Kapitel 3

Unerwarteter Besuch

Die Mitternachtsstunde war längst überschritten, als William Taylor die Feder beiseite legte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Auf dem großen Schreibtisch aus Tropenholz flackerten einige Kerzen im Leuchter, Spielzeug des Windes, der vor einer Stunde zusammen mit dem tropischen Regen endgültig über Tortuga hereingebrochen war.

Er rieb sich die müden Augen und lauschte eine Weile hinaus in die Nacht. Aus der Küche drang das beruhigende Summen von Nannys Stimme zu ihm durch den Flur. Vermutlich backte sie gerade irgendeine Süßigkeit, mit der sie Justin am Morgen überraschen wollte. Sein Sohn war vier Jahre alt und konnte gar nicht genug bekommen von den Kochkünsten der Haushälterin.

William lächelte dünn und erhob sich dann. Und an jedem verdammten Tag sah der Junge seiner Mutter ähnlicher mit dem blonden Haar und den großen, fragenden Augen. Er fluchte leise und wollte schon in die Küche gehen, als er plötzlich im Regen etwas zu hören glaubte. Mit gerunzelter Stirn griff er nach seinem Waffengurt, der über der Stuhllehne ging und gürtete ihn um. Besucher zu später Zeit waren nicht immer gern gesehen.

Mit dem Kandelaber in der Hand ging er durch den Flur und öffnete die Tür. Gischtiger Regen sprühte ihm ins Gesicht, als er auf die Terrasse trat und noch einmal lauschte. Ja, das waren unzweifelhaft Stimmen.

„Verdammt, der Regen ruiniert meine Frisur. Übrigens, Süße, ich glaube, man kann durch Deine Wäsche kucken."

Eine schleppende, freundliche Stimme mit einem Hauch von bösem Witz. William musste unwillkürlich grinsen. Da erklang auch schon die Antwort aus einem unverkennbar weiblichen Mund und diese Stimme klang sehr genervt.

„Sparrow, es ist so dunkel wie im Hintern einer Kröte. Wen kümmert's?"

„Da vorne ist Licht, Marie. Such Dir schon mal ein großes Blatt."

„Klugscheißer."

„Und stolz drauf, meine Liebe."

Aus den verschwommenen Schemen des Regens traten zwei Gestalten auf die Veranda zu. Beide mittelgroß, schlank und wendig, beide pitschnass und Blicke tauschend, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. William maß die Frau mit einem kurzen Blick und kam bei ihrem Aufzug auf den Gedanken, dass Jack mit dem Blatt gar nicht so Unrecht gehabt hatte. Er schüttelte lächelnd den Kopf.

„Jack. Was treibt Dich her?", fragte er dann, als der Pirat den Dreispitz zog und die Terrasse betrat.

„Was? Keine Umarmung, kein Kuss für einen alten Freund?"

„Manchmal bist Du ekelig", stellte William trocken fest und spürte, wie sehr ihm die fast ein Jahr dauernde Abwesenheit des Freundes zugesetzt hatte. „Kommt rein und erzählt." Er drehte sich um und ging ins Haus zurück. „Nanny, wir haben Gäste – mach zwei Zimmer fertig und bring ein paar Handtücher!"

Die korpulente Frau mit der ebenholzfarbenen Haut steckte den Kopf aus der Küchentür und kam dann auf den Flur. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Ay, das arme Kindchen ist ganz nass."

Das „Kindchen" zog eine Augenbraue hoch und sah zu William, dann zu Nanny, die mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Treppe hinauf verschwand, um das Gewünschte zu holen. Dann lächelte sie strahlend.

„Ich bin Marie. Jacks Geschäftspartnerin. Entschuldige die späte Störung – Du bist William?"

Er nickte leicht.

„Kommt mit ins Arbeitszimmer." Sein Blick zu Jack enthielt eine kleine Drohung. „Und dann erklärt mir, was Ihr für Geschäfte macht."

„Manchmal glaube ich, Du bist ein Spießer geworden." Jack verdrehte die Augen zum Himmel, aber er und Marie folgten William brav in den kleinen Raum und ließen sich in zwei Stühlen nieder. William setzte sich hinter seinen Schreibtisch und musterte beide noch einmal genauer. Jack betrachtete Marie wie eine besonders leckere Mahlzeit und Marie – Marie sah sich sehr genau im Zimmer um, überprüfte offenbar Fenster und Ausgänge. Sie wrang beiläufig ihr Haar aus und als sie merkte, dass sie gemustert wurde, meinte sie mit einem entschuldigenden Strahlen, das Gletscher zum Schmelzen gebracht hätte:

„Ups. Entschuldigung."

Jack räusperte sich so dezent, wie es ihm möglich war.

„Also, mein Junge, wir sind hier, weil wir Dich brauchen – denke mal, Du kannst so ein bisschen Seeluft ganz gut gebrauchen, oder?"

Bei Nannys Eintreten stockte er kurz und warf das Handtuch nach dem Verschwinden der resoluten Frau unbenutzt in eine Ecke, während Marie in aller Seelenruhe ihr Haar trocknete. Dann erläuterte Jack in aller Kürze, was er und seine Partnerin vorhatten und bei jedem Wort fühlte William, wie sein Blick ein wenig finsterer wurde. Als wieder Stille eintrat, erkundigte er sich nach einer kleinen Weile:

„Sehe ich das richtig, dass Ihr mich für einen Betrug haben wollt?"

„Nicht direkt Betrug. Sagen wir eher – ein kleines Manöver." Marie betrachtete ihre Fingernägel und irritiert stellte William fest, dass sie für eine Piratin sehr gepflegte Hände hatte. Kurz irritiert, schüttelte er den Kopf. „Soll das ein Nein sein? Überleg es Dir."

„Ich habe Familie und eine Schmiede. Das kann und werde ich nicht im Stich lasen. und Jack, bevor Du fragst – es ist mein letztes Wort zu der Sache." Tief in sich musste er gestehen, dass es ihn reizte, was ihm die beiden vorschlugen. Es musste das Blut seines Vaters sein, das ihn zu derartigen Wünschen trieb, anders konnte er es sich nicht erklären. Niemals würde er diesen Ort verlassen. Sein Haus. Die kleine Grabstelle unweit der Terrasse, ein kleiner Hügel im Unterholz mit einem weißen Kreuz darauf. Er seufzte leise und seine Stimme klang versöhnlicher. „Bleibt bis morgen früh, bei dem Wetter würde ich noch nicht einmal einen Piraten vor die Tür jagen."

Nanny erschien in der Tür und verkündete, dass die Zimmer bereit standen und für die junge Dame ein Bad gerichtet war. Marie warf der Haushälterin einen freundlichen Blick zu und die beiden Gäste verabschiedeten sich. Die junge Dame – William korrigierte sich in Gedanken – Piratin tat das sehr artig und mit einem Dank verbunden, Jack zog eine finstere Miene.

William blieb allein zurück und seufzte leise. Das Chaos war in sein Leben zurückgekehrt und er wurde das Gefühl nicht los, dass es bleiben würde.