein erlösender Schlaf über ihn kommen wollen, seinen Grübeleien, seinem schlechten Gewissen ein Ende zu bereiten. War er bei all seinen Pflichten seinem Sohn ein guter Vater gewesen?

So suchte er denn den Blick seines Sohnes, forschte in dessen Augen nach versteckten Vorwürfen, nach leisen Anklagen. Doch alles, was er fand, war die aufrichtige Liebe eines Sohnes zu seinem Vater. Unendliche Erleichterung durchflutete ihn, als er plötzlich Legolas' Hand auf seiner Schulter spürte.

„Adar, du warst mir der beste Vater, den ich mir jemals hätte erträumen können. Du warst immer für mich da. Du bist wahrlich der letzte, der sich mit solchen Gedanken herumschlagen sollte." Plötzlich gewann sein Lächeln etwas Verschmitztes, etwas spitzbübisches. „Und schau was aus mir geworden ist: ein ansehnlicher Elb. Naneth  wäre stolz auf dich."

„Sie wäre stolz auf dich, Sohn – so wie ich." Sein anerkennender Blick schweifte über Legolas. Er hatte wahrhaftig ein vortreffliches Kind. Seine äußere Schönheit schien nur ein lächerliches Abbild seiner inneren Anmut zu sein. Sein Großmut, seine Selbstlosigkeit, seine Treue, all das verlieh ihm eine Ausstrahlung, die man nicht allein durch bloße Schönheit zu erklären vermochte. „Und nun lass uns die Packpferde für den Heimweg suchen. In Zeiten wie diesen überantworte ich mein Reich nur ungern länger als unbedingt nötig der Obhut anderer."

Legolas nickte, den Ernst der Lage durchaus erkennend. Schon seit unzähligen Jahrhunderten war ihr Großer Grünwald im Würgegriff des Schattens, war ihr Volk gezwungen jeden Tag aufs neue um seine Heimat zu kämpfen. Unermüdlich das böse Getier vernichtend, taten sie stets ihr bestes und füllten dabei doch nur ein Fass ohne Boden. Wichtige Geschäfte, Handelsbeziehungen, hatten Thranduil für kurze Zeit von seinem Volk trennen können, ihm eine kurze Erholung ermöglicht, doch nun war es an der Zeit wieder nach Hause aufzubrechen und den Kampf neu aufzunehmen.

„Dann komm, ich hab bereits einige schöne Tiere gesehen." Gemeinsam verschwanden sie in der Menge.

*~*~*

 „Puh, das war knapp." Wie um seine Aussage zu bekräftigen wischte sich Malachi den Schweiß von der Stirn. „Habt ihr gesehen? Fast hätte er uns erblickt." Nachdem sie sich eine Weile durch die Menge geschlichen hatten, waren die Kinder des Dorfes nun ein wenig Abseits des Geschehens zur Ruhe gekommen.

„Oh man, ich will nicht wissen, was der mit uns angestellt hätte." Otkar, ein untersetzter, aber nichts desto weniger quirliger Junge, stimmte Malachi schweratmend zu. „Mein Vater hat erzählt, dass Elben bei Nacht und Nebel Menschenkinder entführen, um sie dann für sich arbeiten zu lassen." Plötzlich horchte Ravena auf. Hatte Otkar gerade Elb gesagt? Aufgeregt zupfte sie an Vilems Wams, forderte, auf zehenspitzen stehend, seine ungeteilte Aufmerksamkeit ein.

„Vilem, Vilem, war das ein Elb gewesen?" Sie schaute ihn aus großen Augen an. „Ein echter?"

„Ein waschechter Elb, Kleines. Hast du denn seine Ohren nicht gesehen?" Beruhigend strich er ihr durchs seidene Haar, vermittelte ihr durch die ruhige Hand Geborgenheit. Des Elben strahlende Erscheinung war so einnehmend gewesen, dass ihr die blattförmig geschwungenen Ohren wohl entgangen sein mussten. Doch wenn ihr Bruder sagte, es sei ein Elb gewesen, einer vom Schönen Volk, dann glaubte sie ihm.

„Oh, ein richtiger Elb. Wie in den Geschichten von Papa? Wieso waren wir nicht da geblieben, Vilem? Wieso nicht?" Unaufhörlich löcherte sie ihren Bruder, verlangte sie Antworten auf ihre Flut an Fragen. Ein richtiger Elb! Niemals konnte sie genug bekommen von den Geschichten ihres Vaters. So gut wie kein anderer verstand er es aufregende Sagen zu erzählen, das Mädchen ein Teil längst vergangener Tage werden zu lassen. Tage, als das Schöne Volk am Zenit seiner Macht stand und den Zweitgeborenen nur eine unbedeutende Rolle zugedacht war.

„Wieso wir nicht dageblieben sind, du Waschbär?" Ungestüm fuhr Malachi sie an. „Hast du nicht gehört, was Otkar gerade gesagt hat? Jedes Kind weiß doch, dass Elben Kinder entführen."

Plötzlich konnte Ravena nicht mehr an sich halten. Wütend riss sie sich von ihrem Bruder los und verpasste Malachi einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein. „Das ist ja gar nicht wahr. Mein Papa sagt, dass Elben lieb sind." Sie warf Vilem einen flehenden Blick zu. „Vilem, sag es ihnen! sag es!"

„Du kleine Nervensäge.", knirschte Malachi zwischen zusammengebissenen Zähnen, sich das schmerzende Bein haltend. Wäre sie kein Mädchen – spätestens jetzt hätte er sie windelweich geprügelt. „Was weiß denn dein Papa schon von Elben!"

„Und was weiß Otkars Papa von Elben?" Empört schrie sie zurück. Wie konnte Malachi es nur wagen, ihren Vater dermaßen zu beleidigen? Schließlich gab es keinen klügeren Mann als ihn! Da hatte die Fünfjährige nun, zugegebenermaßen, den schwachen Punkt in Malachis Argumentation entdeckt. Als einfacher Bauer war Otkars Vater niemals über die Grenzen Wyns herausgekommen, hatte somit auch noch auf keinen vom Schönen Volk treffen können. Einzig und allein das Geschwätz der Menschen vermochte er als Quelle zu nennen.

„Shht, Ravena." Wieder einmal war es Vilem, der seine Schwester beruhigte. Lächelnd ging er in die Knie, begab sich auf ihre Höhe. „Ich glaube nicht, dass Elben Kinder entführen. Ich bin mir sicher Otkars Vater muss da etwas falsch verstanden haben." Darauf bedacht seinen Freund nicht bloß zustellen, wählte er seine Worte mit Umsicht. Doch noch bevor Ravena in lautes Triumphgeschrei ausbrechen konnte, bedeutete er ihr, zu schweigen. „Aber wir wissen auch nicht, ob sie so...", Ravena ein warmes Lächeln schenkend, benutzte er ihre eigenen Worte, „so lieb sind, wie in den Geschichten. Am besten wird sein, wir lassen sie in Ruhe. Meinst du nicht auch?" Liebevoll streichelte er ihre Wange, versuchte, ihr ein wenig Trost zu spenden.

Zu seiner Erleichterung nickte Ravena. Sie schien zu grübeln, gedankenverloren über die Worte ihres Bruders nachzusinnen. Das Mädchen mochte nicht recht glauben, dass dieser Mann mit dem goldenen Haar gefährlich war. Vilem strich ihr ein letztes Mal durchs Haar, bevor er sich wieder aufrichtete. Sie war noch so klein, so schutzlos. Er würde sie beschützen müssen.

„Na, wenn das dann endlich geklärt wäre, können wir ja spielen. Die Gruppen sind wie immer. Vasco hat einen Ball mitgebracht." Plötzlich schien der Elb aus allen Gedächtnissen gestrichen zu sein, für ihre kleine Welt nicht mehr existent. Sie hatten ihr Abenteuer gehabt und überlebt, nun galt es nach vorne zu schauen. Auf Malachis Zeichen hin, packte der stolze Junge das heiß begehrte Spielzeug aus. Langsam, damit auch jedermann begriff, dass nur er im Besitz dieser Kostbarkeit war. Seine Mutter hatte ihm diesen Ball aus altem Leder genäht und anschließend mit Stroh ausgestopft. Was hatte er sich über dieses Geschenk gefreut! Seine Eltern waren nicht sehr reich, doch sie hätten ihm keine größere Freude bereiten können – nicht zuletzt deswegen, weil Vasco in der Rangordnung ihrer Bande nun um einiges gestiegen war.

„Ich will auch mitspielen!" Beide Hände empört in die Hüften gestemmt, forderte Ravena ihr gutes Recht ein. An den Elb schien auch sie keinen Gedanken mehr zu verschwenden.

„Du kannst das nicht! Du bist ein Mädchen! Geh doch zu deinen Hottehüs." Verächtlich wies Malachi ihr den Weg zu den Tieren. Ravena hingegen stampfte wütend mit dem Fuß auf, sodass ihre Haare nur so wippten.

„Das kann ich jawohl!" Unbeirrbar erwiderte sie Malachis Blick. Starrköpfig wie eh und je, war sie keineswegs gewillt nachzugeben. Das schien auch der Junge zu spüren. Konfrontiert mit der Unbeugsamkeit des Mädchens sah er schließlich keine andere Möglichkeit, als ihr nachzugeben. Einen resignierenden Seufzer ausstoßend, stimmte er zu.

„Na gut, aber du bist in Vilems Mannschaft und wir fangen an." Urplötzlich änderte sich die Miene Ravenas von einer wutverzerrten Maske, in ein Bild purer Freunde. Eigentlich war Malachi gar nicht so schlimm, wie er immer tat.

„Oh danke, danke." Vergnügt fiel sie dem Jungen um den Hals und platzierte einen feuchten Kuss auf seiner Wange.

„Ist ja schon gut." Seine Verlegenheit übertünchend, rieb er sich die Wange. Ein fruchtloser Versuch Ravenas stürmische Dankesbekundungen wegzuwischen, als wären sie nichts weiter als lästiger Schmutz. Kichernd stellte sich das Mädchen zur Mannschaft ihres Bruders, zwinkerte ihm vergnügt zu. Wieder einmal konnte Vilem nur staunen. Seine Schwester fand doch immer wieder Möglichkeiten und Wege genau das zu bekommen, was sie wollte.

„Das hast du gut gemacht, Ravena." Er schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln.

„Wir spielen Abwerfen.", bestimmte Malachi, „Jeder, der getroffen ist, muss sich hinhocken. Die Mannschaft, die zuerst alle Leute verloren hat, hat auch das Spiel verloren. Alles verstanden?" Zustimmendes Gemurmel  ertönte. Als das Spiel begann, stand die Sonne bereits an ihrem höchsten Punkt. Mit unverhohlener Zurschaustellung ihrer Kraft, zwang sie selbst die stärksten Menschen in die Knie, nötigte sie zur Rast. Einzig und allein den Kindern schien sie nichts anhaben zu können. Vor Energie nur so strotzend, bolzten sie fröhlich jauchzend um den Ball.

Beide Mannschaften bestanden aus je sechs Spielern, die sich keinen Vorteil schenkten. Auch Ravena mischte mit, sich von den großen Burschen nicht im geringsten einschüchtern lassend. Mit der nötigen Schnelligkeit und Gewandtheit gelang es ihr sogar den ein oder anderen Gegner abzuwerfen.

„Ravena, hier." Vilem warf seiner Schwester einen gut gezielten Pass zu. Erfreut fing sie den Ball auf. Das war ihre Chance den anderen zu zeigen, was sie konnte. Sie würde beweisen, dass sie nicht nur ein blödes Mädchen war. Als dann plötzlich Malachi ihr Blickfeld kreuzte, nahm sie es als ein Zeichen der Valar. Mit aller Kraft holte sie aus und zielte auf den Jungen, sicher, dass der Ball sein Ziel finden würde. Ein Ziel fand er in der tat – nur das Opfer war ein anderes.

Nachdem Malachi aus der Flugbahn des Balles gesprungen war, flog das Spielzeug mit unverminderter Kraft weiter – und direkt auf einen Elb zu, auf ihren Elb. Mit Schrecken beobachtete sie, wie der Ball schließlich seinen Rücken traf.

„Der Waschbär hat den Elb abgeworfen, lauft!" Malachis Schrei riss sie aus ihrer Starre. Einer nach dem anderen beeilten sie sich den Schutz des nahen Dickichts aufzusuchen.

„Komm Ravena!" Noch bevor sie recht wusste, wie ihr geschah, hatte Vilem sie ein weiteres Mal an diesem Tag gepackt, um sie vor den Klauen eines kinderentführenden Elbs in Sicherheit bringen zu können.

*~*~*

„Das ist alles deine Schuld, du dämlicher Waschbär." Immer erregter werdend, tigerte Malachi auf und ab, fuchtelte unwirsch mit seinen Händen herum. Nur ab und an blieb er stehen, Ravena wildeste Vorhaltungen machend. „Ich wusste, sie würde uns Schwierigkeiten machen. Ich hab es ja gesagt!" Unwillkürlich kam dem Mädchen das Bild eines eingesperrten Tieres in den Sinn, das verzweifelt einen Ausweg aus seinem Gefängnis suchte. Beinahe empfand sie Mitleid für Malachi.

„Sie hat es doch nicht absichtlich gemacht. Das hätte jedem von uns passieren können und das weißt du." Vilems Worte klangen scharf, ließen Malachi für einen Moment inne halten in seiner Tirade. Seine Schwester mochte ein Händchen haben, um in Situationen wie diese zu geraten, doch dies war bestimmt nicht ihre Schuld gewesen.

„Aber was ist mit meinem Ball? Der ist jetzt bei dem Elb. Ich werde ihn nie wieder sehen." Vascos Augen glänzten verdächtig. Schon sah der schlaksige Junge sein liebstes Spielzeug in den Klauen eines Entführers, ohne die geringste Aussicht es jemals wieder erlangen zu können. Ravena fühlte jähe Reue in sich aufkeimen, fühlte, dass sie der Grund seiner Traurigkeit war. Malachis Wutausbrüche vermochte sie zu ignorieren, doch Vascos Tränen berührten ihr Herz. Bedrückt lief sie auf ihn zu und schlang beide Arme um ihn. Weinend ließ er es geschehen.

„Nicht traurig sein, Vasco. Ja?" Sie schaute an ihm hinauf. Ihre großen Augen waren ein Spiegel seiner eigenen Niedergeschlagenheit. „Ich werde dir deinen Ball wieder holen."

„Und wie willst du das tun?" Er schniefte, wischte sich die unliebsamen Tränen aus den Augen. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Als wäre es die einfachste Sache der Welt lachte Ravena plötzlich vergnügt auf.

„Ich werde ihn einfach fragen."

„Das wirst du nicht!" Doch zu spät – noch bevor Vilem sie daran hindern konnte, war sie auch schon aus dem Dickicht, ihrer sicheren Deckung, herausgelaufen.

*~*~*

Lachend hob Legolas den Ball auf, drehte ihn gedankenverloren in seinen Händen. Bot er wirklich solch einen furchteinflößenden Anblick? Aus dem Geschrei der Kinder hätte man schließen können, er sei ein Ork, groß und hässlich. Plötzlich vernahm er ein herzliches Lachen hinter sich. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, dass es sich um seinen Vater handelte.

„Schon wieder die Kinder?"

Legolas nickte. „Weshalb haben sie solch eine Angst vor uns, Adar? Ähnele ich einem Ork?"

Thranduils Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen. „Vielleicht solltest du das lieber die vielen Elbendamen fragen, die darauf warten, von dir erhört zu werden." Schmunzelnd nahm der König die roten Ohren seines Sohnes zur Kenntnis. Seines Wissens nach hatte es noch keiner Elbenfrau gelingen wollen, Legolas' Herz zu erobern. Fast schien ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der Damenwelt peinlich zu sein, ja geradezu unlieb. Thranduil war schon jetzt auf die Frau gespannt, die Legolas einmal erwählen würde.

„Doch ein ernstes Wort, mein Sohn. Mach den Kindern wegen ihrer Angst keine Vorwürfe. Sie glauben nur das, was ihre Eltern ihnen erzählen, was diese bereits von ihren eigenen Eltern lernten. Ammenmärchen, Schauergeschichten, beruhend auf Unwissenheit." Thranduil entfuhr ein schwerer Seufzer. Doch völlig unvermittelt hellte sich seine Miene wieder auf, kehrte das Lächeln auf seine Züge zurück. „Aber vielleicht sind nicht alle Kinder diesen Irrtümern erlegen."

„Was willst du damit sagen, Adar?" Ein plötzliches Zupfen an seinem Mantel veranlasste Legolas dazu, nach unten zu schauen. Wie erstaunt war er, als er sich plötzlich zwei bezaubernden Kinderaugen gegenüber sah.

„Nanu", er lächelte das kleine Mädchen an, „Wer bist denn du?"

„Ich bin Ravena und wer bist du?"

Entzückt ließ sich Legolas zu hier hinab, kniete sich vor sie. Niemals zuvor war er einem Menschenkind so nahe gewesen, doch sein untrügliches Gefühl flüsterte ihm, dass sie etwas ganz Besonderes sein musste. Er fing ihren Blick ein, suchte nach Anzeichen der Angst, aber alles was er fand, war erfrischender Liebreiz. „Mein Name ist Legolas Grünblatt, kleine Dame."

„Das ist aber ein lustiger Name." Sie kicherte vergnügt. „Hat dein Papa dich so genannt, weil deine Ohren aussehen, wie ein Blatt?" Während sich Thranduil ein lautes Lachen kaum noch verkneifen konnte, schenkte Legolas ihr einen verdutzten Blick. Plötzlich erschien ihm dieses Kind sehr weise. „Da muss ich dich enttäuschen, kleine Maus. Jeder meines Volkes hat solche Ohren."

„Oh." Mit offenem Munde blickte sie ihn an. „Aber tun die denn nicht weh?" Schüchtern, immer darauf bedacht dem Elb keine Schmerzen zu zufügen, streckte sie eine Hand aus, liebkoste sie sein Ohr mit kindlicher Neugier.

„Nein", lachte der, vom Charme dieser kleinen Schönheit zur Gänze eingenommen, „Das kitzelt nur ein wenig." Plötzlich fiel ihr Blick auf den zweiten Elb. Auch seine Kleidung war  von schlichter Natur. In grün und braun gehalten, stach sie kaum von Legolas' ab. Doch dieser hier trug eine bunte Blütenkrone auf dem Kopf. Um einen silbernen Reif gebunden, schienen die Blumen nur zu existieren, um im Angesicht von Thranduils Schönheit zu verblassen.

„Und wer bist du?" Alle Scheu ablegend, näherte sie sich nun auch dem Elbenkönig. Der schenkte ihr ein sonniges Lächeln, ermutigte sie, auch die letzten Berührungsängste fallen zu lassen. Kichernd blickte sie zu ihm auf. „Meine Mama hat mir auch mal so eine Krone gemacht. Die war ganz schön und aus Margeriten, aber dann hat Malachi sie mir einfach kaputt gemacht." Empört, gerade so als schimpfe sie den Jungen selbst aus, stemmte sie beide Hände in die Hüften.

„Das war aber nicht nett, von diesem Malachi." Thranduil zwinkerte ihr zu. Er hatte ganz vergessen, wie erfrischend Kinder waren, wie belebend – mochten sie nun elbischer oder menschlicher Natur sein.

„Das ist mein Vater, edle Dame.", lachte Legolas, sie mit Thranduil bekannt machend. Ihr scharfsinniger Blick wanderte von einem Elb zum anderen, ein Spiegel offensichtlicher Ungläubigkeit. Schließlich schüttelte Ravena entschieden den Kopf.

„Nein, das geht nicht.", erklärte sie mit Bestimmtheit, „Mamas und Papas sehen immer älter als Kinder aus. Sogar mein Bruder Efrem sieht nicht so alt aus wie Papa, obwohl er schon groß ist." Legolas spürte, wie ihn dieses Mädchen immer stärker in seinen Bann zog, ihre kindliche Weisheit ihn mehr und mehr faszinierte.

„Das kommt daher, dass unser Volk anders altert als das der Menschen. Obgleich wir die Last des Alters durchaus spüren, bleiben unsere Körper auf ewig jung und vital." Die Majestät war aufs Höchste amüsiert.

„Oh." Sie schien angestrengt nachzudenken, das eben gehörte in ihr kleines Universum einzuordnen. Plötzlich schenkte sie Legolas einen mitleidigen Blick. Trost spendend ergriff sie seine Hand, streichelte sie. „Aber dann hast du ja gar keine richtige Oma, die dir Geschichten erzählt."

Sie erinnerte sich ihrer eigenen Großmutter, wie sie, alt und runzelig, an kalten Winterabenden Ravena und ihre Brüder um sich sammelte und ihnen längst vergessen geglaubte Märchen erzählte. Sie gedachte ihrer festen Stimme, die, einem Liede gleich, einzig und allein vom steten Quietschen ihres hölzernen Schaukelstuhls begleitet wurde. Wie traurig war es, dass Legolas nicht auch solch eine Oma hatte. Unendlich gerührt gab der Elb die Liebkosungen zurück, ergriff die Hand des Mädchens.

„Du brauchst deswegen nicht traurig zu sein, tithen dulin. Mein Vater versteht es auch sehr gut Geschichten zu erzählen." Das allein schien zu genügen, um Ravena wieder fröhlich werden zu lassen.

„Ehrlich?", vergnügt hüpfte sie auf und ab, „Meiner auch. Meiner auch. Mein Papa weiß ganz viele Geschichten." Doch inmitten ihres Freudentaumels fiel ihr Blick plötzlich auf den Ball, den Legolas immer noch in der Hand hielt. Erst jetzt schien sie sich wieder ihrer ursprünglichen Mission zu erinnern, schien sie sich des traurigen Vascos bewusst zu werden. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Verzaubert von der Anmut und Grazie dieser Elben, hatte sie alles um sich herum vergessen.

„Du, Legolas." Sie schenkte ihm diesen ganz besonderen Blick, von dem sie wusste, dass er alle Menschen um sie herum das tun ließ, was sie wollte. „Gibst du mir den Ball wieder? Vasco ist schon ganz traurig, weil er glaubt du willst ihn für dich behalten. Ich hab dich auch ganz bestimmt nicht absichtlich abgeworfen. Glaubst du mir das?" Mit klopfendem Herzen wartete sie auf seine Antwort, bangend, dass der Elb den Ball vielleicht doch lieber für sich selbst behalten wollte. Doch Ravenas Ängste hätten unbegründeter nicht sein können. 

„Du warst das also, kleine Lady.", er zwinkerte ihr zu, versicherte ihr, dass sie sich wegen dem kleinen Missgeschick nicht den Kopf zu zerbrechen brauchte. „Hier hast du dein Spielzeug wieder." Erleichtert nahm sie den Ball entgegen, sicher, dass nun auch Vasco bald wieder würde Lachen können.

„Du, Legolas?" Den Ball fest in Armen haltend, lag ihr eine neue Frage auf der Zunge. „Wieso bist du eigentlich hier? Ich hab noch nie einen richtigen Elb gesehen und ich bin doch schon fünf." Sie blickte ihn an, als wäre sie der älteste Mensch auf Erden. Vergnügt schüttelte Thranduil den Kopf. Fünf Jahre und bereits davon überzeugt die Welt zu kennen. Was sie wohl zu seinem wahren Alter zu sagen wüsste?

„Mein Vater und ich sind auf der Suche nach ein paar Packpferden, die unseren Zug nach Hause begleiten." Das ließ das Mädchen aufhorchen. Sie wollte gerade zu einer weiteren Frage ansetzten, als Legolas ein zweites Kind ausmachte. Vorsichtigen Schrittes kam es ihnen immer näher. Ravena, dem Blick des Elben folgend, stieß plötzlich einen fröhlichen Jauchzer aus.

„Vilem! Vilem!" Sie lief auf den Jungen zu. „Komm, ich stell dir Legolas vor. Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass er lieb ist." Damit ergriff sie seine Hand und zog ihn hinter sich her. Der Junge schluckte schwer. Aus dem Gebüsch heraus hatten sie Ravena beobachtet, hatten verfolgt, wie sie sich mit den Elben unterhielt, ohne dass ihr etwas geschah. Dennoch hatte Vilem seine Schwester nicht im Stich lassen wollen. Er war für sie verantwortlich und wollte sie in Sicherheit wissen.

„Es tut mir Leid, dass meine Schwester Euch belästigt. Sie ist noch so jung, sie weiß nicht was sie tut." Vilem beeilte sich eine demütige Verbeugung anzudeuten, sich schützend vor Ravena zu stellen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass beide Elben lächelten.

„Es ist keine Entschuldigung von Nöten, junger Herr." Es war Thranduil, der das Wort ergriff. „Nicht wegen einem so liebreizenden Wesen, wie deiner Schwester."

„Vilem. Sie wollen Hottehüs kaufen.", meldete sich nun auch das Mädchen wieder zu Wort. Sich an Legolas wendend fuhr sie fort: „Ich zeige dir meinen Papa. Der kann euch ganz viele Hottehüs zeigen." Damit lief sie erst einmal davon, Vilem mit zwei erstaunten Elben zurücklassend. „Ich bring nur noch gerade Vasco den Ball zurück!"

„Mein Vater hat ebenfalls eine kleine Pferdezucht.", beantwortete der Junge die unausgesprochene Frage der Elbenherren. „Sie ist nicht besonders groß, aber die Pferde sind sehr gut. Vielleicht werdet Ihr dort fündig." Schüchtern senkte er den Kopf, sich händeringend Ravenas Unbefangenheit herbeiwünschend.

„Vielleicht werden wir das." Thranduil warf seinem Sohn einen zuversichtlichen Blick zu. Keine Unnützen Worte vergeudend, schien der Junge zu wissen, wovon er sprach. Schließlich war auch Ravena wieder zur Stelle. Voller Enthusiasmus nahm sie Legolas bei der Hand und ging voran.

„Du Legolas", sie schaute zu ihm auf, „wohnst du eigentlich in dem düsteren Wald oder in Hothlorien?" Das vergnügte Lachen des Elben hallte über den Platz, ließ erstaunte Menschen in ihrer Arbeit innehalten, um sich an des Windes sanftem Spiel zu erquicken.

*~*~*

„Musst du denn wirklich schon heim, Legolas?" Aus traurigen Augen blickte sie ihn an, schmollend. Nachdem Ravena die Elben zu ihrem Vater geführt hatte, waren sie schnell fündig geworden. Drei stämmige, aber nichts desto weniger schöne Tiere waren in den Besitz des Waldelbenkönig übergegangen. Rasch – zu rasch, wie Legolas fand – waren sie bepackt worden, hatte ihrer Eskorte sie zur Reise bereit gemacht. Schweren Herzens kniete er sich vor sie, fing ihren klagenden Blick auf.

„Leider ja, kleine Maus." Er streichelte ihre Wange, fing mit seinem Finger eine einzelne Träne auf. „Du darfst nicht traurig sein." Er tat sein bestes sie zu trösten, den Lauf ihrer Tränen zum versiegen zu bringen. Dabei war es auch sein Herz, das schwer war, das klagend vom Abschiedsschmerz sang. In nur wenigen Stunden war diesem kleinen Menschenmädchen etwas gelungen, wozu es sonst Jahrhunderte bedurfte: Sie hatte den Grund seines Herzens berührt, hatte seinen sorgsam gepflegten Wall in seinen Grundfesten erschüttert. Was nur war es, das dieses Kind so besonders machte?

„Legolas?" Ihre Stimme klang zaghaft, beinahe schüchtern.

„Hm?" Der Elb ermutigte sie fortzufahren.

„Legolas, bist du mein Freund?" Erwartungsvoll sah sie ihn an, gespannt auf seine Antwort wartend.

„Natürlich bin ich dein Freund." Er schenkte ihr ein warmes Lächeln, öffnete instinktiv seine Arme. Mit einem fröhlichen Jauchzen nahm Ravena die Einladung an und umschlang seinen Hals. Als er das Mädchen so in seinen Armen hielt, drängte sich ihm unwillkürlich der Gedanke auf, ob auch er einmal eine Tochter haben würde, ein Wesen, das ihm so fragloses Vertrauen entgegen brachte. Doch so schnell dieser Gedanke auch gekommen sein mochte, so blitzartig verbannte er ihn wieder aus seinem Kopf. Bevor er sich Gedanken über Kinder machen konnte, würde er erst einmal die passende Frau finden müssen – und das war, weiß Eru, bestimmt nicht einfach.

Plötzlich ließ Ravena von ihm ab. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, begegnete sie Legolas' fragenden Blick mit einem schüchternen Augenaufschlag. Aber schließlich nahm  sie sich ein Herz. Schnell, bevor sie es sich ein weiteres Mal überlegen konnte, es vielleicht doch niemals tun würde, hielt sie ihm einen Strauß bunter Blumen vor die Nase. Es waren die Blumen, die sie am Vormittag gepflückt hatte, die den Tag im Wagen ihrer Eltern überdauert hatten.

„Der ist für dich, sie sind schon ein bisschen verwelkt." Gleich den Blumen ließ sie ihren eigenen Kopf hängen. Fast schien es, als bräche sie in Tränen aus. Sprachlos nahm Legolas sein Geschenk in Empfang, umarmte sie ein weiteres Mal.

„Ich hab noch niemals ein schöneres Geschenk bekommen.", aufmunternd lächelte er sie an, „Und mit ein bisschen Wasser werden sie wieder aussehen, wie frisch."

„Ehrlich?"

„Ganz ehrlich." Er küsste sie auf die Wange. „Wir sind doch jetzt Freunde. Ich bin mir sicher, wir werden uns eines Tages wieder sehen." Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

„Wir müssen jetzt aufbrechen, mein Sohn. Die letzten Strahlen dieses Tages müssen auf unserer Seite sein. Wir haben schon zu viel Zeit verloren." Legolas schaute zu seinem Vater  auf. Er schluckte.

„Ja Adar, ich komme gleich." Dann wandte er sich ein letztes Mal an Ravena. „Ich muss jetzt los, kleine Maus." Es brach ihm das Herz, sie schon so bald wieder zu verlassen. So töricht der Gedanke auch sein mochte – am liebsten hätte er sie mit sich in den Düsterwald genommen. Selten war es einem Wesen gelungen, ihn so sehr zu bezaubern. Noch seltener hatte er es zugelassen so bezaubert zu werden.

„Ade, Legolas." Sie umarmte ihn ein letztes Mal.

„Lebewohl." Damit stand er auf und ging zu seinem Pferd. Die übrigen Elben hatten bereits aufgesessen. Es waren acht an der Zahl, den König und sein Sohn nicht mit eingerechnet.  Mit unverhohlenem Staunen beobachteten die Umstehenden die Gruppe, begafften sie ihre übermenschliche Schönheit. Alle hatten sie rabenschwarzes Haar, vom lauen Abendwind umschmeichelt. Ihre Pferde, prächtige Tiere, tänzelten aufgeregt unter ihren Herren, spürend, dass die Reise begann, dass sie schon bald wieder unter den Blätterdächern ihrer Heimat wandeln würden.

Mit Tränen in den Augen beobachtete Ravena, wie Legolas sein Pferd bestieg. Sie fand, dass er der Schönste von allen war. Nur am Rande bemerkte sie, wie jemand sie hochhob und in den Arm nahm. Während Legolas ihr ein letztes Mal zuwinkte, schmiegte sie sich weinend an die starke Brust ihres Vaters, ließ sie ihren Kopf an seiner Schulter ruhen.

„Willst du ihm nicht auch winken, mein Schatz?" Sie nickte. Immer noch schluchzend hob sie ihre Hand zum letzten Gruße, sah zu, wie Legolas immer kleiner wurde und schließlich ganz am Horizont entschwand. Mit einem bittersüßen Lächeln betrachtete Ulfert das Knäuel in seinen Armen. Der erste Herzschmerz seiner Tochter kam wesentlich früher, als er sich das erträumt hatte. 

*~*~*