Kapitel 1

1876

Serafina

Wie eine schwere Decke hing die feuchte Luft über den schmalen Stadtgassen. Ein süßlicher Gestank zog von stieg von überall aus den Grachten auf, gerade so wie es an heißen Julitagen in Venedig üblich war.

Ich würde zu spät kommen!

Eine Schar gurrender Tauben stob auseinander, als ich hastig am Campanile vorbei über den Markusplatz eilte.

„Serafina, warte!" Suchend blickte ich kurz über die Schulter und entdeckte schließlich Sophia, die schnellen Schrittes zu mir aufschloss. Sie hatte die weiten Röcke gerafft, um schneller voranzukommen, und die schwarzglänzenden Haarlocken wippten aufgeregt bei jedem ihrer Schritte. Ich winkte und bedeutete ihr, sich zu sputen.

Als sie mich erreichte, fassten wir uns an den Händen, wie damals als wir noch Kinder waren, und liefen so schnell es möglich war durch die engen Straßenschluchten. Auch wenn ich die tadelnden Blicke einiger Marktfrauen auf uns lasten spürte, fühlte ich mich in diesem Moment so frei und lebendig, dass es mich ganz einfach nicht kümmerte, was sie über unser wenig damenhaftes Verhalten dachten.

„Mama will gleich zu deinem Vater hinübergehen." Sie lachte atemlos, während die Worte abgehakt, aber im für meine Cousine üblichen Tempo über die Lippen sprudelten. „Sie hat heute frei und meint, dass Onkel Paolo und du sicherlich ihre Hilfe im Haushalt gebrauchen könnte."

Ich nickte grinsend und sparte mir jede Form von Antwort. Wir beide wussten, dass meine Tante ohne Zweifel im Recht war. Vater war Buchbinder und Zeichner, einer der besten der ganzen Region. Doch mir fiel es schwer, das Chaos, das er bei uns Zuhause verursachte, so gut es ging im Zaum zu halten.

Meine Mutter war gestorben, als ich noch sehr klein war. Undeutlich konnte ich mich an ihre wunderschöne lachende Stimme erinnern, aber sonst kannte ich ihr Gesicht nur von Vaters lebendigen Erzählungen. Sie muss sehr schön gewesen sein mit ihren langen, glatten haselnussfarbenen Haaren, dem ruhigen dunkelbraunen Blick ... immer ein Lächeln auf den feingeschnittenen Lippen tragend.

Papa sagte oft ich sähe aus wie sie. Doch meiner Meinung nach trennten mich die von ihm vererbten haselnussfarbenen Locken und olivgrünen Augen unbestreitbar davon, auch nur annähernd an ihre sanfte Anmut heranzureichen. Tante Antonella hatte ganz recht, wenn sie sagte ich sähe aus wie eine kleine Zigeunerin, nur mit blasserer Haut.

Endlich erreichten Sophia und ich unser Ziel und schon tauchte das La Fenice vor uns auf, das Theaterhaus, dessen Ruf Schauspieler, Komponisten und natürlich Zuschauer von weit her immer wieder anzog. Es machte seinem Namen wahrhaftig alle Ehre. Wie der triumphierende Phönix aus der Asche hob sich die pfleglich gehegte Theaterfassade gegenüber der angrenzenden Gebäude ab, an denen der Verfall vieler Jahrzehnte deutliche Spuren hinterlassen hatte. Nach dem verheerenden Brand vor vierzig Jahren hatte die Betreibergesellschaft seit 1836 wieder und wieder investiert, um das Prestige des großen venezianischen Opernhauses zu erhalten. Schließlich hatte es vielen bedeutenden Komponisten zur Aufführung ihrer Werke gedient. Rossini, Meyerbeer, Bellini und Verdi – sie alle hatten Akustik und Ausstattung dieses schmuckstückhaften Gebäudes zu schätzen gewusst, und so manche große, musikalische Schöpfung hatte in diesen Mauern zum ersten Mal die Ohren des Publikums erfreut.

Die Glocken begannen gerade sieben zu schlagen, als Sophia mich die letzten Stufen des Haupteingangs hinter sich herzog und wir in Windeseile unser Ziel erreichten - das kleine Nähzimmer neben der Kostümaufbewahrung im Gebäudetrakt unter Zuschauerraum und Bühne, wo sich auch Requisitenraum und die Garderoben der Sänger und Sängerinnen befanden. Für gewöhnlich arbeiteten meine Cousine und ich in Signora Scabrezzas Schneiderei am Canale Grande, direkt gegenüber des Palazzo Grimani. Doch anlässlich der Feierlichkeiten, die dem Wiederaufbau des Theaters vor vierzig Jahren gewidmet waren, stand in drei Wochen ein zusätzlicher großer Galaabend bevor. Natürlich mussten die Kostüme ihren Trägern exakt angepasst werden, und da nur noch wenig Zeit blieb, geschah dies in den Pausen der Gesangsproben. So kam es, dass wir seit nunmehr einer Woche jeden Morgen im Theater einfanden.

„Wo habt ihr so lange gesteckt?", empfing uns die kläffende Stimme der Signora. Sie hatte sich in der Mitte der kleinen Kammer aufgebaut, maß uns mit blitzenden Augen, die aus ihrem hochroten Gesicht hervorstachen, und hatte die von langen Jahren der Arbeit zerschundenen Hände in die Hüften gestemmt.

Ich musste einen Anflug aufkommenden Widerspruchwillens in zurückdrängen, der darauf beharrte, dass wir es gerade noch pünktlich geschafft hätten, denn erst jetzt erklang in dumpfer Ferne der siebte und letzte Glockenschlag.

Welch gravierenden Gegensatz unsere Herrin doch zu ihrem Bruder darstellte. Pater Giovanni Scabrezza, ein enger Freund meines Vaters, war ein Mann um die Sechzig, dessen mildes Gemüt aus jeder seiner Gesten sprach und dem allenfalls in der strengsten seiner Predigten ein harsches Wort über die Lippen kam. Er war es auch gewesen, der sich stets dafür eingesetzt hatte, mir ein besonderes Maß an Erziehung und Bildung angedeihen zu lassen, mich zu fördern und zu fordern, wo andere Mädchen in meiner Lage auf alle Zeit im elterlichen Haushalt eingesperrt geblieben wären.

„Es tut uns Leid, Signora. Es wird nicht wieder vorkommen." Sophia senkte schuldbewusst den Kopf.

Ich tat es ihr nach, ahnte jedoch, dass mein reuiger Anblick nicht ausreichte, um die vorhersehbaren Vorwürfe abzuwenden, die nun folgen würden.

Schon sah ich einen feisten, goldberingten Finger drohend vor meinen Augen hin und her schwenken. „Und du solltest dir besser besondere Mühe geben, nicht unangenehm aufzufallen, Serafina Stella Maria Ardendo! Es ist ohnehin mehr als großzügig von mir, ein stummes Ding wie dich in meinen Diensten zu halten." Ihr kurzes verächtliches Schnauben konnte mich nicht treffen. Ich war bereits mit schlimmeren Worten angegriffen worden, und das seitdem ich ein kleines Kind gewesen war. „Warum tue ich Giovanni nur diesen Gefallen?"

Insgeheim wussten wir beide, aus welchem Grund sie es tat. Ich mochte mich nicht verbal ausdrücken können, doch meine Hände waren bei weitem geschickter, als die der meisten jungen Frauen, die sonst als Schneidergehilfinnen angestellt waren. Schon immer hatte ich mich bemüht, auf den Gebieten Herausragendes zu vollbringen, auf denen mir auch nur ein Funke Talent gegeben war. Alles andere wäre ein Zeichen von Undank, Verschwendung und falscher Bescheidenheit.

„Eure Körbe habe ich bereits gepackt." Die Signora drückte Sophia und mir unsere Arbeitsutensilien in die Hände. Dann wand sie sich um und forderte mit herrischer Geste, dass wir ihr unverzüglich folgen sollten. Als wir das Nähzimmer verließen, das am hinteren Ende des Ganges lag, staunte ich, wie schnell sich der Flur mit Menschen gefüllt hatte. Hier und da schoben sich in weiße Tüllröcke gewandete Ballettmädchen wie eine Schar kichernder Schwäne an den mit langsamen Stolz schreitenden Diven und Sängern vorbei.

Wir würden heute viel zu tun haben. Die meisten Ensemblemitglieder trugen bereits die Vorentwürfe ihrer Kostüme, auch diejenigen, an denen noch Nähte geschlossen, Röcke gerafft und Verziehrungen angebracht werden mussten.

Während wir uns durch das aufgeregte Treiben den Weg nach oben bahnten, versuchte ich die abfälligen Blicke einer schlanken schwarzen Diva und ihres rundlichen, kahlköpfigen Begleiters zu ignorieren, der sich mehr für die Betrachtung der Ballettmädchen als den schiefen Sitz seiner Oberbekleidung zu interessieren schien.

Jemand stieß mich von hinten an, und ich schaute einer hochgewachsenen Sängerin nach, die sich ohne ein Wort der Entschuldigung, mit erhobenem Haupt an mir vorbeidrängte. Man ließ es uns deutlich spüren - Sophia und ich waren zwei der kleinsten Rädchen in diesem bunten Karussell von Kunst, Stolz und Intrige. Während man Signora Scabrezza noch ein gewisses Maß an respektvoller Behandlung zugestand, ließ man uns bei jeder erdenklichen Gelegenheit spüren, wie unbedeutend wir waren.

Es dauerte keine drei Stunden, schon sah ich Sophia die Erschöpfung deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich war mit meinen fünfundzwanzig Jahren gewöhnt, Müdigkeit und schmerzende Knochen zu ignorieren. Doch sie war erst sechzehn und hatte bis vor kurzem noch geglaubt, das Leben bestünde aus nichts anderem als einige Stunden Hausarbeit und der Gunst, den Zerstreuungen nachgehen zu können, nach denen ihr der Sinn stand.

Unser Elternhaus war nicht sehr arm und gewiss wäre es nicht nötig gewesen, dass wir tatsächlich einer Anstellung nachgingen. Doch aus irgendeinem Grund hatte sich mein Vater, der als ältester und einziger männlicher Ardendo das Oberhaupt der Familie darstellte, in den Kopf gesetzt, dass jedes Mitglied unseres Haushalts auch in der Lage sein müsste, auf eigenen Beinen zu stehen, sollte ein Schicksalsschlag unsere Lebensumstände verschlechtern.

„Eine Frau sollte niemals völlig von einem Mann abhängig sein, dafür sind wir viel zu unzuverlässig", pflegte er mit einem gutmütigen Lächeln zu sagen. Und in dieser Hinsicht nahm er keine Rücksicht darauf, wie sich einige Matronen aus der Nachbarschaft über derart ungewöhnliche Ansichten die Köpfe zerbrachen und die Lippen wund tratschten. Manchmal hatte ich den Eindruck, man bemitleide uns. Ich, die seit frühester Kindheit die führende Hand einer Mutter entbehrte, und Sophia, die vor drei Jahren ihren Vater verloren hatte, konnten nach Ansicht einiger Leute nur von Glück sagen, dass man uns trotz einiger Verfehlungen weiterhin als gesellschaftsfähig erachtete.

Mit müdem Blick reichte meine Cousine mir eine weitere Handvoll Pailletten, die ich mit flinken Stichen auf den Rock des Chormädchens nähte, das unruhig auf den Füßen wippte, da sie in wenigen Sekunden seinen Aufritt haben würde. Ohne meine Arbeit oder mich weiter zu beachten, stürmte die blondgelockte kleine Sängerin auf die Bühne.

Zwar verlor ich das Gleichgewicht und stieß mir die Knie hart an den hölzernen Dielen, doch wenigstens hatte ich es geschafft, die Verzierung rechtzeitig zu befestigen. Ich atmete auf.

„Ich kann es selbst kaum glauben, aber in diesem Moment sehne ich mich nach Signoras stickigem kleinen Geschäft. Wenigstens herrscht dort nicht so ein Trubel und wir können uns besser auf unsere Arbeit konzentrieren." Sophia flüsterte nur, doch schon wurde ihr ein äußerst feindseliger Blick von einem der neben uns wartenden Schauspieler zugeworfen. Man hatte es nicht gerne, wenn die exquisiten gesanglichen Darbietungen vom Getuschel einiger Ignoranten wie uns gestört wurden.

Wenigstens an meiner Antwort konnte niemand Anstoß nehmen, denn ich formte einige schnelle Gesten mit den Händen. „Sieh es so, meine Liebe, wenigstens kommen wir in den Genuss kostenlos die Arien zu hören, welche sonst nur denjenigen zu Teil werden, die sich einen Abend im Theater leisten können."

Sophia lächelte. Wie auch mein Vater und meine Tante hatte sie an den Lektionen in Gebärdensprache teilgenommen, die Pater Scabrezza uns seit meiner frühesten Kindheit hatte angedeihen lassen. Ihm stand als Geistlichem Zugang zu einigen umfangsreichen Bibliotheken offen, und so konnte er auch auf die seltenen Lehrbücher zurückgreifen, welche an den Schulen für Gehörlose in Paris und Washington entwickelt worden waren.

Bei dem Gedanken daran, dass es wahrhaftig Orte gab, an denen jeder mich verstehen könnte, auch wenn ich nicht über die Kraft der Sprache, sondern lediglich dieses andere Mittel der Verständigung verfügte, hatte mich tief beeindruckt als ich ein Kind gewesen war. Vielleicht war es der ungewöhnliche Umstand gewesen, dass ich zwar nicht reden konnte, aber wie jeder andere Mensch hörte, weshalb ich mich jedoch auch in dieser Umgebung zurechtfand. Im Grunde meines Herzens war ich dankbar, bei meiner Familie leben zu können, in der Stadt, die meine Heimat war, und nicht alles hatte eintauschen müssen gegen Menschen, die ich nicht kannte und Orte, an denen meine Wurzeln nicht lagen.

Ein plötzliches Verstummen von Gesang und Orchester ließ meinen Kopf in Richtung Bühne herum fahren. Was war geschehen? Ich beugte mich ein Stück weiter vor, um einen besseren Blick auf die Bühne zu erhaschen. Als ich sah, wer sich vom Zuschauerraum aus einen Weg durch die respektvoll beiseite tretenden Komparsen bahnte, sprang ich auf und nahmen eine ehrerbietigere Haltung an. Auch Sophia kam schnell auf die Beine, strich sich hastig den Rock glatt und blickte züchtig zu Boden.

Direttore Antonio Alterigia, schwarzer Schnauzbart, graue Schläfen und von kleiner untersetzter Statur, war vor wenigen Monaten von der Betreibergesellschaft als Verwalter des La Fenice eingesetzt worden. Seine Kompromisslosigkeit war sogar unter den stutenbissigen Diven gefürchtet und er hatte schon das ein oder andere etablierte Ensemblemitglied aufgrund von Nichtigkeiten im Zuge eines cholerischen Ausbruchs vor die Tür gesetzt. Dieser Mann bildete die Spitze einer bemerkenswerten Prozession, bei der ihm eine rothaarige Dame mit erhobenem Kinn, gewandet in die teuerste französische Mode, zwei sie umschwärmende Zofen und ein livrierter Bediensteter, der einen wütend kläffenden Pudel trug, folgten.

„Das ist ‚La Carlotta'", hörte ich eine kleine brünette Ballettratte ihrer Begleiterin zuflüstern. „Sie hat bis vor kurzem in Frankreich gesungen. Sogar an der Garnier Oper in Paris ist sie gewesen ... bis zu dem großen Brand natürlich. Eine unglaubliche Geschichte! Man sagt, Übersinnliches wäre dabei im Spiel gewesen. Ein Mann wurde getötet und eine wunderschöne Sängerin soll seitdem verschwunden sein."

In der kurzen Zeit, die meine kleine Cousine und ich im La Fenice arbeiteten, hatte ich bereits häufiger von diesem Vorfall gehört. Unter den Tänzerinnen und Chormädchen verbreiteten sich derartige Gerüchte, seien sie noch so viele Jahre alt, mit ungebrochener Faszination und sie genossen die wohligen Schauern, die sie sich gegenseitig einjagten. Selbst wenn alle von ihnen jeden Sonntag frommen Blickes die heilige Kommunion empfingen, hatten sie doch immer ein offenes Ohr für die unglaublichen Schauergeschichten, die sich in der Theaterwelt verbreiteten. Im Falle der Pariser Oper hatte man sich wohl auf die Heimsuchung eines mysteriösen Gespenstes festgelegt, besser gesagt eines ominösen Phantoms, das seine Hände in sämtlichen Belangen des Hauses im Spiel gehabt haben soll. Ich konnte mir nicht verkneifen, angesichts derartigen Aberglaubens zu schmunzeln.

„Meine Damen und Herren, ich bitte für einen Augenblick um ihre Aufmerksamkeit." Direttore Alterigia räusperte sich. Er und sein Gefolge waren nun in der Mitte der Bühne zum Stehen gekommen, und ich konnte den abschätzigen Blick der Diva auf jedem einzelnen lasten sehen, als sie ihr anmutiges Haupt noch ein Stückchen höher hob. „Es ist eine große Ehre, uns bei den kommenden Feierlichkeiten auf die herausragende Darbietung der berühmten Carlotta Giudicelli freuen zu dürfen." Mit stolzer Geste deutete er auf seinen berühmten Gast. „Selbstverständlich werden wir das Programm nun ein wenig umstellen müssen, um ihr den gebührenden Rahmen bieten zu können."

Ein leises Murmeln war der einzige aufkeimende Widerspruch. Sicher konnten die Sängerinnen und Sänger nur von Glück sagen, das an dem großen Galaabend eine Aufführung verschiedenster Opernauszüge geboten werden sollte. Ein zusammenhängendes Stück hätte weitaus gravierende Änderungen mit sich gezogen.

„So eine falsche Schlange", hörte ich die Briga hinter mir zischen. Bisher hatte stets ihr der meiste Beifall des Publikums gegolten, und sie schien keinesfalls angetan von dem Gedanken, nun in den Schatten einer anderen gefeierten Diva treten zu müssen. „Ich hoffe nur, dass sie genauso gut bei Stimme sein wird wie an dem Abend vor fünf Jahren, an dem angeblich das ‚Phantom der Oper' für ihren krächzenden Auftritt gesorgt hat." Die üppige Primadonna verstummte, als sie einen warnenden Blick des Direttore erhielt.

‚La Carlotta' hingegen schien wenig beeindruckt von derartigen Eifersuchtsbekundungen. Mit sanft artikulierten Worten, denen ein leicht französischer Akzent anzumerken war, wandte sie sich an Alterigia. „Mein lieber Herr Direttore, es ist mir natürlich ein Vergnügen in einem Haus wie dem Ihren auftreten zu dürfen. Gestatten Sie mir die Frage mit welchem Stück ich Ihr Publikum erfreuen darf?"

Sichtlich geschmeichelt nahm der Angesprochene Haltung an und reckte die Brust. „Nun, unser Programm wird unter anderem Passagen aus Rossinis ‚Barbier', Puccinis ‚Butterfly', Wagners ‚Tannhäuser' und Verdis ‚Maskenball' und ‚Aida' beinhalten." Schwärmerisch breitete er die Arme aus. „Alles was noch zu einem furiosen Erfolg fehlt ist eigentlich Gounods ‚Margarete'."

Wie ungeschickt von ihm! Ich schüttelte kurz den Kopf, angesichts einer derartigen Gedankenlosigkeit. Sogar ich wusste doch darüber Bescheid, und in der Theaterwelt war es erstrecht kein Geheimnis, dass ausgerechnet diese Rolle verantwortlich war, für einen winzigen Kratzer auf dem blankpolierten Aushängeschild der Diva. Bei der Darbietung der ‚Margarete' war es zu jenem denkwürdigen Auftritt gekommen, bei dem der Giudicelli die Stimme versagt und auf den Signorina Briga vorhin angespielt hatte!

Doch durch und durch Schauspielerin, die sie war, merkte man allenfalls an einem leicht verhärteten Ausdruck um die lächelnden Mundwinkel der Giudicelli, dass sie sich kompromittiert fühlte. „Wenn ich ihnen damit eine Freude machen kann, Signor ..."

„Selbstverständlich! Mir und auch allen Gästen dieses wunderbaren Anlasses", erwiderte Alterigia eifrig. „Schneiderin!" Er blickte sich suchend um und winkte Signora Scabrezza mit einer wohlwollenden Geste herbei. „Die Garderobe unseres Gastes hat nun absoluten Vorrang, meine Gute. Ich schlage vor, dass Sie sich persönlich darum kümmern."

Meine Arbeitgeberin deutete eine Verbeugung an. Nervös rang sie die Hände und gab somit zu erkennen, dass sie etwas zu sagen hatte, was dem Direttore vielleicht nicht gefallen würde. Zweifelsohne musste sie ihm mitteilen, dass wir schon so mehr zu tun hatten als eigentlich machbar war. Gerade sie war an mehr Ecken und Enden eingespannt als Sophia und ich zusammen. Undenkbar, dass wir beide, als Schneidergehilfinnen, die restlichen Arbeiten alleine bewältigen sollten.

Signora Scabrezza setzte an und ich mochte meinen Ohren kaum trauen. „Es wäre mir eine Ehre, mich persönlich um die Garderobe der berühmten Signora zu kümmern, Herr Direttore. Doch ich bin sicher, dass die geschickten Hände von Signorina Ardendo hierzu wesentlich geeigneter wären. Sie hat einen vortrefflichen Blick fürs Detail, und könnte den Ansprüchen der großen Giudicelli wahrscheinlich besser entsprechen als ich, die ich doch vielmehr noch einen Blick auf meine andere Gehilfin haben muss. Sie steht noch ganz am Anfang ihrer Ausbildung und benötigt aus diesem Grunde noch des Öfteren eine führende Hand."

Aus den Augenwinkeln blickte ich hinüber zu meiner Cousine, aus deren Richtung ein leises Keuchen erklungen war. Sophia biss sich wütend auf die Unterlippe. Dieses Argument war ganz gewiss ein Vorwand, da die Signora fürchtete, ihren guten Ruf zu verlieren, sollte das Ergebnis ihrer Arbeit der Diva nicht zusagen. Unterlief mir jedoch ein Fehler, konnte man mich umstandslos auf die Straße setzen und kein Schaden für ihre Schneiderei würde entstehen.

Der Direttore des La Fenice nickte zustimmen und forderte auch mich mit einem Wink auf, vorzutreten. Zögernd kam ich der Geste nach und fühlte voll Unbehagen die vielen Augenpaare, die mit einem Mal auf mir lasten. Mit süffisantem Lächeln wandte er sich nun wieder an die rothaarige Primadonna. „Ganz sicher werden Sie mit der Arbeit dieser jungen Dame zufrieden sein, Signora. Außerdem wird sie Ihnen kaum Umstände bereiten. Seit Geburt ist sie stumm und somit in der Lage, Ihren Wünschen ohne Widerworte nachzukommen."

Ein herrlicher Scherz, der unter allen Anwesenden für heiteres Gelächter sorgte, außer bei mir und Sophia, die lediglich ein gequältes Lächeln zu Stande brachte. Ich hingegen spürte heiße Röte in meine Wangen steigen, und lobte mich innerlich für meine Selbstbeherrschung, die mich die Situation stoisch ertragen ließ.

Somit begann für mich einer der anstrengensten Arbeitstage meines Lebens, und als ich spätabends erschöpft in die Küche meines Elternhauses trat, empfing mich Vater bereits mit einem mitleidsvollen Lächeln.

„Principessa ..." Er trat auf mich zu und schloss mich in eine herzliche Umarmung, der ich mich müde und dankbar entgegenlehnte. Fürsorglich meine Hand ergreifend, dirigierte mich der immer noch lächelnde Mann, zur hölzernen Sitzbank in der Küchenecke und trug Brot, Oliven und Käse auf. „Sicher hast du heute wieder den ganzen Tag nicht gegessen. Deine Mutter würde mir eine gehörige Standpauke halten, wenn sie sehen würde, dass du nur noch Haut und Knochen bist!"

Ich schmunzelte. Für meinen Vater wäre ich auch dann noch ‚nur Haut und Knochen', wenn ich Signora Scabrezzas Statur besäße. Falls mein Gesicht heute Abend tatsächlich ein wenig hager wirken sollte, so war dies gewiss mit den anspruchsvollen Garderobenvorstellungen der Giudicelli zu erklären.

Nachdenklich betrachtete ich, wie die geschundenen Hände meines Vaters mit einem kaum merklichen Zittern den Tisch deckten. Er war alt geworden in den letzten Monaten, und das obwohl er noch keine Fünfzig zählte. In kürzester Zeit hatte sein ehemals dunkelbraunes Haar eine weißlich graue Farbe angenommen, und auch wenn er noch immer eine recht kräftige Statur besaß, merkte man seinem Rücken bereits eine merklich krümmere Haltung an, als noch vor kurzer Zeit.

Schon immer hatte unsere Familie in diesem Hause gelebt, doch während seine Eltern die Stadt nie verlassen hatten, war Paolo Ardendo im Alter von kaum dreizehn Jahren zusammen mit seinem älteren Bruder Stefano verschwunden. Erst ein ganzes Jahrzehnt später hatte er nach dem Tod seines Vater urplötzlich wieder in der kleinen Buchbinderei direkt neben dem Dogenpalast gestanden, um das Geschäft weiterzuführen. Davon, was in diesen verloren Jahren geschehen war, sprach er nie und auch nicht davon, weshalb man nie wieder etwas von Stefano gehört hatte. Als ich geboren wurde war er bereits Mitte Zwanzig, während meine Mutter kaum älter als meine sechzehnjährige Cousine gewesen sein musste.

„Sophia hat mir von deinem neuen Auftrag berichtet", mit einem leisen Seufzen ließ er seine schmerzenden Knochen auf dem Stuhl mir gegenüber nieder und betrachtete mich nachdenklichen Blickes. „Möchtest du darüber reden?"

Während ich hungrig ein Stück Brot in den Mund schob, begannen meine Hände aufgeregt zu erzählen. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine einzelne Frau mich derart beschäftigt halten kann. Mir kommt es so vor, als ändere sie ihre Meinung stündlich. Bis wir auch nur ansatzweise einen passablen Entwurf ausgewählt hatten, war der Nachmittag auch schon um. Und da die Zeit drängt, musste ich noch einige Stunden ins Geschäft, um wenigstens die Stoffe und Nähzeug für morgen vorzubereiten!"

Die sonnengebräunte Stirn in Falten legend, verschränkte Vater die Arme und lehnte sich zurück. „Diese Wochen werden sicher mühevoll für dich, Principessa. Aber glaube mir, wenn sie vorüber ist, wirst du stolz auf dich sein."

„Papa!" Eine leichte Welle von Wut stieg in mir auf. „Das weiß ich. Es ist auch nicht so, dass ich nur aus diesem einen schwierigen Kunden einen Schluss auf meine gesamte Arbeit ziehen würde ... nur wenn ich dir schon von meinen Sorgen erzähle, dann möchte ich wenigstens, dass du dich ein kleines bisschen mit mir zusammen aufregst."

Das schallende Lachen, welches ich ernte, ließ mein Herz zum ersten Mal an diesem Tage leicht werden. So schnell er gekommen war, ebbte der kleine Anflug von Zorn auch schon wieder ab. Mochte mein Lachen auch niemals den wohligen Klang haben, den das von Vater verströmte, so war ich in diesem Moment doch einfach nur glücklich, jemanden zu haben, mit dem ich es teilen konnte.

Ich aß noch ein wenig von Käse und Brot und begann dann abzuräumen, während sich langsam der rauchige Duft von Papas Pfeife im Raum ausbreitete. Er saß schweigend und mit verklärtem Blick da, hatte die Beine weit von sich gestreckt und hing eigenen unergründlichen Gedanken nach. Manchmal schien es mir, als umgäbe ihn eine geheimnisvolle Aura, und dann schmerzte es mich tief in meinem Herzen. Unser Verhältnis war eng, und ich fühlte mich geborgen und verstanden von ihm, doch gab es Teile seiner Person, die er vor mir abschirmte, als hüte er irgendwo in sich Heimlichkeiten, von denen ich nichts erfahren sollte. Ich sprach ihn nur selten darauf an, denn die wenigen Male, zu denen ich es getan hatte, waren ohne Ergebnisse gewesen.

Ich stellte den letzten getrockneten Teller an seinen Platz, lächelte Papa noch einmal zu und ging hinüber ins Wohnzimmer. Dies war der einzige Raum unseres kleinen Hauses, in dem ein teurer Teppichboden lag. Mama hatte ihn in ihrer Liebe zur filigranen französischen Mode hergerichtet und so bildete er einen angenehm exotischen Kontrast zum praktischen, italienischen Stil den mein Vater seit jeher bevorzugt hatte. Dennoch hatte ich ihm abgerungen diesen einen Wohnraum zu belassen, auch nachdem Mutter von uns gegangen war.

Ich nahm ein Buch aus dem mit Glastüren ausgestatteten Bücherschrank und ließ mich auf der bordeaux-farbenen Chaiselounge nieder. Vor einigen Tage hatte ich begonnen, Goethes ‚Werther' zu lesen, und auch wenn Tante Antonella der Ansicht war, dass dieses ‚todesverherrlichende Machwerk' keinesfalls eine angemessene Lektüre für junge Damen darstellte, hatte es mich mit seiner lebendigen Sprache doch sofort gefesselt.

Siehst du, mit mir ist's aus, ich trag' es nicht länger! Heute saß ich bei ihr – saß, sie spielte auf ihrem Klavier, mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck ... las ich gerade auf Seite Einhundertzehn, als ein Klopfen an der Wohnungstür mich aufschrecken ließ. Mein Blick flog zur Standuhr. Es war bereits kurz vor Elf. Wer mochte das sein?

Etwas regte sich in der Küche, und ich hörte wie sich Vaters Schritte der Haustür näherten. Angestrengt lauschend konnte ich nur mitbekommen, das eine Männerstimme mit ihm ein paar Worte wechselte und dann wieder ging. Ich wartete. Als Papa zu mir ins Wohnzimmer trat, konnte ich sehen, dass der nächtliche Besucher mehr als unangenehme Nachrichten mit sich gebracht haben musste. Er war blass und fuhr sich mit nervöser Hand übers Haar. „Ich bin noch einmal fort, Serafina." Es war kein gutes Zeichen, dass er meinen Namen derart ernst aussprach. Seine Augen wanderten unruhig hin und her. Er wirkte gehetzt und seine Gedanken schienen sich zu überschlagen. Während er sich umwandte, ohne dass ich Gelegenheit gehabt hätte, ihn zu Rede zu stellen, hörte ich seine scharfen Worte. „Es kann spät werden. Du wirst die Tür direkt hinter mir zuschließen."

Erik

Venedig – in keiner anderen Stadt schien das Spiel von Licht und Schatten soviel Bedeutung zu haben wie hier. Selbst bei Tag versanken die verschlungenen Gassen in dämmrigen Zwielicht und überall herrschte eine wehmütig schwere Atmosphäre, der man sich nur schwer zu entziehen vermochte. Es schien wahrhaftig viele Orte und Straßen in der Lagunenmetropole zu geben, denen nie ein Sonnenstrahl vergönnt war. Die hohen Häuserschluchten hielten einen Großteil der Helligkeit ab, so dass man die Tageszeit oftmals kaum aufgrund der Lichtverhältnisse bestimmen konnte.

Allerorts traf man auf Maler verschiedensten Alters, verschiedenster Herkunft, die in einer Gasse oder an einem der unzähligen Marktplätze mit Staffelei und Palette Stellung bezogen hatten, um einen Teil des vergänglichen Zaubers dieser von Schatten, Ruhm und Verfall gekennzeichneten Stadt einzufangen. Hier stand eine prachtvolle Kirche, flanierten wohlhabende Schaulustige - vor allem aus der reichen, europäischen Oberklasse-, dort verdienten sich magere, in Lumpen gehüllte Kinder, Frauen und Greise gerade genug durch Bettelei und undankbare Hilfstätigkeiten, um am Leben bleiben zu können.

Welch ein Schmelztiegel menschlicher Dekadenz!

Das Il Palazzo lag direkt am Canale Grande. Es bedurfte nur eines kurzen Fußweges von zwei Minuten und schon hatte man den Markusplatz erreicht. Das Hotel verfügte über eine eigene Bootsanlegestelle, sowie einen separaten Eingang mit Concierge.

Die Suite, welche ich bewohnte, war mit vier luxuriösen Räumen eine der größten. Möbel und Ausstattung ließen keine Wünsche übrig. Der Inhaber hatte keine Kosten gescheut und alles mit den hochwertigsten Einrichtungsgegenständen versehen. Perserteppiche, barocke Stelltische, Sekretär, marmorverkleidetes Badezimmer und ein großes französische Mahagonibett bestachen in ihrer geschmackvollen Nebensächlichkeit.

All das hatte keine großartige Bedeutung für mich. Zwar konnte ich nicht leugnen, dass ein gewisses Vermögen, welches ich durch einige Geschäfte von teilweise fragwürdigem, wenn auch nicht kriminellem Ruf erworben hatte, mehr als angenehm war, doch strebte ich nach etwas Höherem.

An dem Tag, als ich Christine frei gab, war etwas in mir losgebrochen, das ich nicht mehr aufhalten konnte. Zu lange hatte ich mich selbst eingesperrt in dieses unterirdische Verließ. Zweifelsohne hatte ich in dieser Abgeschiedenheit Fertigkeiten erwerben können, wie sie keinem anderen Menschen eigen waren – Perfektion in jedem erschlossenen Gebiet von Kunst und Wissenschaft. Doch nun verlangte es mich nach mehr.

In mir war der Hunger nach neuen Herausforderungen erwacht, und die Sehnsucht, noch einmal mehr von der Welt zu sehen als die Kellergewölbe der Pariser Oper.

Es hatte lange gedauert, doch der Zeit war es mir gleichgültig geworden, ob man vor meinem Anblick zurückschrak. Ich war nicht länger bereit, mich um des Friedens meiner Mitmenschen Willen von den inspirierenden Quellen fremder Länder und vielfältigster Eindrücke fortzusperren. Womit hätten sie sich ein solches Opfer verdient?

Welch ungeahnte Horizonte hatte ich musikalisch erreichen können, nachdem ich das erste Mal seit Ewigkeiten die sturmgepeitschte See bei Calais gesehen hatte? Ich hatte geweint und das Gefühl des Regens, der mir über Maske und Gesicht rann, begrüßt wie die zärtliche Berührung einer Geliebten. Nie wieder wollte ich dieses Gefühl entbehren, die Natur zu erfahren und alles in mich aufzunehmen, was sie mir zu bieten hatte. Seitdem ich frei war, gehen konnte wohin ich wollte, hatte ich mehr komponiert als in den Jahren, in der die Musik mein einziger Begleiter gewesen war.

Nur eine Bedingung stellte ich an mich selbst. Ich musste fort aus Frankreich, fort von dem Schatten meines eigens geschaffenen Phantoms, fort von der Frau, die auf ewig einen Platz in meinem Herzen innehatte. Christine.

Madame Antoinette Giry, meine einzige Vertraute, seit Jahren, Jahrzehnten, hatte mir in einem unserer regelmäßigen Briefwechsel berichtet, dass der Vicomte zusammen mit seiner jungen Braut nach Schweden ausgewandert war, ihrer Heimat, wo sie geboren wurde. Auch mich hatte das Schicksal nicht wieder in das Land zurückkehren lassen, das zu eng verknüpft war mit den schmerzenden Erinnerungen an eine Vergangenheit, die ich nicht vergessen, aber doch hinter mir lassen wollte.

Eins hatte ich im unvermeidbaren Umgang mit den Menschen schnell gelernt, egal welches Land ich auch bereiste. Die Ausstrahlung von Unnahbarkeit und Stolz, die mir die grenzenlose Annahme durch Christines verzweifelt ehrlichen Kuss geschenkt hatte, jagte ihnen Respekt ein. Die weiße Ledermaske, welche meine rechte Gesichtshälfte verbarg, wurde zwar voller Befremden angestarrt, aber unternahm man keinen Versuch, dahinter zu schauen.

Es hatte einige Zeit der Gewöhnung bedurft, doch mittlerweile scheute ich mich nicht mehr, mir sogar am Tag meinen Weg durch die Menschenmengen einer Stadt zu bahnen, die erschrockenen Blicke von Jung und Alt ignorierend und erschauernd angesichts der Kraft meiner Ausstrahlung, die oft sogar gestandene Männer zur Seite treten ließ, um mir Platz zu machen.

Meine Seele war trotz der uneingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten ruhelos. An keinem Ort verweilte ich länger als einige Monate. Dann trieb es mich fort.

Die Schatten der Vergangenheit hatten nicht einmal das Tageslicht vertreiben können, das bald ein fester Bestandteil meines Lebens geworden war. Doch wenn ich zu Anfang gedacht hatte, die Geschehnisse der letzten Tage als ‚Phantom der Oper' würden mich niemals loslassen, hatte ich bereits weniger als ein Jahr später, nach der Geburt des ersten Erben der jungen Vermählten de Chagny, meinen Frieden mit Christine und den Untaten, die ich an ihr begangen hatte, geschlossen. Sie war glücklich, und in mir breitete sich die Gewissheit aus, damals - an jenem verhängnisvollen Abend von Leben, Tod und Wiedergeburt - die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Nein, es war nicht das Antlitz meines lieben kleinen Singvogels, sondern Erinnerungen an eine Zeit lange vor ihr, die mich Nacht für Nacht heimsuchten und schweißgebadet, mit wildschlagendem Herzen auffahren ließen. Meine Suche nach einem Gegenmittel für diese Alpträume hatte mich bereits früher quer durch Europa, Persien und Russland geführt, immer auf den Spuren einer anfangs erzwungenen, später rastlosen Odyssee, die ihr Ende erst in den Kellergewölben der Pariser Oper gefunden hatte. Als ich dieses Refugium verlassen hatte, waren auch sie wieder zum Leben erwacht, als hätten sie jahrelang lediglich unter der Oberfläche meiner Seele geschlummert.

Es hatte lange gedauert, doch heute und hier in Venedig, Stadt der Masken und der Kunst, wo sich die Schönheit des Vergangenen mit dem Blick auf eine weltoffene Zukunft vereinigte, war ich einem entscheidenden Wendepunkt zum Greifen nahe.

Während ich auch weiterhin in die knisternde Glut der im Kamin erloschenen Flammen starrte, wurde ich mir meiner Angespanntheit gewahr. In Kürze würde ich mich einem der Dämonen gegenübersehen, denen ich nun beinahe fünf Jahre lang hinterher jagte.

Ich erhob mich aus dem schweren Samtsessel und verschränkte die Hände auf dem Rücken, nicht beachtend, dass meine Schultern hierbei ein schmerzendes Stechen durchfuhr.

Mein Blick ging in die entgegengesetzte Richtung, als es leise an der Tür klopfte und der von mir entlohne Bote eintrat. „Er wird in einer Minute hier sein, Monsieur." Umständlich artikulierte er das ungewohnte Wort.

„Warum hast du ihn nicht mitgebracht, wie ich dir aufgetragen hatte?"

Er räusperte sich unbehaglich. „Er wollte wohl seiner Tochter noch eine kurze Erklärung abgeben ... ist das hier mein Geld?"

„Nimm es und verschwinde." Heiß schoss mir das Blut durch die Adern, und als ich das leise Schließen der Tür vernahm, ließ ich kopfschüttelnd den Blick sinkend. „Ich hätte damit rechnen müssen", erinnerte ich mich selbst mit leisem Murmeln. Er hatte mittlerweile Familie, Kinder ... zwei Seiten begannen in mir zu ringen, doch am Ende siegte die Härte und der Gedanke, dass es um Wiedergutmachung ging, Gerechtigkeit, nicht ein Verbrechen, das ohne jede Moral wäre.

Ein erneutes Klopfen ließ meine Angespanntheit noch stärker wachsen. Ich straffte die Schultern, atmete tief ein, während ich auch weiterhin in die Glut vor mir starrte, die als einzige Lichtquelle den Raum in ein schummriges Zwielicht tauchte. „Treten Sie ein!", forderte ich.

Die Tür wurde geöffnet, knarrte leise und fiel zu. Mein Gast gab kein Geräusch von sich. Der Raum musste unheimlich auf ihn wirken, denn alles, was er im schummrig roten Licht erkennen konnte, war wohl meine hochgewachsene und ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die ihm den Rücken kehrte.

Ich schwieg. Denn bevor das erste Wort die bleierne Stille durchschneiden würde, musste ich eine Wallung von Aggression und überwältigendem Zorn zurückhalten, die den einzigen Schwur brechen würde, den ich mir in Christines Andenken auferlegt hatte. Zwar gab ich dem Drang nicht nach, doch war ich immer noch im Stande zu töten.

„Was ist nur aus dir geworden, Zingaro?", stieß ich schließlich verächtlich hervor. „Seit Jahrzehnten sollst du die Stadt nicht mehr verlassen haben, gehst nun in einem kleinen Geschäft tagein, tagaus einer ehrbaren Arbeit nach ... Ist diese Sesshaftigkeit zu ertragen, wenn man tief in der Seele doch ein Zugehöriger des fahrenden Volkes ist?"

Der ältere Mann keuchte überrascht auf. Die Enthüllung seiner Vergangenheit schien ihm Furcht zu bereiten. Offenbar war es ein Geheimnis, dass er für gewöhnlich gut hütete. „Ich weiß nicht wovon Sie sprechen. Ihr Bote hat mir nur den Brief überreicht. Woher wissen Sie von meiner Vergangenheit? Sind Sie einer der Sippe von damals, Signor?"

Ein kaltes Lachen brach aus meiner Kehle. „Signor? Signor! Das ist wahrhaftig ein Titel, den ich bislang noch nicht aus deinem Mund gehört habe!"

Ich spürte, wie sich die Blicke des Mannes in meinen Rücken bohrten. Seine Worte waren harsch, kündeten von mühsam unterdrückter Wut. „Nun reicht es mir, Monsieur!" Er hatte meinen Akzent trefflich zugeordnet. „Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass ich durch Frankreich reiste! Ich kenne Sie nicht!"

„Vielleicht ist es die ungewöhnlich teure Umgebung, in der wir uns hier treffen?" Meine Hand kreiste kurz in einer abwertenden Geste. Noch immer war ich nicht bereit, ihn anzusehen. „Oder ist es die Andersartigkeit meiner Kleidung?"

„Vielleicht ist es der Umstand, dass ich Ihr Gesicht nicht sehen kann, Monsieur", gab Ardendo knurrend zurück.

Auf diesen Zeitpunkt hatte ich gewartet. „Mein Gesicht also, Zingaro?" Ohne dass er es erkennen konnte, entfernte eine fließende Handbewegung das weiße Leder meiner Maske. Langsam wandte ich mich um, das Entsetzen in den Augen meines Gegenübers genießend. Mein Kinn reckte sich noch höher vor Stolz, um ihm die uneingeschränkte Betrachtung meiner Deformation zu ermöglichen.

Sein gealtertes Gesicht verlor zusehends jede Farbe. Der Mund stand in Unglauben offen und seine Schultern sanken kraftlos herab. Ich war in all den Jahrzehnten erwachsen geworden, doch er nichts als ein alter Mann, dem ein Schreckensbild seiner Jugend gegenüber stand. Er zitterte, hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. „Des Teufels Sohn!" Die Stimme aus meinen Alpträumen war nichts weiter als ein Krächzen.

Das erste Mal in meinem Leben empfand ich so etwas wie Befriedigung, als ich das Grauen in den Augen eines Menschen sah, der mein wahres Gesicht erblickte. Welch Ironie des Schicksals! War er nicht einer derjenigen Männer gewesen, denen der Anblick dieser Fratze die Taschen gefüllt hatte, mit den Münzen der wohlig erschauernden, gaffenden Masse? „Scheinbar hast du dich geirrt. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass du dich sehr wohl an mich erinnerst."

„Wie ... wie ist das möglich? Die Gendarmerie von ganz Paris war dir auf den Fersen, nachdem du ..."

Ich ballte unwillkürlich die Fäuste, als mich Erinnerungen an jene Nacht überfielen. Das Donnern meiner Stimme schnitt Ardendo das Wort ab. „... nachdem ich aus dem Käfig geflüchtet bin, in dem ihr mich zwei Jahre lang als Kuriosität präsentiert habt!" Hätte Antoinette Giry mich damals nicht halbverhungert aufgelesen und in den Kellergewölben der alten Oper versteckt, wäre ich der blutigen Rache des Zigeunerclans ausgeliefert gewesen.

Der Alte hielt meinem Blick ungewöhnlich ruhig Stand. „... nachdem du meinen Bruder getötet hattest." Der schmerzvolle Klang seiner Worte versetzte meinem Herz einen kurzen, reuevollen Stich. Wieder regte sich mein Gewissen, dessen Opfer ich in den letzten fünf Jahren häufig geworden war.

„Ein Wunder, dass ich dazu in der Lage gewesen bin. An jenem Abend hätte er mich beinahe zu Tode geschunden, nur weil ich immer noch den Stolz besaß, mein Gesicht nicht zu eurem Verdienst vorzuzeigen, um Kinder zu Tode zu ängstigen. Ich hatte es satt, mich anspucken, beschimpfen und auslachen zu lassen. Ihr hab mich damals zu einem Tier gemacht!" Abrupt wandte ich mich ab. „Verschwinde! Für heute Abend ist es genug."

Kein Geräusch gab mir Anlass anzunehmen, dass er meinen Worten nachkam. „Dir scheint nicht viel an deinem Leben zu liegen", stieß ich zwischen aufeinandergepressten Zähnen hervor. Was hatte ich mir nur gedacht? War ich wirklich so töricht anzunehmen, jeden Drang unterdrücken zu können, der mich verlangte, jetzt und hier eigenhändig für Gerechtigkeit zu sorgen?

„Monsieur, ich kann nicht gehen."

Ich hob eine Augenbraue, setzte gedankenverloren meine Maske wieder auf und wandte mich dem Mann zu, der meine Geduld bis aufs Äußerste strapazierte. „Und weshalb kannst du das nicht, Zingaro?"

„Hören Sie auf, mich so zu nennen. Ich bin schon lange kein Zigeuner mehr. Und für das was ich Ihnen damals antat – ja, ich weiß sehr wohl, dass ich meinen Bruder in seinem morbiden Ideenreichtum hätte aufhalten sollen, schließlich waren Sie noch ein Kind, kaum älter als zehn – habe ich durch vielerlei Schicksalsschläge gebüßt."

„So." Es kümmerte mich nicht. Ich wollte nicht, dass es mich kümmert. Ich wurde langsam ruhiger. Ganz allmählich verrauchte meine Wut, angesichts der Demut meines Gegenübers.

Ardendo neigte den Kopf. Er vermied mir direkt in die Augen zu blicken. Es war offensichtlich, dass seine Haltung aufrichtig war. „Ich habe Familie, eine Tochter. Wie kann ich auch nur eine ruhige Minute finden, während Sie als düsterer Racheengel über mir schweben? Verlangen Sie nicht von mir zu gehen, ehe ich nicht weiß, was Sie wollen!"

Ich hob gleichgültig die Schultern. „Genugtuung, Rache, Gerechtigkeit ... wie auch immer du es nennen magst. Oh, werde nicht noch blasser, Zingaro! Schließlich fordere ich kein Blut." Gelassen ließ ich die Arme vor der Brust. Bis zu Beginn unseres Treffens war ich entschlossen gewesen, diesen Mann zu brechen. Er sollte am eigenen Leib spüren, wie es war alles zu verlieren. Doch ich hatte nicht mit den menschlichen Regungen gerechnet, die der Anblick des verängstigten Alten nun in mir auslöste. Ich war nicht länger ‚des Teufels Sohn', oder das Monster welches so lange die Opernwelt von Paris heimgesucht hatte. Mit den vergangenen Jahren hatte ich gelernt, die Extrema meiner Emotionen in einem gewissen Rahmen zu halten, mit eigenen moralischen Grenzen, die ich niemals übertrat.

„Was dann? Wenn nicht mein Blut, was dann?"

Meine Lippen formte ein bitteres Lächeln. „Es ehrt mich, derart idealistisch auf dich zu wirken. Zugegeben war dein Leben etwas, das mir anfangs als Preis vorgeschwebt hatte. Doch scheinbar hat meine Vergangenheit mich nicht vollends zum Tier werden lassen, trotz eurer zahlreichen Bemühungen." Ich hob einhaltsgebietend die Hand als ich die Erleichterung im Blick des Mannes sah. „Allerdings muss ich um meines eigenen Friedens Willen ein gewisses Opfer verlangen."

„Ich bin nicht reich..."

Ich winkte ab. „Es geht mir weniger um den Umfang der Entlohnung als den symbolischen Akt. Alles was ich verlange ist, dass du abbezahlst, was mein Leid dir eingebracht hat."

Ardendo jappte nach Luft. Wie auch ich war er sich bewusst, dass mein Schrecken zu jener Zeit Abend für Abend eine Unzahl von Münzen in die Kasse meiner Peiniger gebracht hatte. „Das müssen weit mehr als eine Million Lira sein! Wenn das Geschäft gut läuft, nehme ich Dreitausend an einem Tag ein. Und damit muss ich die Kosten decken, die Haus und Lebensmittelversorgung fordern."

„Zingaro", tadelte ich kopfschüttelnd. „Du wärst eine Schande deiner Zunft, hättest du damals nicht ein Sicherheitspolster beiseite geschafft."

Er leugnete nichts. „Selbst damit bräuchte ich Jahre."

„Ich habe alle Zeit der Welt. Und diese Stadt ist nicht der schlechteste Ort, um zu warten..."

Stunden später, als mein Gast mich lange verlassen hatte, trat ich ans Fenster, öffnete es und ließ die frische Luft ein. Noch war sie nicht durchdrungen von der sonnenerhitzten Schwere unzähliger schwelender Grachten. Der Schlaf scheute mich und länger hatte ich nicht ertragen, in den Schatten des Raumes verzerrte Geister der Vergangenheit verharren zu sehen. Kein Frieden war mit Ardendos Tribut eingekehrt. Mein Geist war unruhig, wie zuvor.

„Was ist es, das mich umtreibt?", murmelte ich der Nacht entgegen.

Das Morgengrauen war wunderschön, und während ich meinen Blick nicht von dem pittoresken Zusammenspiel der wärmsten Rot- und Orangetönen abwenden konnte, ahnte ich die Antwort. Ich würde nie zu ihnen gehören, zu keinem der in ihrer kleinen Welt lebenden Menschen, egal wie weit ich reiste. Meine Augen hatten zuviel gesehen, meinen Händen haftete zuviel Verderben an.

Langsam wandte ich mich ab. Wann hatte ich das letzte Mal Zuflucht in der Musik gesucht? Wie lange den Trost von Melodien entbehrt, welche kein Mensch außer mir einem Instrument entlocken konnte? Es musste über eine Woche her sein. Soviel Komfort dieses Hotel auch bieten mochte. Angesichts der Tatsache, dass ich länger bleiben würde, war es an der Zeit mir eine Unterkunft zu suchen, die meinen Ansprüchen mehr entsprach als der dekorative, doch nutzlose Protz dieses goldenen Käfigs.

Wäre ich auch nie ein Teil der Menschenwelt, wollte ich als ihr Betrachter doch ein Refugium haben, wo es an mir war, sie auszusperren und nicht von ihr verstoßen zu werden.

Serafina

Der erste Morgenschimmer lag noch über der Stadt, als ich mich so leise wie möglich aus dem Haus schlich. Direkt gegenüber lag das Markusbecken, und die Glocken von dem Kloster auf der Insel di San Giorgio Maggiore klangen dumpf durch den bereits aufklärenden Nebelschleier.

Ich wollte Vater nicht aufwecken. Gestern Nacht war er erst spät heimgekehrt und hatte sich so ungewöhnlich verhalten, dass mir noch immer ein Schauer über den Rücken lief, wenn ich daran dachte ...

„Erwischt!" Eine Hand schlug mir plötzlich auf die Schulter.

Sophias Lachen ließ mich erleichtert aufatmen. „Du solltest dich nicht so hinterrücks anschleichen, meine Liebe!", machte ich meinem Schrecken Luft. „Wie dreist von dir, wo ich nicht einmal um Hilfe rufen kann!"

Ihre Mundwinkel zuckten in gutmütigem Spott. „Vielleicht kannst du nicht um Hilfe rufen, aber ganz sicher bist du alles andere als wehrlos. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass du Thomasso Dispregio erst vor zwei Wochen eine schallende Ohrfeige gegeben hast, als er dich anfassen wollte."

Ich winkte ab. „Die plumpen Annäherungsversuche dieses Trottels sind wohl kaum zu vergleichen mit einem Überfall auf offener Straße."

„Da magst du recht haben! Vor allem seit das Gerücht umgeht, ein eigenartiger, maskierter Mann würde seit einer Woche in dieser Gegend herumstreifen..." Sophias Stimme hatte einen verschwörerischen Ton angenommen und sie flüsterte hinter vorgehaltener Hand, um die geheime Wichtigkeit ihrer Worte noch dramatischer zu gestalten.

„Ein maskierter Mann." Ich spürte deutlich, wie sämtliche Farbe aus meinen Wangen wich. Hatte Vater mich nach seiner Rückkehr nicht davor gewarnt, eben diesem Menschen über den Weg zu laufen? Ich hatte seinen Worten nicht allzu viel Bedeutung beigemessen, war jedoch an jeder Ecke Venedigs ein Geschäft anzutreffen, in dem ein jeder Reisende diese Symbolträchtigen Andenken erweben konnte. Von Zeit zu Zeit genossen sie den Reiz der Vermummung so sehr, dass es durchaus passieren konnte, einem Maskierten in den Stadtstraßen zu begegnen. Doch Vater hatte von einem ganz bestimmten Mann gesprochen, und er hatte sehr besorgt dabei gewirkt ...

„Was ist, Serafina?" Besorgt griff Sophia nach meinem Handgelenk. „Du siehst aus als sei dir schwindelig. Bist du krank ...?"

Ich bemühte mich nach Kräften, ein Lächeln aufzusetzen. Vorsichtig machte ich mich aus ihrem Griff los. In diesem Moment, als sie mich aus großen rehbraunen Augen ansah, war sie nichts weiter als ein verängstigtes Kind, dass ich unmöglich mit den verwirrenden Dingen belasten konnte, die Papa gestern Nacht vor sich hin gemurmelt hatte. „Ich habe schlecht geschlafen, weiter nichts."

Sie nickte ernst. „Das kann ich dir gut nachfühlen. Die große Giudicelli wirkte nicht so, als sein sie leicht zufrieden zu stellen."

„Bei Weitem nicht", stimmte ich zu und versuchte alle Gedanken, die nichts mit meiner Arbeit zu tun hatten, beiseite zu schieben. „Lass uns lieber gehen. Wir sind zwar wirklich früh dran, aber es ist ja auch genug zu tun ..."

Ich war dankbar für die Ablenkung, die mir Sophias Schilderung ihres gestrigen Tages brachte. Dennoch kehrten meine Gedanken immer wieder zu Vater zurück. Er hatte regelrecht verstört gewirkt, ehe er zu Bett gegangen war. In all den Jahren seit Mutters Tod hatte ich ihn stets als gefasst und Herr jeder Lage erlebt. Etwas Einschneidendes musste geschehen sein, während er fort gewesen war. Wie ich ihn kannte, würde er kaum darüber reden wollen, doch irgendwie musste ich einen Weg finden, ihm zu helfen.

Noch immer tief versunken in Überlegungen, bemerkte ich nicht, wie der Blick der großen Carlotta skeptisch auf mir lastete. Sie stand erhaben auf einem kleinen Holzschemel, während ich vor ihr kniete.

„Ein Jammer, dass du nicht sprechen kannst. Es hat den Anschein als seinen deine Gedanken interessanter, als die Beschäftigung mit meiner Garderobe."

Der spitze Kommentar ließ mich kurz zusammen zucken. Hitze stieg mir in die Wangen und ich lächelte verlegen. Doch alles was die große Sopranistin erwiderte war ein süffisantes Grinsen, das all ihre strahlend weißen Zähne zeigte.

Für sie begann die Gesangsprobe erst in einer halben Stunde, und so bemühte ich mich, so viele Absteckarbeiten und vorläufig gesetzte Nähte an ihrem Kostüm vorzubereiten, wie möglich war. Mit diesen Vorbereitungen könnte ich auch dann weiterarbeiten, wenn die Diva auf der Bühne stand. Immer wieder entglitt der seidige Stoff meinen wunden Fingern. Sowohl der Zeitdruck als auch die stimmlichen Lockerungsübungen meiner anspruchsvollen Kundin, kosteten mich den Großteil meiner Konzentration.

Ihr Pudel, der neben uns auf einem Samtkissen thronte, gab ein müdes Winseln von sich, und sofort sprang ‚La Carlotta' ihm entgegen.

Ich konnte mein Nähzeug gerade so zurückreißen, ohne dass sich die Sängerin an den Nadeln stach, oder ein Teil des Stoffes durch ihre plötzliche Bewegung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Tief durchatmend rieb ich mir kurz über die Schläfen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Selbst Kinder, denen ich ihre Garderobe angepasst hatte, waren geduldiger gewesen als diese Person.

„Mon petit chèrie! Sicher hast du Hunger!" flirtete sie mit dem wohl frisierten Tierchen, das einen äußerst verwöhnten Eindruck machte. Ihre Hand griff in einer auf dem Beistelltisch liegenden Pralinenschachtel und platzierte die teure Köstlichkeit vor der Nase des Hundes. Dieser schien jedoch wenig beeindruckt und ignorierte das Dargebotene konsequent. „Oh!" Signora Giudicelli runzelte die Stirn und blickte besorgt auf ihren weißgelockten Liebling. „Bist du etwa krank, mein Schatz?"

Erschrocken fuhr ich herum als jemand von der Tür aus diese Frage beantwortete. „Nicht krank. Aber mindestens genauso anspruchsvoll wie sein Frauchen."

„Jean-Pierre Gandin, mon amant!" Die Diva klatschte begeistert in die Hände und fiel dem Eingetretenen um den Hals.

Ihren stürmischen Kuss ignorierend, nestelte ich an den Arbeitsutensilien in meinen Händen.

„Ich störe wohl gerade." Die Stimme des Mannes klang spöttisch und ich spürte den Blick der eisblauen Augen prüfend auf mir ruhen. Seiner Kleidung nach zu urteilen war er wohlhabend, trug Frack und Zylinder. Er schien ein wenig jünger zu sein als die Carlotta, vielleicht um die dreißig Jahre alt. Doch in der Überheblichkeit, die aus seiner Körperhaltung sprach, stand er der Diva in keinster Weise nach.

„Sicherlich nicht", die Signora wischte seinen Einwand mit einer abwertenden Handbewegung fort, die mir unangenehm war. „Das ist nur die Schneidergehilfin. Beachte sie gar nicht." Mit diesen Worten setzte sie sich wieder in Bewegung und stieg vorsichtigen Fußes auf den Schemel zurück, so dass ich wenigstens meine Arbeit fortsetzen konnte.

Auch wenn ich mir wünschte, der Herrenbesuch würde die Garderobe so bald wie möglich verlassen, schien ihm nichts daran zu liegen. Mit einem behaglichen Seufzen ließ er sich auf der Chaiselounge neben dem Frisiertisch nieder, nahm den Hut ab und streckte die Beine weit von sich. Hatte ich ihn auch anfangs für einen französischen Adeligen oder Ähnliches gehalten, korrigierte ich meine Annahme im Nachhinein. Kein Mann von Stand hätte sich derart freimütig benommen. Immerhin war das Anpassen eines Kostüms eine recht private Angelegenheit, und der Umstand, sich währenddessen im Raum der Primadonna aufzuhalten, konnte durchaus als kompromittierend aufgefasst werden.

Dass mich tatsächlich keiner der beiden vornehmen Herrschaften für annähernd voll nahm, konnte ich deutlich festmachen. Nach anfänglich ausgetauschten Belanglosigkeiten tauchten sie in eine persönliche Unterhaltung ein.

„Wie weit bist du mit den Dokumenten vorangekommen, mon bien-amie? Die Archive der Oper sind überaus umfangreich, und ganz gewiss dauert es seine Zeit, bis du aus all den einzelnen Überbleibseln die komplette Partitur zusammengestellt hast. Doch langsam sollte es wohl soweit sein ...", hakte die Giudicelli mit strengem Unterton nach. Konnte sie nicht einfach still stehen? Immer wieder hatte ich Mühe, mich ihrem Drehen und anderen ständig wechselnden Körperhaltungen anzupassen.

„Immer mit der Ruhe, meine Göttin des Gesangs." Man konnte spüren, dass er es genoss, sie eine Zeitlang im Ungewissen zu lassen. Er stützte den Kopf auf eine Hand und strich eine Strähne hellblonden Haares aus dem Gesicht, dass sich aus dem mit Pomade zurückgekämmten Zopf gelöst hatte. „Um die Wahrheit zu sagen bin ich bereits seit einer Woche fertig."

Die Augen der Diva verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. „Und du hast es gewagt, mir kein Wort darüber zu sagen?" presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Ich dachte, dass ich mich deutlich genug ausgedrückt hätte: Dieses Unterfangen ist sehr wichtig für mich! Wir können eine große Summe Geld damit verdienen, mehr als deine Geschäfte und mein Talent in zehn Jahren einbringen, wenn wir es geschickt anstellen. Außerdem hat dieses Werk einen hohen ideellen Wert für mich. Diese Notenfetzen sind die einzigen Überreste der grauenvollen Tat eines Wahnsinnigen und die einzige Möglichkeit Genugtuung zu erlagen. Was er zu seiner eigenen Eitelkeit inszeniert hatte, wird mich reich machen!"

Ihr Gast zuckte nachdenklich die Schultern. „Ich verstehe nicht viel von Musik, daraus mache ich keinen Hehl. Natürlich, ich spiele dir jedes Stück der Welt auf meinem Flügel vor. Ich lege jede Emotion ins Spiel der Tasten, die du hören willst. Aber ich fühle rein gar nichts von alle dem in mir – sei es die Liebesarie der ‚Aida' oder der ‚Totentanz' von Franz Liszt." Seine Lippen teilten sich in einem anzüglichen Grinsen. „Aber wenn es dir Befriedigung bedeutet, dass ich dieses Machwerk intoniere, und dafür noch den Ruhm ernte, so will ich es selbstverständlich gerne tun."

Das Temperament der Diva schien abzukühlen, angesichts seiner schmeichelnden Worte. „Der Komponist würde aus seiner Haut fahren, wenn er sähe, dass jemand sich mit seinem Ruhm schmücken will." Ihr Lachen ließ mich erschauern.

Dummerweise machte mich dieser Umstand kurz unaufmerksam, so dass ich mich zusammenzuckend in den Finger stach. Diese schreckhafte Bewegung schien ‚La Carlotta' erst wieder ins Bewusstsein zu bringen, dass ich überhaupt noch anwesend war. Mit einem festen Griff um meinen Oberarm beförderte sie mich kurzerhand ruppig zur Tür hinaus. „Du kannst in zehn Minuten wiederkommen", säuselte sie mit süffisantem Lächeln und das spöttische Lachen ihres Liebhabers trieb mir für einen Augenblick die Zornesröte ins Gesicht.

Was für merkwürdigende Dinge hatten sie da eben nur besprochen? Ich konnte das Gefühl nicht ignorieren, Ohrenzeuge von etwas geworden zu sein, das ich besser gar nicht gewusst hätte.

Der Rest des Arbeitstages verlief nicht rosiger, als der Vormittag begonnen hatte. Die kapriziöse Diva schien zwar ein wenig milder gestimmt, dennoch konnte ich froh sein, dass sie lediglich drei oder viermal verlangte, die Kostümentwürfe noch einmal abzuändern.

Als ich endlich völlig erschöpft die Eingangsstufen des La Fenice heruntertrottete, hatte sich die Dämmerung bereits niedergesenkt. Alles wonach ich mich sehnte war mein Bett. Dennoch ging ich einen Umweg, ehe ich heimkehren würde. Es war Dienstag, und Pater Giovanni erwartete mich sicherlich bereits. Seit jeher trafen wir uns einmal wöchentlich. Er fragte dann nach Problemen, mit denen ich hatte umgehen müssen, nahm mir von Angesicht zu Angesicht die Beichte in Gebärdensprache ab, oder wir lauschten einfach nur stillschweigend dem Spiel des Organisten, dessen Proben gelegentlich auch an diesen Abenden stattfanden.

Ich löste das schwarze Schultertuch aus Spitze, welches der einzige Schmuck an dem rostbraunen Arbeitskleid war, das ich trug, und breitete es über mein offenes Haar.

Santa Maria Piccola - die kleine Kirche am Fuße der Rialtobrücke war dunkler als sonst. Nur die zwei großen Altarkerzen spendeten ein schummriges Licht. Den Kopf senkend schlug ich ein Kreuz. Ihn wieder hebend blickte ich mich um, konnte den Pater aber nicht ausmachen. Zu viele Schatten bevölkerten den menschenleeren Raum. Ich wollte mich schon umwenden und auf der Empore nach ihm suchen, als eine Bewegung beim Beichtstuhl ließ mich innehalten. Der Vorhang, hinter dem üblicherweise der Beichtende saß, zitterte noch, doch offenbar war niemand mehr dahinter. Merkwürdig. Ich hätte schwören können bisher keine Menschenseele in der Kirch bemerk zu haben ...

Schon trat Pater Giovanni aus der Mittelkammer. Mit einem hörbarem Seufzen schloss er sie hinter sich. Als er sich herumdrehte, mich erkannte, hellte sein ernstes Gesicht sich auf. Das schlohweiße Haar leuchtete in der Dunkelheit.

Erleichtert trat ich näher.

„Mein Kind", begrüßte er mich und ergriff mit väterlichem Wohlwollen meine Hände. Er war ein Mann, dessen dunkelbraune Augen stets ein fröhliches Glitzern erfüllte. Sein Gesicht war sonnengegerbt und von vielen Lachfalten überzogen. Seit frühester Kindheit erinnere ich mich an ihn als einen gutmütigen und humorvollen Menschen, der so gar nichts mit dem strengen Bild eines Dieners der Kirche gemein hatte, das mir Tante Antonella immer hatte vermitteln wollen. „Es ist schon spät. Fast habe ich gedacht du würdest es nicht schaffen heute noch zu kommen."

Ich lächelte entschuldigend. „Im Moment gibt es viel Arbeit für Sophia und mich in der Oper."

Obgleich meine Familie auch die Gebärdensprache verstand, war Pater Giovanni doch der einzige, der sie mir gegenüber gelegentlich benutzte. Um nicht einzurosten, behauptete er. Doch mein Eindruck war, dass es ihm ein großes Vergnügen war, wenn wir uns auf eine Art und Weise unterhielten, denen Außenstehende kaum folgen konnten. Manchmal legte der beinahe sechzigjährige Geistliche ein geradezu kindliches Gemüt an den Tag.

„Ihr leistet beide sehr viel. Man sollte euch viel öfter sagen, dass ihr zwei außergewöhnliche junge Frauen sein." Seine Hände formten die Worte beinahe so schell und geschickt, wie ich es konnte. „Ganz besonders du, Serafina."

Ich wischte diese Bemerkung mit einer flüchtigen Geste fort. So etwas wollte ich nicht hören. Bei all dem, was ich auch tat, wusste ich doch, dass es nicht das Leben war, welches einer fünfundzwanzigjährigen Tochter aus gutem Hause geziemt hätte. Meine beiden anderen Cousinen waren in diesem Alter bereits verheiratet und Mütter gewesen. Sophia würde es in wenigen Jahren sicher nicht anders ergehen. Ein Mann der mich liebte und trotz meines undamenhaft gebildeten Dickschädels akzeptierte, Familie, Reisen, die über die Grenzen dieser Stadt hinausgingen ... ich hatte begonnen, diese Hoffnungen zu begraben.

„Sei nicht traurig, mein Kind. Nicht jedem von uns ist ein gewöhnliches Leben beschert, wenn wir es uns manchmal auch noch so sehr wünschen."

Ich seufzte und nickte langsam. „Pater ...", begann ich, ohne recht zu wissen, was ich genau sagen sollte. „Ich mache mir Sorgen um meinen Vater. Gestern Nacht kam ein Bote mit einer Nachricht zu ihm. Daraufhin war er noch stundenlang fort. Als er wiederkam, hat er sich so merkwürdig verhalten. Er wirkte müde aber auch verängstigt." Ich merkte, wie sich ein Kloß in meinem Hals zu formen begann. „Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann ..."

Der Blick des alten Mannes wanderte kurz von mir fort. Es schien beinahe so, als suchte er etwas oder jemanden in den Schatten um uns herum. Dann wandte er sich mir wieder zu. Sein Lächeln hatte er beibehalten, doch glaubte ich eine Spur Schmerz darin vermengt zu sehen. „Mach dir keine Sorgen mein Kind. Ich bin sicher, dass es ihm am meisten hilft, wenn du ihn von seinen Gedanken ablenkst und nicht unter seiner Last mitleiden musst."

Ein Geräusch von der Empore herab ließ meinen Kopf erschrocken herumfahren.

„Was war das?", formten meine Hände die tonlose Frage.

„Nur der Organist", antwortete Pater Giovanni nach einem kurzen Zögern und immer noch die Zeichensprache benutzend. „Setzen wir uns einen Augenblick. Sicher wird es dir gut tun, ein wenig Ablenkung in der Musik zu finden, ehe du nach Hause gehst."

Als wir uns auf der Kirchenbank niederließen, erkannte ich die langsam erklingende Melodie. „Zu dir in schwerem Leid, komm ich mein Herr und Gott, und such Barmherzigkeit in meiner Seelennot. Zu deinem Kreuz blick ich hinauf, da quillt die Gnad in vollem Lauf. Jesu, Jesu! Verstoß mich Sünder nicht!"

Ich war wie gefangen vom Spiel dieses Instrumentes. Am heutigen Abend schien sein Klang mir harmonischer und von einer Überflut an Gefühlen erfüllt, als ich es jemals zuvor vernommen hatte. Das Bild von Giacomo Massetti, dem hageren, siebzigjährigen und stets ernst blickenden Organisten, mochte so gar nicht zu dieser Art von Intonierung passen. Als ich neben mich zu Pater Giovanni blickte, sah ich dass er die Hände gefaltet und die Augen geschlossen hielt. Tränen glitzerten auf seinen Wangen, obwohl seine Lippen ein zufriedenes Lächeln formten.

Ein plötzlicher Umschwung der Melodie ließ auch mich die Augen schließen. Sie war mir unbekannt, doch fühlte ich mich schon bald zutiefst berührt von ihrer klaren und wärmenden Harmonie. Kaum bemerkte ich, dass weicher Gesang sie zu durchweben begann. Zuerst nur ganz leise und so, dass ich es kaum bemerkte, drang eine Männerstimme an mein Ohr, deren Schönheit ich mich nicht entziehen konnte.

Erik

Der Pater hatte sein Wort gehalten. Wer auch immer vorhin die Kirche betreten hatte, war scheinbar sofort wieder fortgeschickt worden. So wachsam ich anfangs auch gelauscht hatte, ich konnte kein gesprochenes Wort mehr vernehmen.

Ausgezeichnet. Es war mir nicht daran gelegen, die Aufmerksamkeit eines weiteren Menschen zu erregen.

Interessiert blickte ich zum Kirchenschiff empor. Der kleine graue Steinbau hatte nichts vom üppigem Prunk, wie er oft in Italien anzutreffen war. Alles wirkte liebevoll gepflegt und der einzige Schmuck dieses Gotteshauses war nicht aus Gold oder Silber, sondern Blumensträuße, die vor dem Altar und auf dem Geländer der Empore standen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das sich in mir ausbreitete. In den letzten Jahren hatte ich heilige Bauten verschiedenster Länder gesehen. Doch über ein architektonisches Interesse war meine Betrachtung nicht hinausgegangen.

Als ich vor einer Stunde an diesem äußerlich höchst unscheinbaren Gebäude gestanden hatte, war mein Denken darauf ausgerichtet, dass sich im Inneren vielleicht die Möglichkeit bieten würde eine Orgel vorzufinden. Und somit war ich an den einsamen Mann herangetreten, der mit großer Sorgfalt dabei gewesen war, den Mittelgang der kleinen Kirche zu fegen.

Hätte ich geahnt, was diese Begegnung nach sich ziehen würde, ich wäre ohne zu zögern umgekehrt. Doch etwas in seinem Blick ließ mich verweilen. Er hatte mich offen betrachtet, doch ohne jede Spur von Befremdung oder Misstrauen angesichts meiner Maske. Als Preis, das Instrument zu spielen, hatte er lediglich gefordert, mir die Beichte abnehmen zu dürfen. Ich hätte es ablehnen sollen.

Ich zog meinen schwarzen Gehrock und die ledernen Handschuhe aus und legte sie über den Rücken der nächsten Kirchenbank. Zärtlich senkte ich meine Finger auf die schwarzen und weißen Tasten. Zwar war dies lediglich eine kleine Orgel, doch hervorragend gestimmt und mit liebevoll blankpolierten Pfeifen. Ein Stoß Notenblätter lag noch auf dem Ständer und ich begann zu spielen, ohne dass mir wichtig gewesen wäre, was es war. Alles was ich wollte war mit dem Klang zu verschmelzen, den ich zuletzt vor so vielen, langen Tagen vernommen hatte.

Noch immer hingen meine Gedanken an den bedrückend ehrlichen Geständnissen, welche ich bei der Beichte abgelegt hatte. Es musste das ruhige Verständnis des Paters gewesen sein, die Art mit der er sein Zuhören signalisierte, jedoch nicht aburteilte, was ich berichtete. Anders konnte ich mir selbst nicht erklären, weshalb ich mich zu solch schonungsloser Ehrlichkeit hatte hinreißen lassen. Dieser Mann wusste nun praktisch alles über mich – zu welchen Taten mich mein Leben getrieben hatte, welche Verbrechen meiner Hand entsprungen waren und sogar, was ich als ‚Operngeist' den dort Arbeitenden und allen voran Christine angetan hatte. Dennoch hatte er mich nicht fortgeschickt, mir statt dessen zugestanden herzukommen, wann immer es mich verlangte auf der Orgel zu spielen.

Ohne dass ich den Zeitpunkt bewusst hätte festmachen können, war ich in das Spielen eines anderen Stückes verfallen. Christine ...

Leg' ab deinen Widerstand,

Der dich zurückhält

Ergib dich ganz dem Zauber meiner Macht

Greife nur nach meiner Hand

Stell' keine Fragen

Dann schützen dich die Träume tiefster Nacht

Deine Liebe schenke mir

Und sei versichert

Ich folg' dir

Bis an das Ende aller Welten ...

Ich tauchte ganz ein in die Gefühle dieser Zeilen, in den Auszug einer Oper, an der ich beinahe ein ganzes Leben lang geschrieben hatte. Wie auch meine Existenz als Phantom, war sie an jenem Abend Opfer des verheerenden Feuers in der Pariser Oper geworden.

Verbrannte Asche meiner Vergangenheit.

Der Verlust hatte mich lange geschmerzt. Ich war sogar an den Punkt gekommen, an dem ich glaubte, nie wieder komponieren zu können. Doch dieser Anflug kindlichen Trotzes hatte nur kurz angehalten. Musik rann durch meine Adern wie eine pure Essenz von Leben. Ich konnte nicht sehen, nicht hören und nicht atmen ohne dabei Melodien entstehen zu lassen, Gesang in mir aufsteigen zu spüren.

Doch fünf Jahre waren vergangen seit der Zeit, von der ich sang. Schwermütig lösten sich meine Finger von den glänzenden Tasten als der letzte Ton verklang. Christine war eine wunderschöne Erinnerung, gewiss die einzige dieser Art, die ich mein Leben lang bewahren würde. Sie war das Licht gewesen, das in meine Dunkelheit herabstieg. Sie hatte mir den Weg zurück ins Leben gezeigt. Heute dachte ich an sie, wie einen Engel, nicht länger wie an eine Geliebte. Leidenschaft war einer liebevollen Dankbarkeit gewichen, die mein ständiger Begleiter war.

Meine Hand fuhr hinauf und griff in den Kragen des weißen Hemdes. Nachdenklich zog ich die lange Silberkette hervor, an welcher der filigrane Diamantring hing, der mein letztes Erinnerungsstück an unsere letzte, schicksalhafte Begegnung war. Ich trug ihn, um mich zu jeder Zeit an meine Menschlichkeit zu erinnern, daran dass ich nicht dazu gezwungen war, das Leben eines tödlichen Höllenengels zu leben. Denn nichts Anderes hätte ich beinahe aus mir selbst gemacht.

Ein Geräusch aus dem Kirchenraum unter mir ließ mich erstarren. Deutlich konnte ich die Stimme des Paters vernehmen, der zu jemandem sprach. Und so erhob ich mich lautlos, um einen Blick von der Empore herab werfen zu können.

Die Jahre in den Katakomben der Oper hatten meine Augen an Dunkelheit gewöhnt. Ich sah die Figur des Geistlichen. Neben ihm stand, mir mit dem Rücken zugewandt, noch eine andere Gestalt. Mein Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, und ich musste mich am steinernen Balkongeländer festhalten, um nicht schwindelig zu werden.

Eine Kaskade braungelockter Haare, nur bedeckt von einem dünnen schwarzen Spitzentuch, floss über den Rücken der Frau. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, durch den Klang meines Spiels tatsächlich jene kleine Sopranistin von damals hervorgerufen zu haben. Doch schon wandte sie sich zum Gehen und ich erkannte meinen Fehler.

Nein, sie hatte keine Ähnlichkeit mit der jungen Sängerin. Ihr Gesicht hatte die feinen markanten Züge einer Erwachsenen, nicht die kindliche Weichheit von Christines. Auch war sie von kleinerer Gestalt und trug ein schlichtes dunkles Kleid, das ihre Figur in keiner Weise betonte wie die erlesene Pariser Haute Couture. Dennoch folgte mein Blick ihr, als sie hastig den Gang entlang lief. Ich sah, dass sie Tränen fortwischte und fragte mich, ob es meine Musik gewesen war, die sie derart gerührt hatte?

Während ich Gehrock und Handschuhe wieder anlegte, verspürte ich nur noch das Verlangen, in die stille Einsamkeit meiner Suite zurückkehren.

Der alte Pater blickte sich zu mir um, als ich nachdenklich die letzten Stufen der Treppe herunterkam. Ungeachtet meiner finsteren Miene näherte er sich mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Ich hielt angespannt die Luft an, als er unvermittelt meine Hand ergriff und sie mit festem Druck hielt. Sein Blick, aus dem Rührung und Ehrfurcht sprach, traf meine Augen mit offener Direktheit.

„Mein Sohn", die Stimme des Mannes klang ein wenig brüchig. Unbehaglich wurde mir die Vertrautheit seiner Geste bewusst, dennoch entzog ich ihm meine Hand nicht. Ich fühlte mich respektiert von diesem Menschen, was mich überaus verwunderte. Denn seine Akzeptanz beruhte ganz offensichtlich weder auf Furcht, noch auf finanziellem Interesse. „Sie sind ein wahrer Künstler. Ich bin nun schon seit über vierzig Jahren der Hirte dieser kleinen Gemeinde, doch noch nie in meinem Leben habe ich jemanden derart spielen hören. Ich danke Ihnen, dabei anwesend gewesen sein zu dürfen."

Ich nickte ihm zu. „Doch Sie haben Ihr Wort nicht gehalten, Pater. Wollten Sie nicht dafür sorgen, dass niemand außer Ihnen anwesend ist?"

In seinem Blick konnte ich lesen, dass er wusste wovon ich sprach. Er musste gewollt haben, dass die junge Frau Zeugin dieser Musik wurde. Wenn ich angesichts einer solchen Situation auch zornig hätte werden können, verspürte ich in diesem Moment doch lediglich einen Anflug von Neugier.

Entschuldigend breitete er die Hände aus. „Die Signorina liegt mir sehr am Herzen. Sie hat gerade eine schwere Zeit durchzustehen, und ich hatte gehofft sie würde ein wenig Ablenkung finden."

„Als sie ging, sah sie nicht sehr erleichtert oder abgelenkt aus – vielmehr verzweifelt."

Nachdenklich nickte der alte Mann. „Wahrscheinlich haben Sie Recht, Monsieur. Ich wusste nicht, dass sie zu den Menschen gehört, bei denen der Zauber einer gefühlvollen Melodie so tiefe Bewegtheit hervorruft. Aber ich wäre ein schlechter Freund und geistlicher Vater, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte, ihre Niedergeschlagenheit abzuwenden. Haben wir Sie denn gestört?"

Ich schüttelte langsam den Kopf. Es spielte eigentlich auch keine Rolle. Ich hatte Zuflucht in der Musik gesucht und sie hier gefunden. „Nein. Vielmehr hatte ich den Eindruck, Sie hätten kein Wort miteinander gewechselt."

Wieder breitete sich ein vielsagendes Lächeln über das Gesicht des Kirchenmannes. Mahnend hob er einen Finger und zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Die Sprache ist nicht das einzige Werkzeug, welches uns zur Verständigung dienen kann. Ich bin sicher, dass Sie als Künstler dies nur allzu genau wissen."

„Gewiss. Dennoch verstehe ich nicht ..."

„Gebärdensprache, mein Sohn", erklärte sich der Geistliche mit fröhlichem Stolz. „Sie ist gezwungener Maßen sehr gut darin, und ich war von Beginn an ihr Lehrer."

„Gebärdensprache ..." Ich überlegte einen Augenblick.

Der Pater schien meine Schweigsamkeit als eine Frage zu verstehen und begann zu erklären: „Man bedient sich dieses Verständigungsmittels, sollte ein Mensch ohne Gehör oder Stimmvermögen zur Welt kommen ..."

Mein amüsierter Blick brachte ihn zum Schweigen. Ich hob die Hände und begann meine Kenntnis zu demonstrieren. „Ich bin damit vertraut, Pater. Nur fürchte ich, dass meine Fähigkeiten im Laufe der Zeit gelitten haben."

Mit einem Ausdruck völliger Faszination schüttelte er den Kopf. „Nein, ich denke selbst ich könnte ihnen nichts beibringen." Sein kurzes Kichern jagte mir einen Schauer über den Rücken. Wann hatte ich mich das letzte Mal in einem Gespräch befunden, bei dem mein Gegenüber derart natürlich und entspannt gewirkt hatte? „Zumindest nicht auf diesem Gebiet."

Ich hob fragend die nicht maskierte Augenbraue.

„Was jedoch Ihre Alpträume angeht, gebe ich ihnen einen Rat: Sie müssen es schaffen, Ihr Gewissen zu erleichtern." Er war plötzlich in einen besorgten Tonfall gewechselt. „Nach allem, was Sie mir über ihr Leben erzählt haben, dürfte dies kein einfaches Unterfangen werden. Vielleicht kann ihnen das Komponieren eines bestimmten Werkes, das noch in Ihnen schlummert, Linderung verschaffen. Aber vor allem sollten Sie reden, mein Sohn ..."

Mein natürliches Misstrauen begann sich zu regen. „Mit Ihnen, Pater?"

„Nur wenn Sie es wünschen."

„Und was wäre der Preis?" Die Entblößung meiner Seele, geboren aus einer Finsternis, welche dieser gute Mann gewiss nicht würde ertragen können ... er wusste nicht, was er mit diesem Angebot heraufbeschwor.

Er verschränkte die Arme hinter den Rücken und hob seinen Blick mit lächelnder Annerkennung zur Empore hinauf. „Spielen Sie hier! So oft sie wollen! Und gestatten sie einem verklärten Narr, diesen Klängen zu lauschen."