Kapitel
6
Vergangenheit?
Überrascht hielt Brass Sara fest. Als ihr Schluchzen stärker wurde, stemmte er sich, ohne sie loszulassen, vom Boden hoch, setzte sich auf den Rand der Couch und zog sie fester an sich. Dass sie so aufgelöst war, beunruhigte ihn nicht nur, es versetzte ihn in Panik. Sicher, er wusste, wie empfindsam sie war, wie viel Sensibilität sie hinter ihrem oft hitzköpfigen oder auch verbissen-kontrollierten Auftreten versteckte. Und einzelne Tränen hatte Brass bei ihr schon gesehen. Aber dieser Ausbruch war anders. Erschreckender.
Während Brass Sara über den Rücken strich, schweiften seine Augen zum offenen Paket, weiter zum Schal, und entdeckten die Karte. Sie lag mit der Schrift nach oben auf dem Boden. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Buchstaben zu entziffern.
„Entschuldigung", hörte er Sara an seiner Schulter murmeln. Sie zog kurz die Nase hoch, löste sich aus seiner Umarmung, setzte sich neben ihn und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
„Kein Problem", flüsterte Brass und zupfte ein Packet Papiertaschentücher aus seinem Jackett. Er reichte ihr eines der Taschentücher und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sara schnäuzte sich und lehnte sich wieder an ihn. Sie zitterte.
„Moment", sagte Brass. Er zog sein Jackett aus und legte es über Saras Schultern.
„Danke", sagte sie und kuschelte sich an ihn.
Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie, zu ihrer und seiner eigenen Überraschung, auf die Schläfe. Einen Moment lang saßen sie schweigend nebeneinander, dann fasste er sie leicht unters Kinn und drehte ihr Gesicht zu ihm.
„Verrätst du mir, was passiert ist?"
Sara schluckte. Selbst Grissom wusste nur Bruchstücke über ihre Vergangenheit, ihre Eltern und was passiert war, nachdem ihre Mutter für den Mord an ihrem Vater verurteilt worden war. Sara fühlte, wie Brass ihre Hand nahm und leicht drückte. Seine dunkelblauen Augen ruhten auf ihr. Sara las Sorge und Mitgefühl in ihnen. Und da war noch mehr. Etwas, was Sara zum ersten Mal in seinem Blick sah, oder hatte sie es früher nur nicht wahrgenommen? Sie schaute auf ihre Knie und räusperte sich.
„Ich war noch klein, gerade neun Jahre alt, als meine Mutter meinen Vater nach jahrelangen Misshandlungen erstochen hat. Sie wurde verhaftet und ich kam in eine Pflegefamilie …"
Sara hörte Brass scharf einatmen und fuhr fort.
„Sam", Sara nickte zur Karte, „ist der älteste Sohn meiner damaligen Pflegemutter. Er war schon 14 und vom ersten Tag an besessen von mir. Er stellte mir nach, bedrängte mich, wann immer er konnte. Er versuchte auch, mich beim Duschen abzupassen und kam nachts an mein Bett. Vor Angst konnte ich kaum schlafen. Und ich war zu eingeschüchtert, um jemandem davon zu erzählen. Stattdessen fing ich an, so viel Zeit wie möglich außerhalb zu verbringen. Nach der Schule ging ich in die Bibliothek und lernte. Wenn die Bücherei schloss, trieb ich mich in der Stadt herum, schlief in Hauseingängen und auf Parkbänken. Immer öfter griffen mich die Cops auf, und schließlich schritt die Fürsorge ein und brachte mich in eine neue Pflegefamilie."
Sara stockte und suchte Brass' Blick.
„Doch es war nicht vorbei. Sam lauerte mir täglich vor der Schule auf, verfolgte mich bis nach Hause, bedrohte meine Freunde. Niemand wollte mehr mit mir befreundet sein. Sie hatten zu viel Angst. Ich vergrub mich noch mehr ins Lernen. Mein Physiklehrer, Mr. Miller, bekam mit, was Sam mit mir machte. Er informierte die Fürsorge, doch niemand konnte oder wollte mir helfen. Also kümmerte er sich um mich. All die Jahre. Er lud mich nach Schulschluss zu sich nach Hause ein, hatte ein Auge auf mich und half mir schließlich, die Klasse zu überspringen und ein Stipendium für Harvard zu bekommen. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn getan hätte. Leider ist er vor ein paar Jahren gestorben."
Sara seufzte und spielte gedankenverloren mit Brass' Fingern. Nach einem Moment fuhr sie mit leiser Stimme fort.
„Es war nach einer dieser Studentenparties. Meine Freundin Tamara war mit einem Typen verschwunden und ich ging alleine nach Hause. Sam wartete im Gebüsch vor dem Wohnheim auf mich. Ich war überrascht und angetrunken – und er war stärker …"
Sara ließ Brass los und vergrub ihr Gesicht in ihren Handflächen. Brass ballte seine Hände zu Fäusten. Wenn er diesen Bastard … Der Captain atmete ein und aus, um sich zu beruhigen und zog Sara wieder an sich. Was sie durchgemacht hatte, erklärte einiges. Ihre Melancholie, ihre Ausbrüche an Tatorten, ihr Mitgefühl für die Opfer, ihre Verbissenheit, die Täter zu stellen.
„Hast du …", begann Brass.
Sara lachte bitter auf.
„Ihn angezeigt? Ja, aber die Beweise reichten nicht aus. Ich hatte mir versucht, den Ekel abzuwaschen und er behauptete bei der Vernehmung, wir seien ein Paar und ich stände auf wilden Sex und Fesselspiele, daher meine Verletzungen. Man glaubte ihm, wieso auch immer. Es kam nicht einmal zu einer Anklage. Doch ein paar Monate später kam er trotzdem hinter Gitter. Bewaffneter Raubüberfall auf eine Tankstelle … Ich dachte, dass er noch sitzt. Aber offensichtlich habe ich mich geirrt."
Sie deutete auf den Boden. Brass merkte, wie ein Kälteschauer über ihren Körper zog.
„Nach unserem Einsatz bei den Hendersons habe ich meinen Schal vermisst. Und ich habe die ganze Zeit das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Scheint, dass die Vergangenheit wieder aufersteht. Ich frage mich sogar, ob Mrs. Henderson wirklich gemeint war oder ob Sam …"
Brass dachte über das Unausgesprochene nach und fasste einen Entschluss.
„Sara, ich habe eine große Bitte, obwohl ich mir vorstellen kann, wie schwer das für dich ist. Ich lasse den Schal und den Rest im Labor untersuchen. Wir vergleichen die Befunde mit den Spuren aus dem Henderson-Fall und ich verspreche, die anderen erfahren erst einmal nicht mehr als nötig. Aber es kann sein, dass wir deine Aussage brauchen – wenn sich eine Verbindung zwischen all dem herausstellt. Ist das für dich okay?"
Sara nickte. Brass atmete erleichtert auf.
„Das Zweite, worum ich die bitte, betrifft dich persönlich."
Sara setzte sich aufrecht hin und sah in fragend an.
„Wenn dieser Typ schon weiß, wo du arbeitest, dann wird es für ihn nicht schwer sein, deine Adresse herauszufinden. Als Stalker hat er ja Erfahrung genug … Ich möchte nicht, dass du alleine bist, solange er frei herumläuft."
Sara nickte zu Brass' Überraschung. Er hatte Widerstand erwartet. Oft genug hatte er mitbekommen, dass Sara gegen Anweisungen zu ihrem Schutz aufbegehrt hatte. Prüfend schaute er sie an.
„Hast du jemanden, bei dem du die nächsten Tage unterkommen kannst? Vielleicht jemand aus dem Team? Greg?"
Brass biss sich auf die Zunge. Was hatte ihn bloß geritten, Greg ins Spiel zu bringen? Der Gedanke, dass sich beide dadurch noch näher kommen würden, gefiel ihm gar nicht. Noch waren Gregs und Saras Flirts harmlos, aber so wie er Greg einschätzte, konnte sich das bald ändern.
Sara überlegte und schüttelte den Kopf. Sie errötete leicht und fragte:
„Darf ich so lange bei dir bleiben?"
Brass' Augen weiteten sich. Sara fuhr schnell fort:
„Du bist der Einzige, der von Sam weiß … Und bei dir fühl ich mich sicher. Ich weiß, ich mache dir damit Umstände, aber …"
Brass unterdrückte das breite Grinsen, nach dem ihm zumute war, und lächelte Sara statt dessen an.
„Kein Thema. DU machst mir doch keine Umstände! Ich hab sogar ein Gästezimmer, also fühl dich bei mir wie Zuhause, okay? Außerdem kann ich so besser auf dich aufpassen."
Nun unterdrückte Sara ein Grinsen. Sie nickte und umarmte den Captain.
„Danke!"
Sie stand auf, zog ihn mit beiden Händen hoch, reichte ihm sein Jackett und sagte:
„Jim Brass, hiermit bist du offiziell als mein Schutzengel engagiert."
Brass lachte auf und zwinkerte ihr zu.
„Na, das klingt ja nach einer reizvollen Lebensaufgabe."
TBC
