Serafina
Ich fand keinen Schlaf. Immer wieder überwältigte mich die Sorge um Vater.
Als ich am Abend nach Hause gekommen war, hatte ich ihn nicht angetroffen. Auch Tante Antonella wusste nicht, wo er steckte. Obwohl sie mir angeboten hatte, bei ihr und Sophia im Haus nebenan zu schlafen, wollte ich seine Rückkehr bei uns abwarten. Spät, irgendwann nach Mitternacht, hatte ich mein Nachthemd übergezogen und mich ins Bett gelegt.
Mir wurde schwindelig wenn ich an den Zustand dachte, in der er am Vorabend heimgekommen war und wie weit sich seine Gemütslage im Laufe des Tages verschlimmert haben mochte. Dass er mir keine Nachricht hinterlassen hatte, wie er es gewöhnlich tat, wenn er überraschender Weise noch einmal fort musste, ließ auf nichts Gutes schließen.
Vor einem Mann mit weißer Halbmaske hatte er mich gewarnt. Er hatte offensichtlich Angst vor dieser Person gehabt. War ihm etwas zugestoßen? Hatte dieser Mann etwas mit seinem Verschwinden zu tun?
Ich biss mir auf die Unterlippe, um die in mir aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Die Belastung der letzten Tage wurde mir in diesem Augenblick mit ihrem ganzen Gewicht bewusst. Ich war so unzufrieden damit, wie mein Leben verlief. Trotz Papas Fürsorge, Pater Giovannis Freundschaft und obwohl Sophia und ich wie Schwestern waren, fühlte ich mich alleine. Es war, als stünde eine Glaswand zwischen mir und ihnen. Wir sahen uns, verbrachten Zeit miteinander, redeten über alles, was uns beschäftigte. Doch irgendwann merkte ich, dass wir uns nicht wirklich berühren konnten.
Wie konnte ich je nachfühlen, wie es war, sich mit jemandem zu unterhalten, den ich gerade erst kennen gelernt hatte? Außer meiner Familie und dem Pater war ich bislang niemandem begegnet, der die Gebärdensprache beherrschte. Und auch wenn ich alle Menschen verstand, war es höchst umständlich, mich ihnen mitzuteilen. So passierte es leicht, dass ich in Vergessenheit geriet, gar nicht wirklich wahrgenommen wurde, weil ich nicht lautstark auf mich aufmerksam machen konnte. Verdenken konnte ich es ihnen nicht. Ich war anders, und mein Unvermögen zu sprechen machte mich nicht gerade zu einer unentbehrlichen Freundin oder Gesellschaft.
Es half alles nichts. Schon spürte ich heiße Tränen über meine Wangen rollen. Wütend wischte ich sie fort. Was war nur mit mir los? Ich hatte eine Ewigkeit lang nicht mehr geweint. Doch seitdem ich in der kleinen Kirche an der Rialtobrücke gewesen war, fühlte ich mich, als lägen meine Emotionen blank. Was auch immer der Organist an diesem Abend für ein Stück gespielt hatte, es hatte mein Herz zutiefst gerührt. Ich wusste nicht, dass er ein derart hervorragender Sänger war, und schon gar nicht hatte ich die fremdsprachigen Worte verstanden, welche voller Ausdruck jeden Winkel des Gebäudes erfüllt hatten. Mir war ein Schauer über den Rücken gelaufen. Der Klang dieser Stimme hatte mich gefesselt und nicht mehr losgelassen. Etwas Vergleichbares hatte ich nie zuvor gehört, nicht einmal auf der Bühne des La Fenice.
Irgendwo in der Nachbarschaft kläffte ein Hund und schon saß ich aufrecht im Bett. Ruhelos schlug ich die Decke zurück und entzündete die Petroleumlampe auf meinem Nachttisch, so dass sich ein schummriges Licht über das kleine Zimmer ausbreitete, in dem sich noch immer die Möbel befanden, die auch schon meiner Mutter gehört hatten. Es gab mir ein Gefühl von Nähe, indem ich dieselben Schänke, Kommoden und Stühle um mich hatte, die sie einst mit einem Blick für fein gearbeitete Schreinerkunst ausgesucht hatte. Und so waren sie auch nicht ersetzt worden, als Vater vor einigen Jahren Haus und Einrichtung einer Grunderneuerung unterzogen hatte.
Ich stand auf und ging zum Kleiderschrank. Auch in der Nacht war es warm und ich hatte es eilig. Also begnügte ich mich damit, ein einfaches dunkelgrünes Sommerkleid überzustreifen, ohne einen Gedanken an ein korrekt sitzendes Korsett zu verschwenden. Ein Cape schlag ich trotz der Hitze um, so fühlte ich mich ganz einfach ein wenig besser geschützt bei dem, was ich beabsichtigte zu tun.
Die Stufen knarrten, als ich wenig später die Treppe herunter lief und zur Haustür hinaus auf die Straße trat. Der Himmel war mondlos und einige Nebenschwaden waberten vom Kanal herüber. Nur von weitem durchbrachen die Laternen am Dogenpalast die Dunkelheit der Nacht.
Wo sollte ich anfangen, nach Vater zu suchen? Er war nie jemand gewesen, der bis so spät Abends in einer Taverne gesessen hätte. Auch hatte er nicht viele Freunde, bei denen er sich noch so lange aufhalten würde. Der einzige, zu dem er vielleicht noch gegangen sein könnte, war Pater Giovanni, und so beschloss ich zu aller erst in der kleinen Kapelle nach ihm zu suchen.
Venedig bei Nacht zu durchqueren war eine überaus unheimliche Angelegenheit. Nicht nur weil Sophia und ich bereits als Kinder mit den Geschichten von Raub und Mord in den Straßen dieser Lagunenstadt aufgewachsen waren, sondern auch, weil die verwinkelten Häuser, die schmalen Gassen und unzähligen Bögen der alten Kaufmannsgebäude jeden Grund gaben, sie alle für wahr zu halten.
Zu solch später Stunde war ich noch nie alleine unterwegs gewesen und alles um mich herum kam mir geradezu gespenstisch vor.
So schnell ich konnte lief ich quer über den Markusplatz, huschte die leisen und düsteren Häuserschluchten entlang und gelangte nach weniger als fünf Minuten an den Canale Grande. Von dort aus war es nur noch ein Stück von wenigen Metern, um mein Ziel zu erreichen. Als erstes wollte ich mich direkt im Kirchenraum umsehen.
Die schwere Flügeltür aus Holz war nicht verschlossen, und so schob ich sie vorsichtig auf und spähte in den Raum, der mir nichts weiter als absolute Dunkelheit zeigte. Ich scheute mich einzutauchen, in diese tintenschwarze Finsternis. Ohnehin hatte ich nicht den Eindruck, hier noch jemanden anzutreffen. War Vater in der Wohnung seines Freundes? Um auch diese Möglichkeit zu untersuchen, wandte ich mich in Richtung der kleinen Nebengasse im Anschluss an das steinerne Kirchengebäude. Nun begann ich doch zu frösteln. Der schmale Durchgang, von dem aus man die Wohnung Pater Giovannis im Hinterhof erreichen konnte, war mindestens ebenso düster wie der Raum, den ich gerade noch gemieden hatte.
Ich schlang beschützend die Arme um meinen Oberkörper und wagte mich hinein. Die Gasse war lang und schmal. Ich spürte, wie mich jeder Schritt aufs neue Überwindung kostete und hatte das ungute Gefühl, von irgendwo her beobachtet zu werden.
Plötzlich blitzte etwas in der Dunkelheit direkt neben mir auf. Erschrocken sprang ich zurück und presse mich so eng es ging an die Häuserwand hinter mir. Ein metallisches Scheppern dröhnte mir entgegen und ich schloss wildschlagenden Herzens die Augen. Angstvoll erwartete ich, dass mordgierige Hände aus der Dunkelheit nach mir greifen würden. Jeden Moment würden sie sich um meinen Hals schließen und ...
Nichts? Ich öffnete langsam eines meiner Augen. Nichts war zu sehen. Erst jetzt bemerkte ich meinen hastig schnappenden Atem und zwang mich angestrengt zur Ruhe, um nicht schwindelig zu werden.
Etwas bewegte sich und ich erblickte die Quelle dieser nächtlichen Unruhe. Direkt vor meinen Füßen saß ein grau getigertes Kätzchen, das mich aus großen, golden in der Dunkelheit leuchtenden Augen ansah. Es legte den Kopf schief und maunzte fragend.
Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht ließ ich mich langsam an der Wand herabsinken, um das Tierchen zu kraulen. Wahrscheinlich hatte ich lediglich seinen Beutestreifzug gestört und es hatte sich nicht weniger geängstigt als ich.
Nachdem das kleine Katzentier sich wieder getrollt hatte, stand ich auf. Der Rest des Weges kam mir nicht einmal mehr halb so unheimlich vor. Der Schreck und die Begegnung von gerade hatten mich völlig aus meiner Anspannung gerissen. Allerdings kehrte ein großer Teil meiner Beunruhigung zurück, als ich die dunklen Fenster der Wohnung Pater Giovannis erblickte. In diesem Haus war sicher niemand mehr wach und so war ich immer noch weit davon entfernt, beruhigt nach Hause zurückkehren zu können.
Was war nur passiert? Wo sonst konnte ich nach Papa suchen?
Gedankenverloren kehrte ich in Richtung des Canale zurück, wo mich nichts als das leise Plätschern des Wassers und der vertraute Anblick der Rialtobrücke empfing. Gerade als ich über sie hinüber zum Markusplatz eilen wollte, sah ich zwei Gestalten, die sich in den Schatten des Mittelgiebels aufhielten. Mir war nicht danach, in dieser Nacht noch eine weitere unangenehme Begegnung zu erleben, und so beschloss ich, in der Dunkelheit einer der vielen Säulen verborgen zu warten, bis die Männer fortgingen.
Was mich leise und ungesehen näher schleichen ließ, war die Tatsache, dass ich die Stimme meines Vaters wiedererkannte. Ich presste mich an die am nächsten gelegene Säule aus Marmor und lauschte angestrengt. Nun sprachen die beiden nicht mehr miteinander. Und so wagte ich es schließlich, mich soweit zu wenden, dass ich sehen konnte, was geschah.
Als erstes erblickte ich, wie mein Vater mit ausgestrecktem Arm einen Umschlag überreichte, wobei er sein Gegenüber mit einem feindseligen Blick bedachte.
Ich zuckte zusammen als ich erkannte, mit wem sich Papa zu solch später Stunde an diesem Ort getroffen hatte. Die in ein schwarzes Cape gehüllte Gestalt, die von den Schatten der Nacht beinahe verschluckt wurde, war mindestens anderthalb Köpfe größer als Vater. Was jedoch in der Dunkelheit markant hervorstach und mir eine Gänsehaut des Schauderns bereitete, war eine elfenbeinweiße Maske, die sein Gesicht bis auf Mund und Kinn vollständig bedeckte.
Ich riss die Augen auf und war in diesem Moment dankbar, dass meiner Kehle lediglich ein leises Keuchen, kein lauter Aufschrei entwich. Dennoch presste ich eine Hand auf den Mund, als der Kopf des Mannes sich kurz in meine Richtung wandte. Ehe ich mich enger an die Säule lehnte, konnte ich noch erkennen, dass die Maske lediglich die Gesichtshälfte bedeckte, wie mir zugewandt gewesen war.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich spürte einen Anflug von Schwäche in den Knien.
Das Gefühl von Angst wuchs, als ich plötzlich zwei Paar Schritte vernahm. Während sich eine Person allem Anschein nach entfernte, kam die andere immer näher in Richtung meines Verstecks. Ich begann langsam die Säule zu umkreisen, um versteckt zu bleiben. Denn ich merkte, dass es der Unbekannte war, der näher kam. Irgendwie schaffte ich es tatsächlich, ungesehen zu bleiben und atmete innerlich auf, als ich hörte, dass er an mir vorüber gegangen war.
Neugierig blickte ich dem Maskierten hinterher. Er bewegte sich mit schnellen, festen Schritten und etwas in seiner Haltung ließ mich an die Geschmeidigkeit einer Raubkatze denken. Seine Schultern waren breit und das schwarze Cape umflatterte die Gestalt, als seien es die fledermausartigen Flügel eines gefallenen Engels. Er blickte sich nicht um, schien gewohnt zu sein, in der Dunkelheit der Nacht zu wandeln und erwartete nicht, dass sich hinter seinem Rücken eine Gefahr verbarg ... oder vielmehr war es ihm gleichgültig, ob dem so war.
Auf der einen Seite fühlte ich mich verängstigt und fluchtbereit, auf der anderen bemerkte ich eine unbändige Neugier, die mich beinahe zu dem unvorsichtigen Vorhaben gebracht hätte, dem Mann zu folgen.
Meine Vernunft gewann die Oberhand, und ich widerstand.
Als ich leise zur Haustür hereinhuschte, hörte ich Vater oben in seinem Schlafzimmer. Offenbar hatte er meine Abwesenheit nicht bemerkt, denn sonst hätte er mich sicherlich schon im Flur mit strengem Blick in Empfang genommen.
‚Dabei hätte eigentlich ich allen Grund einige Fragen zu stellen', schoss es mir durch den Kopf. Dennoch war ich erleichtert, ihn wohlauf zu wissen, und als ich mich kurz darauf mucksmäuschenstill zu Bett begab, fühlte sich mein Herz um ein Vielfaches leichter an.
Obwohl ich nur wenig Schlaf fand, fühlte ich mich hellwach als die ersten zaghaften Sonnenstrahlen durch mein Fenster fielen. Eilig hatte ich mich angezogen und ging die Treppe herab, um eine Kleinigkeit zum Frühstück zu essen. Ich war erstaunt, auch Papa bereits um diese Zeit anzutreffen. Für gewöhnlich stand er erst auf, kurz bevor um halb neun das Geschäft öffnete, und bis dahin waren noch gut drei Stunden Zeit.
„Guten Morgen, Principessa." Er lächelte mich an und schenkte frisch aufgebrühten Kaffe in zwei bereitstehende Becher auf dem Tisch. Es war offensichtlich, dass er in dieser Nacht wachgelegen hatte. Dunkle Ringe waren unter seinen Augen erkennbar und in seinen Augen spiegelte sich ein abgekämpfter Ausdruck.
„Hast du nicht gut geschlafen?" erkundigte ich mich, bevor ich auf einem Stuhl Platz nahm und nach einer Orange aus der Obstschale griff.
Er winkte ab. „Es war spät gestern Abend. Ich war lange bei Giovanni ... Es tut mir Leid, dass ich vergaß, dir eine Nachricht zu hinterlegen. Du hast dir hoffentlich keine Sorgen gemacht?"
Ich schüttelte den Kopf und legte das Obst beiseite, um antworten zu können. „Es hat mich nur gewundert."
„Es wird ganz bestimmt nicht wieder vorkommen, das verspreche ich." Er sah mich geknickt an, und einen Augenblick lang glaubte ich, Tränen des Bedauerns in seinen Augen zu sehen.
Das Lächeln, welches mich einiges an Überwindung kostete, da ich genau wusste, dass ich vielmehr beunruhig über sein Verhalten sein sollte, schien ihn aufzuheitern, und er erwiderte es.
Erik
Als ich mich am nächsten Morgen an der Rezeption des Il Palazzo nach freistehenden Wohnungen erkundigte, erhielt ich die Empfehlung, die Augen nach leeren Fenstern offen zu halten und dann in der Nachbarschaft nach diesem Domizil zu fragen.
Es widerstrebte mir jedoch zutiefst, in dieser Weise aufzutreten und mit einer unüberschaubaren Anzahl von Menschen in Kontakt treten zu müssen. Ich suchte die Nähe der Gesellschaft nicht. Sie zu beobachten, sie zu durchqueren, mit geradezu wissenschaftlich interessiertem Blick, oder an ihr teilzuhaben, waren zwei völlig andere Dinge.
Und so kam es, dass ich mich abermals vor der kleinen Kapelle Pater Scabrezzas wiederfand. Das aus der Renaissance stammende Gebäude konnte man nur aufgrund der in dieser Epoche zum Bau verwendeten Sandsteine und des korinthischen Pilasters am Eingangsportal zuordnen. Denn ansonsten war die Fassade von zeitloser Schlichtheit.
Die misstrauischen Blicke einer aus der Kirchentür schlurfenden alten Matrone ignorierend, trat ich ein. Die Luft des steinernen Gemäuers war angenehm kühl und ließ den stickigen, feuchten Dunst der Lagunenstadt außen vor. Ein schwacher Duft von Weihrauch hüllte mich ein, ebenso wie die im Inneren herrschende Stille.
In der Dunkelheit des gestrigen Abends waren die feinen Mosaikarbeiten der bunten Kirchenfenster nicht aufgefallen. Doch nun überzog die durch das bunte Glas scheinende Sonne alles in ihrer Reichweite mit roten, grünen, blauen und gelben Lichtmustern. Interessiert erkannte ich, dass der Erschaffer dieser kunstvollen Fenster einige höchst ungewohnt surreale Hintergrundelemente um die gängigen Heiligenbilder gestaltet hatte. So schienen die Abgebildeten Sonnen und Kreuze aus unzähligen kleinsten Splitterstücken zu bestehen, nicht wie sonst üblich aus einer einheitlichen Fläche. Eine Verarbeitung wie hier war relativ ungewöhnlich für die ansonsten sehr traditionsbewusste Kirchengestaltung Italiens.
Lediglich in den verspielt gestalteten Palastanlagen Persiens hatte ich in Ausnahmefällen Ähnliches gesehen. Es erinnerte an die in letzter Zeit in Mode gekommenen Gemälde der impressionistischen Pariser Kunstszene. Monet oder Renoir bedienten sich von Zeit zu Zeit einer neu entwickelten Zeichentechnik, bei der Bilder durch die Aneinanderreihung einzelner Pinselstriche geschaffen wurden. Diese Fenster schienen in übertragenem Sinne ähnlich strukturiert.
Ich hatte den Anblick mit derartiger Faszination in mich aufgenommen, dass ich das Nähertreten des Paters erst zu dem Zeitpunkt bemerkte, als er bereits wenige Meter hinter mir stand. Es war höchst unvorsichtig gewesen, meine Aufmerksamkeit derart sinken zu lassen.
„Wunderschön, nicht wahr, mein Sohn?" Er hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und seinen Blick ebenfalls auf die Fenster gerichtet. „Ich bin überrascht, Sie schon so bald wiederzusehen. Kommen Sie, um zu spielen?"
„Ich fürchte, Sie in dieser Hinsicht enttäuschen zu müssen, Pater. Mein Herkommen hat wesentlich pragmatischere Beweggründe."
„Nur heraus damit. Ich werde sehen, wie ich Ihnen helfen kann."
„Einige Geschäfte, die es noch abzuschließen gilt, werden mich länger in dieser Stadt halten, als ich zu Anfang angenommen hatte." Ich dachte an den geringen Betrag seiner Abzahlung, den mir Ardendo am Vorabend ausgehändigt hatte, und rechnete mit dem Zeitraum nahezu eines gesamten Jahres, den es ihn kosten würde, seine Schulden völlig abzutragen. Ohnehin war ich noch immer nicht sicher, ob der finanzielle Ausgleich, der ihn zwar empfindlich traf, jedoch meinen Schmerz nicht aufwiegen konnte, alles war, wonach es mich in meinem Wunsch nach Genugtuung verlangte. „Es scheint mir angebracht, mich für diese Zeit nach einer geeigneteren Unterkunft als einer Hotelsuite umzusehen."
„Dieses Vorhaben scheint mir naheliegend. Und wenn Sie sich an mich wenden, um Ihnen eine geeignete Wohngelegenheit vermitteln zu können, so war dies sehr klug." Er lächelte stolz. „Ich denke ich weiß ein Domizil, das genau der richtige Platz für einen musikinteressierten Mann wie Sie es sind ist."
„So?"
„Gegenüber des Theatro La Fenice steht ein sehr schöner alter Palazzo frei. Die Besitzerin ist vor einigen Monaten verstorben, und nun sucht ihr Sohn händeringend nach einem Käufer."
„Man sollte annehmen, dass ein so exquisit gelegenes Haus viele Interessenten anzöge", warf ich ein. „Gibt es bauliche Mängel, oder andere Unannehmlichkeiten, die einen Verkauf so schwierig machen?" Mir war nicht daran gelegen, mein Geld in eine nutzlose Baracke zu investieren, die meinen nicht gerade niedrigen Ansprüchen kaum gerecht werden konnte.
Der Geistliche nickte und schien keinesfalls erstaunt von meinem Einwand. „Es ist weniger die Tatsache eines Mangels an Schönheit oder Komfort der Ausstattung, sondern vielmehr deren Überfluss." Er hob entschuldigend die Hände. „Das Gebäude steht nur mit vollständigem Inhalt zum Verkauf. Dieser Umstand treibt natürlich den Preis in die Höhe ..."
„Und was bringt Sie auf den Gedanken, dass ich mir ein solches Haus leisten könnte, Pater?", amüsiert hob ich die Augenbraue.
Verschwörerisch zwinkernd lachte er leise in sich hinein. „Reine Beobachtungsgabe, mein Sohn. Ihre Art sich zu kleiden, das Talent ein teures Instrument wie die Orgel zu spielen, der Umstand, dass Sie eine Suite im Il Palazzo bewohnen ... gewiss wären Sie nicht dazu im Stande, wenn Sie nicht über ein gewisses Vermögen verfügen würden."
Ich nickte voller Anerkennung. Allem Anschein nach nahm er seine Mitmenschen mit größter Aufmerksamkeit wahr. Eine ehrende Eigenschaft, auf die man viel zu selten traf. „In der Tat klingt Ihr Vorschlag nach einem Gebäude, das mich interessieren könnte."
„Schauen Sie es sich an. Signor Moretti hat mich damit beauftragt, einen verlässlichen Käufer zu finden. Ihm ist sehr daran gelegen, sein Geburtshaus in guten Händen zu wissen."
„In guten Händen? Sie kennen mich kaum, Pater. Woher wollen Sie wissen, dass ich es nicht völlig verfallen lassen werde, wenn ich es nicht mehr brauche?"
„Ich vertraue ihnen, mein Sohn. Mein Gespür täuscht mich nur selten, und jemand mit Ihrem Sinn für Schönheit wird auch ein Auge auf den Erhalt eines wohlgestalteten byzantinischen Kaufmannshauses haben."
Der Palazzo di Arcobaleno machte seinem Namen alle Ehre. Wie ein Regenbogen spannte sich eine aus schillernden Glassplittern gearbeitete Fensterfassade als offene Galerie über die gesamte Breite des Obergeschosses. In früheren Zeiten hatte die Familie in diesem Gebäude ihre Glasmanufaktur betrieben. Doch der jetzige Besitzer hatte diesem traditionellen Beruf den Rücken gekehrt und sich als Stadtbeamter am Markusplatz niedergelassen. Noch am selben Abend erstand ich das außergewöhnlich ansehnliche Haus.
Im Erdgeschoss befanden sich die ehemaligen Verkaufs- und Geschäftsräume, die ich vorerst ungenutzt lassen würde. Erstes und Zweites Obergeschoss waren geschmackvoll und luxuriös ausgestattet. Es würden nur wenige Ergänzungen nötig sein, um das Mobiliar meinem verwöhnten Geschmack anzupassen.
Der Innenhof war mit liebevoller Fürsorge bedacht worden. Orangen und Zitronenbäume, die Zweige schwer von Früchten, umrahmten einen mit Marmor ausgelegten Holzpavillon. Mein Herz schlug höher, als ich erkannte, an diesem Ort in völliger Abgeschiedenheit Entspannung suchen zu können, wie es sonst nur in einem der belebten Parks der äußeren Inseln Venedigs möglich gewesen wäre.
Im Dachgeschoss des hinteren Gebäudeteils befanden sich die Zimmer der Dienerschaft, welche ich nicht brauchen würde. Sie blieben ebenfalls unberührt. Die ehemaligen Büroräume darunter jedoch, plante ich im ersten Stock zu einer Bibliothek, im zweiten zu einem Musikzimmer umzugestalten.
Es war gegen fünf Uhr abends, als ich meine wenigen Besitztümer aus dem Hotel an ihren neuen Bestimmungsort hatte bringen lassen. Die Kleidung war schnell in einem der leerstehenden Schränke untergebracht. Alles andere beließ ich vorerst in den Holzkisten verpackt.
Als ich am Fenster des großen Salons im ersten Stockwerk stand und meinen Blick über die Einrichtung schweifen ließ, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, ein Eindringling in diesen Räumen zu sein. Die Rastlosigkeit der letzten Jahre hatte zwangsweise dazu geführt, dass sich meine persönlichen Besitztümer in einem höchst überschaubaren Rahmen bewegten. Kleidung, einige kostspielige Geschenke, die mir das Wohlwollen eines reichen indischen Geschäftsmannes eingebracht hatte, und meine Aufzeichnungen und Noten waren alles, was ich an Eigentum mit mir führte.
Überall an Mobiliar und Kunstgegenständen des Palazzo spiegelte sich der barock-ausgerichtete Geschmack der Vorbesitzerin und entsprach in dieser Hinsicht nicht den Vorstellungen meinerseits. Es würde eine gewisse Zeit brauchen, ehe ich mich hier eingelebt hätte.
Ich lächelte freudlos. Eigentlich lohnte es sich kaum, diese Mühe zu investieren. Denn sicherlich überkäme mich schon nach wenigen Monaten abermals der Drang, dieser Stadt zu entfliehen und ein kleines Stück Ruhe und Zurückgezogenheit an einem Fleckchen Erde zu finden, wo ich noch nicht gewesen war. Blieb ich zu lange an einem Ort, zeigte ich mich zu oft den Menschen meiner Umgebung, wuchsen ihr Misstrauen und eine gefährlich tollkühne Neugier. Bereits vier Mal war es in den vergangenen Jahren geschehen, dass ich überstürzt hatte weiterziehen müssen. Denn es war kein Tag mehr vergangen, an dem man sich mir nicht mit bohrenden Fragen und sensationslüsternen Blicken aufgedrängt hatte.
Meine Kiefer begannen aufeinander zu mahlen, als ich an diese Art von Menschen dachte, und ich musste den überwältigenden Wunsch niederkämpfen, den kleinen Beistelltisch neben mir zu packen und an die holzverkleidete Wand zu schmettern.
So tief ich konnte atmete ich durch und begnügte mich damit, die Fäuste hart zu ballen und meinen Blick zum Fenster hinaus zu schicken.
Unter mir schimmerte das Wasser des Kanals in der sich langsam niedersenkenden Sonne. Der alte Pater hatte mir mitgeteilt, dass die beiden am Steg vor dem Haus vertäuten Gondeln ebenfalls in meinen Besitz übergegangen waren.
Ich hatte schon früher ein derartiges Gefährt besessen ...
Die Erinnerung an den unterirdischen See der Pariser Oper, die Nacht, in der ich Christine zum ersten Mal in meine Welt entführt hatte, überfiel mich mit ungeahnter Intensität. In meinem Kopf lauschte ich der Musik jener Nacht, vergegenwärtigte mir jede Note, rief mir jeden Blick ihrer in Faszination verklärten Augen ins Gedächtnis und ließ diese Szene wieder und wieder Revue passieren.
Wie lange ich derart abwesend am Fenster stand, konnte ich nicht sagen. Doch als ich meine Umgebung wieder bewusst wahrnahm, spürte ich die Steifheit meiner Schultern und meine Beine schienen taub geworden zu sein. Draußen hatte sich bereits die Dämmerung gesenkt und das einzige Licht spendeten die Laternen, welche vor dem Eingang der gegenüberliegenden Oper entzündet worden waren.
Das La Fenice war so wenige Meter entfernt, dass ich die aushängenden Plakate an der Fassade deutlich erkennen konnte. Eines erregte meine Aufmerksamkeit in besonderem Maße. ‚Maskenball' – anlässlich des Wiederaufbaus nach dem Brand vor vierzig Jahren sollte das Opernhaus in einer großartigen Feierlichkeit seiner Unbezwingbarkeit gedenken. ‚Maskenball' – ich spielte mit dem Gedanken, unerkannt und ohne irgendjemandes Aufmerksamkeit zu erregen, an diesem gesellschaftlichen Ereignis teilzunehmen. Es waren nur noch etwas mehr als zwei Wochen Zeit bis zu diesen großen Galaabend und zweifelsohne waren alle Eintrittskarten seit langem ausverkauft. Die Herausforderung, mir dennoch Zutritt zu verschaffen, lockte mich ungemein.
Man sagte, das La Fenice verfüge über eine hervorragende Akustik, und ich würde mich zu gerne von diesem Gerücht überzeugen. Zwei Jahre nachdem ich Paris verlassen hatte, war ich das erste Mal wieder in einem Opernhaus gewesen. Daran, was an jenem Abend gespielt wurde, konnte ich mich heute kaum noch erinnern, es war keine Vorstellung von großem Talent gekennzeichnet, irgendwo in einem kleinen deutschen Provinztheater. Dennoch hatte ich im Schatten der Loge gesessen und mein Herz zutiefst bewegt gefühlt. Zu lange hatte ich mir selbst verwehrt, ein solches Gebäude zu betreten. Seitdem suchte ich die Schönheit von Gesang und Ambiente eines jeden Hauses, das meine weitschweifenden Wege kreuzte. Es spielte keine Rolle, welches Stück man zeigte, welche großen oder unbekannten Namen die Schauspieler trugen, ich sah die Vorstellung und wurde abermals zurückgetragen in jene Zeit, als ich noch glaubte, für alle Zeit mein Refugium im Schutz der Pariser Opera Garnier gefunden zu haben, in jene Zeit, als ich der Herrscher über mein prunkvolles Reich gewesen war und noch nicht dieser ruhelose Wanderer, der überall sein konnte und doch nirgends wirklich hingehörte.
Es war eine Stunde vor Mitternacht, als ich die Wohnung verließ. Ardendo hatte sich dazu verpflichtet, mir seine gesamten Ersparnisse und zwei Drittel der jeweiligen Tageseinnahmen auszuhändigen, bis seine Schulden abbezahlt wären.
Sein Geld brauchte ich nicht, besaß ich doch beinahe mehr, als ich in diesem einen Leben ausgeben konnte. Was mich jedoch – wenn auch nicht in einem wirklich ausreichenden Maße – zufrieden stellte, war die Tatsache, dass den alten Mann dieses Opfer tatsächlich schmerzte. Ich versuchte mit aller Kraft, mich selbst davon zu überzeugen, dass Ardendos finanzieller Ruin mehr Befriedigung bedeutet, als setzte ich seinem Leben schlicht und einfach ein Ende. Schaffte ich es nicht, käme ich gefährlich nahe an jenen Abgrund, der ein Menschenleben nicht mehr bedeutsam in meinen Augen scheinen ließ, und von diesem hielt ich mich seit Christines Kuss fern.
Ich schloss die Tür hinter mir ab und ging hinaus in die Nacht. Bevor ich mich zum Treffpunkt der Übergabe begeben würde, wollte ich jedoch die Dunkelheit der Nacht nutzen, um den Markusdom und seine eindrucksvolle Baukunst zu bewundern - unbehelligt von den Menschenmassen, die tagsüber zu dieser Hauptattraktion der Stadt hinströmten. Sie waren auch der Grund, weshalb ich diesen exquisiten Anblick, der mein Interesse an ausgesuchter Architektur geweckt, bisher gemieden hatte.
In dieser Nacht suchte ich die Schatten der Arkaden um den Piazza San Marco, obwohl keine Menschenseele weit und breit zu sehen war und auf mich aufmerksam geworden wäre, trat ich offen ins Licht der Laternen.
Noch immer schien mir die Dunkelheit die angemessenste aller Begleiterinnen. Sie war eine verschwiegene Vertraute und ich ergab mich bereitwillig ihrem finsteren Schleier.
Staunend nahm ich das Bild der Basilika San Marco in mich auf. An diesem Bauwerk wurde deutlich, wie eng Venedig einst an den Orient geknüpft gewesen war.Die Hauptfassade wurde dominiert von fünf gewaltigen Bogennischen auf jeder der beiden Gebäudefassaden, die von filigranem Mosaikschmuck gekrönt wurden. Kuppeldach, goldene Verblendungen und kunstvoll gearbeitete Steintürmchen provozierten die Assoziation mit einem fernöstlichen Märchenpalast. In Mazenderan hatte ich selbst an dem Entwurf ähnlicher Bauwerke gearbeitet und diese überaus profitabel verkaufen können.
Das plötzliche Lachen einiger rumorender Männer riss mich aus meiner Betrachtung und ließ mich wachsam tiefer in die Schatten zurückweichen. Drei wankende Gestalten, stolpernd und einander stützend, näherten sich aus der Richtung des Campanile. Erst nahm ich an, sie hätten mich gesehen und ihre anschwellenden Rufe würden mir gelten. Doch dann sah ich, dass sie schneller wurden und einer sich von ihnen entfernenden Silhouette folgten.
Die Frau, der das Interesse dieser grobschlächtigen Männer galt, trug ein dunkles Cape mit Kapuze und blickte sich im Laufen unablässig nach ihren Verfolgern um. Noch waren alle gut zwanzig Meter von mir entfernt.
Sollte ich eingreifen? Es widerstrebte mir, allzu viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Mein Hiersein hatte einen anderen Grund, als mich in Streitigkeiten und Missstände dieser fremden Stadt zu mischen. Ohnehin war die Frau ihren Verfolgern ein gutes Stück voraus. Es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, ehe sie um Hilfe schrie und somit den ein oder anderen Anwohner alarmierte ...
Ihre Schritte brachen abrupt ab, als sie ins Stolpern geriet und auf das harte Steinpflaster aufschlug. Das Lachen der Betrunkenen hinter ihr wuchs noch einmal an, während sie immer näher auf die am Boden Liegende zukamen.
Meine Zurückhaltung löste sich in Luft auf. Was ich als nächstes tat, entsprach tief verwurzelten Instinkten des Gerechtigkeitsgefühls und keinesfalls den kühl-kalkulierten Überlegungen, welche ich mir im Laufe der Zeit hatte angedeihen lassen wollen. Ich schnellte aus meinem dunklen Versteck hervor, und schon fand ich mich direkt zwischen der Frau und ihren Verfolgern wieder.
„Meine Herren, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" Meine weiße Maske musste gespenstisch auf die Kerle wirken, denn schon erkannte ich den Ausdruck des Schreckens auf dem Gesicht der zwei etwas weiter entfernt stehenden.
„Mach dass du verschwindest, Franzose!" Der Dritte, bei dem es sich scheinbar um ihren Rädelsführer handelte, schien wenig beeindruckt. Er war zwar einen halben Kopf kleiner als ich und schwankte bedenklich in den Knien, doch wütende Augen blitzten mich aus dem ungepflegten Gesicht an.
1869 war in Venedig ein neuer Hafen für Hochseeschifffahrt eingerichtet worden, die durch die Öffnung des Suezkanals innerhalb kürzester Zeit stark an Bedeutung gewonnen hatte. Viele nach Osten reisende Europäer, aber auch Kolonialbeamte nutzten die Gelegenheit zu einem Aufenthalt in dieser geschichtsträchtigen Stadt. Scheinbar waren diese drei Halunken Seemänner von einem der zahlreichen Schiffe, die auf ihrem Weg im venezianischen Hafen einen Halt einlegten, denn der Sprechende hatte einen unüberhörbar englischen Akzent. Auch seine nächste Äußerung bestand lediglich aus einem verwaschenen Italienisch. „Wen glaubst du eigentlich mit deiner Verkleidung erschrecken zu können, du merkwürdiger Vogel?"
Ich fühlte mich nicht angegriffen. Eine derartige Auseinandersetzung lag deutlich unter meinem Niveau.
„Sie sollten besser gehen", erwiderte ich ruhig und deutete mit einer entsprechenden Handbewegung auf einen Weg, der an mir und der noch immer am Boden zusammengekauerten Frau vorbei führte.
Die beiden vernünftigeren Raufbolde zogen ihren Kumpanen mit sich, der mich mit seinen Blicken aufspießen zu wollen schien. Als ich gerade im Begriff war, mich zu der Verfolgten herumzudrehen, sah ich aus den Augenwinkeln, wie er sich losriss und mit schnellen, stolpernden Schritten auf uns zustürmte. Blitzschnell wirbelte ich um die eigene Achse und blockte seinen Faustschlag mit meinem Unterarm ab. Der Mann schwankte unsicher und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Er griff haltsuchend nach meinem Cape und schlug unsanft auf den Boden auf, als ich es ihm einfach entriss.
Schon waren seine Gefährten wieder an der Seite des Mannes, wobei sie einen wohlweißlichen Abstand zu mir hielten, und zogen den fluchenden und aus der Nase blutenden Kerl mit sich. Mein Blick folgte ihnen, bis sie außer Sichtweite gekommen waren und nur noch ein dumpfes Lärmen aus ihrer Richtung zu vernehmen war.
Langsam richtete ich den Blick auf die dunkel gewandete Gestalt, deren unfreiwilliger Retter ich soeben geworden war.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Signora?"
Ein schwaches Nicken war die einzige Antwort. Erst jetzt erhob sie sich auf zittrigen Beinen, wobei die Kapuze aus ihrem Gesicht rutschte.
Was sie enthüllte ließ mir den Atem unvermittelt stocken.
Serafina
Es war ganz offensichtlich gewesen, dass Vater in dieser Nacht erneut das Haus verlassen würde. Den ganzen Abend über hatte er unruhig in der Küche gesessen und schließlich zu der Flasche Grappa gegriffen, die er für gewöhnlich allenfalls am Wochenende aus dem Schrank hervorholte.
Ich war früh nach oben in mein Zimmer gegangen und hatte als Vorwand angegeben, die Erschöpfung meiner Arbeit fordere ihren Tribut. Doch anstatt zu schlafen, hatte ich dagelegen und gewartet. In der letzten Nacht war er um Mitternacht mit dem mysteriösen Maskierten an der Rialtobrücke zusammengetroffen. Es hatte beinahe ausgesehen, als bestünde eine Verschwörung zwischen den beiden Männern, oder ein geheimes Abkommen.
Zu meiner Beunruhigung schien dieses Papa jedoch ganz und gar nicht gut zu tun. In seinem Gesicht spiegelten sich seit nunmehr drei Tagen Wachsamkeit, Misstrauen und ... Furcht. Ganz sicher waren diese nächtlichen Treffen die Ursache für seinen immer ungesunder werdenden Eindruck, und während ich also in meinem Zimmer gesessen hatte, war ich zu dem Entschluss gekommen, diesen merkwürdigen Vorgängen auf den Grund zu gehen.
Bevor er um kurz vor Mitternacht das Haus verlassen würde, war ich bereits hinausgeschlichen und hatte mich auf den Weg zur Rialtobrücke gemacht. Wie gestern hatte ich von den Schatten des überdachten Säulenganges aus beobachten wollen, was geschah.
Doch in dieser Nacht war ich nicht weit gekommen. Drei betrunkene Männer waren plötzlich hinter mir aufgetaucht und ich musste fliehen. Als ich ausgerutscht und gestürzt war, hatte ich mich beinahe in mein Schicksal bereits ergeben, doch dann war das Unglaubliche geschehen. Eine dunkle Gestalt war aus den Arkaden des Café Quadri getreten und hatte mich verteidigt, meine Angreifer in die Flucht geschlagen. Zuerst war ich erleichtert gewesen, doch als ich erkannte, wem ich diese Rettung verdankte, hatte mein Herzschlag beinahe ausgesetzt.
Und nun stand ich hier, alleine, schutzlos und ohne die Möglichkeit, um Hilfe zu schreien, direkt dem Mann gegenüber, vor dem mich Papa eindringlichst gewarnt hatte. Sein Anblick war furchteinflößend. Ich war nicht groß und seine in ein dunkles Cape gehüllte Gestalt überragte mich um gut anderthalb Köpfe. Er hatte tintenschwarze, glatt zurückgekämmte Haare und darunter ... die rechte Hälfte seines Gesichtes wurde von einer elfenbeinweißen Maske verhüllt, die aus Leder angefertigt zu sein schien. Sie dominierte seinen Anblick derart stark, dass erst wesentlich später der nicht verdeckte Teil meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Der Unbekannte hatte feingeschnittene aristokratische Züge um Nase und Lippen und energische Brauen, die den intensiven Ausdruck seiner starr auf mich gerichteten Augen unterstrichen. In der Dunkelheit konnte ich deren Farbe nicht erkennen, und ich war selbst überrascht, dass ich mich in einem Moment wie diesem fragen konnte, wie sie wohl bei Tageslicht aussehen mochten.
Sein Alter war schwer einzuschätzen. Dem Gesicht nach wirkte er wie Ende Dreißig, doch die harte Kinnpartie und etwas in seinem Blick ließen ihn älter erscheinen. Etwas Faszinierendes umgab diese geheimnisvolle Erscheinung und ich konnte nicht sagen, ob es die Eleganz seiner Haltung war, oder die Aura von Unnahbarkeit, die diesen Mann umgab.
Beschämt senkte ich den Kopf, als ich bemerkte, wie lange wir einander derart prüfend angestarrt hatten.
Ich wollte mich bedanken, doch wie sollte ich das tun? Er konnte mich nicht verstehen, und so begnügte ich mich vorerst damit, ihn abermals anzusehen und schüchtern zu lächeln.
Seine Mine blieb unverändert ernst, doch er hob die schwarz behandschuhten Hände und ich wollte schon erschrocken zurückweichen, als er plötzlich mit mir zu reden begann.
Seine Stimme war von einem solch dunklen Timbre, dass ich mich ganz auf sie konzentrierte, während ich die gleichzeitig mit den Händen geformten Worte verfolgte. „Geht es Ihnen gut, Mademoiselle?" Dem Klang nach zu urteilen, war er ganz sicher ein hervorragend ausgebildeter Sänger, denn in der Melodik seiner Worte schwangen sowohl Emphase als auch Kontrolliertheit.
Stockend antwortete ich: „Dank Ihnen, Monsieur, ja." Ich hatte diese Anrede noch nie gebraucht und hoffte nur, sie korrekt darstellen zu können. Woher wusste dieser Mann überhaupt, dass ich nur auf diese Weise mit ihm reden konnte?
Noch einmal fühlte ich mich genauestens von ihm in den Blick gefasst. Diese eindringliche Art war mir fremd und ich merkte, wie ich errötete. Doch auf einmal sah ich, wie sich ein leises Lächeln über seine Lippen breitete und seine Augen ein wenig weicher wurden. Vielleicht war er nur aufgrund der vorherigen Situation angespannt gewesen und hatte deshalb so kühl gewirkt.
„Sie beherrschen die Gebärdensprache, Monsieur ... das ist höchst selten."
„Ich habe vor drei Jahren im Auftrag eines russischen Offiziers gearbeitet, dessen Sohn taubstumm war. Diese Form der Verständigung hat mein Interesse geweckt. Und in solchen Fällen lerne ich schnell."
Ich war ausnahmslos hingerissen. Es war das erste, ja das aller erste Mal, dass ich jemanden fremdes traf, mit dem ich mich auf diese Weise verständigen konnte. Auf einmal schwirrten mir Tausende von Fragen im Kopf umher und ich hätte sie am Liebsten alle auf einmal gestellt.
„Serafina!"
Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können. Als ich mich herumdrehte und Papa wutentbrannt auf uns zustürmen sah, dachte in einen irrationalen Augenblick lang, er würde mich schlagen. Doch statt dessen griff er nach meinem Arm und starrte den Maskierten mit Todesverachtung an.
„Erik", knurrte er und ich hatte nie zuvor soviel Feindseligkeit in seiner Stimme mitschwingen hören. „Sie können mir all mein Geld nehmen, mich völlig ruinieren. Meinetwegen bringen Sie mich um, sollte das Ihrer kranken Seele Ruhe geben." Drohend hob er die Hand, lehnte sich vor zu dem großen Mann, dessen Blick wieder kalt und abschätzig war, wie vorhin. „Aber ich warne Sie: Legen Sie niemals Hand an meine Tochter, oder sie werden sich sehnen nach jenen Tagen, für die Sie Genugtuung fordern!"
Ich zog heftig an seinem Ärmel, denn ich konnte weder seinen Zorn nachvollziehen, noch dass er die Wut des Anderen allzu sehr herausforderte. Fester packte er mich bei den Oberarmen und bohrte seine Augen in meine. „Du gehst sofort nach Hause, Tochter. Hörst du? Sofort!"
Um versuchen zu antworten, schlug ich seine Hände beiseite. „Aber Papa, dieser Mann ..."
„Er ist kein Mann", unterbrach mein Vater mich und blickte abermals hasserfüllt auf die weiße Maske. „Er ist ein Monster. Und nun geh!", bellte er in einem Tonfall, der mich unverzüglich gehorchen ließ. Mit gesenktem Kopf hörte ich seine Stimme, bis ich den Dogenpalast hinter mir gelassen hatte und nur noch wenige Meter von unserer Haustür entfernt war.
Ich rannte die Stufen hinauf und warf mich auf mein Bett. Noch immer hatte ich das Gefühl, mein Gesicht würde glühen. Ich hatte mich so erschrocken, von Papa entdeckt worden zu sein. Doch noch schlimmer kam es mir in diesem Moment vor, dass er mich in Gegenwart dieses gebildeten Mannes derart getadelt hatte. Ich schüttelte energisch den Kopf, um diesen törichten Gedanken beiseite zu scheuchen. Papa hatte gesagt, dieser Erik würde ihn erpressen, ihn ruinieren, Genugtuung für etwas fordern. Wahrscheinlich war er nur so wütend gewesen, da er Angst gehabt hatte.
Aber der Unbekannte hatte mich gerettet. Zwar war sein Anblick unheimlich, ganz einfach aufgrund der Maske, die er trug, doch hatte er nicht gewirkt, als bedeute er eine große Gefahr. Was konnte es nur sein, dass Papa und ihn derart gegeneinander aufgebracht hatte? Sie schienen sich geradezu zu hassen, doch aus welchem Grund?
Obwohl ich es nach der Aufregung dieser Nacht nicht für möglich gehalten hätte, fiel ich schon bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als ich am Morgen die Treppe hinunter in die Küche ging, ahnte ich, dass Papa mich mit vorwurfsvollem Blick in Empfang nehmen würde. Doch statt dessen hatte er wie immer Kaffee gekocht, saß nun am Tisch und starrte teilnahmslos in seine Tasse. Meine Anwesenheit bemerkend, blickte er kurz auf und deutete mir dann, mich zu setzen.
Ich kam seinem Wunsch nach, und während er mir einen dampfenden Becher hinstellte, ließen seine Augen mich nicht los.
„Papa, es tut mir leid. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Du warst so anders in den letzten Tagen, und ich musste einfach wissen, was dich so quält."
Obwohl ihm die Besorgnis ins Gesicht geschrieben stand, lächelte er mich wehmütig an. „Du warst schon immer eine empfindsame Seele, Principessa. Was jedoch diesen Mann betrifft, bitte ich dich, keine Fragen zu stellen", sein Lächeln wurde breiter und in der Stimme klang aufrichtige Amüsiertheit mit, „oder andere Nachforschungen zu unternehmen. Schon gar keine nächtlichen Beschattungen."
Ich schmunzelte und nickte einverständlich, insgeheim wissend, dass ich die Dinge unmöglich völlig auf sich beruhen lassen konnte.
Papa kannte mich nur zu genau, wie mir seine nächsten Worte deutlich bewiesen. „Morgens gehst du ja zusammen mit Sophia zur Arbeit. Aber heute Abend werde ich vor dem Theater auf dich warten und dich auf dem Heimweg begleiten." Er hob die Hand als er bemerkte, dass ich zu einem Einwand ansetzte „Ich mache mir ganz gewiss keine unnötigen Sorgen. Es soll auch nicht so sein, dass ich dich nun auf Schritt und Tritt verfolge. Aber nach der gestrigen Nacht ist es mir einfach lieber, dich absolut sicher und fern von Erik zu wissen."
Ich presste meine Hände aneinander, um eine weitere Frage nach diesem Mann zu unterdrücken. Im Moment hätte mein Vater ohnehin nichts gesagt.
Der Tag verging ruhiger als die vorherigen. Da die Diva beinahe den gesamten Nachmittag Proben hatte, konnten Sophia und ich hinter der Bühne unseren Schneiderarbeiten nachgehen. Allerdings hatte die Carlotta am Abend noch einige erneute Änderungswünsche, weshalb ich länger im La Fenice blieb als meine Cousine.
Vater kam seinem Vorhaben nach und erwartete mich bereits. Schweigend gingen wir nebeneinander die schmalen Gassen entlang. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir tatsächlich von irgendwoher beobachtet wurden. Mein Nacken kribbelte, doch als ich mich einmal unauffällig umschaute, war niemand zu sehen.
Zuhause angekommen, machte ich mich daran den Tisch zu decken, während Papa sich eine Pfeife ansteckte. Zum ersten Mal in den letzten Tagen wirkte er ein wenig entspannt. „Ich habe mich scheinbar getäuscht. Es sieht nicht so aus, als wäre uns jemand gefolgt. Zwei Tage werde ich noch mit dir gehen. Wenn er sich dann immer noch nicht in deiner Nähe gezeigt hat, belassen wir es dabei."
Ich nickte in kurzer Zustimmung und erwähnte mein Gefühl von vorhin mit keiner Geste. Warum sollte ich ihm noch mehr Sorge bereiten? Außerdem hatte ich mich so unfrei und kindlich gefühlt, nicht ohne seinen Schutz durch die Straßen gehen zu können, die ich bereits als keines Mädchen alleine entlang gelaufen war. Ich wollte keinesfalls, dass diese Situation länger andauerte, als dass meine Vater es brauchte, um beruhigt sein zu können.
Kleine Rauchwölkchen stiegen auf, als er bedächtig den Kopf schüttelte. „Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber dieses Monster scheint doch einen Funken Anstand zu besitzen."
Dieses Mal fiel es mir wirklich schwer, nicht weiter nachzufragen, und gleichzeitig wusste ich, dass ich entgegen Vaters Warnung heute Nacht erneut das Haus verlassen würde. Die Ungewissheit ließ mir keine Ruhe.
Erik
Ardendos Tochter war also kein kleines Kind, wie ich zu Anfang angenommen hatte. Es war vielmehr die junge Frau, welche ich an dem Abend weinend hatte fortgehen sehen, als ich das erste Mal in der Kirche Santa Maria Piccola Orgel gewesen war. Sie arbeitete im Theater, direkt gegenüber meines Hauses.
Gegen Abend war mir Ardendo aufgefallen, der vor dem Haupteingang auf sie gewartet hatte.
Als sie die Treppe herunterkam, folgte ihr mein Blick. Ihre Bewegungen waren lebhaft und ungezwungen. Sie nahm mehrere Stufen auf einmal, und als sie ihren Vater erreichte, schloss sie ihn in eine herzliche Umarmung. Das Verhältnis der beiden schien eng zu sein, und ich erinnerte mich daran, gehört zu haben, dass er bereits vor Jahren Witwer geworden war.
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich hätte ich aufgrund dieser Information darauf schließen müssen, dass sein Kind nicht mehr allzu jung sein konnte. Wie nachlässig von mir.
In der Nacht zuvor, als Ardendo plötzlich aufgetaucht war, kurz nachdem ich seine Tochter vor diesen betrunkenen Raufbolden in Schutz genommen hatte, war er voller Wut auf mich losgegangen. Die Sorge, ich könnte seiner Familie zu nahe kommen, hatte ihn beinahe vergessen lassen, wozu ich im Zorn zu Stande war. Es war sein Glück gewesen, dass ich mich unter Kontrolle halten konnte und ihn allein durch meine scharfen Worte daran erinnerte, mit wem er es zu tun hatte.
Mit blitzenden Augen hatte er mir den Umschlag mit Geld gereicht, und als ich ohne ein weites Wort zu verlieren nach Hause gegangen war, hatte ich seinen wachsamen Blick auf mir gespürt. Er war mir gefolgt.
So wie ich nun ihm und seiner Tochter durch die schmalen Gassen Venedigs folgte. Einmal bemerkte ich, wie sie sich verstohlen umsah, so als ahne sie meine Anwesenheit. Mit einem einzigen Schritt wich ich in den nächsten Hauseingang zurück.
Sie schien mich nicht bemerkt zu haben, und auch Ardendo selbst machte einen vollkommen ruhigen Eindruck.
Wo der alte Mann wohnte wusste ich bereits. Und als mir der eigentliche Grund klar wurde, der mich dazu bewegte, den beiden zu folgen, ballte ich die Fäuste und wandte mich um, nach Hause zu gehen.
Energisch wischte ich das Bild der jungen Frau aus meinen Gedanken. Ich wollte sie nicht in meine Rachepläne einbeziehen. Sie war so unschuldig an den Taten ihres Onkels und Vaters, wie ich es damals gewesen war, als die beiden mich in einem Käfig von Stadt zu Stadt geschleift und Geld mit meinem abscheulichen Anblick verdient hatten. Ich würde unter keinen Umständen so tief sinken, eine derart unschuldige, arme Seele zu benutzen, um meine Gier nach Vergeltung zu stillen. Sicher hatte das arme Ding es schwer genug, in einer Gesellschaft zurecht zu kommen, in der man schnell diejenigen vergaß, die nicht laut genug auf ihre natürlichen Anrechte aufmerksam machten. Weshalb sollte ich ihr noch mehr Schaden zufügen?
Die Freude ihrer Augen ging mir nicht aus dem Sinn, als sie gemerkt hatte, dass ich ihre Sprache verstand ... diese Augen ... Ich biss die Zähne hart aufeinander und tadelte mich für derart verhängnisvolle Gedanken. Christine. Weshalb sollte ich ein zweites Unglück heraufbeschwören? Meine Gefühle bedeuteten nichts als Verderben.
Serafina
Samstag Abend holte Vater mich ein letztes Mal vom La Fenice ab und auch ich beschloss, mich Nachts nicht mehr aus dem Haus zu schleichen und ihn und den mysteriösen Maskierten nicht länger bei ihren Treffen zu beschatten. Es hatte sich ohnehin jedes Mal die selbe, wenig aufschlussreiche Szene abgespielt, bei der die beiden kaum ein Wort gewechselt hatten. Allein durch diese Beobachtungen kam ich also nicht weiter in meinem Bestreben herauszufinden, was sich hier direkt vor meinem Blick abspielte.
Insgeheim beschloss ich, am Sonntag nach der Messe ein vertrauliches Wort mit Pater Giovanni zu wechseln, der mir als Vaters ältester Freund vielleicht etwas Hilfreiches enthüllen konnte. Doch dazu kam es nicht. Sophia war am Samstag Abend an einem leichten Fieber erkrankt. und ich wich den gesamten folgenden Tag nicht von ihrer Seite, um ihr die Zeit ein wenig zu vertreiben.
Auch am nächsten Morgen war sie noch immer schwach auf den Beinen. Dennoch gingen wir in aller Frühe gemeinsam über den Markusplatz in Richtung des Theaters.
Sie war sehr schweigsam gewesen, seit ich sie abgeholt hatte, doch plötzlich platzte es aus ihr heraus: „Ich halte das einfach nicht mehr aus, Serafina! Sogar Mama sagt, dass Onkel Paolo und du euch in der letzten Woche höchst merkwürdig verhalten habt. Wieso sprichst du nicht mit mir darüber?"
„Es ist nichts Besonderes", beschwichtigte ich die verstimmte Neugier meiner Cousine. Es war ihr und Tante Antonella also aufgefallen, obwohl sowohl Vater, als auch ich uns alle Mühe gaben, so unbeschwert zu sein, wie sonst auch. „Sag es nicht weiter, aber seine Geschäfte laufen im Moment nicht so gut. Wir müssen uns ein wenig einschränken und hauptsächlich auf das Geld zurückgreifen, das die Schneiderarbeit einbringt."
Sophia wurde noch blasser um die Nase, als sie seit gestern ohnehin war. Sie griff nach meinem Arm und sah mich ängstlich und voller Mitleid an. „Wenn ich euch irgendwie helfen kann, dann sag mir wie. Meine Güte! Und ich hatte schon befürchtet, es würde etwas viel Schlimmeres dahinter stecken ... Obwohl es natürlich hart genug ist, was du sagst ... Mama hatte Geräusche gehört, als hätte jemand noch spät in der Nacht euer Haus verlassen. Mir war ganz unheimlich zu Mute."
Ich musste schmunzeln. Meine Tante hatte einen unfehlbar aufmerksamen Blick für alles, was in unserer Nachbarschaft vor sich ging. Ich konnte nur froh sein, dass sie nichts Genaueres von unseren nächtlichen Streifzügen mitbekommen hatte, sonst hätten sich wohl weder Papa noch ich ihren inquisitorischen Fragen entziehen können.
Es kostete mich eine ganze Zeit lang ehe ich es schaffte, das Thema zu wechseln. Es gefiel mir nicht, meine Cousine und einzige Freundin anzulügen, doch die Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen. Ich hatte sie ja schließlich selbst keinen Überblick darüber.
Im Inneren des La Fenice trennten sich unsere Wege. Während sie zu Signora Scabrezza hinter die Bühne ging, machte ich mich mitsamt Schneiderutensilien und dem halbfertigen Kostüm auf den Weg zur Garderobe Carlotta Giudicellis. Die Sängerin bestand darauf, jeden Morgen die Fortschritte an ihrer violetten Robe persönlich zu überprüfen. Bis jetzt hatte sie nicht ein lobendes Wort gefunden, stattdessen waren ihr ein ums andere Mal Kleinigkeiten aufgefallen, die ich noch zu ihrer Zufriedenheit ändern sollte.
Ich klopfte leise an die Tür und wartete, bis ihre laute Stimme mich aufforderte einzutreten.
„Ah, du bist es nur." Scheinbar hatte sie jemand anderes erwartet, denn nun bedachte sie mich zusätzlich zu ihrem gewohnt herablassenden Ton noch mit einem äußerst unzufriedenen Blick. „Nun gut, komm her und zeig mir, wie weit du das letzte Mal mit meinem Kleid gekommen bist."
Ich stellte meinen Korb ab und faltete den teuren, glänzenden Taftstoff auseinander. Auf Wunsch der Diva hatte ich über die gesamte Rockfläche kleine bunte Perlen aus Muranoglas aufgenäht, der einzige Farbtupfer an dem ansonsten einheitlichen Gewand.
„Der Ausschnitt gefällt mir so noch nicht!" Sie rümpfte die Nase, nahm kurzer Hand das Kleid an sich und betrachtete es mit kritisch zusammengekniffenen Augen aus der Nähe. „Mach die Taille enger. Ich will nicht aussehen wie eine Tonne in diesem Fetzen. Außerdem will ich, dass der Ausschnitt tiefer und dafür sein Rand mit einer Dunklen Borte umrahmt wird." Sie warf mir den Stoff achtlos zu und machte sich dann gurrend und schmeichelnd daran, ihren Pudel zu kraulen, der auf einem Hocker neben ihrem Schminktisch geschlafen hatte und bei meinem Eintreten scheinbar aufgewacht war.
Ich hatte mich gerade in eine Ecke der Garderobe zurückgezogen und dort daran gemacht, die restlichen drei Handvoll Perlen auf den Taftrock zu applizieren, als es abermals an der Tür klopfte.
„Herein!", rief die Diva, während sie sich erwartungsvoll erhob und ein breites Lächeln auf die rot geschminkten Lippen setzte.
Auch ich stand von meiner Arbeit auf und hielt den Kopf in bescheidener Geste gesenkt, als Direttore Alterigia eintrat. Er grüßte die Carlotta indem er seinen Hut abnahm und sie vollführte im Gegenzug einen kleinen Knicks. Dem Theatervorstand folgte der junge Franzose Gandin, den ich in den vergangenen Wochen mehrmals gesehen hatte. Er stattete der Diva regelmäßig Besuche ab. Manchmal ignorierten beide meine Anwesenheit und vertieften sich in belanglose Gespräche, und dann und wann wurde ich ohne ein weiteres Wort mit meiner Arbeit vor die Tür geschickt, damit sie ungestört waren.
„Signora Giudicelli, Teuerste!" Der Direttore überschlug sich förmlich, während er die Arme in die Luft riss und in Entzücken die Augen verdrehte. „Ich bin ganz und gar hingerissen vom Talent dieses jungen Künstlers!"
Die Angesprochene nickte zufrieden. „Es war mir durchaus bewusst, dass seine Komposition Ihnen zusagen würde. Der ‚Triumph des Don Juan' ist etwas Besonderes."
„Sie ist atemberaubend! In meiner langen Zeit in der Welt des Theaters habe ich noch nie eine derartige Dichte von Musik und Gesang erlebt. Gut, die Variationen sind eigenwillig und ein wenig unkonventionell, doch die Emotionalität, die in diesem Stücken mitschwingt", nun wandte er sich an den hinter ihm stehenden Mann, dessen selbstzufriedenes Grinsen mir eine Gänsehaut bereitete, „ich bin wirklich beeindruckt, wie ein junger Mann wie Sie sich derart in den Mythos dieses lasterhaften Helden einfühlen konnte."
Eine höfliche Verbeugung andeutend, nahm der Gelobte diese Worte entgegen. „Manchmal wissen wir Künstler selbst nicht, was uns beflügelt, Signor", erwiderte er bescheiden.
Alterigia lächelte zufrieden. „Signora Carlotta", er faltete bittend die Hände und bedachte sie mit einem eindringlich beschwörenden Blick, „Sie müssen mir den Gefallen tun und etwas aus dieser Oper zum besten geben."
Die Angesprochene schien mir alles andere als abgeneigt zu sein, doch anstatt freudestrahlend anzunehmen, spielte sie die Zurückhaltende. „Meinen Sie wirklich, mio Direttore? Ich weiß nicht, ob das Publikum etwas aus diesem noch unbekannten Werk hören will ..."
Ich bemerkte das hämisch amüsierte Grinsen, dass Gandin hinter einer Hand versteckte. Allem Anschein nach machten sich beide über die überschwänglichen Begeisterungsbekundungen des La Fenice Direktors lustig.
„Bella Diva!" rief er mit glühendem Eifer aus. „Sie werden Ihnen zu Füßen liegen, das verspreche ich. Glauben Sie mir, ich erkenne ein Werk von Weltklasse, und dieses wird zweifelsohne einst in einer Reihe stehen mit den Opern Verdis oder Wagners. Und Sie, Signora, werden die erste sein, die es der Öffentlichkeit vorstellt!"
„Nun gut", erbot sich die Sängerin schließlich mit einem dramatischen Seufzer. „Dann werde ich es heute bei den Proben vortragen."
Ein neues Stück verlangte selbstverständlich weitere Änderungen an ihrem Kostüm, und nachdem die Herren ihre Garderobe verlassen hatten entschied die Diva, dass für diesen Auftritt eine Tournüre weitaus geeigneter sei als die bisher angestrebte Krinolinenform. Ich war nur froh, genug Stoff verwendet zu haben, dass dieser Wunsch tatsächlich durchführbar war.
Dennoch bedeutete diese zusätzliche Forderung weitaus mehr Arbeit, als ich mir eigentlich zutraute. Ich ließ die ohnehin kurze Mittagspause vollständig entfallen und nähte fieberhaft an dem Kleid der großen La Carlotta. Glücklicherweise hatte mich die Diva bereits am Vormittag aus ihrer Garderobe hinausgeschickt, um sich ungestört auf ihre neue Gesangspassage vorbereiten zu können. So blieb mir die Möglichkeit schnell in Signora Scabrezzas Geschäft den Stoff neu zuzuschneiden, und später Sophia und ich dann zurückgezogen in einer kleinen Ecke hinter der Bühne, mitten zwischen zwei Dekors für den großen Galaabend, und gingen konzentriert unseren Aufgaben nach. Die Signora selbst warf ab und zu einen Blick auf die Fortschritte unserer Arbeit, war aber ansonsten damit beschäftigt, zwischen den übrigen Schauspielern hin und her zu laufen und all die Kleinigkeiten auszubessern, die sich während der Proben an den Kostümen ergeben hatten.
Es waren ungewohnt ruhige Stunden, und zum ersten Mal seit Wochen verspürte ich wieder einen Anflug von Freude an dem was ich tat. Langsam nahm das Kleid der Diva Gestalt an. Ich war zufrieden, dass ich mich trotz der vielen unvorhersehbaren Abwandlungen nicht unterkriegen, oder in meiner Genauigkeit in Bezug auf die Details des komplizierten Schnittes nachließ.
Um sieben Uhr leitete der Glockenschlag des Campanile das Ende des Arbeitstages für Sophia und die meisten anderen Theaterbediensteten ein.
„Wir sehen uns morgen wieder." Sophia hatte ihren Korb bereits gepackt und umarmte mich zum Abschied. Ich würde noch bleiben müssen, bis Signora Giudicelli ihre Proben abgeschlossen und Zeit hatte, das Kostüm noch einmal anzuprobieren. Fielen ihr nicht noch weitere große Änderungswünsche ein, konnte ich es schaffen, in vielleicht einer Woche fertig zu sein.
Das Theatergebäude war beinahe menschenleer, als ich mich zum zweiten Mal am heutigen Tage auf den Weg zur Garderobe der Primadonna machte. Sollte die Diva für heute zufrieden gestellt sein, könnte ich seit langem einmal wieder vor Einbruch der Dämmerung Zuhause sein.
Ich kam nicht weit, denn bereits an der ersten Treppe, die zu dem Bereich der Umkleideräume führte, kamen mir die rothaarige Sopranistin und ihr junger Liebhaber entgegen.
Sie bedachte mich mit einem kurzen Blick und ging dann an mir vorbei. Ohne mich anzusehen rief sie: „Ich habe noch eine letzte Probe. Du kannst das Kleid in mein Zimmer legen und dann für heute gehen."
Ich nickte und bemühte mich, den anzüglichen Blick ihres jungen blonden Begleiters zu ignorieren, der sich noch einmal kurz zu mir umgesehen hatte.
Der in der Garderobe wartende Pudel gähnte genüsslich, ließ sich aber ansonsten keine Reaktion auf meinen kurzen Aufenthalt anmerken. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, mit welch süßlicher Ausstattung sich die Carlotta mittlerweile umgeben hatte. War sie anwesend hatte ich kaum gewagt, mich etwas aufmerksamer umzusehen. Doch nun fielen mir die verschwenderisch üppigen Rosenbouquets, zahlreiche Portraitzeichnungen der Diva und die überall im Raum verteilten Zierspiegel auf. Alles wirkte überladen und geschmacklos auftrumpfend.
Schnell wandte ich mich zum Gehen, nur noch bestimmt von dem Gedanken, bald nach Hause zu kommen und in die anheimelnde Schlichtheit meines eigenen Zimmers zu tauchen. Als ich bereits vor der Eingangstür stand, fiel mir siedendheiß ein, dass mein Schneiderkorb noch immer hinter der Bühne stehen musste. Mir war nicht daran gelegen, noch einmal jemandem zu begegnen, und so schlüpfte ich leise durch einen der Hintereingänge und schlich hinter den Bühnenbildern entlang.
Offenbar hatte ich genau den Zeitpunkt abgepasst, an dem die Sängerin Direttore Alterigia die Arie vorstellte, welche sie nun am Galaabend zum besten geben würde. Sie und Signor Vellutato, der erste Tenor des La Fenice, schienen gerade ihre Aufwärmübungen beendet zu haben, und ich vernahm die leise angespielte Einleitung eines Klaviers. Wahrscheinlich saß der Komponist selbst am Instrument.
Irgendetwas ließ mich verharren, wo ich war und der aufsteigenden Melodie lauschen. Sie wirkte schmeichelnd, kraftvoll und weich zugleich. Es war eigentlich unmöglich – ich hatte den Eindruck, diese prägnante Tonabfolge schon einmal gehört zu haben. Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern.
Der glockenhelle Sopran der Carlotta setzte mit einem an das Publikum gerichteten Stück ein:
Unschuldig ahn' ich nicht,
was er längst weiß
Auf reine Sehnsucht,
steht sein hoher Preis
Signor Vellutato, der die Titelrolle des Don Juan verkörperte, hob zu seiner Passage ein und mein Herzschlag setzte aus, als ich eine Melodie wiedererkannte, die ich ohne Zweifel zuvor vernommen hatte.
Leg' ab deinen Widerstand,
Der dich zurückhält
Ergib dich ganz dem Zauber meiner Macht
Greife nur nach meiner Hand
Stell' keine Fragen
Dann schützen dich die Träume tiefster Nacht
In der Kirche Pater Giuseppes war der Gesang in einer anderen Sprache gewesen, und ich hatte seinen Inhalt nicht erfasst. Dennoch war es unverkennbar dieses Stück gewesen, welches der Organist an jenem Abend gespielt hatte. Es hatte mich derart gerührt, dieses gefühlvolle Spiel zu vernehmen, dass ich die Tränen nicht hatte zurückhalten können.
Jetzt jedoch kam mir das Spiel des jungen Komponisten steril und emotionslos vor. Kein Vergleich zu dem, was ich an jenem Abend vor einer Woche gehört hatte.
Verwirrt beeilte ich mich, meinen Korb zu packen und eilte bald darauf die Stufen des La Fenice herab. Mein Herz klopfte wild, als ich schnellen Schrittes den Heimweg einschlug.
Welche merkwürdigen Verwicklungen hatten sich dort gerade eben vor meinen Augen, beziehungsweise Ohren abgespielt? Hatte ich in Pater Giovannis Kirche vielleicht Gandin spielen hören? Der alte Massetti war ganz gewiss nicht der Organist gewesen, der diese Intonation, diesen Gesang hervorgebracht hatte. Doch auch Gandins Spiel von heute hatte anderes geklungen. Da war nichts zu spüren gewesen, von der tiefen Verwurzelung zwischen den Gefühlen des Musikers und dem, was er seinem Instrument entlockte. Gandin schien gänzlich unbeteiligt zu sein, und auch wenn sein Spiel fehlerlos war, so hatte es doch ebenso jeglicher Emotionalität entbehrt.
Ich schüttelte den Kopf, doch meine Gedanken ließen mich nicht los. In mir rief eine leise Stimme, dass hier etwas vor sich ging, das ich unmöglich auf sich beruhen lassen konnte.
Unbewusst hatte ich einen anderen Weg eingeschlagen, doch ich merkte es erst, als ich bereits vor der kleinen Kapelle der Santa Maria Piccola stand.
Natürlich. Wenn es irgendwo eine Antwort auf meine ungewissen Fragen gab, dann war Pater Giovanni der einzige, der sie mir geben konnte. Welch ein Glück, dass meine Arbeit heute so früh vorüber gewesen war, so würde sich Papa keine Sorgen machen müssen, weil ich später nach Hause kam.
Bereits als ich eintrat fühlte ich mich ein wenig ruhiger. Seit ich das Theater verlassen hatte, war ich vollkommen von einem beinahe gehetzten Unbehagen erfasst gewesen, so als brächte meine Entdeckung ungeahnte Gefahr mit sich. Die kühle Kirchenluft und die vertraute Stille machten meinen Kopf ein wenig klarer.
„Serafina!"
Die erfreute Stimme Pater Giovannis ließ mich lächelnd herumfahren. Er kam gerade die Stufen der Empore herab und trug einen Stapel Gesangsbücher, die er in einem kleinen Wandvorsprung beiseite legte, um mich zur Begrüßung in die Arme zu schließen.
Sein anfangs freudig überraschtes Gesicht zeigte nun eine Spur von Besorgnis. „Was bringt dich hierher, Kind? Geht es Sophia schlechter?"
Ich schüttelte beruhigend den Kopf. „Nein", formte ich mit den Händen. „Ich muss mit Ihnen über eine merkwürdige Beobachtung sprechen, die ich gemacht habe. Als ich letzten Dienstag hier war ... wer war der Mann, dessen Orgelspiel wir gelauscht haben?"
Der Pater nickte ernst und forderte mich dann mit einer müden Geste auf, ihm zu folgen. „Mein Kind, wir sollten uns einen ruhigeren Ort suchen, um darüber zu reden. Komm mit. Ich habe vorhin einen frischen Kaffee aufgebrüht."
Natürlich erzählte er mir nicht alles. Sein priesterliches Amt ließ nicht zu, dass er über Dinge Auskunft gab, die ihm während der Beichte anvertraut wurden. Doch etwas in meinen Augen musste ihn dazu bewegen, weiter auszuholen, als er es für jeden anderen Zuhörer getan hätte.
Ich konnte es noch immer kaum glauben. Der maskierte Mann schien noch mehr Geheimnisse zu verbergen, als ich ohnehin bereits annahm. Nicht nur dass er aus irgendeinem Grund darauf bestand, dass Vater ihm Geld für eine zurückliegenden Schuld bezahlte, nein, er war laut Pater Giovannis Aussage auch ein großartiger Komponist, Architekt und Magier, der beinahe alle Länder Europas und Asiens bereist hatte.
„Weshalb genau er diese Zahlungen von deinem Vater fordert, weiß ich nicht, mein Kind. Ich kann nur annehmen, dass der Grund in der Zeit liegt, als Paolo und Stefano vor über fünfundzwanzig Jahren verschwunden waren. Niemand, nicht einmal ich, weiß was damals passierte."
Nachdenklich blickte ich in die halbgefüllte Tasse Kaffee vor mir. Etwas ähnliches hatte ich mir ebenfalls gedacht. Vielleicht war Vater damals in eine Notlage geraten, und dieser Mann hatte ihm finanziell ausgeholfen. Doch eigentlich passte es nicht zu Papa, dass er derartige Schulden nicht von sich aus zurückgezahlt hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Das alles war auch aus einem anderen Grund heraus höchst unwahrscheinlich. Dieser Erik schien wesentlich jünger zu sein als Vater. Wie hätte er ihm also vor beinahe dreißig Jahren Geld leihen sollen? Er wäre damals nicht mehr als ein Kind gewesen.
„Warum trägt er eine Maske, Vater? Wenn er doch so wenig wie möglich auffallen will, weshalb provoziert er es dann mit dieser Besonderheit derartig?"
Pater Giovanni lächelte wehmütig und schüttelte dann sanft den Kopf. „Er trägt sie, um seine Entstelltheit zu verbergen, mein Kind."
„Entstelltheit?" Im ersten Moment war ich so geschockt, dass meine Hände zitterten. Ich hatte ihm doch direkt ins Gesicht gesehen ... die Maske verdeckte zwar eine Hälfte vollständig, aber die andere hatte nicht den kleinsten Makel aufgezeigt. „Wie kam es dazu? Hatte er einen Unfall?"
„Nein, er scheint diese Missbildung bereits seit der Geburt zu tragen. Sie hat ihm viel Leid zugefügt – oder vielmehr taten dies die Menschen, die mit einem solchen Anblick nicht umgehen konnten. Trotz all seiner Fähigkeiten war er stets ausgestoßen von der Gesellschaft." Ein tiefes Seufzen löste sich aus der Kehle des alten Mannes, und ich sah, wie sehr er mit diesem kaum gekannten Mann mitlitt. „Er hatte sich weit entfernt von den Pfaden der Tugend und Rechtschaffenheit. Ob er jemals Frieden findet, scheint mir sehr ungewiss. Seine Taten quälen ihn, denn er hat trotz allem erkannt, was er durch die Düsternis seines Wesens riskiert und verloren hat. Es hängt wohl davon ab, welchen Weg er wirklich zu gehen wählt, und wie weit die Welt ihm entgegen kommt. Kein Mensch kann auf Dauer allein sein, unverstanden, abgeschottet von allen anderen. Ich wünsche ihm von ganzen Herzen, dass er einen neuen Platz findet, einen, an dem er respektiert wird und lernt, mit der Wut und Rastlosigkeit umzugehen, die in ihm schlummert."
Ich war zutiefst bewegt von der Schilderung des Paters und trotz der Bedrohung, die Vater in ihm sah, empfand ich Mitgefühlt und Verständnis für diesen mysteriösen Mann.
„Weshalb hast du vorhin nach dem Organisten gefragt, Serafina?", unterbrach mein Gegenüber die Gedanken, die mich beinahe hatten vergessen lassen, weshalb ich überhaupt hier war.
Ich berichtete ihm von dem Gespräch der Carlotta und ihres jungen Verehrers, dessen Ohrenzeuge ich vor einer Woche geworden war, dann von dem Stück, dass sie heute geprobt und das ich wiedererkannt hatte. In mir keimte ein ungeheuerlicher Verdacht, den ich ebenfalls nicht verschweigen konnte. „Ist es möglich, dass dieser Erik jener Komponist ist, dessen Werk sie als das ihre ausgeben? Wie sonst könnte er mit der Musik daraus vertraut sein? Er kommt ebenfalls aus Frankreich, genau wie die große Diva und Monsieur Gandin ... soll das alles etwa ein Zufall sein?"
Pater Giovannis Augen waren weit aufgerissen. Was ich berichtet hatte, schien ihn beinahe ein wenig wütend zu machen, auch wenn er augenscheinlich bemüht war, es vor mir zu verbergen. „Ich fürchte deine Intuition spricht für dich, mein Kind. Er hat in der Tat davon gesprochen, an der Pariser Oper ... gearbeitet zu haben. Das muss damals gewesen sein, bevor sich das große Unglück mit dem herabstürzenden Kronleuchter ereignet hatte. Panik brach damals aus, das Gebäude war lange Zeit von der Außenwelt abgesperrt. Als Komponist hatte er sicher einige Werke, die in dieser stürmischen Zeit mit Leichtigkeit gestohlen werden konnten." Er zuckte die Schultern. „Oder sie gerieten in Vergessenheit, bis diese Sängerin auf sie stieß und nun für ihre Zwecke nutzen will."
Nicht nur benutzen, fügte ich in Gedanken hinzu. Sie will Rache.
Ich wusste nicht, ob es die bewegende Lebensgeschichte war, die ich eben gehört hatte, oder einfach ein tief in mir verwurzeltes Gefühl, gegen jede Form von Unrecht vorzugehen. In mir kochte Zorn auf, Zorn, dass die Giudicelli und der schmierige Franzose, der ihr ständiger Begleiter war, etwas derart schönes wie diese Musik nutzen wollen, um jemanden zu verletzen, der etwas so großartiges geschaffen hatte. Ungeachtet dessen, was er auch an verwerflichen Taten begangen haben mochte, wollte ich Erik helfen. Oder ich würde zumindest dafür sorgen, dass diese beiden Menschen seine schlechten Erfahrungen mit der Welt nicht noch vermehren konnten.
Doch ich konnte ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Es wäre mir vorgekommen, als würde ich Vater und seine Sorge um mich verraten. Außerdem wusste ich nicht, in wie weit dieser Mann wirklich bereit war zu gehen, um Genugtuung für das zu erlangen, was Papa ihm offenbar schuldete.
Ich musste einen anderen Weg finden, ihn zu kontaktieren. So konnte er mit dem was ich herausgefunden hatte tun, was er für richtig hielt. Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Mit Pater Giovannis Hilfe wäre das kein Problem und ein Blick in die neugierigen blauen Augen verriet mir ganz genau, dass ich mich auf ihn verlassen konnte.
Erik
Es war unvernünftig und ganz sicher ein Anflug von Wahnsinn, der mich dazu bewegte, am nächsten Abend wie zufällig die Straße zum La Fenice entlangzugehen. Obwohl ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass es einzig und allein darum ging, Ardendos Tochter - und damit seinen empfindlichsten Schwachpunkt - im Auge zu behalten, ahnte ich doch mit unheilvoller Klarheit, was für eine Art Interesse tatsächlich hinter meinem Hiersein stand.
Die junge Frau hatte meine Aufmerksamkeit erweckt. Natürlich war es der Umstand, dass sie Christine auf den ersten Blick ähnlich gesehen und mich dadurch angezogen hatte. Natürlich war es auch, weil sie die nächste Verwandte des Mannes war, den ich die Wucht meines jahrelang aufgestauten Zornes spüren lassen wollte. Vielleicht stand sogar tatsächlich der irrationale Wunsch nach einem erneuten katastrophalen Schicksalsspiel für mein Tun Pate. Doch da war etwas Elementareres, das mich beinahe besessen machte von dem Gedanken, ihr nahe zu sein, wenn ich es wagen sollte - denn gewiss hatte ihr Vater sie mittlerweile über meine abgrundtiefe Schlechtigkeit in Kenntnis gesetzt -, abermals das Gespräch mit ihr zu suchen: es war die Tatsache, dass sie wie ich nicht vollständig als Teil ihrer Umwelt akzeptiert war. Sie mochte Familie, Freunde, sogar einen ehrenwerten Arbeitsplatz innehaben, doch da wäre immer etwas, das die anderen von ihr fernhielt.
Ich hatte sie beobachtet, und mir waren die Blicke nicht entgangen, die man ihr so manches Mal nachwarf. Einmal hatte ich Gesprächsfetzen von zwei älteren Straßenverkäuferinnen aufgeschnappt, die ‚das arme Ding' bemitleideten, das doch durch ihre Abweichung weit hinter dem Ansehen anderer Mädchen zurücklag. Wahrhaftig, dass sie noch immer im Haushalt ihres Vaters lebte, obwohl sie längst ein Alter erreicht hatte, in dem es für eine junge Frau üblich war, verheiratet zu sein, konnte man kaum darauf zurückführen, dass sie in irgendeiner Form unansehnlich gewesen wäre. Trotz ihrer schlichten Garderobe war unübersehbar, dass sie eine lebhafte, natürliche Anmut ausstrahlte.
Ich stützte die Arme auf die Steinbrüstung der kleinen Brücke, die den Uferabschnitt meines Palazzo mit dem des La Fenice verband. Die Straße war menschenleer, nur einige Häuserblocks entfernt erschallten laute Zurufe, wie sie in dieser Stadt oft von Fenster zu Fenster geworfen wurden.
Vom entfernten Kanale Grande klang der einfache und melodische Gesang eines Gondolieri herüber, und ich starrte wartend auf die Spiegelungen der Abendsonne, welche auf den tanzenden Wellen schimmerte, wie flüssig gewordenes Gold.
Als ich meines eigenen wiedergegebenen Abbildes gewahr wurde, verhärtete sich der mir entgegenblickende Ausdruck. Noch immer hatte ich mich nicht an diesen Anblick gewöhnt, den ich nach Möglichkeit vermied. Spiegel besaß ich einzig und allein, um den Sitz meiner Kleidung zu prüfen. Begegnete ich dort der Spiegelung meines Gesichts, war ich darauf vorbereitet und kümmerte mich nicht darum. Doch begegnete es mir an einer Stelle wie dieser, an der ich nicht damit gerechnet hatte, bedeutete es ein höchst unangenehmes Gefühl des unterschwelligen Zorns gegen mein freudloses Schicksal.
Ich wandte den Kopf ab und atmete - trotz ihrer Stickigkeit - tief die Sommerluft ein.
Seit einigen Tagen war es so heiß, dass ich darauf verzichtete Jackett und Cape zu tragen. In dem schlichten Baumwollhemd mit aufgekrempelten Ärmeln musste ich wirken wie ein gewöhnlicher Arbeiter. Natürlich war es die weiße Halbmaske, die verhinderte, dass ich tatsächlich wie jeder andere Mann unauffällig im Straßenbild der abendlichen Lagunenstadt untertauchen konnte.
Schritte waren aus dem Inneren des Theaters zu vernehmen, und ich drehte meinen Kopf so, dass die herauskommende Person mein Gesicht nicht erkennen konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich Serafina Ardendo die Treppen des Haupteingangs herabeilen. Ihr offenes Haar glänzte golden in der Abendsonne, und einen Augenblick war ich einfach damit zufrieden, ihren Anblick aufnehmen zu dürfen.
Sie hatte es eilig und lief mit schnellen Schritten die Straße entlang, welche zur Rialtobrücke führte. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg zur Kirche Pater Scabrezzas. Meinen Blick nicht von ihrer sich entfernenden Gestalt abwendend, löste ich mich vom Brückengeländer und wollte ihr gerade in einigem Abstand folgen, als ich abermals jemanden das Theater verlassen hörte. Zwei Männer kamen aus dem Haupteingang. Beide trugen Frack und Zylinder und schienen, diesem formellen Aufzug nach zu urteilen, entweder zur Verwaltung des Theaters oder den wohlbetuchten Geldgebern dieses Hauses zu gehören.
Überschwänglich schüttelte der Ältere von beiden - klein und untersetzt, mit dichtem schwarzen Schnauzbart und krebsroter Gesichtsfarbe – seinem jungen, aristokratisch wirkenden Begleiter zum Abschied die Hand. Dann entfernte er sich pfeifend in Richtung Calle de Cafetier.
Die beiden interessierten mich nicht. Mittlerweile sollte genug Abstand zwischen mir und Mademoiselle Ardendo liegen, so dass ich ihr unauffällig folgen konnte. Als ich die flachen Stufen der Brücke hinabzugehen begann, bemerkte ich den Blick des jungen Mannes, der nun an ihrem Fuße stand und mich mit unverhohlenem Interesse musterte.
„Monsieur", versetzte ich in einem Anflug von Unwillen über sein respektloses Verhalten und trat an ihm vorbei.
„Sie kommen ebenfalls aus Frankreich, Monsieur?" Die Herablassendheit seiner Stimme ließ mich innehalten und den Unbekannten näher in Augenschein nehmen. Der eisblaue Blick aus eng zusammenstehenden Augen war prüfend auf meine Erscheinung gerichtet. Die Art, wie er sich mit einer Hand auf seinen Spazierstock stützte, hatte etwas geradezu Herausforderndes.
Ich war dieser Sorte Mensch oft genug begegnet, um zu erkennen, dass Jugend und Selbstüberzeugtheit ihm ein Überlegenheitsgefühl gegenüber allen gaben, die von niederem Stand waren als er. Sicherlich besaß er Vermögen, man konnte es deutlich an seiner Kleidung ablesen. Dennoch hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er es durch überaus zweifelhafte Geschäfte verdiente.
Ein kurzes Nicken war meine einzige Antwort.
„Aus Paris?", bohrte er nach.
„Ich war lange nicht dort." Mir war nicht an einer Unterhaltung mit diesem impertinenten Schnösel gelegen. „Wenn Sie mich entschuldigen, Monsieur ..."
Ich wandte mich ab und konnte deutlich spüren, wie seine Augen mir misstrauisch folgten, als ich die schmale Gasse zum Campo San Fantin entlang ging.
„Jean-Pierre!"
Diese Stimme! Ich fuhr herum und wich instinktiv in den nächstgelegenen Hauseingang zurück.
Eine verschwenderisch gekleidete Frau, mit wohlfrisierten feuerroten Haaren, eilte die Treppe des La Fenice herab und warf sich in die Arme des wartenden jungen Mannes.
Es war unmöglich, mein zynisches Schmunzeln zurückzuhalten. Die große ‚La Carlotta' hätte mühelos die Mutter dieses Jünglings sein können.
Obwohl über fünf Jahre vergangen waren seit ich die gehässige Rivalin Christine Daaés das letzte Mal gesehen hatte, erkannte ich sie ohne den geringsten Zweifel. Noch immer trug sie die auffallend geschmacklos pompösen Roben und vor allem ihre laute, durchdringende Stimme hätte ich überall wiedererkannt.
„Endlich kann ich diese schmucklosen Mauern hinter mir lassen! Wie sehr ich Paris vermisse – diese Stadt hat einfach nicht das nötige Flair! Nicht eine Stunde länger hätte ich in diesem Gefängnis ausharren wollen", schallten ihre Worte bis zu mir herüber. Lachend und Arm in Arm verschlungen, verließen die beiden mein Blickfeld in Richtung Markusplatz.
„Wer hätte gedacht, dass wir uns einmal wiedersehen, Madam?", murmelte ich den Gestalten ungehört nach und spürte, wie sich ein spöttisches Lächeln über meine Züge breitete. Welch ein Gesicht würde die große Diva wohl machen, wenn sie wüsste, dass ‚das Phantom der Oper' sie soeben gesehen hatte? In der Vergangenheit war ich nicht nachsichtig gewesen, wenn es darum gegangen war, die Rivalin meines jungen Protege in ihre Schranken zu weisen. Sie hatte Christine damals allzu oft dabei im Weg gestanden, ihren verdienten Platz im Rampenlicht einzunehmen.
Der Umstand diese, schon zu vergangenen Zeiten intrigante, Person mit einem verschlagenen Mann wie diesem zusammen zu wissen, ließ irgendwo tief in meinem Hinterkopf eine leise Alarmglocke aufläuten. Irgendwie konnte diese Verbindung nichts Gutes nach sich ziehen. Im Grunde genommen sollte es mich nicht mehr kümmern, hatte ich doch ihrer Welt, nach Christines Rückzug aus dem Theatermilieu, den Rücken gekehrt. Dennoch schien es mir sicherer, ein Auge auf sie zu haben. Ich beschloss noch an diesem Abend einen Brief an Antoinette zu schreiben und sie damit zu beauftragen, mir Informationen über Carlottas jugendlichen Freier zu beschaffen.
Mit dieser Entscheidung war ich dazu bereit, mich wieder meinem eigentlichen Vorhaben zuzuwenden, und begab mich ohne weiteres Aufhalten zu der Kleinen Basilika di Santa Maria Piccola. Ich trat ein und blickte mich im kühlen Zwielicht des Steingemäuers um. Niemand war zu sehen, außer des in Altarraum fegenden Paters.
Einen Moment war ich versucht, über meine eigene Dummheit laut zu lachen. Was hatte ich mir eigentlich davon erhofft, Serafina hier anzutreffen? Hätte ich sie einfach ansprechen sollen, welchen plausiblen Grund hätte es dafür gegeben? Sicher war es das Beste, sie nun hier nicht anzutreffen, und mich selbst durch meine impulsive Verfolgung nicht in eine schwerlich erklärbare Situation gebracht zu haben.
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, an der Kirchenorgel zu spielen. Vertieft in eine beliebige Improvisation, spürte ich plötzlich einen unwiderstehlichen Drang. Noch immer hing ich dem Verlust meines Lebenswerkes hinterher, auch wenn ich mich langsam mit der endgültigen Aufgabe ‚Don Juans' abgefunden hatte.
Wie von selbst flogen meine Finger über die schwarzen und weißen Tasten. Ich schloss die Augen und überließ mich völlig der Melodie, die langsam in mir aufzusteigen begann, meine Adern durchströmte, wie die pure Essenz des Lebens.
Meine Sinne lösen ihre Ketten
Hass entschwindet
Kannst du mich erretten?
Niemand sieht wie wir
Keine Seele kennt die Gier
Nach der heil'gen Nähe
Einer sanften Hand
Die annimmt
was die Welt niemals erkannt
Ohne Reue
Vergisst du bald die Welt der Hast
Ohne Zögern
Überlass' ich mich dir ganz
Keine Sehnsucht die unerreichbar bleibt
Und kein Schicksal, aus Leid und Einsamkeit ...
Ich sprang auf, so dass die kleine Sitzbank aus Holz unbeachtet hinter mir zu Boden polterte.
„Pater!", rief ich hinunter in den Kirchenraum und stützte mich auf das Geländer der Empore. „Können Sie mir etwas zu Schreiben bringen?"
Der alte Mann lachte und ich sah ihn eifrig nicken. „Ist Ihnen ein Text eingefallen, mein Sohn, den Sie nicht vergessen wollen?"
„Nein ..." Ich lächelte zu mir selbst und es war das erste mal seit langem, dass ich einen Funken von euphorischer Befriedigung empfand. „Eine Oper."
Es war einige Stunden später, als der Pater leise hinter mich trat und sich verabschiedete, um Schlafen zu gehen. Als er sah, dass ich mich ebenfalls erhob und begann meine dicht beschriebenen Notenblätter einzusammeln, schüttelte er mit abwehrend gehobenen Händen den Kopf. „Nein, Erik, Sie können bleiben, so lange Sie wollen.."
„Vielen Dank. Doch es ist ohnehin spät. Ich sollte nach Hause gehen."
„Natürlich." Der Geistlich wirkte zufrieden und ein Lächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht. „Sie müssen ausgeruht sein, wenn Sie Ihre Arbeit morgen fortsetzen."
„Sie scheinen nicht zu befürchten, dass Ihre Nachbarn sich über die Ruhestörung beschweren, Pater", erwiderte ich amüsiert.
Lachend winkte mein Gegenüber ab.
Als ich die Kirche verließ, warf ich vorsichtshalber einen Blick auf meine Taschenuhr. Im Untergrund der Operngewölbe lebend, hatte Zeit keine Bedeutung für mich gehabt, und noch heute fiel es mir oft schwer, mich ihren gesellschaftlichen Regeln zu unterwerfen. Die Dunkelheit der Nacht hatte mich besorgt die Stirn runzeln lassen, in der Annahme ich hätte die Geldübergabe mit Ardendo versäumt. Doch zu meinem Glück waren bis dahin noch einige Minuten Zeit. Ich würde eine neue Abmachung mit meinem Schuldner treffen. Es war lästig genug, ihm Nacht für Nacht in aller Regelmäßigkeit zu begegnen und mit der Arbeit an meinem heute begonnenen Werk war ich nicht gewillt, diese Mühe auf mich zu nehmen. Es genügt, wenn das gesammelte Geld an einem Tag der Woche in meine Hände überging.
Ardendo schien dieser Umstand ebenfalls entgegen zu kommen. Kein abweichendes Wort verließ seine Lippen.
Als ich das Theater passierte und den Weg zu meinem Domizil entlang ging, beschlich mich eine merkwürdige Vorahnung. Es war das eigentümliche Gefühl, dass mich irgend etwas in diesem Haus erwarten würde.
Lautlos öffnete ich die Tür und glitt in die pechschwarze Dunkelheit der Eingangshalle vor den leerstehenden ehemaligen Verkaufsräumen. Schnell hatten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, und ich lauschte in die Stille des leerstehenden Hauses. Nichts war zu hören. Langsam, immer wieder den Raum mit meinem Blick abtastend, schritt ich auf die Treppe nach oben zu. Nach einigen Stufen fuhr ich plötzlich herum. Aus den Augenwinkeln hatte etwas meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein weißer Umschlag lag am Kopf der Eingangshalle. Scheinbar hatte jemand ihn unter der Haustür hindurchgeschoben.
Ich ging zurück, hob ihn auf und nahm ihn mit in den oben gelegenen Salon. Nachdem ich einige Lampen entzündet hatte, betrachtete ich den Brief genauer. Der Umschlag war schlicht und aus teurem, festen Papier. Einen Absender hatte man nicht hinterlassen. Nachdenklich griff ich nach dem Öffner und schlitzte den Brief auf.
Zum Vorschein kam eine ebenso schlichte weiße Karte, beschrieben mit lediglich drei Zeilen in italienischer Sprache und einer filigranen Handschrift.
Carlotta Giudicelli wird am Galaabend des La Fenice ein Stück aus der Oper ‚Triumph des Don Juan' zum Besten geben.
Als Autor gilt Monsieur Jean-Pierre Gandin.
Weitere Beobachtungen folgen.
SconosciutoEin Unbekannter.
Noch einmal las ich diese Sätze, und noch einmal – und noch einmal. Im ersten Moment empfand ich nichts, pure Leere. Dann schlug eine Welle von Zorn mit unheilvoller Gewalt über mir zusammen. Ich griff nach dem ersten Gegenstand in meiner Reichweite, einem massiven Briefbeschwerer, und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen eine der drei großen Vitrinen des Salons. Das Klirren des berstenden Glases löste einen Sturm von Verwüstung aus, dem beinahe das ganze Mobiliar dieses Raumes zum Opfer fiel. Es war ein Wunder, dass keiner meiner Nachbarn sich augenblicklich mit einer Beschwerde an mich richtete, denn mein wütendes Brüllen, das Aufschlagen der Beistelltische und das Zersplittern des Holzes waren ganz gewiss ein gutes Stück weit durch die Nacht zu hören.
Ich war wie von Sinnen, mein Körper reagierte in blinder Wut und ich spürte, dass ich sehr kurz davor war, die Kontrolle vollkommen zu verlieren.
Ruhig, ermahnte ich mich selbst. Ruhig.
Schwer atmend zwang ich mich, die Augen zu schließen und mit geballten Fäusten wie angewurzelt stehen zu bleiben. Es dauerte noch einige Minuten mehr, ehe ich meinen Ausbruch akzeptiert und die schwelende Wut in den Griff bekommen hatte.
Der Drang nach Vergeltung beherrschte all meine Gedanken. Als ich begonnen hatte, den ‚Triumph des Don Juan' zu schreiben, hatte ich meine ganze Seele in dieses Werk einfließen lassen. Und es war geworden, wozu es bestimmt war: es enthielt alles - Hass, Leidenschaft, Liebe. Die tiefsten Gefühle, welche menschliches Verhalten bestimmen konnten, hatte ich eingebettet in eine Musik, die brannte, die verzehrte, die den Zuhörer in gleichem Maße fesselte, wie es ihn erlöste, emporhob, wie niederschmetterte.
Dieses Stück spiegelte meine Seele wieder und ich würde niemals zulassen, dass jemand anderes sich anmaßte, es als das seine auszugeben und bis zur Unkenntlich zu verzerren.
Ich würde der Carlotta und diesem Gandin einen Strich durch die Rechnung machen. Doch zuerst musste ich mehr über sie herausfinden. Ein Brief an Antoinette wäre ein Anfang, und wer immer mir die kurze Nachricht von heute Abend hatte zukommen lassen, konnte mir vielleicht ebenfalls eine Hilfe sein.
