Wie angelt man sich einen Hobbit

oder –

Das Jahr, in dem Merry Brandybock erwachsen wurde

Kapitel 5 – Merry und Doderic

Es klopfte leise an der Tür und Estella öffnete verschlafen die Augen. Entsetzt bemerkte sie, dass die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie hatte verschlafen!
Im nächsten Moment sah sie Doderic, der lächelnd in der Tür stand.

„Du meine Güte, ich hab verschlafen! Wie spät ist es?", fragte sie aufgeregt.

Doderics lächeln wurde breiter. „Keine Angst, du hast nicht verschlafen."

„Nicht verschlafen? Aber es muss doch schon Mittag sein?"

„Kurz vor elf, um genau zu sein."

„Was?!?", rief Estella. „Und du sagst, ich hätte nicht verschlafen?"

„Du hast ja auch nicht verschlafen.", sagte er eindringlich. „Du hast nämlich heute frei!"
„Frei? Wieso?", Estellas Verwirrung war perfekt.

„Na, ich dachte, wir beiden unternehmen heute mal was. Ich hab meine Tante gefragt, ob sie dich einen Tag lang entbehren kann und sie war einverstanden."

„Oh."Mehr fiel Estella erst einmal nicht ein.

„Zieh dich schnell an, frühstücken brauchst du nicht mehr. Das können wir auch unterwegs machen. Ich mach die Ponys schon einmal fertig. Sei in einer halben Stunde draußen.", sagte Doderic.

Erstaunt sah sie ihm nach, als er ihr Zimmer verließ. Sie kannte ihn doch erst seit gestern Abend...

In Windeseile zog sie sich an. Sie mußte schon zugeben, dass sie ziemlich neugierig war, wohin Doderic mit ihr wollte. Doch viel Zeit um sich weiter zu wundern und zu rätseln blieb ihr nicht. Kaum war sie aus ihrer Zimmertür getreten, als Esmeralda Brandybock schon vor ihr stand.

„Guten Morgen, Estella.", grüßte sie freundlich.

„Guten Morgen."
„Estella, kann ich heute Abend mit dir reden, wenn du wieder hier bist?", fragte Merrys Mutter.

„Klar, aber wir können auch jetzt reden. Wodrum geht es denn?", fragte Estella neugierig.

„Doderic wartet doch auf dich.", sagte Esmeralda lächelnd. „Es reicht, wenn wir heute Abend reden. Ich warte im Kaminzimmer auf dich. Komm, wenn du wieder hier bist. Jetzt geh, und viel Spaß."Bestimmt schob sie Estella vor sich her.

Estella, in Gedanken versunken, ging weiter den Flur entlang. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass Esmeralda irgendwann in eins der Zimmer gegangen war. Doch sie konnte ihre Gedanken nicht zu Ende bringen, da sie schon wieder aufgehalten wurde.

„Estella, gut dass ich dich treffe! Ich muß unbedingt mit dir reden!"
„Da bist du bei weitem nicht der Einzigste, Meriadoc Brandybock.", sagte sie unterkühlt.

„Estella, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber es ist wirklich wichtig."

„Ich hab jetzt keine Zeit! Es gibt auch noch andere Sachen, die wichtig sind."Estella wollte an Merry vorbei gehen. Doch das passt ihm überhaupt nicht. Er packte Estella an den Schultern und drückte sie sanft gegen die Wand.

„Estella bitte.", flehte er. „Das mit gestern Abend tut mir unwahrscheinlich leid. Es war dumm und unüberlegt von mir."

„Oh, schön, dass der Herr es einsieht."

„Estella..."Merry sah ihr bittend in die Augen. Seinem Blick nach musste es ihm wirklich leid tun.

Estella seufzte. Wer konnte schon so einem Hundeblick widerstehen?

„Also kann ich mit dir reden?", fragte Merry.

Estella wollte schon einwilligen, als ihr Doderic wieder einfiel, der mit den Pferden auf sie wartete.

„Wir können heute Abend reden. Ich muß jetzt weg."
„Es ist aber wirklich sehr wichtig. Wohin willst du denn?"

Estella wollte Merry lieber nicht sagen, dass sie sich mit Doderic traf. Sie wusste aber auch nicht, was sie stattdessen sagen sollte. Sie befreite sich aus seinem Griff und lief einfach an ihm vorbei nach draußen.

„Estella, warte...!", rief Merry ihr hinterher. Doch Estella verschwand nach draußen und knallte die Tür zu.

Merry schüttelte den Kopf. Für einen Moment dachte er, er hätte mit ihr vernünftig reden können. Er verstand dieses Mädchen einfach nicht. Für seinen dummen Einfall mit dem Feuer hatte er sich doch entschuldigt...

Als Estella nach draußen kam, wartete Doderic bereits ungeduldig bei den Ponys.

„Da bist du ja endlich.", begrüßte er sie.

„Wo reiten wir denn hin?", fragte Estella gespannt, während sie Maxs Rücken erklomm.

„Laß dich überraschen!" Doderic trieb sein Pony in einen flotten Trab und bog nach kurzer Zeit in den Schatten des Waldes ein. Estella folgte ihm.

Es war schwül- warm und schon nach einiger Zeit waren ihre Ponys nass geschwitzt, sodass sie an einem See mitten im Wald Rast machten. Sie nahmen den Ponys das Zaumzeug ab und ließen sie grasen. Doderic breitete eine große Decke aus und lud Estella ein, sich neben ihn zu setzen.

„Willst du etwas essen oder trinken?", fragte er und packte belegte Brote zwei Flaschen Wasser und eine Flasche Wein aus.

Estella lehnte dankend ab, streckte sich erst einmal lang auf der Decke aus und schloß entspannt die Augen. Doderic musterte sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen.

Merry stand immer noch da, wo Estella ihn stehen gelassen hatte und starrt die Tür an, als könnte er durch sie hindurch gucken und sehen, wohin Estella hingelaufen war. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber es ärgerte ihn, dass sie ihn stehen gelassen hatte. Auf einmal vernahm er ein Geräusch hinter sich und drehte sich um.

„Frodo!", rief er freudig überrascht. „Was machst du denn hier?"

„Ihr seid doch mitten in den Vorbereitungen für das Julfest, da dachte ich, ich schau mal vorbei."
„Wie geht es dir denn?", fragte Merry. „Sam hat Pippin vor nicht all zu langer Zeit erzählt, dir ginge es nicht so gut."

Über Frodos Gesicht zog ein Schatten und er fasste sich mit seiner Hand fast unmerklich an die Schulter, wo die Verletzung der Morgul Klinge gewesen war. Merry sah ihn besorgt an. Als Frodo das sah, lächelt er ich an. „Ach, ich hatte nur einen schlechten Tag erwischt.", sagte er. „Sam übertreibt leicht."

Merry nickte kurz, aber so ganz nahm er ihm das nicht ab. Doch er hatte keine Zeit sich darüber weiter Gedanken zu machen, denn als sie auf dem Weg zur Küche an den Gästezimmern vorbei kamen, fiel ihm Estella wieder ein.

„Frodo, hast du gerade draußen Estella gesehen?"

„Estella? Wenn mich nicht alles täuscht, ja!"

„Wo?"
„Sie ist hinter jemandem her in den Wald geritten. Aber mit wem konnte ich nicht erkennen. Jedenfalls war es einer, so viel konnte ich sehen, mit dunklen Haaren."
Merry sah Frodo mit einem, für Frodo, undefinierbarem Gesichtsausdruck an. Dann stürmte er plötzlich nach draußen.

Frodo schüttelte ungläubig den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. Langsam folgte er seinem jüngeren Cousin. Dieser stand draußen, mitten auf der Pferdeweide.

„Doderic...", murmelte er leise, die Hände zu Fäusten geballt.

„Was sagtest du?", fragte Frodo, der hinter ihn trat. Merry drehte sich zu ihm um.

„Doderic, sein Pony fehlt. Estella kann nur mit ihm ausgeritten sein!"

„Doderic? Der Doderic?", fragte Frodo

„Ganz genau, der Doderic. Ich muß sofort hinterher!",rief Merry aufgebracht. „Wer weiß, was er mit Estella macht. Wieso lässt sie sich überhaupt mit so einem ein?"

„Jetzt bleib mal ganz ruhig. Estella wird ihn schon durchschauen.", sagte Frodo. Im nächsten Moment blickte er ihn überrascht an und grinste schelmisch. „Sag mal, seit wann machst du dir eigentlich Sorgen um Stella?"

„Frodo.", Merry sah seinen Vetter ernst an. „Dieser Hobbit ist gefährlich. Ich würde mich um jeden sorgen, der sich in seiner Nähe aufhält. Und dazu noch alleine!"
„Meinst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?"

„Nein, verdammt noch mal!", rief Merry und trat wütend gegen den Zaun, der die Weide eingrenzte. Ein paar Ponys ergriffen panisch die Flucht.

„Wieso lässt sie sich bloß ausgerechnet mit dem ein? Er sieht sie einmal an und Estella frißt ihm aus der Hand. Und ich, ich kann froh sein wenn sie mal ein vernünftiges Wort mit mir redet! Das ist nicht fair!"

„Merry, die Welt ist halt nicht fair. Das müsstest du am allerbesten wissen. Aber jetzt beruhig dich mal wieder."Frodo legte einen Arm um Merrys Schultern und zog ihn mit zurück zum Brandyweinschloß. „Sie wird schon merken, dass Doderic ein Strauchdieb ist."

„Ja, nachdem was weiß ich was passiert ist. Ich geh sie jetzt suchen!"Er wollte sich auf dem Absatz umdrehen und davonlaufen.

„Merry...!"Frodo hielt ihn fest und musste grinsen. Merry schien schrecklich eifersüchtig zu sein, er konnte es immer noch nicht so ganz fassen. Er schien endlich richtig erwachsen zu werden. „Warte, bis Stella heute abend nach Hause kommt und rede dann mit ihr. Sie jetzt zu suchen hat doch keinen Sinn."

Widerwillig ließ Merry sich von Frodo in die Küche ziehen.

Estella lachte und schlug die Augen wieder auf, als Doderic sie mit einem Grashalm im Gesicht kitzelte. „Ich führ dich an so einen herrlichen Ort und du schläfst! Das ist ja sehr vornehm von dir.", sagte er ebenfalls lachend.

„Ich schlafe doch nicht.", sagte Estella empört. „Ich habe doch nur die Ruhe genossen!"

Doderic sah ihr lange und tief in die Augen. Und dann, ohne Vorwahnung, presste Doderic plötzlich seine Lippen auf die ihrigen und verlangte mit seiner Zunge Einlass. Estella fühlte sich viel zu überrumpelt um reagieren zu können und so ließ sie es einfach geschehen.

Nach einiger Zeit, Estella kam es wie eine Ewigkeit vor, löste Doderic sich wieder von ihr. Ein peinliches Schweigen entstand. Estella betrachtete scheinbar interessiert den See.Schleißlich räusperte sie sich. „Du und Merry, ihr könnt euch nicht so gut leiden, oder?", versuchte sie die Stille zu brechen.

„Nein, dass kann man nicht gerade behaupten, dass wir uns leiden können."

„Und aus welchem Grund? Ihr seit doch immerhin verwandt."

„Ach Estella, das ist eine lange Geschichte."
Erzähl...", bat Estella ihn.

„Da gibt es eigentlich viel zu erzählen. Ich hab mit ein paar Freunden in einer der Baracken gewohnt, die die Südländer hier überall hingebaut hatten. Wir hatten ja nichts anderes, unsere Höhlen waren zerstört.

Und als diese vier aufgeblasenen Hobbits von ihrer fragwürdigen Reise zurückgekehrt sind, hatten sie nichts besseres zu tun, als in jede Baracke einzubrechen. Sie haben uns heraus getrieben wie Vieh und Meriadoc hat uns allerhand Sachen unterstellt, wir hätten mit irgendwelchen dunklen Machenschaften zu tun und wären verbündete aufständischer Hobbits.

Ich weiß auch nicht, wie er auf solch eine Idee kam.

Wir haben immer nur das Beste für das Auenland, vor allem für Bockland, gewollt!

Jedenfalls hat einer meiner Freunde es mit der Angst zu tun bekommen, wie der riesengroße, brutale Meriadoc Brandybock vor ihm stand und wollte weglaufen. Und auf einmal zischte ein Pfeil an meinem Gesicht vorbei und traf ihn. Mein Freund wurde auf Merrys Befehl hin erschossen!"Doderic senkte den Kopf und seufzte, als quäle ihn die Erinnerung an das Ereignis sehr. Estella sah ihn ungläubig an. Das war also der Meriadoc Brandybock, den alle so verehrten? Einer der arme hilflose Hobbits umbrachte?

„Was dann folgte, war die Hölle.", fuhr Doderic fort. „Sie steckten uns ins Riegelloch, wo wir ganze zwei Monate lang verweilen mussten. Wir bekamen nur abgestandenes Wasser zu trinken und harte Brotkrusten zu essen. Bis wir uns eines Tages durch Glück selbst befreien konnte....

Und da fragst du mich noch, warum ich ihn nicht leiden kann?"

„Das wußte ich alles nicht.", sagte Estella leise. Sie war geschockt. Sie konnte sich ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass Merry zu so etwas fähig war. Aber wenn Doderic es sagte... er konnt sich das ganze ja unmöglich alles ausgedacht haben.

„Du brauchst aber keine Angst vor Meriadoc haben.", sagte er. „Ich passe auf dich auf."

Sachte zog er sie in seine Arme.

„Ich habe keine Angst vor ihm. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er so ist, wie du sagst", sagte sie.

„Den wirklichen Meriadoc Brandybock kennen eben nur sehr wenige.", sagte Doderic. Er zog sie noch ein Stück näher zu sich und küsste sie erneut. Langsam strich er ihr den Rücken hinunter und Estella bekam eine Gänsehaut. Genussvoll schloß sie die Augen.

Merry lief nervös auf und ab und machte Frodo damit langsam, aber sicher, wahnsinnig. Frodo hatte schon so eine Art Beruhigungstee gekocht und versucht Merry einzuflößen. Ohne Erfolg. Er hoffte nur das Pippin oder jemand anderes bald kam.

Merry verstand nicht, wo Estella und Doderic blieben. Sie waren schon seit Stunden weg. Über dem Alten Wald hingen dicke Wolken und Luft war unerträglich schwül. Es würde bald gewittern.

„Merry, jetzt setz dich doch wenigstens mal hin. Du bringst mich noch um mit deinem ständigen hin und her laufen.", sagte Frodo.

„Dich haben unzählige Orks, neun Ringgeister, Sauron, Saruman und auch Gollum nicht umgebracht. Also stell dich nicht so an!"

Frodo seufzte. „Ist ja gut...", sagte Merry und setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Sie werden schon wieder kommen.", sagte Frodo.

Merry saß an dem Tisch und sagte nichts. Dafür klapperte er jetzt mit einem Löffel auf dem Tisch herum, was Frodo als noch nerviger als das Hin-und Herlaufen empfand. Wenn nicht bald Estella und Doderic kamen, würde er wirklich noch wahnsinnig werden...

Die Wolkenwand über dem Alten Wald zog rasch heran. Ab und zu zuckte bereits ein Blitz am Himmel und es grummelte bedrohlich.

Die Zeit verging. Ab und zu warf Merry einen besorgten Blick nach draußen. Heftige Windstöße peitschten die Wolken immer näher nach Bockland und dicke Regentropfen klatschten gegen die runden Fensterscheiben.

Da endlich vernahmen sie zwischen Donnergrollen und Regenprasseln Hufgetrappel.

Merry sprang auf und wollte zur Tür laufen.

„Merry, warte!", rief Frodo. „Du hast doch jetzt die Gewissheit, dass sie wieder hier sind. Warte noch ein bisschen, bis du mit ihr redest. Wenn du sie jetzt direkt überfällst, wird es nur wieder Ärger geben."

„Meinst du?"

„Mein ich."

„Ich könnte mich sowieso ärgern, dass ich nicht direkt heute morgen oder gestern Abend mit ihr geredet habe."

„Wenn du dich jetzt ärgerst, ändert das leider auch nichts. Es ist nun einmal so gekommen."

„Ja, leider..."Merry fing wieder an, wie ein eingesperrtes Tier, auf und ab zu laufen.

Die Tatsache, dass Estella und Doderic wieder daheim waren, schien ihn nur für einen kurzen Moment beruhigt zu haben. Immerhin wollte er noch mit Estella über seinen gehassten Cousin reden.

Frodo beobachtete seinen Vetter noch eine Zeit lang und schüttelte mitfühlend den Kopf.

Lachend liefen Estella und Doderic nach drinnen. Sie waren komplett nass.

„War ja klar, dass uns das passiert.", sagte Estella lachend. „Hättest du nicht so lange rumgetrödelt und wärest nicht in so einem Schneckentempo geritten, wären wir jetzt nicht bis auf die Knochen nass."

„Ich habe nicht getrödelt, mein Pony war müde!", verteidigte Doderic sich ebenfalls lachend.

„Dein Pony konnte gar nicht müde gewesen sein. Mein Max war doch auch noch topfit."

„Er hat sich bestimmt nur besonders viel Mühe gegeben, weil er weiß, was für ein wundervolles, hübsches Mädchen er trägt!"

„Ach, du Spinner!", kicherte Estella.

Sie blieben vor ihrem Zimmer stehen.

„Sehen wir uns heute Abend noch?", fragte Doderic und strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich denke, dazu werde ich heute Abend keine Zeit haben.", sagte sie bedauernd. „Ich muß gleich noch mit deiner Tante sprechen."

„Schade."Doderic zog einen Schmollmund. „Krieg ich denn wenigstens noch einen Abschiedskuss?"

„Mhh, na gut, ganz ausnahmsweise!" Sie stellte sich vor ihn und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen.

„Wie, das war alles?", fragte Doderic enttäuscht.

„Gedulde dich bis Morgen, mein Lieber."Estella drehte sich um und verschwand in ihrem Zimmer.

Juweline und Pippin hatten die Szene aus sicherer Entfernung beobachtet.

„Mit wem hat Estella sich da denn jetzt eingelassen? Das ist doch nicht etwa Doderic?", fragte Juweline ungläubig.

„Ich fürchte schon, dass er das ist...", sagte Pippin. „Wie kann das Mädel sich bloß mit Doderic einlassen? Merry wollt doch mit ihr reden und sie vor ihm warnen."

Juweline seufzte. Nach all dem was sie über Merrys Cousin gehört hatte schwante ihr nichts gutes.

Nachdem Estella sich trockene Sachen angezogen hatte, machte sie sich auf den Weg ins Kaminzimmer. Sie wollte gerade eintreten, als sie jemand von hinten an den Schultern packte und festhielt.

„Ach Doderic, ich habe dir doch gesagt, dass ich heute Abend keine Zeit habe.", sagte Estella.

Sie drehte sich herum, um ihn zu küssen. In freudiger Erwartung des Kusses schloß sie die Augen.

Aber irgendetwas war anders. Seine Hände schoben sich nicht wie bei den vorherigen Male in ihren Nacken um sie besitzergreifend näher zu ziehen, sondern sie blieben ruhig auf ihren Schultern liegen.

Etwas verwirrt öffnete sie die Augen wieder.

„Merry!"Erschrocken wich sie ein paar Schritte zurück.

Merry sah sie ernst aus seinen blau- grauen Augen an. „Estella, ich muß mit dir reden.", sagte er.

„Ich... ich kann jetzt nicht. Ich muß mit deiner Mutter etwas besprechen.", sagte Estella.

„Oh nein! Du bist mir heute morgen schon weg gelaufen. Dieses Mal bleibst du!"Er packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich in sein Zimmer.

Estella fielen Doderics Worte über Merry wieder ein. Ein ungutes Gefühl, fast schon Angst, überkam sie.

In seinem Zimmer angekommen, ließ Merry sie wieder los. Lange sah er sie schweigend an.

„Estella...", er suchte nach den richtigen Worten. „Estella, ich kann dich wirklich sehr gut leiden. Und was ich dir jetzt sage, das sage ich nicht, weil ich dir etwas vermiesen oder dich ärgern will. Sondern ich sage es dir, weil ich nur das Beste für dich will."

Merry drehte nervös den Stoff seines Oberteils zu einer Kordel zusammen. Lieber würde er es mit einem Heer der hart gesottesten Uruk- hais aufnehmen, als mit Estella über Doderic zu sprechen, wo sie doch offensichtlich zusammen waren.

„Estella, ich glaube, nein, ich weiß, dass Doderic kein guter Umgang für dich ist. Er ist gefährlich! Ich will, dass du dich nicht mehr mit ihm triffst!"

Estella sah ihn mit erstaunten Augen an. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. „Du willst mir also vorschreiben, mit wem ich mich treffen soll und mit wem nicht?", fragte sie.

„Estella, er ist wirklich sehr gefährlich! Jetzt spielt er dir noch die große Liebe vor, aber spätestens in ein, zwei Wochen behandelt er dich wie den letzte Dreck."

„Das sagst du doch jetzt nur, weil du ihn nicht leiden kannst.", sagte Estella. „Er ist ein sehr netter Hobbit, und er mag mich wirklich."

Merry seufzte. Er hatte geahnt, dass Estella nicht leicht von Doderics Gefährlichkeit zu überzeugen war.

„Als wir wieder heimkehrten ins Auenland", sagte Merry, „da erwartete uns hier die Hölle. Alles war verwüstet, es gab Südländer und andere große finstere Gestalten hier im Auenland, und alle mussten das befolgen, was der „Boss"befahl.

Auch manche der Hobbits waren auf die andere Seite gewechselt. Manche, weil sie dumm waren (und auch noch sind) und andere, weil sie sich haben einschüchtern lassen.

Nach der Schlacht um Wasserau, als wir dachten das Schlimmste sei vorbei, erwartete uns hier in Bockland allerdings eine weitere Überraschung. Es gab eine Bande von Hobbits, die anscheinend schon vor dem Ausbruch des Chaos finstere Gedanken gehabt haben müssen und sich das Durcheinander zu Nutzen gemacht hatten. Durch Lügen, Einschüchterung und Meuchelmord hatten sie fast ganz Bockland an sich gerissen. Sie versuchten meinen Vater von seinem Amt zu verdrängen.

Und der Anführer dieser Gruppe war mein Cousin Doderic Straffgürtel. Wir kamen gerade noch rechtzeitig heim... Und ohne die Unterstützung des Thains, der mit seinen Leuten tatkräftig gegen die Bande angekämpft hat, hätte Bockland nicht so lange standgehalten.

Estella.", er umfaßte mit seinen Händen ihr Gesicht. „Bitte, triff dich nicht mehr mit ihm."

„Du lügst!", schrie Estella wütend. „Du bist das Letzte, Meriadoc Brandybock!"Sie schlug seine Hände weg.

„Wieso sollte ich lügen? Ich habe keinen Grund dazu.", sagte Merry fassungslos.

„Doderic würde so etwas nie tun. Du bist doch derjenige, der alles kaputt gemacht hat, der Doderics Leben zerstört hat!"

„Ich? Was hat er dir über mich erzählt? Los, sag schon! Was hat er dir über mich erzählt?", rief Merry jetzt ebenfalls wütend.

Estella wich vor ihm zurück.

„Hey.", sagte Merry wieder etwas ruhiger. „Hey, ich tu dir doch nichts. Du brauchst keine Angst haben. Nicht vor mir."Er griff nach ihrer Hand.

„Fass mich nicht an!", rief Estella und wich noch ein Stückchen weiter zurück.

„Was hat Doderic dir über mich erzählt?", fragte Merry noch einmal.

Estella schwieg. Ihr Herz raste und das unangenehme Gefühl der Angst lag ihr schwer im Magen.

„Fredegar ist mit deiner Beziehung zu Doderic bestimmt auch nicht zufrieden. Er weiß auch, dass Doderic ein übler Bursche ist. Estella bitte, ich flehe dich an..."

Estella war total verwirrt. Erst wurden ihr Sachen über Meriadoc berichtet, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen hätte können. Und dann wurde sie so eingehend vor Doderic gewarnt. Sie wußte wirklich nicht, was sie noch glauben sollte. Am liebsten würde sie ihre Sachen packen und nach Hause gehen.

„Ich mache, was mir gefällt und ich treffe mich mit den Leuten, mit denen es mir beliebt.", sagte sie schließlich arrogant. Sie warf Merry noch einen kühlen Blick zu, drehte sich um und ging.

„Dann mach doch, was du willst!", brüllte Merry und knallte wütend die Tür ins Schloß. Betrübt ließ er sich anschließend auf sein Bett sinken.

Estella lief planlos durch die unzähligen und kompliziert verzweigten Gänge des Brandyweinschloßes. Kleinere, engere Gänge waren nicht durch Lampen oder Kerzen beleuchtet und wurden alle paar Sekunden durch die Blitze des immer noch tobenden Gewitters, in ein schauriges Licht getaucht. Jedesmal, wenn es blitzte, zuckte Estella zusammen.

Irgendwann, als sie sich so ziemlich sicher war, dass sie ihr Zimmer wohl nie wieder finden würde, setzte sie sich, an eine Wand gelehnt, in eine Ecke. Aus der geschlossenen Tür des gegenüberliegenden Zimmers drangen leise Stimmen, die dann und wann anschwollen.

Erst achtete Estella nicht sonderlich auf sie. Doch nach einiger Zeit versuchte sie das Gespräch zu verfolgen, was sich allerdings als sehr schwierig erwies, da sehr schnell und emotional gesprochen wurde.

Sie begann neugierig zu werden und fragte sich, wer sich ausgerechnet hier, am abgelegensten und dunkelsten Ort des riesigen Smials aufhalten sollte.

Gespannt lauschte sie weiter. Plötzlich verstummten jedoch die Stimmen und die Tür öffnete sich knarrend.

„Alles weitere besprechen wir die nächsten Tage. Es wird klappen!", sagte ein Hobbit der mit dem Rücken zu ihr stand. Er schloß die Tür und drehte sich um.

„Estella, was machst du denn hier!", rief er sichtlich überrascht ,als er Estella entdeckte. In dem Moment, als er sich umgedreht hatte, hatte auch Estella den Hobbit erkannt. Es war Doderic.

Er lief zu ihr hin und zog sie hoch. „Komm!", sagte er. Hastig zog er sie aus der dunklen Ecke und dem geheimnisvollen Zimmer fort.

Als der Gang wieder heller und breiter wurde, blieb er stehen. Behutsam strich er Estella ein paar wirre Haarsträhnen zurück in ihren blonden Haarschopf. Nachdenklich sah er sie an.

„Doderic, was hast du in dem Zimmer gemacht und mit wem hast du gesprochen. Und was wird klappen?", fragte Estella.

Doderic lachte. „Da sind aber ziemlich viele Fragen auf einmal, Liebes. Es war nichts wichtiges, nur so daher geredet."
Estella sah ihn mit einem prüfenden Blick an, gab sich aber mit der Antwort zufrieden.

„Was hast du in so einer abgelegenen Ecke überhaupt zu suchen?", fragte Doderic leicht tadelnd.

„Ich war wütend und bin einfach drauf los gelaufen. Ich konnte mein Zimmer nicht mehr wiederfinden."

Doderic grinste und zog sie in seine Arme. „Und wieso warst du wütend?"

Estella seufzte. „Ist doch egal. Das übliche halt. Eine kleine Auseinandersetzung mit Meriadoc."Estella merkte, wie Doderic scharf die Luft einsog. „Soll ich mich drum kümmern?", fragte er.

„Nein. Ist schon gut."

Doderic gab sie aus seiner Umarmung frei. „Na, dann wollen wir mal dein Zimmer wieder suchen."

Als sie an Estellas Zimmer kamen, traute diese ihren Augen nicht. Ein paar, ihr fremde, Hobbits und Esmeralda Brandybock waren fleißig dabei ihre Sachen aus dem Zimmer zu räumen.

„Halt! Was soll das denn?", rief sie fassungslos.

Esmeralda legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog Estella außer Hörweite der anderen.

„Hör zu Estella.", sagte sie. „Es sind bereits mehr Gäste eingetroffen als abgesprochen war. Wir brauchen dein Zimmer. Es tut mir leid."
„Ja aber... heißt das ich soll nach hause gehen?", fragte sie fast schon hoffnungsvoll.

„Nein, du brauchst nicht nach Hause zu gehen. Du kannst bei Merry im Zimmer schlafen.", sagte Esmeralda.

„Mh, na gut.", sagte Estella. „Und wo schläft Merry?"

„Auch in seinem Zimmer."

„Was?", rief Estella. Die Hobbits, die dabei waren ihr neues Zimmer einzuräumen, schauten sich nach ihr um.

„Ich soll also mit Merry zusammen in einem Zimmer schlafen?"Estella konnte es nicht fassen.

„Ja. Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist."

„Sie kann natürlich für die Woche auch mit in meinem Zimmer schlafen.", schaltete Doderic sich ein.

Esmeralda warf ihm einen unterkühlten Blick zu. „Ich denke, das ist keine gute Idee.", sagte sie. „Merry und Estella kennen sich seit sie Kinder sind. Da können sie ja wohl für eine Woche im gleichem Zimmer schlafen.", sagte Esmeralda energisch. Estella und Doderic wagten keinen Widerspruch mehr einzulegen.

Also räumte Estella ihre restlichen Sachen aus dem Raum und schaffte alles zusammen mit Doderics Hilfe in Merrys Zimmer. Dieser war zum Glück nicht anwesend.

Merry war, nachdem er eine Zeitlang wie betäubt auf seinem Bett gesessen hatte, ins Kaminzimmer gegangen, wo er auf Frodo, Pippin und Juweline traf.

Erst hatten sie sich über die neusten Auenland- Gerüchte ausgelassen, dann hatte Merry seinen Freunden von dem Gespräch mit Estella erzählt. Jetzt saßen sie schweigend beieinander und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Das Gewitter war weiter gezogen und draußen war es jetzt wieder still, bis auf die Rufe eines einsamen Nachtvogels.

Merrys Mutter hatte ihm bereits berichtet, dass Estella vorerst zusammen mit ihm in seinem Zimmer schlafen würde. Er fand es nicht weiter schlimm, so konnte er wenigstens ein Auge auf sie haben. Er war sich allerdings sicher, dass sie über die Entscheidung seiner Mutter weniger erfreut sein würde.

Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blies den Rauch zur Decke empor. Er war äußerst gespannt, wie sie, wenn er nachher sein Zimmer betreten würde, reagieren würde. Er hoffte nur, dass sie nicht wieder vor ihm davon laufen würde. Immerhin konnte er auch noch nach Krickloch ziehen, wenn dass mit Estella und ihm überhaupt nicht klappte. Doch vorerst gab er Frodo den Schlüssel, damit er dort übernachten konnte. Denn um den Rückweg nach Beutelsend anzutreten, war es zu spät. Nachdem auch Juweline und Pippin sich verabschiedet hatten, begab Merry sich in sein Zimmer.

Als er eintrat, lag Estella bereits im Bett, das aus einer am Boden liegender Matratze bestand. Leise ging er zu seinem Bett, obwohl er sich ganz sicher war, dass sie noch nicht schlief. Ihre Atemzüge gingen fiel zu unregelmäßig.

Estella hatte sich gleich, nach dem sie ihre Sachen umgeräumt hatte, in ihr behelfsmäßiges Bett gelegt. Sie war nicht gerade besonders froh und glücklich darüber, jetzt in Merrys Zimmer schlafen zu müssen. Aber sie war zu müde, um sich darüber noch an diesem Abend aufzuregen. Vielleicht Morgen...

Estella drehte sich auf den Rücken und konnte somit aus dem gegenüberliegenden Fenster schauen. Die Sterne schienen hell zwischen ein paar Wolkenfetzen.

Plötzlich vernahm sie Schritte auf dem Flur. Schritte, die immer näher kamen.

Merry, schoß es ihr durch den Kopf. Schnell drehte sie sich auf die Seite, so dass sie Merry den Rücken zu drehte.

Schon öffnete sich die Tür und er trat leise ein.

Mit diesem eingebildeten Brandybock red ich kein Wort mehr., dachte sie und stellte sich schlafend.

Sie hörte, wie Merry zu seinem Bett ging, stehen blieb, zu ihre Matratze trat und kurz davor stehen blieb. Sie spürte förmlich, wie seine Blicke auf ihr ruhten.

Ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Sie ärgert sich maßlos über sich selbst. Krampfhaft versuchte sie ihren Atem unter Kontrolle zu bringen und ruhig zu atmen.

Merry, der sie durchschaut hatte, grinste. Schließlich riss er seinen Blick von Estella los und ging zu Bett.

Als Estella merkte, dass Merry sich wieder abwand, war sie erleichtert, verspürte andererseits paradoxerweise aber auch Enttäuschung. Sie bemerkte, wie er zu Bett ging und vernahm kurz darauf seine ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge.