Kapitel 3

Serafina

Im Grunde genommen hatte ich damit gerechnet, dass sich schon am ersten Tag nach meinem geheimen Brief an Erik etwas ereignen würde. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er aufgetaucht wäre, um sich an die Theaterverwaltung zu wenden. Es war schließlich kein geringer Vorwurf, der sich aus dem Diebstahl einer Komposition ergab.

Zwei volle Tage bemühte ich mich trotz der Aufmerksamkeit beanspruchenden Arbeit, gleichzeitig jede mögliche Entwicklung hinsichtlich der Oper ‚Triumph des Don Juan' mitzubekommen. Auch weiterhin probte die Giudicelli gemeinsam mit Signor Vellutato ihre Passagen aus diesem Werk. Nichts ließ darauf schließen, dass sie oder Gandin sich durch irgendetwas zu einer Änderung ihres Vorhabens bewegt sahen.

Warum wusste ich nicht, aber ich war mir vollkommen sicher, dass es sich bei dem Mann, an dem sich die große Diva durch den Raub seiner Arbeit rächen wollte, um Erik handeln musste. Eine Stimme in mir bestand ganz einfach darauf. Doch was hielt ihn davon ab, offen sein Recht als Urheber dieses Stückes zu fordern? Lag der Grund dafür in einem dunklen Teil seiner Vergangenheit, wie auch der Umstand, dass Vater in seiner Schuld stand? Ich konnte keine Ordnung bringen in all die Geheimnisse, die diesen Mann umwitterten: die Maske, sein unnahbares Auftreten, die bemerkenswerten Fähigkeiten, von denen Pater Giovanni gesprochen hatte, vergangene Taten, die ihn in ein vielmehr zweifelhaftes Licht tauchten ... und so viele unausgesprochene Ahnungen, die sich mittlerweile aus meinen Gedanken gesponnen hatten.

Nun war es bereits Freitag, und bisher hatte sich nichts ereignet. Hatte ich mich getäuscht? Konnte Erik vielleicht gar nichts mit dem Brief anfangen, den ich vor drei Tagen unter seiner Tür hindurch geschoben hatte? Vielleicht hatte er niemals gehört von einer Oper dieses Namens und meine Nachricht als eine Fehlzustellung weggeworfen.

„Was ist, träumst du?" Neugierig stupste Sophia mich an.

Einige Tauben machten uns mit wildem Flügelschlagen Platz, als wir am Campanile vorbeikamen. Meine Cousine hatte sich in den letzten Tagen völlig von ihrer kleinen Unpässlichkeit erholt und zog mich nun, nicht zum ersten Mal, mit meiner gedanklichen Abwesenheit auf.

„Ich weiß, dass deine Arbeit im Moment doppelt so anstrengend ist wie meine Aufgaben", lachte sie. „Aber du solltest dich freuen: nur noch etwas mehr als eine Woche, dann hat diese Schufterei ein Ende. Du hast wieder Zeit um zu lesen, und ich ..." Sie unterbrach sich und blickte hastig zur Seite. Schnell genug war sie jedoch nicht, denn ich sah deutlich den Hauch von Röte, der ihr Gesicht von der Nasenspitze bis zu den Haarwurzeln bedeckte.

„Sophia!" Ich lächelte in einer Mischung aus Überraschen und Schreck. „Sag mir nicht, dass die Gerüchte wahr sind."

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst, Serafina." Alles in ihrer abwehrenden Haltung verriet sie.

„Dann hat Alessandro Alterigia dir also wirklich seine aufrichtigen Gefühle angetragen?"

Das Rot ihrer Wangen vertiefte sich soweit dies noch möglich war. „Du freust dich darüber, aber sein Vater war ganz und gar nicht begeistert davon."

Ernst nickte ich. Standesdünkel konnten eine verheerende Wirkung auf die Zuneigung zweier junger Menschen haben. Unsere Familie gehörte zu den wohlangesehen der Stadt, dennoch konnten wir es nicht mit den Besitztümern Alterigias aufnehmen.

Ein Lächeln breitete sich jedoch über das Gesicht meiner Cousine. „Aber denk dir nur, er hat uns trotz allem seinen Segen gegeben. Alessandro ist sein einziger Sohn, und weil Vater doch oberster Leiter der Markusbibliothek war, sagte er: ‚Es ist ja nicht so, dass du eine Blumenverkäuferin zur Frau nehmen willst.'."

Auch als ich kaum zehn Minuten später auf dem Weg zur Garderobe Carlotta Giudicellis war, lächelte ich bei dem Gedanken daran, dass meine kleine Cousine bald ihre eigene Familie gründen würde. Die Wehmut darüber, dass ich den Wunsch nach einer solche Möglichkeit bereits vor Jahren aufgegeben hatte, schob ich so weit beiseite, dass ich sie beinahe gar nicht mehr spürte.

Schon in dem Moment, als ich die Stufen zu den unteren Räumlichkeiten herab ging, hörte ich die laute und aufgeregte Stimme der Diva. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Da alle anderen bereits mit den Proben im Bühnenbereich angefangen hatten und ‚La Carlotta' nie danach war, diese unbeteiligt über sich ergehen zu lassen, nahm sie scheinbar nicht an, dass jemand etwas von ihrem Ausbruch mitbekommen konnte. Oder es war ihr ganz einfach gleichgültig.

Auch Gandin schien anwesend zu sein, denn ich vernahm seine Stimme, die mit beruhigendem, wenn auch unwilligem Ton auf sie einzureden versuchte.

„Rege dich nicht unnötig auf, Bellissima. Was kann so ein Brief schon sagen?"

Ich fasste den Griff meines Korbes enger und wich unauffällig in den Schatten eines am Rand des Flurs stehenden Kleiderträgers zurück. Von hieraus konnte ich der Unterhaltung unauffällig folgen.

„Du hast ja keine Ahnung!" schnappte die Diva zurück. Ich sah ihr Bild förmlich vor mir, wie sie in einer ihrer aufgebauschten Roben durch den Raum wütete. „Er sollte tot sein! Er war nichts weiter als ein gewöhnlicher Mann! Und nun dieser Brief!"

„Scheinbar ist er bei dem Feuer damals nicht ums Leben gekommen, wie du angenommen hast. Hat die Polizei denn jemals seine Leiche gefunden?"

„Nein ... aber niemand hätte dem Feuer entkommen können. Schließlich ist er mit Christine Daaé in die Katakomben geflüchtet."

„Christine Daaé ... sagtest du nicht, dieser Chagny sei kurz darauf mit ihr durchgebrannt?" Gandin schien die Wut nicht ernst zu nehmen, die aus Carlotta Giudicellis Stimme gesprochen hatte. „Dann ist es nicht im geringsten verwunderlich, dass auch er unbeschadet davon kommen konnte."

„Dio mio! Du hast Recht! Und nun hat er es auf mich abgesehen!" Unverkennbar wurde die Diva von einer Welle der Furcht erfasst.

Sprachen die beiden von dem Mann, dessen Oper sie sich angeeignet hatten, von Erik? Es fiel mir schwer, ihren Gedankensprüngen zu folgen.

„Auf uns, meine Liebe. Hier steht ganz deutlich:

Sollten sie und ihr Begleiter sich nicht unverzüglich von dem von Ihnen beanspruchten Werk distanzieren, droht Ihnen ein unvorstellbares Unglück. Am bevorstehenden Galaabend werde ich mein Stück an mich nehmen, wovon Sie selbstverständlich keine Kopie zurückbehalten werden.

Ich verbleibe als Ihr ergebenster Diener

Ph. d. O.'"

„Das Phantom der Oper!" Sie klang als wäre sie einer Panik nahe.

Ich runzelte die Stirn.

Das laute Klirren von etwas Gläsernem ließ mich zusammenzucken.

„Bravo, meine Liebe!" Gandins Stimme war an Spott kaum zu überbieten. „Angenommen, du bist in Bezug auf den Kopf des Phantoms ebenso zielsicher wie mit dieser Blumenvase, dann haben wir rein gar nichts von ihm zu befürchten."

„Sei ruhig!" zischte sie zurück. „Ich muss nachdenken."

Es folgten einige leisere Wortfetzen, die ich nicht mehr verstehen konnte, und so wagte ich mich ganz langsam einige Schritte vor, um wenigstens etwas mehr mitzubekommen.

„ ... also werde ich bei meiner Vorführung am Galaabend bleiben, Jean Pierre."

„Ganz genau. Wenn er auch nur halb so impulsiv ist, wie du sagst, wird er entweder versuchen, deine Aufführung zu stören – dieses Haus ist keineswegs sein Territorium, so wie die Opera Garnier, und es wäre nicht weiter schwer, ihn unter diesen Umständen zu stellen. Oder es erzürnt ihn so sehr, seine Befehle missachtet zu sehen, dass ich ihn auf dem an die Vorstellung anschließenden Ball aus dem Weg räumen kann ..."

„Du meinst ...", die Carlotta klatschte vor Begeisterung in die Hände.

„Er wird nicht damit rechnen. Mir scheint, er hält sich für überaus clever." Gandin ließ ein herzloses Lachen erschallen, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. „Vielleicht ist es mir ja vergönnt, in die Geschichte einzugehen - als der Mann, der das Phantom der Oper tötete."

Ich hielt erschrocken eine Hand über den Mund, um ein leises Keuchen zu unterdrücken. Zum einen war es die Kaltblütigkeit der soeben enthüllten Pläne und zum anderen die ungeheure Gewissheit, dass – sollte tatsächlich er der Autor der ‚Don Juan' Oper sein – Erik das Phantom der Pariser Oper, das aus vielen unheimlichen Geschichten bekannte Monster war.

Obwohl ich sicher war, nicht das kleinste Geräusch verursacht zu haben, schlug auf einmal das scharfe Kläffen von Carlottas Pudel wie ein Peitschenknall durch den Flur. Sofort verstummte die Unterhaltung im Inneren der Garderobe und es dauerte nur einen kurzen Augenblick, ehe Gandin aus der Tür stürmte. Mir blieb keine Zeit, um ein Versteck zu suchen, und so gab ich vor, eben erst den Gang betreten zu haben.

Als er mich sah verzog sich der schmallippige Mund zu einem gehässigen Grinsen, das so gar nicht zu der peniblen Korrektheit seiner übrigen Erscheinung passen wollte.

„Wen haben wir denn da?" Er packte mich grob am Arm.

Woher ich den Mut nahm, unter seinem gemeinen Blick nicht zusammenzuzucken, sondern ganz einfach zu tun, als überrasche mich sein Verhalten, wusste ich nicht.

„Wer ist es, mon amant?" ertönte die Stimme der Diva aus ihrem Zimmer.

„Nur deine kleine Schneiderin, meine Liebe." Genüsslich ließ er seine Hand an meinem Arm herabgleiten und ich erschauerte vor Unbehagen und Abwehr. Seine Art mich anzusehen gefiel mir ganz und gar nicht. Der schwere Moschusgeruch seines Duftwassers verursachte mir Übelkeit. Ich war nur froh, dass ich ihm nicht oft und wenn dann nur in Gegenwart Signora Giudicellis begegnete.

„Wie unwichtig", seufzte die große Sängerin hörbar und das erste Mal war ich dankbar, dass man mich nicht als vollwertig ansah. „Schick sie rein. Ich bin noch nicht ganz zufrieden damit, wie mein Kleid ausfällt."

Den blonden Mann mit einem stolzen Blick abstrafend, entwandt ich mich seinem Griff und marschierte schnurstracks auf die offenstehende Garderobentür zu.

Obwohl es ein langer Tag geworden war, verspürte ich den dringenden Wunsch, noch einmal mit Pater Giovanni zu reden, ehe ich nach Hause ging. Den ganzen Tag war mir nicht aus dem Kopf gegangen, was ich zwischen der Diva und ihrem Liebhaber belauscht hatte. Erik musste in jedem Fall gewarnt werden. Nach all meinen Grüblereien, zu denen mir das Nähen genügend Zeit gelassen hatte, überraschte es mich keinesfalls mehr, dass dieser mysteriöse Mann noch ein Geheimnis mehr hütete, selbst wenn es sich dabei um die Identität eines gefürchteten Operngeistes handelte.

Ich lief den ganzen Weg so schnell ich konnte, und als ich dem Pater endlich gegenüberstand, dirigierte er mich sogleich zur nächsten Bank, damit ich wieder zu Atem kommen konnte.

Ohne Umschweife stellte ich die Frage, welche mir am meisten auf dem Herzen brannte: „Ist Erik der Mann, der vor Jahren die Pariser Oper in Angst und Schrecken versetzt hat?"

Der alte Mann nickte schlicht. „Es fällt eigentlich unter das Beichtgeheimnis, und von mir aus hätte ich es dir nicht sagen dürfen, mein Kind. Aber da du von selbst danach gefragt hast, brauche ich es nicht zu verheimlichen."

Eigentlich hatte ich mit dieser Antwort gerechnet, dennoch spürte ich, wie mein Herzschlag für einen Augenblick aussetzte. Unglaublich! Hatte ich die Gerüchte unter den kleinen Ballettratten nicht für pure Spinnerei gehalten? Während der letzten Wochen, die Sophia und ich in der Oper verbracht hatten, waren uns die verschiedensten Schauergeschichten über diese schattenhafte Gestalt zu Ohren gekommen. Es war von Sabotage, Verfolgung, Entführung und sogar Mord die Rede gewesen. Signorina Briga hatte auch darauf bestanden, dass dieser mysteriöse Mann den Absturz des Kristallüsters verursacht hatte, der ursächlich für das verheerende Feuer gewesen war.

„Serafina?" Offenbar war Pater Giovanni meine Nachdenklichkeit nicht entgangen. In seinem Blick lagen Besorgnis und Mitgefühl. „Willst du ihm immer noch helfen? Vielleicht ist es besser für dich ..."

Nachdrücklich schüttelte ich den Kopf. „Nein." Ich war fest entschlossen, mein Vorhaben zu verfolgen. Irgendetwas in mir trieb mich ganz einfach dazu. „Wenn Sie mir Papier und Tinte geben, werde ich ihm noch heute einen weiteren Brief schreiben."

Zufrieden seufzend tätschelte der Geistliche meine Hand.

Sanft entwand ich sie seiner gutmütigen Geste, um noch eine Frage zu stellen. „Was ich nicht verstehen kann ist, dass mein Vater etwas mit diesem Mann zu tun hat ... Wissen Sie etwas darüber, Pater? Können Sie mir sagen, was in den Jahren geschehen ist, in denen er und Onkel Stefano verschwunden waren? Hat es irgend etwas damit zu tun?"

„Nein, mein Kind." Seine Stimme klang traurig. „Ich musste deinem Vater versprechen, dir nichts darüber zu sagen. Nein, bitte schau nicht so erschrocken, dafür gibt es keinen Grund. Das alles ist so lange her ..."

„Aber nun ist Erik doch hier, und Papa hat gesagt, er würde ihn erpressen. Weswegen will er Geld von meinem Vater? Was ist die Schuld, die sich dahinter verbirgt?"

Mit einem bedrückten Seufzer schüttelte Pater Giovanni den Kopf.

Ich presste meine Handflächen aufeinander und bereute, noch einmal nach dieser Angelegenheit gefragt zu haben. Es war offensichtlich, dass es den alten Mann in einen Zwiespalt der Loyalität mir und meinem Vater gegenüber gestürzt hatte. Ich wechselte das Thema. „Wären Sie so gut, mir das Schreibmaterial zu geben, Pater? Es ist sehr wichtig, dass ich Erik noch eine Botschaft zukommen lasse."

„Natürlich, mein Kind." Erleichtert nahm ich das Lächeln meines Gegenübers entgegen.

Erik

Am Samstag erhielt ich eine weitere Nachricht von meinem unbekannten Verbündeten. Morgens fand ich sie, ebenso wie die vorherige, unter der Tür meines Hauses hindurchgeschoben.

Dieses Mal traf mich der Inhalt des Schreibens nicht so unvorbereitet wie beim ersten Mal. Ich verspürte keinen Zorn angesichts der gegen mich gehegten Pläne, sondern vielmehr einen gewissen Ehrgeiz, der Carlotta und diesem Gandin einen Strich durch die Rechnung zu machen, und Amüsement in Hinsicht auf ihre Bemühungen. Der Gedanke, mich tatsächlich vom bevorstehenden Galaabend fernzuhalten, kam mir nicht. Es war eine Frage der Ehre, mein Werk ihren dilettantischen Händen zu entreißen und ihnen eine Lektion für ihre Impertinenz zu erteilen.

Doch noch eine andere Angelegenheit hatte mein Interesse auf sich gezogen. Um wen konnte es sich bei meinem gönnerhaften Informanten handeln? Das Schriftbild wirkte feingegliedert, und aus dem teuren Papier war auf einen gewissen Status zu schließen. Da ich wahrhaftig nicht viele Menschen in dieser Stadt kannte, dämmerte schnell eine Ahnung in mir, die mit Leichtigkeit zu überprüfen wäre.

„Pater?"

Ich war so geräuschlos hinter dem alten Mann aufgetaucht, dass er im ersten Moment erschrocken zusammenfuhr.

„Es tut mir Leid. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen." Zu oft vergaß ich, welchen Eindruck meine unauffälligen Bewegungen und das maskiertes Gesicht den Menschen vermittelten. Bei diesem Mann war jedes autoritäre Auftreten jedoch überflüssig. Ich verspürte nicht den geringsten Wunsch, ihm Unbehagen zu bereiten oder Respekt einflößen zu müssen. Es erstaunte mich selbst, dass ich mir ihm gegenüber weniger außergewöhnlich und befremdend vorkam.

„Aber mein Sohn, Angst haben Sie mir nicht eingejagt!" Sein lautes Lachen hallte durch das leere Kirchenschiff. „Das sind nur die überspannten Nerven eines alten Mannes, dessen Wahrnehmung allmählich nachlässt."

Ich nickte und konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken. Es war ganz offensichtlich, dass der Geistliche mir durch diese Worte jedes mögliche Unbehagen oder Schuldgefühl nehmen wollte.

„Sie können gleich hochgehen, mein Sohn." Er deutete zur Empore hinauf. „Unser Organist wird sich erst gegen Abend auf die morgige Messe vorbereiten. Sie haben also den ganzen Nachmittag über Zeit zu arbeiten."

„Das werde ich", erwiderte ich knapp. Tatsächlich trug ich auch den Stoß Noten mit mir, der ein Anfang sein sollte, für den neuen Traum eines großen Werkes, der dabei war, in mir zu erwachen. „Doch mein Hiersein hat noch einen anderen Grund."

„Tatsächlich?", entfuhr es meinem Gegenüber überrascht. „Dann nur heraus damit. Kann ich etwas für Sie tun?"

Ich griff in die dunkle Ledertasche an meiner Seite und holte die beiden Briefe hervor. Mit abwartendem Blick reichte ich sie Pater Scabrezza. „Ich vermute, Sie haben bereits mehr für mich getan, als Sie offen zugeben."

Zu meiner Verwunderung nahm er die Umschläge stirnrunzelnd entgegen und wendete sie prüfend in den Händen. „Ist das für mich?" rief er erstaunt aus, und ich erkannte, dass meine Vermutung wohl nicht ganz richtig gewesen war.

„Nein." Kopfschüttelnd nahm ich die Brief meines Unbekannten Informanten wieder entgegen. „Ich hatte angenommen Sie hätten mir diese Zeilen geschrieben, um mich von den Geschehnissen in der Oper in Kenntnis zu setzen."

„Das habe ich nicht", murmelte der alte Mann bedauernd.

„Aber Sie kennen denjenigen, der es war, oder nicht?" Etwas in seinem Blick verriet mir, dass er nicht all sein Wissen preisgab.

Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Ich kann es Ihnen nicht sagen, mein Sohn. Mein Gelübde verpflichtet mich dazu über die Auskünfte zu schweigen, wenn man mich darum bittet."

„Ich verstehe."

„Aber wenn Sie es wünschen, kann ich eine Nachricht von Ihnen an die betreffende Person weiterleiten."

„Das wäre sehr freundlich."

Meine angedeutete Verbeugung mit einer Handbewegung als überflüssig abtuend, lachte der Pater abermals. „Seien Sie nur nicht so förmlich, mein Sohn. Ich tue das natürlich gern."

Als ich die kleine Kirche gegen Abend verließ, verspürte ich einen Anflug von Zufriedenheit. Ich hatte den ganzen Nachmittag wie ein Besessener damit zugebracht, dem Instrument die Noten und Melodien abzuringen, die mit geradezu quälender Intensität durch meine Gedanken spukten. Diese Gefühl von Schaffensdrang war mir seit jeher vertraut, und ich war erleichtert an diesem Ort eine Möglichkeit gefunden zu haben, es herauszulassen. Wieviel schlimmer war es mir bereits einige Male ergangen, als mich dieses Verlangen zu einem Zeitpunkt überfallen hatte, an der ich ihr nicht nachgeben konnte, sondern unter seiner beharrlichen Folter stumm hatte leiden müssen.

Bevor ich ging hatte ich einige Zeilen niedergeschrieben und sie dem Pater gegeben, damit sie der unbekannte Adressat erhielt. Ich hatte in dem Brief auf ein Treffen bestanden. Mir behagte der Gedanke keinesfalls, dass ich nicht das Geringste über diesen geheimnisvollen Informanten wusste, er mich jedoch in vielerlei Hinsicht zu beobachten und vielleicht sogar zu kennen schien. Womit hätte ich schon irgendjemandes Hilfe verdient? Außer Pater Scabrezza kannte ich niemanden in dieser Stadt, nur noch Ardendo. Und dieser hatte wohl andere Pläne, als mir zu helfen.

Ich passierte die Brücke vor meiner Wohnung, und als mein Blick auf das in der Dunkelheit schlummernde Theatro La Fenice fiel, schoss mir ein ungeheuerlicher Gedanke durch den Kopf. Konnte es sein, dass Serafina mir die Briefe hatte zukommen lassen? Sie war mit dem Pater vertraut, und er hätte ihr Geheimnis gewiss niemals preisgegeben. Vieles Sprach für meinen Verdacht. So hatte sie mich in der Kirche ein Stück aus meinem ‚Don Juan' spielen hören, konnte also ahnen, dass ich der rechtmäßige Urheber war, auch hatte sie in der Nacht auf dem Markusplatz keinesfalls angstvoll auf mich reagiert. Die Handschrift, in der die Zeilen verfasst waren, hatte ebenfalls sehr feminin gewirkt. Andererseits war ihr Vater meinen Forderungen ausgeliefert, und sie würde sich wohl kaum mit dem Mann verbünden, der ihm dieses Leid verursachte.

Grimmig durchquerte ich die Eingangshalle meines Palazzo. In dieser Nacht würde ich ohnehin keinen Schlaf finden, also sparte ich mir die Mühe, mich zu Bett zu begeben. Statt dessen dachte ich über die Möglichkeiten nach, den Geheimnissen auf die Spur zu kommen, die den anonymen Briefschreiber umgaben.

Der Morgen dämmerte bereits, als ich meinen Entschluss gefasst hatte. Letztendlich hatte ich ohnehin nichts zu verlieren.

Serafina

„Ich soll dir das hier von ihm geben", raunte Pater Giovanni mir verschwörerisch zu, als er kurz vor der Messe auf den Platz zukam, an dem ich auf Papa, Sophia und Tante Antonella wartete, die vor der Kirche noch einige Worte mit ihren Bekannten wechselten. Diesen Begegnungen ging ich seit jeher so weit wie möglich aus dem Weg. Ich konnte es nicht leiden, wenn unsere Nachbarn meine Familie nach mir und meinem Befinden fragte, während ich direkt daneben stand und mir zutiefst überflüssig vorkam.

Verwirrt nahm ich den Umschlag entgegen, dessen Rückseite mit rotem Lack versiegelt war, allerdings ohne eine Prägung. Der Geistliche bedeutete mir mit verschwörerischer Geste vorsichtig zu sein und schnell schob ich den Brief in eine Tasche meines Rockes und blickte mich kurz um, ob es auch niemand gesehen hatte. Man achtete nicht auf den Pater und mich. Ich wandte mich dem alten Mann zu meine Hände zitterten vor Aufregung, als ich eine Frage stellte: „Ist der von Erik?"

„Ja", antwortete er, ebenfalls die Gebärdensprache benutzend.

Ich fühlte, wie jede Farbe aus meinem Gesicht wich. „Dann weiß er, dass ich ihm geschrieben habe?" Mein Herz klopfte wild, und ich spürte deutlich die Panik, welche unerbittlich in mir aufzusteigen begann.

„Nein." Pater Giovanni griff nach meinen Händen und sah mich mit beruhigendem Lächeln an. Noch einmal schüttelte er nachdrücklich den Kopf. Als er meiner langsamen Erleichterung sicher war, sprachen seine Finger weiter zu mir. „Ich habe nur gesagt, dass ich seine Nachricht an den Unbekannten weiterleite. Du brauchst keine Angst zu haben. Er ist dir dankbar. Wahrscheinlich wollte er dem nur noch einmal durch ein Schreiben Ausdruck verleihen."

Ich nickte schwach und atmete innerlich auf. Meine Angst war vor allem, Vater vor den Kopf zu stoßen oder in noch größere Schwierigkeiten zu bringen indem offenkundig wurde, dass ich Erik geholfen hatte.

Sophia war nun ganz offiziell mit Alessandro Alterigia verlobt, und so lächelte sie mir nur kurz voller Freude zu, ehe sie sich zum ersten Mal neben ihm und seiner Familie in einer anderen Bankreihe niederließ. Wehmütig erkannte ich, dass es in Zukunft einige Änderungen geben würde, die zu akzeptieren ich erst lernen musste. Waren die beiden erst verheiratet, würde Sophia ganz sicher nicht mehr arbeiten müssen, und wir könnten nicht mehr soviel Zeit miteinander verbringen – erstrecht, wenn sie erst eine eigene kleine Familie hätten.

Einmal mehr wurde mir die Last meiner Andersartigkeit bewusst. Oft war es nicht, dass ich es bereute, nicht reden zu können wie alle anderen. Ich war glücklich mit meiner Familie, und im Umgang mit ihnen fühlte ich mich frei und völlig ungezwungen.

Doch in diesem Moment beneidete ich meine kleine Cousine um ihr Glück.

Es fiel mir heute schwer, der Messe zu folgen, und nachdem ich die heilige Kommunion entgegengenommen hatte, trat ich beinahe erleichtert die Stufen der kleinen Kirche herab in den Sonnenschein, der mich mit wärmender Freundlichkeit empfing.

Ich spähte noch einmal hinter mich zurück und sah, dass sich drinnen Papa und seine Schwester mit den Eltern von Alessandro unterhielten. Wenn ich es recht bedachte, war es höchst merkwürdig bald mit dem Mann verwandt zu sein, der als Direktor des La Fenice in den letzten Wochen mein Auftraggeber gewesen war. Dennoch würde Sophia in dieser Familie sicherlich gut aufgenommen werden. Ich konnte Signor Alterigia laut lachen hören und sah, wie er Vater freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Meine Cousine und ihr Verlobter ließen sich nicht aus den Augen und waren ganz offensichtlich zutiefst in gegenseitiger Liebe entflammt.

„Einen schönen Sonntag noch, Serafina ..." Signora Ubriachezza bedachte mich mit einem kritischen Blick angesichts meiner Nachdenklichkeit.

Ich rang mir ein Lächeln ab und sah, wie die grauhaarige alte Dame mit den harten Gesichtszügen sich im Fortgehen noch einmal missmutig zu mir umschaute. In ihren Augen konnte ich lesen, was sie dachte. In unserer Nachbarschaft gab es einige Leite, die der Meinung waren, ich würde schon zu sprechen lernen, wenn es nur sein müsste. Sie hatten es seit meiner Kindheit für eine Schande gehalten, dass Pater Giovanni mich in der Gebärdensprache unterrichtet hatte, es aber nicht gewagt, sich dem gutmütigen Mann entgegenzustellen. Ihrer Ansicht nach unterstützte diese ‚Unsinnige Kinderei' meine sogenannte Verstocktheit nur noch. Zu eben diesen Leute gehörten nicht wenige. Sie verstanden nicht, dass ich von Geburt an außer Stande gewesen war, mehr als einige wenige heiser krächzende Laute hervorzuwürgen, die niemals dazu gereicht hätten, mich verbal in dieser Welt zurechtzufinden.

Schon von Weitem hörte ich nun auch noch Signor Dispregio, den Apotheker, dessen Frau und ihren Sohn Thomasso, gegen dessen Aufdringlichkeiten ich mich bereits das ein oder andere Mal hatte erwehren müssen, im Inneren der Kirche.

Kurzentschlossen zog ich es vor, in der Gasse neben dem Gebäude auf Vater und die anderen zu warten.

Auch hier im Schatten war es heiß, und während ich mit einer Hand den schwarzen Spitzenschleier von meinem Haar streifte, fächelte ich mir mit der anderen ein wenig Luft zu.

In Gedanken versunken seufzte ich auf. Ab morgen war es nur noch eine Woche bis zum Galaabend, die ich in der Oper arbeiten musste ...

Natürlich, die Oper! Sofort fiel mir Eriks Brief ein, an den ich aus lauter Überlegung über Sophia und Signora Ubriachezza beinahe gar nicht mehr gedacht hätte. Ich griff nach dem Umschlag in meiner Rocktasche.

„Signorina!"

Hastig ließ ich von meinem Vorhaben ab und starrte erschrocken den kleinen, schmutzigen Straßenjungen an, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. Er konnte höchstens sieben oder acht Jahre alt sein, hatte struppige schwarze Haare, verschmitzte dunkle Augen und gehörte vermutlich zu einer der Kinderbanden, die ihr Geld mit Taschendiebstahl und anderen kleinen Gaunereien verdienten. Umso erstaunter war ich, als er unverfroren nach meiner Hand griff und mich weiter in Richtung Hinterhof zog.

„Kommen Sie!" Es steckte eine unerwartete Kraft in dem Kleinen. Ich war nicht sehr groß und so konnte ich mich erst aus seinem Griff losmachen, als die hohen Häusermauern uns bereits von den Blicken der Kirchgänger abschirmten.

Wütend starrte ich den Jungen an, doch er grinste nur fröhlich und lief dann so schnell er konnte die Gasse wieder hoch, durch die er mich soeben geführt hatte.

Mit einem Kopfschütteln wollte ich mich ebenfalls abwenden, als mir plötzlich ein Schauer über den Rücken lief. Ich war nicht alleine.

„Mademoiselle?" Akzent und Stimme hatten ihn bereits verraten, und als ich mich langsam, sehr langsam herumdrehte, sah ich mich Erik gegenüber. Wie bei unserer ersten Begegnung trug er einen teuren dunklen Anzug mit Weste und schwarzer Halsbinde. Auf das Cape hatte er, wohl wegen der Hitze, verzichtet, jedoch nicht auf die markante weiße Halbmaske, die ihn im spärlichen Licht des Hinterhofes ein gespenstisches Aussehen verlieh.

Das Phantom!, schoss es mir durch den Kopf und ich konnte deutlich spüren, wie blass ich wurde.

Der hochgewachsene Mann deutete eine Verbeugung an. Sein scharfer Blick ließ mich nicht los, und einen Moment lang hatte ich den Eindruck er versuche mich zu hypnotisieren. „Bitte erschrecken Sie nicht, Serafina." Als seine Hände die Worte formten, fiel mir auf wie elegant sie waren. Es war offensichtlich, dass diese Finger einem erfahrenen Musiker gehörten, und ein Leben lang Instrumenten die verschiedensten Melodien entlockt hatten.

„Was wollen Sie von mir?"

Uns trennten nur wenige Meter, und als er noch einen Schritt näher auf mich zu trat, wich ich argwöhnisch zurück. Irgendwie musste er herausgefunden haben, dass ich ihm die Briefe geschickt hatte, und nun wollte er mich ganz gewiss dafür zur Rede stellen. Sollte ich alles abstreiten? Vaters Warnungen vor Eriks Zorn schossen mir auf einmal durch den Kopf, und in dieser Situation – alleine in einer einsamen Gasse zu sein, mit ihm, dessen intensive Augen sich nicht von mir abwandten – verspürte ich den überwältigenden Wunsch, diesen Mann nicht herauszufordern.

„Es gibt einige Fragen, die ich Ihnen stellen muss."

Seltsam. Er schien meine Furcht bemerkt zu haben, und blieb in Hinsicht darauf stehen wo er war. Auch wenn sein Auftreten mich ein wenig erschreckte, konnte ich mir angesichts dieser Geste nicht vorstellen, dass er Hand an mich legen würde.

„Sie arbeiten in der Oper, nicht wahr?"

Diese Frage verwunderte mich. „Ich bin Schneidergehilfin", erwiderte ich ausweichend.

Seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten, zumindest war dies im nicht maskierten Teil seines Gesichtes erkennbar.

Meine Hände waren schneller als meine Vernunft und so konnte ich einen lakonischen Kommentar nicht unterdrücken. „Sie hatten wohl kaum erwartet, dass ich eine gefeierte Sängerin bin, oder Monsieur?"

Das Lächeln meines Gegenübers war vielmehr schurkisch, als wirklich humorvoll. „Nein, Mademoiselle Serafina." Sofort wurde der Gesichtsausdruck wieder ernst. „Haben Sie schon einmal von der Oper ‚Triumph des Don Juan' gehört?"

Ich warf all mein Glück in die Wagschale und getraute mich, zu lügen. Scheinbar war Erik doch nicht sicher, ob ich die Verfasserin der an ihn gerichteten Nachrichten war. „Nein."

Seine Augen verengten sich, und ich konnte förmlich sehen, wie er die Wahrheit meiner Antwort in Gedanken abwog.

„Serafina!"

Zusammenzuckend fuhr ich herum. Zwar konnte ich noch niemanden in der Gasse erkennen, doch ich war mir sicher, dass die Stimme Sophia gehört hatte, und sie und die anderen mich bereits suchten.

Wütenden Blickes drehte ich mich zu Erik zurück. Mir blieb keine Zeit für sein kleines Katz und Maus Spiel. Unter keinen Umständen durfte er erfahren, dass ich die geheime Informantin war. Und noch weniger durfte Papa uns zusammen sehen. Weder wollte ich ihn in noch größere Schwierigkeiten bringen, noch würde mein ihm gegenüber ohnehin schlechtes Gewissen ein weiteres Gefühl des Vertrauensbruchs verkraften.

„Lassen Sie mich in Ruhe!" Meine Hände flogen so schnell, so gehetzt, dass ich nur hoffte, Erik könnte meinen Worten folgen. „Reicht es Ihnen nicht, meinen Vater zu erpressen und leiden zu lassen? Was wollen Sie nun auch noch von mir? Verschwinden Sie!"

„Verzeihen Sie mir." In seiner Stimme schwangen sowohl Härte als auch aufrichtiges Bedauern. Etwas in diesem vollen, samtweichen Klang hätte mich beinahe gefährlich versöhnlich gestimmt, doch wenn ich mich und meine Familie schützen und gleichzeitig Erik weiterhin helfen wollte, müsste ich Distanz schaffen zwischen uns. „Halten Sie sich fern von mir! Kommen Sie mir nie wieder zu nahe!" Ohne noch einmal zu riskieren, seinem Blick zu begegnen, drehte ich mich um und marschierte so energisch wie möglich die Gasse hinauf.

Aus irgendeinem Grund hatte es mir selbst weh getan, mich derart von diesem Mann abzuwenden. Er könnte mir auf so viele Fragen Antwort geben, schien so viele Geheimnisse mit sich zu tragen, denen ich nur zu gerne auf den grund gegangen wäre.

Doch ich zwang mich an die Verantwortung zu denken, die ich nun trug, und unterdrückte jeden Wunsch noch länger mit Erik zu sprechen.

Erik

Den anmutigen Kopf stolz erhoben, schritt sie die Gasse hinauf, wobei ihre glänzenden Locken weich auf und ab wippten. Sie zeigte erstaunlich wenig Furcht, auch wenn ich deutlich gespürt hatte, wie angespannt sie in meiner Gegenwart gewesen war. Mein Blick folgte ihr bis sie fort war.

Mit was für einer Reaktion hatte ich eigentlich zu rechnen gehofft?

Ein grimmiges Zucken meiner Lippen gab mir die Antwort: ganz genau mit dieser. Natürlich hasste und fürchtete sie mich. Es war wohl mehr ein Wunsch meinerseits gewesen, dass dem nicht so wäre. Dennoch konnte ich der jungen Frau ihr Verhalten nicht verübeln. Schließlich war es ihr Vater, dem meine Rache galt und sicher hatte dieser ihr so einiges über meine Person berichtet.

Es war also von Anfang an ein recht törichter Verdacht gewesen, sie für die Schreiben verantwortlich zu halten. Sollte ich das Gefühl, was mich zu ihr zog nicht besser kennen? Hatte es damals bei Christine nicht auch damit begonnen, dass ihr Bild immer wieder durch meine Gedanken spukte? War ich wirklich so töricht gewesen zu glauben, dass ich so wenig Mensch sei, kein Verlangen mehr empfinden würde nach einer Frau?

Ich wartete noch einen Augenblick und verließ dann den Hof. Mittlerweile hatte sich die Menge der Kirchgänger verstreut und auch von Serafina war nichts mehr zu sehen.

Es hatte mich selbst überrascht, wie ich mich in ihrer Gegenwart gefühlt hatte. Einen Moment lang hatte ich tatsächlich Reue in Bezug auf mein Verhalten Ardendo gegenüber empfunden, als ich sah wie seine Tochter sich für ihn einsetzte. Was war aus diesem Mann geworden? Wie hatte er sich diese Loyalität verdient?

Vielleicht sollte ich mich nicht darüber wundern. Natürlich hatte er sich ihr gegenüber anders Verhalten, als in der Art, die ich damals von ihm und seinem Bruder gewöhnt gewesen war. Sie war sein Kind. Sie war schön und kein Monster, dessen Wert man nicht gering genug einschätzen konnte.

Ein harter Klumpen Wut ballte sich in meiner Magengrube zusammen und ich spürte den Drang meiner Hände, etwas Zerstörerisches zu begehen.

Menschen, überall um mich herum! Natürlich, es war Sonntag und die Straßen Venedigs waren belebt. Die wenigsten gingen ungerührt an mir vorbei. Ich spürte jeden einzelnen der misstrauischen oder erschrockenen, oder einfach nur neugierigen Blicke der Passanten auf meiner Haut brennen ... und ich hasste es. Ich hasste die Tatsache, dass es mich trotz meiner Überlegenheit und Autonomie noch immer zu berühren vermochte.

Ich teilte den Menschenstrom allein durch meine Anwesenheit, sie wichen vor mir aus, drängten sich ein wenig enger zusammen und vermieden es, mir zu nahe zu kommen. Nein, sie blieben nicht stehen, um mich anzugaffen, sie zeigten nicht mit den Fingern auf mich. Die Minen ihrer Kinder verzerrten sich auch nicht zu mitleiderregendem Weinen, wie sie es angesichts meines wahren Gesichtes früher so oft getan hatten. Eigentlich gingen alle ganz gewohnt ihres Weges. Sie wichen lediglich diesem Fremdkörper aus, der einfach nicht in ihre Welt zu gehören schien.

So sollten sie es doch tun! Im Grunde hatte ich mich abgefunden mit der Position, die ich allen anderen Erdenbürgern gegenüber innehatte. Doch in diesem Moment sehnte ich mich nach Ruhe und Zurückgezogenheit an einem Ort, wo ich mich nicht auch noch mit den neugierigen Blicken meiner Mitmenschen beschäftigen musste.

Schon tauchte das La Fenice vor mir auf und mit ihm auch die stuckverzierte Fassade meines Palazzo.

Unwillig runzelte ich die Stirn und verlangsamte instinktiv meine Schritte. Vor der Eingangstür konnte ich die Figur eins jungen Mannes erkennen, der sich suchend umblickte. Er mochte höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, und wirkte ausnahmslos Fehl am Platz. Sein Gesten zeugten von Unsicherheit und es war offensichtlich, dass er nicht aus dieser Stadt stammte. Am Zügel führte er einen erschöpften braunen Wallach und in seiner rechten Hand hielt er ein Stück Papier, welches er aufmerksam studierte. Seiner Kleidung nach zu urteilen hatte er einen langen Ritt hinter sich, denn Stiefel und Hose waren schmutzverkrustet.

Als sein Blick auf mich fiel, konnte ich erkennen, dass er kurz zusammenzuckte. Dann jedoch kam er direkt auf mich zu und grüßte mit einem höflichen, freundlichen Lächeln. „Monsieur?"

Ich erwiderte die Geste, jedoch ohne eine Mine zu verziehen.

„Sie sind Erik, oder nicht?" Er sprach Französisch, Pariser Akzent.

„Ich habe nicht geahnt, dass mein Name derart bekannt ist."

Der Junge ließ ein leises Lachen vernehmen. „Vermutlich ist er das gar nicht." Er wurde ernst und griff in den Umhängetasche aus Wildleder, die er über die Schulter trug. „Ich habe auch gar nicht viel Zeit. Eigentlich bin ich auf dem Weg nach Rom ... Ah! Da ist er ja."

Ich nahm den Umschlag entgegen, ohne mir meine Verwunderung anmerken zu lassen.

„Der Brief ist von meiner Tante. Sie gab ihn mir mit, da ich sowieso auf dem Weg nach Italien war, und sie der Post ohnehin nicht allzu viel Vertrauen entgegenbringt. Ihrer Meinung nach gehen die wirklich wichtigen Nachrichten bei privaten Kurieren nicht so leicht verloren."

„Sie sind Madame Girys Neffe."

„Jawohl, Monsieur." Schon setzte er einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel.

„Ich danke Ihnen für die schnelle Übermittlung."

Der junge Mann tippte sich höflich an die Reitmütze und lächelte dann noch einmal. „Es war mir eine Ehre, Monsieur Le Fantome." Mit diesen Worten gab er seinem Pferd die Sporen und verschwand in halsbrecherischem Tempo die Gasse hinunter.

Einen Moment lang starrte ich der sich schnell entfernenden Gestalt nachdenklich hinterher. Was immer seine Tante mir mitteilen wollte, sie hatte größten Wert darauf gelegt, dass ich ihre Zeilen bald erhielt.

Die Girys waren wohl allesamt ein außergewöhnlicher Schlag Mensch. Monsieur Le Fantome. Belustigt dachte ich an die Worte des Jungen. Hoffentlich gebrauchte er sie nicht unüberlegt, denn sonst konnte es gut möglich sein, dass sich plötzlich Gesetzeshüter an meine Fersen hefteten. Schließlich wurde ich in Paris noch immer wegen Mordes an Joseph Bouquet und Ubaldo Piangi gesucht. Und der einzige Vorteil, den ich hatte war, dass niemand wirklich genau wusste, wie ‚das Phantom' aussah.

Ohne weiter zu zögern begab ich mich in den Salon der ersten Etage, um dort in alle Ruhe den soeben erhaltenen Brief zu lesen.

Mon amie,

ich weiß, dass es nichts bringen würde Ihnen zu sagen, dass Sie sich von Jean Pierre Gandin fernhalten sollten. Seien Sie dennoch gewarnt. Dieser Mann genießt den denkbar schlechtesten Ruf, in guten Kreisen.

Vor drei Jahren übernahmen er und sein Bruder René die Kanzlei seines verstorbenen Vaters, und schafften es, in wenigen Monaten all das zu verspielen, was der gute alte Mann sich mühevoll erarbeitet hatte. Man munkelt sogar, dass Gandin später die lasterhaften Vorlieben seines älteren Bruders mit Absicht hat auffliegen lassen, um die eigene Position in der Kanzlei zu verbessern.

Nachdem er jedoch so gut wie vor dem finanziellen Ruin stand, tauchte er plötzlich immer öfter in der Opera Garnier auf. Carlotta Giudicelli schien aus unersichtlichem Grund Gefallen an seiner Person gefunden zu haben. Er trieb sich stundenlang in den Archiven herum, schnüffelte durch die entlegensten Winkel. Ich habe immer den Eindruck gehabt, er suche nach etwas bestimmten.

Vor einigen Wochen hörte ich dann, dass er mit der großen Diva nach Italien aufgebrochen sein soll. Doch was mich vielmehr verwunderte ist, dass er offiziell als ihr persönlicher Pianist mitreiste - Erik, ich habe ihn einmal spielen hören, aber er ist ganz sicher niemand, der damit seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Er scheint vielmehr ein Hochstapler zu sein, der etwas höchst Zweifelhaftes im Schilde führt.

Ich weiß nicht, weshalb Sie an diesen Informationen interessiert sind, mein Freund, doch bitte seien Sie vorsichtig, was Gandin angeht.

Grimmig trat ich ans Fenster und blickte hinaus. Der Mann war also wahrhaftig ein Gauner. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Was mich zutiefst verärgerte, war die Tatsache, dass ein Cretin wie er sich anmaßte, mein Werk komponiert zu haben – vermutlich ohne das geringste Gespür für die filigrane Harmonie und gewaltige Kraft, welche mein ‚Don Juan' vollständig entfesselt hervorrufen konnte.

Noch immer konnte ich die Vibration jedes einzelnen Klanges bis in den tiefsten Winkel meines Sein spüren, konnte mich erinnern wie ich tagelang, wochenlang, ohne jedes Gefühl für die verstreichende Zeit in den Kellergewölben der Pariser Oper zugebracht hatte, besessen von dem Gedanken etwas Monumentales zu erschaffen, meinem eigenen Genie ein Ehrenmal zu setzen, das der Menschenwelt für immer verborgen bleiben würde. Damals hatte ich noch nicht geahnt, dass meine Oper ihre bislang einzige Aufführung an dem Tag erfahren sollte, an dem mich Christine die wahre Bedeutung von Liebe und Verzicht gelehrt hatte.

An diesem Tag war ‚das Phantom' wahrhaftig gestorben. Der Mann, der sich benommen durch die abgeschiedensten Gassen von Paris geschleppt hatte, den Madame Antoinette Giry aufgelesen und die Flucht aus Frankreich ermöglicht hatte, war in vielerlei Hinsicht neugeboren und ein anderer gewesen. Vielleicht spürte ich noch immer den dunklen Schmerz meiner Andersartigkeit und wusste nun, dass ich bis an das Ende meiner Tage allein und ohne Ruhe umherziehen musste, doch war der glühende Hass auf die mich ausstoßende Menschheit einer erträglichen Gleichgültigkeit ihr gegenüber gewichen. So lange sie mich nicht behelligte, ließ auch ich sie in Frieden.

Was meinen ‚Don Juan' anging, so verdiente ihn die Welt nicht. Dieser Umstand war ebenfalls ein Grund, weshalb ich dieses Werk zurückerobern musste. Die Zeiten hatten sich geändert. Ich hatte mich geändert. Die von mir komponierte Musik, gehörte allein mir. Sie war mir gleichzeitig Zufluchtsort und Geliebte. Was uns verbannt, sollte die Menschheit nicht teilen. Ich war nicht länger für die Unterhaltung dieser kleingeistigen Narren zuständig – weder als ausgestellter Schrecken in einem Käfig, noch durch die Schöpfung meiner Hände.

Missmutig wandte ich mich vom Fenster ab. Um Mitternacht würde ich Ardendos wöchentliche Zahlung entgegen nehmen, doch bis dahin lag der Großteil des Tages noch brach. Ich war nicht gewillt, ihn in fruchtlose Gedanken versunken zu verbringen,

Mein Blick flog durch den Raum und ich erkannte, dass ich tatsächlich langsam begann, mich in diesen Mauern heimisch zu fühlen. Die beiden Wohnetagen hatte ich bereits mit einer meinem Geschmack angepassten Ausstattung versehen. Zu meinem Glück lag nicht weit vom La Fenice entfernt ein kleiner, verstaubter Möbelladen, dessen Ware sowohl aus den französischen und englischen Kolonien als auch aus dem Orient importiert wurde. Hier war ich auf einige faszinierende Stücke gestoßen, welche das barocke Ambiente des Palazzo auf außergewöhnliche Weise ergänzten und jede Möglichkeit nahmen, das Interieur einem speziellen Stil zuzuordnen.

Als ich den überdachten Außengang entlang schritt, der vom vorderen Teil des Palazzo zu den bislang ungenutzten Räumlichkeiten des hinteren Teils führte, war ich in Gedanken bereits damit beschäftigt, eine Liste von Besorgungen zu erstellen. Es war an der Zeit, gewisse Vorkehrungen zu treffen. Die Pläne der Carlotta und dieses Gandin zu durchkreuzen mochte auf den ersten Blick nicht gerade als eine Herausforderung erscheinen, dennoch sollte ich besonnen vorgehen. Weder beabsichtigte ich unnötige Aufmerksamkeit auf meine Person zu lenken, noch wie ein gewöhnlicher Dieb aufzutreten. Ihr anmaßendes Vorhaben verdiente durchaus einen besondere Aufmerksamkeit.

Den Zeitpunkt der Übergabe hatte ich nicht zufällig gewählt. Ein Maskenball – gab es eine Gelegenheit, zu der ich mehr in meinem Element gewesen wäre?

Serafina

Ich bin Ihnen verbunden für die Informationen, welche Sie mir zukommen ließen. Doch sicherlich können Sie ein gewisses Misstrauen nachsehen, angesichts der Tatsache, dass Sie über Ihre Person schweigen. Um einen Beweis für die Aufrichtigkeit Ihres guten Willens zu erbringen, fordere ich Sie dazu auf, ihre Identität offen zu legen. Ich erwarte Sie am Nachmittag des morgigen Tages.

Noch einmal überflog ich die Zeilen, welche Erik mir durch Pater Giovanni übermittelt hatte. Seine Handschrift war eigenwillig, doch von klar definierter Schönheit. Sie schien auf dem Papier zu thronen, wie ein unumstößliches, blutrotes Manifest. Seltsam, dass er in dieser hervorstechenden Farbe schrieb. Es schien, als wolle er sich in allem, was er tat abheben, eine klare Grenze ziehen, zwischen sich selbst und den üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten.

Schweren Herzens ausatmend stützte ich das Kinn in meine Hände und starrte hinaus in die Dunkelheit. Die frische Nachtluft strich mir entgegen und besänftigte die pochenden Kopfschmerzen, die während des ganzen Tages hinter meinen Schläfen rumort hatten. Die Arbeit war mir nur schwer von der Hand gegangen. Immer hatte ich in Gedanken die gestrige Begegnung mit Erik und das unmögliche Treffen, das er forderte, vor meinem geistigen Auge gesehen.

Natürlich war ich am heutigen Nachmittag nicht zu ihm gegangen. Unruhig war ich auch weiterhin meiner Arbeit gefolgt und versucht, nicht an den Mann zu denken, der in jenem Moment auf mich gewartet hatte.

Was mich auch jetzt noch erstaunte, war die Intensität des Dranges gewesen, jede Vernunft in den Wind zu schlagen und seinem Wunsch tatsächlich nachzukommen. Ich hatte mich selbst bei der Vorstellung ertappt, mit ihm zu reden, mehr über ihn und die Vergangenheit meines Vater zu erfahren. Beinahe sah ich seine ausdrucksstarken Hände vor mir, wie sie nur mir verständliche Worte formten, nur zu mir sprachen, ebenso wie seine Stimme, die mich bei jedem unserer beiden Treffen hatte erschauern lassen.

Unter Aufbringung aller Willenskraft zwang ich meine Konzentration wieder zurück zu dem leeren Blatt Papier, das wartend vor mir auf dem kleinen Schreibtisch ruhte. Noch immer wusste ich nicht recht, wie meine Antwort auf seine Zeilen aussehen sollte, doch ich beschloss erst einmal bei der schlichten Wahrheit zu bleiben. So tauchte ich schließlich die Federspitze in das kleine, mit schwarzer Tinte gefüllte Glas und begann zögernd zu schreiben.

Monsieur,

legen Sie mein Fortbleiben nicht als Zeichen von Unaufrichtigkeit aus. Gewisse äußere Umstände verhindern, dass ich Ihnen zur Zeit Näheres zu meiner Person offen lege. Ein Treffen wäre fruchtlos für uns, denn ich weiß nicht mehr über die gegen Sie geschmiedeten Pläne, als ich ohnehin in meinen Schreiben mitteile.

Ich verbleibe ergeben

Sconosciuto

Zufrieden lächelnd betrachtete ich den Brief. Die Worte klangen höflich und aufrichtig, befand mein eigenes Urteil. Auf diesen Eindruck kam es mir auch an, zumal ich alles in meiner Macht stehende tun musste, um Erik über die Pläne der Giudicelli und Gandins zu informieren. Dass er meinen Schreiben misstraute und ihm somit vielleicht die zustehende Gerechtigkeit verwehrt bleiben würde, wollte ich nicht riskieren. Auch wenn ich im Geheimen agierte, kam es darauf an, dass er meinen Worten Glauben schenkte.

Gleich morgen würde ich Pater Giovanni den Brief übergeben, damit er ihn weiterleiten konnte. Jetzt da ich wusste, dass Eriks Interesse, etwas über den unbekannten Informanten zu erfahren, so groß war und er mich ohnehin bereits im Verdacht gehabt hatte, wagte ich nicht mehr, das Schreiben persönlich unter seiner Tür hindurchzuschieben. Der Pater hatte mir bereits beim letzten Mal angeboten, eine Übermittlerrolle zwischen uns zu übernehmen. Ich hätte mir niemand vertrauenswerteres für diese Aufgabe vorstellen können.

Ein lautes Klopfen an der Zimmertür, ließ mich hastig einige leere Zettel über die eben verfassen Zeilen decken. Als ich mich umdrehte, sah ich Papa, der gerade in den Raum trat. Er lächelte und bedeutete jemand anderem einzutreten. Ich war überrascht, eine freudenstrahlende Sophia an ihm vorbei auf mich zu stürmen zu sehen.

„Serafina!" Überschwänglich schlang sie mir die Arme um den Hals und gab mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Als sie lachend meine Hände ergriff, sah ich ihre großen Augen vor Aufregung glänzen. „Stell dir vor ... es ist unglaublich!"

Schmunzelnd hob ich die Augenbrauen, um ihr zu bedeuten, dass sie schon ein wenig weiter ausholen musste, wenn ich wirklich wissen sollte, wovon sie sprach. Als sich mein Blick kurz mit dem von Papa traf, nahm ich erfreut auf, dass er so belustigt und gelöst wirkte wie schon seit langem nicht mehr. Mir schien es beinahe so, als hätten die beiden etwas ausgeheckt.

Endlich hatte meine kleine Cousine sich soweit gefasst, dass sie mir mit leuchtend roten Wangen erzählen konnte, was sie zu abendlicher Stunde noch zu mir getrieben hatte. „Wir gehen auf den Maskenball im La Fenice!"

Ich musste so erschrocken dreingeschaut haben wie ich mich fühlte, denn sowohl mein Vater als auch Sophia brachen in ein gutmütiges Lachen aus.

„Schau bitte nicht so entsetzt, Principessa", sagte Papa, während er augenzwinkernd den Raum wieder verließ. „Ich lass euch jetzt alleine, damit ihr euch in Ruhe weiter unterhalten könnt."

Die Tür schloss sich und ich folgte meiner Cousine mit weiten Augen, während sie sich so schwungvoll es ihr Korsett erlaubte auf meinem Bett niederließ. Seit ihrer Verlobung war sie noch hübscher geworden. Ihre Gesten waren voller Lebendigkeit und das Glück schien förmlich durch sie hindurch zu strahlen.

„Nun?", versuchte ich ihr weitere Details zu entlocken.

„Die Einladungen hat Alessandros Vater persönlich ausgesprochen", verkündete sie mit stolzer Stimme. „Hier." Mit einem Griff in die Rocktasche hatte sie zwei Kärtchen hervorgezaubert, die sie mir lächelnd reichte.

Zweifelsohne, eine war auf ihren, die andere auf meinen Namen ausgestellt worden. Allem Anschein nach, beabsichtigte Direttore Alterigia, Sophia und mich zu einem festen Bestandteil der gehobenen venezianischen Schicht zu machen. Es war angebracht, dass sein Sohn und dessen Verlobte gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkamen.

„Sophia, ich freue mich sehr für dich ... Aber warum soll ich auf diesen Ball gehen? Ich wäre dort furchtbar fehl am Platz. Warum nimmst du nicht deine Mutter ..."

Das Entsetzen ihres Blickes machte jeden weiteren Einwand hinfällig, der in diese Richtung gehen sollte. Sie sprang auf und rang die Hände. „Mama?" Die Stimme meiner Cousine sprach voll von Unglauben. „Sie würde nie auf einen Maskenball gehen. Was das betrifft, so stimmt sie einmal mit den Änderungen Napoleon Bonarpartes überein, die diese ‚ausschweifenden, lüsternen Veranstaltungen' unterbunden haben." Ihr Blick wurde flehentlich und mit einer fließenden Bewegung sank sie zu einem kleinen Häuflein vor mir auf die Knie, während ihr hellblauer Rock sie gleich einer Wolke umbauschte. „Bitte, Serafina, du bist meine einzige Hoffnung. Mama war ja damit einverstanden, dass ich hingehe, aber nur wenn du mitkommst und ein Auge auf mich hast."

„Ich kann nicht, Sophia. Du vergisst, dass ich mich nicht einmal entschuldigen könnte, wenn ich jemandem in all dem Gedränge auf den Fuß trete." Wahrhaftig, dieser Ball war kein Ort für mich.

Mit verzweifelt flehenden Blicken presste das junge Mädchen ihre Hände aneinander und hob sie bittend. „Ich verspreche auch, dass Alessandro und ich die ganze Zeit in deiner Nähe bleiben. Komm doch mit, ohne dich darf ich nicht, und stell dir nur die schönen Kleider vor, die wir tragen könnten ..."

„Da ist doch auch schon das nächste Problem", wandte ich ein. „Wir können uns wohl kaum in unseren Schneiderinnenröcken sehen lassen."

Das verschwörerische Grinsen auf ihrem Gesicht, bedeutete mir, dass auch diese Bedenken unnötig waren. Dann blickte sie beinahe verlegen zur Seite. „Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich ja schon etwas länger von diesem Ball. Und Alessandro hat mir schon vor fast zwei Monaten geraten, dafür gewisse Vorbereitungen zu treffen. Obwohl wir beide im Theater viel zu tun hatten, habe ich jede freie Minute damit verbracht uns beiden die passende Garderobe anzufertigen ..."

Ich ließ den Kopf hängen und gab mich geschlagen. Meine kleine unschuldig aussehende Cousine hatte ein regelrechtes Komplott gegen mich geschmiedet, und ich sah keine Möglichkeit, ihren ausgeklügelten Plänen zu entgehen. „Gib es zu", formte ich müde lächelnd mit den Händen. „Du hast bis zur letzten Minute gewartet, es mir zu sagen, damit ich keine Wahl mehr habe, abzulehnen."

„Sieh es mir nach, Serafina." Ein liebevolles Lächeln entschädigte mich ein wenig für die sorgenvolle Vorstellung, mich auf den Ball begeben zu müssen. „Ich habe ganz einfach furchtbare Angst, mich dumm oder auf irgendeine andere Weise so zu verhalten, dass ich meinem Verlobten und seinen Eltern nicht standesgemäß erscheine."

„Sei unbesorgt", beeilte ich mich, sie zu beruhigen. Denn schon sah ich an Sophias Gesichtsausdruck, dass ihr diese Gedanken wahrhaftig sehr zusetzen mussten. „Ich werde ja mitkommen. Hoffentlich hast du unsere Kostüme auch so gestaltet, dass uns ja niemand erkennt ..."

Am frühen Nachmittag des folgenden Tages war es endlich soweit.

In ihrem Garderobenraum hatte sich Carlotta Giudicelli in Pose geworfen und betrachtete zufrieden das fertiggestellte Bühnengewand in einem der hohen Wandspiegel. Bei jeder Bewegung schimmerte die violette, mit Perlen bestickten Robe und umspielte schmeichelhaft die wohlgeformte Figur der Diva.

„Ausgezeichnet." Sie stützte beide Hände in die enggeschnürte Taille und wandte den Kopf so, dass sie auch ihre Rückseite in Augenschein nehmen konnte. „Ich bin sehr zufrieden mit deiner Arbeit, meine Kleine."

Ich spürte deutlich, wie ich unter dem seltenen Lob der anspruchsvollen Sängerin errötete. In gewisser Weise empfand ich eine große persönliche Befriedigung angesichts ihrer Worte. Schließlich kam sie aus Paris und die dortige Modeschneiderei war weitläufig berühmt für ihre exquisiten Kreationen. Also war es nicht einmal vermessen, wenn ich ein klein wenig stolz auf meine Arbeit war.

„Dann kannst du jetzt gehen", schnappte sie jedoch sofort zurück und unterstrich diese Anweisung mit eine herablassenden Handbewegung. „Ich bin sicher, dass an den übrigen Bühnenkostümen noch eine ganze Menge Arbeit auf dich wartet ..."

Insgeheim aufatmend, dass ich nun offiziell entbunden war, griff ich nach meinem Schneiderkorb, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir. Ein kleines Schmunzeln schlich sich mir auf die Lippen, als ich erkannte, dass ich mich geradezu darauf freute, Signora Scabrezza und Sophia bei der zwar anspruchsloseren aber wenigstens ungestörten Arbeit an der Garderobe des Ensembles zur Hand zu gehen.

Ich wandte mich ab, um zu gehen.

„Pas si à la hâte, Mademoiselle, nicht so eilig."

Eingeschüchtert erstarrte ich mitten in der Bewegung. Noch völlig in meine Gedanken versunken, hatte ich nicht gemerkt, dass Monsieur Gandin plötzlich hinter mir aufgetaut war. Er stand so unmittelbar dort, dass ich nicht an ihm vorbei treten konnte, ohne ihn beiseite zu schieben.

Sein Blick nagelte mich förmlich fest. Etwas in diesen eisblauen Augen ließ mich erstarren, so dass ich kaum wagte zu atmen. Ich hatte das Gefühl zusammenzuschrumpfen und klammerte mich beinahe verzweifelt an den Henkel meines Korbes.

Als ich seine rechte Hand plötzlich auf meinen Kopf zuschnellen sah, kniff ich instinktiv die Augen zusammen und rechnete fest mit einem Schlag. Mein Herz pochte so wild in der Brust, dass ich glaubte dieser Lärm müsste durch das gesamte Theater hallen. Hätte ich es gekonnt, ich hätte so laut geschrieen, dass man mich auch noch bis draußen vor dem Gebäude vernehmen würde.

Doch nichts geschah. Alles, was ich hörte war mein keuchender Atem. Langsam wagte ich, die Augen wieder zu öffnen.

Gandins Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ein verschlagenes Lächeln um den Mund, betrachtete er mich mit kühler Neugier, gerade so, als wolle er meine Reaktionen genauestens studieren. Seine Hand hatte nicht mein Gesicht getroffen, sondern schwebte, einen Spalt breit von der Tür entfernt, über dem Holz.

„Du solltest", seine Stimme war kaum mehr als ein Raunen. Erst jetzt fiel mir auf, wie stark er nach Rum und Zigarrenrauch roch. „Du solltest dich wirklich nicht so oft vor anderer Leute Türen herumtreiben. Sonst könnte ich am Ende noch annehmen du führtest etwas im Schilde ..." Während er nun leise an die Tür klopfte, fuhr seine andere Hand hinauf an mein Kinn und zwang mein Gesicht auf, so dass ich ihm abermals direkt in die kalten Augen blickte. „Verschwinde", zischte er mit süffisantverzogenen Lippen und machte mir endlich den Weg frei.

Die nächsten Augenblicke reagierte ich einfach nur mechanisch, drehte mich um und ging so ruhig wie möglich den Treppengang nach oben. Ich dachte daran, dass ich nur die große Halle durchqueren und mich von dort aus in den Zuschauerraum, dann hinter die Bühne zu begeben brauchte. Meine Arbeit für die Diva war beendet, und ich würde diesen unangenehmen Leuten so bald nicht wieder begegnen müssen.

Ich nahm die letzte Stufe, war nur noch wenige Schritte von der prachtvollen, marmorverkleideten Eingangshalle entfernt ... und musste nach einem Halt tasten. Mit einem dumpfen Geräusch prallte mein Korb zu Boden. Die Sicht verschwamm mir vor den Augen und meine Knie waren merkwürdig unsicher. Panik ergriff mich, denn ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Langsam sank ich mit dem Rücken zur Wand an ihr herab.

Erik

Die Überlegungen, wie ich an eine Karte für den Maskenball des La Fenice gelangen konnte, waren zu einem nahezu belustigendem Ergebnis gekommen. Der ‚Operngeist' würde eine neue Rolle einnehmen, und so traf ich kurz nach Mittag im Direktorat des Theaters mit seinem amtierenden Direktor, einem gewissen Signor Alterigia, zusammen.

Als ich das schlichte, lediglich von einem blankpolierten Mahagonischreibtisch geprägte Zimmer betrat, erhob sich der ebenso kleine, wie beleibte Mann – rötliche Gesichtsfarbe, adrett gerichteter Schnauzbart und in einen vielleicht etwas zu knappen Frack gekleidet –, kam mit schnellen Schritten auf mich zu und reichte mir freundlich lächelnd die Hand.

Im Verlauf des folgenden Gespräches beobachtete ich mein Gegenüber genau. Ihm war deutlich anzumerken, dass die weiße Maske ihn irritierte, doch war er höflich genug, lediglich bisweilen ein wenig zu lange die Augen darauf ruhen zu lassen, seine Befremdung ansonsten allerdings zu verbergen.

Er habe bereits gehört, weswegen ich hier sei, und es sei ihm ganz gewiss eine Freude zu vernehmen, dass ich an der Förderung dieses ausgezeichneten und alteingesessenen Hauses interessiert sei. Mit dezenter Neugier ließ er schließlich durchscheinen, dass er sich fragte, in welchem Umfang ich meiner Kunstliebe und musischem Sachverstand Ausdruck zu verleihen gedachte.

Meine Antwort ließ ihn erbleichen. Einen kurzen Moment stand sein Mund in Sprachlosigkeit offen. „Da... das ist eine überaus großzügige Summe, Monsieur", fing er sich schließlich.

Ich verzog keine Mine, wartete auf die nächste Reaktion des Mannes.

„Selbstverständlich geht mit Ihrer Spende das Wochenabonnement einer unserer besten Logen einher ..."

„Daran bin ich momentan nicht interessiert." Dies entsprach nur zum Teil der Wahrheit. Woran mir wahrhaftig nicht gelegen war, war die Aussicht der Carlotta lauschen zu müssen, deren Name in den nächsten Wochen bei nahezu jeder Aufführung zu finden war. „Vielleicht komme ich zu einem späteren Zeitpunkt auf Ihr Angebot zurück, Monsieur le Directeur."

„Was? Keine Loge", mein Gegenüber war offenbar entsetzt. „Aber ... ich verstehe nicht ..."

Alterigias Wunsch, Näheres über meine Beweggründe zu erfahren, missfiel mir. „Geschäftliche Verpflichtungen nehmen den Großteil meiner Zeit in Anspruch", versetzte ich als knappe Antwort.

Noch immer schien er nicht zufrieden. Es war offensichtlich, dass er eine Gegenleistung für meine finanzielle Unterstützung erbringen wollte. Nun gut, gab es doch tatsächlich etwas, nach dem es mich verlangte. „Der bevorstehende Maskenball ist ein höchst reizvolles gesellschaftliches Ereignis ...", warf ich ihm den Köder zu.

„Aber ganz sicher, Monsieur!" Stolz richtete sich die Haltung des Direktors auf. „Wir haben ein ganz außergewöhnliches Programm für unsere Gäste zusammengestellt. Sie werden ihre Ohren sowohl an Auszügen bekannter Meisterwerke, als auch bislang völlig unbekannten Hochgenüssen erfreuen können."

Ich zweifelte daran, dass der überspannte Sopran der Carlotta ein solches Vergnügen bei mir hervorrufen würde, rang mir jedoch ein trockenes Lächeln ab, das meinem Gegenüber die angestrebten Worte entlockte.

Mit gefalteten Händen lehnte er sich auf der Tischplatte vor und zog die Augenbrauen gönnerhaft empor. „Es versteht sich natürlich von selbst, dass Ihnen hiermit in aller Form eine persönliche Einladung ausgesprochen wird." Nach einer kurzen, dramaturgisch relevanten Pause, fügte er hinzu: „Sie werden uns doch die Ehre Ihrer Anwesenheit zu Teil werden lassen, nicht wahr, Monsieur?"

„Selbstverständlich." Ich war der Erfüllung meiner Pläne einen wichtigen Schritt näher gekommen. Das Gespräch hatte sich also als überaus erfolgreich erwiesen. Es wäre zweifellos auch ohne offizielle Einladung möglich gewesen, mir Zutritt zu dieser Veranstaltung zu verschaffen, doch weshalb sollte ich meine Zeit mit überflüssigen Aufwendigkeiten vergeuden?

Ich sah keinen Grund mehr für meine weitere Anwesenheit, und so verabschiedete ich mich von dem noch immer überschwänglich dankbaren Direktor des La Fenice und verließ sein Büro.

Es war ein eigentümlich heimisches Gefühl, das mich wie eine sanfte Welle umspülte, als ich die große Prunktreppe langsam herunterschritt und meine Blicke über die glänzende Eingangshalle gleiten ließ. Zwar unterschied sich der hier anzutreffende Baustil in vielerlei Hinsicht von dem der Opera Garnier – zumal das La Fenice sehr viel eher erbaut und wesentlich kleiner war -, doch haftete dieser Gold und Marmor geprägten Schönheit dieselbe Atmosphäre an, in deren verborgener Unterwelt ich jahrelang mein Leben zugebracht hatte.

Für einen Augenblick überkam mich der nahezu unwiderstehliche Drang, in laut schallendes Lachen auszubrechen. Welch ein Karrieresprung! Das ‚Phantom der Oper' war zum Mäzen aufgestiegen. Eine köstliche Ironie des Schicksals, denn gleichzeitig blieb ich ja der Bühne meines Auftretens treu!

Noch war die Halle menschenleer, doch vor meinem geistigen Auge sah ich sie bereits angefüllt mit maskierten Gestalten, wie es am Abend der Gala zweifelsohne der Fall sein würde. Der traditionelle venezianische Karneval wurde zwar seit Napoleonischem Erlass nicht länger in seiner tagelang ausschweifenden Form begangen, die Menschen strömten jedoch noch immer von überall herbei, wenn ihnen die Aussicht auf einen Mummenschanz wie diesen lockte. In diesem bunten Trubel würden sich in jener Ballnacht sowohl meine Person, als auch die beiden Menschen finden, denen mein grimmiges Interesse galt. An genau diesem Abend würde ich der Carlotta und ihrem zwielichtigen Liebhaber die Lektion erteilen, dass sie mit meinem Meisterwerk nicht ihre Taschen füllen könnten.

Mein ‚Don Juan' war eins mit mir, und wie mein Gesicht unter einer Maske verborgen war, so sollte diese Musik unter dem Deckmantel meiner Obhut bewahrt sein.

Gerade wollte ich durch die Doppelflügel der Eingangstür nach draußen treten, als ich mitten in der Bewegung innehielt. Meine Hand lag bereits auf dem Türknopf, doch ein dumpfes Geräusch hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Suchend blickte ich mich in der Richtung um, in der ich die Quelle des Geräusches erahnte. Hinter einer Mauernische, von der aus es wohl zu den unter dem Vorführungsraum gelegenen Garderoben ging, sah ich einen umgekippten Korb liegen.

Irgend etwas an der Situation weckte meine Neugier und so trat ich näher. Das Bild, welches sich mir bot, überstieg jede Erwartung.

„Mademoiselle Serafina?"

Ich hatte ja gewusst, dass es möglich wäre, ihr im Theater zu begegnen, durch puren Zufall oder einen Wink des Schicksals, wie auch immer man es nennen mochte. Doch war ich nicht darauf vorbereitet, ihre bewusstlose, an eine Wand gelehnte Gestalt zu erblicken.

Die Eile, mit der es mich zu ihr zog, überraschte mich für einen Augenblick, ebenso wie das Verlangen mich davon zu überzeugen, dass ihrem Zustand keine allzu ernste Ursache zu Grunde lag. Ich kniete neben ihr nieder und streifte den linken Handschuh ab. Ein kurzes Zögern durchfuhr mich, ehe ich wagte, zwei Finger an den Puls ihres Halses zu legen.

Serafina war so schön. Die helle, weiche Haut an meiner zu spüren, nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hatte das quälende Gefühl ein frevelhaftes Unrecht zu begehen, indem ich ihre reglose Anmut berührte, obwohl sie mir deutlich zu verstehen gegeben hatte, ich solle mich von ihr fernhalten. Kurz empfand ich die törichte Angst, sie könnte die Augen aufschlagen. Ihr erschrockener Blick hätte in diesem Moment die Macht gehabt, mich zu vernichten, derart überwältigend war das Schuldgefühl für mein distanzloses Verhalten.

Ich kämpfte meine unsinnigen Gedanken nieder, und bemühte mich mit wissenschaftlicher Kühle fortzufahren. Der Herzschlag, der jungen Frau war schwach, lediglich ein leichtes Flattern. Das Wahrscheinlichste war, dass ein zu eng geschnürtes Korsett die Ursache dieser Ohnmacht darstellte.

Leise seufzend schüttelte ich den Kopf. Ich würde nie verstehen, weshalb die Mode es vorsah, diesen delikaten Körper in solch einen Käfig zu zwängen und diese unnatürliche Enge auch noch mit dem Streben nach Ästhetik zu begründen. War nicht die freie, lebendige Beweglichkeit eines Körpers sein schönster Schmuck?

Nun gut, an Mademoiselles eingeschnürten Zustand konnte ich nichts ändern, doch ich kannte andere Handgriffe, die es der Bewusstlosen leichter machen würden, wieder zu sich zu kommen. Es war besser, sie flach auf den Boden zu legen, damit das Blut leichter zirkulieren und in ihren Kopf zurückkehren konnte.

Ich zog den Handschuh wieder an. Der Gedanke, sie noch einmal auf meiner Haut zu spüren, war in diesem Moment mehr, als die emotionslose Barrikade ertragen hätte, die ich versuchte um mich aufzubauen. Indem ich vorsichtig nach ihren Schultern griff, hatte ich beinahe Angst sie zu zerbrechen.

Ich hatte viele Verwundete, selbst Sterbende in den vergangenen Jahren gesehen. Meine Kenntnisse hinsichtlich verschiedenster Heilmethoden und medizinischer Vorgehensweisen hatten sich, vor allem in den unterversorgten Gebieten Russlands und Indiens, als unentbehrlich erwiesen. Auch wenn ich keine große Verbundenheit zu der von Dekadenz und Ablehnung geprägten Gesellschaft empfand, hatte ich doch nie der Herausforderung widerstehen können, ein Menschenleben dem sichergeglaubten Tod zu entreißen. So hatte ich stets getan, was nötig war, selbst wenn es um das Nähen von Wunden oder gar kleinere Amputationen ging. Während all dieser Vorgänge hatte ich weniger Mitgefühl für meine Patienten verspürt, vielmehr eine wissenschaftliche Nüchternheit, die ganz natürlich in meinem Wesen verankert zu sein schien.

Doch das Gefühl, welches mich in diesem Moment beim Berühren der ohnmächtigen Serafina Ardendo erfasste, glich dem, welches das Erklingen einer zutiefst harmonischen und gleichzeitig aufwühlenden Melodie in mir auslöste. Es schien als wäre ich direkt verbunden mit einer sanften Quelle von Musik.

Angesichts einer solch unerwarteten Überwältigung schloss ich die Augen. Ihr Haar verströmte einen dezenten Rosenduft und das süße Gewicht ihres Körpers in meinen Armen schmerzte mein Herz. Seit damals, seit Christines engelhaften Kuss, hatte ich mich einer Frau gegenüber nicht mehr in einer derartig verwirrenden Aufwallung von Gefühlen befunden.

Tief einatmend gestattete ich mir, in diesem Moment der Fülle meiner Eindrücke zu schwelgen.

Bisher hatte ich mich kaum bewegt, war noch immer in der Bewegung gefangen, Serafina vorsichtig von der Wand auf den Boden zu heben, doch wie von einem Blitz durchzuckt hielt ich plötzlich inne.

Mein Blick traf sich direkt mit dem ihren, als wir gleichzeitig die Augen aufschlugen.

Anfangs schien ihre Wahrnehmung verschwommen, als könne sie sich auf keinen festen Punkt ihrer Umgebung konzentrieren. Dann kehrten ihre Sinne schnell mehr und mehr zurück. In Erschrecken riss sie die Augen weit auf.

Es dauerte kaum eine Sekunde, so hastig entwand Serafina sich meinen Händen und kniete mir schließlich mich wild anfunkelnd gegenüber. Ihre Haltung war angespannt bis in die letzte Faser ihres Körpers. Sie glich einer kampfbereiten Raubkatze, und mein erster Impuls war, besänftigend die Hände zu erheben. Langsam entfernte ich mich ein Stück weit von ihr.

„Wie ich sehe, geht es Ihnen besser, Mademoiselle."

Serafina antwortete nicht, starrte mich nur weiterhin an. Ihr Blick war von so schonungsloser Direktheit, spiegelte eine derartig verwirrende Mischung von Gefühlen wider, dass ich glaubte, für eine Ewigkeit in diesem geheimnisvoll grünen Glanz versinken zu können, ohne jemals auf den Grund zu gelangen.

„Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten sich von mir fern halten, Monsieur." Bezaubert folgte ich dem anmutigen Tanz ihrer sprechenden Finger.

„Dass diese Anweisung auch für eine Situation gilt, in der Sie nicht bei Bewusstsein sind, hatte ich freimütig ausgeschlossen", entgegnete ich in einem ungewohnten Anflug von Humor.

Ihre Hände sanken mit einem schwachen Zittern herab. Gesicht und Lippen waren blass. Sie schien noch einen Moment zu brauchen, ehe sie sich völlig erholt hätte.

„Haben Sie einen Geist gesehen, Serafina, so dass Sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen sind?" Ich erhob mich und versuchte, durch Sarkasmus und das Aufsammeln ihrer Habseligkeiten, meine in Unordnung geratenen Gedanken zu verbergen.

Zusätzlich war es offensichtlich, dass sich die junge Frau unbehaglich fühlte in meiner Gegenwart, und auch wenn ich die ihre genoss, lag mir doch nichts daran sie länger als nötig zu beanspruchen. Ganz sicher hatte die Mademoiselle ihre Pflichten zu erfüllen und ich beabsichtigte nicht, sie in unnötige Schwierigkeiten zu bringen.

Bisher hatte ich ihr den Rücken zugewandt, um den auf dem Boden verschütteten Inhalt des Korbes aufzuheben. In dem Moment, als ich mich erhob, fuhr ich alarmiert herum.

Serafina war direkt hinter mich getreten und hatte mir kurz an die Schulter gefasst.

Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen. Meine finstere Mine musste Serafina erschreckt haben, denn sie zuckte kaum merklich zurück.

Erst langsam begriff ich. Natürlich, sie hatte mich auf sich aufmerksam machen müssen, damit ich sehen konnte, dass sie mit mir sprach. Ich ließ meine Anspannung sinken.

„Was tun Sie eigentlich hier, Monsieur? Spionieren Sie mir nach?"

„Auch wenn ich diese Möglichkeit durchaus in Betracht gezogen habe, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich hatte Geschäftliches zu erledigen." Amüsiert beobachtete ich, wie sie die Stirn kraus legte und die Lippen lakonisch verzog. Sie glaubte mir nicht! Ich war entzückt. Welch ein lebendiges, phantasievolles Wesen.

Sie schnappte nach ihrem Korb. Hätte ich nicht augenblicklich losgelassen, hätte sie vermutlich mit mir darum gerungen. Trotz meines Auftretens und obwohl ihr Vater mein Feind war, schien Serafina Ardendo keine Berührungsängste zu kennen, oder sich - wie manch andere es taten - vor mir zu fürchten. Vielleicht hätte ich zumindest im Ansatz über diesen fehlenden Respekt verstimmt, oder gar zornig sein sollen, doch alles wonach es mich verlangte, war noch mehr Facetten ihrer unergründlichen Persönlichkeit ans Tageslicht zu fördern.

Dazu blieb jedoch in diesem Moment keine Gelegenheit.

Ein dumpfes Türknallen drang unten von der Garderobenebene zu uns herauf. Ein Teil von mir war sofort auf der Hut. Serafina fuhr nervös zusammen und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ihren Wangen schien jede Farbe entwichen zu sein, und ein Schaudern durchfuhr den zierlichen Körper. In mir dämmerte die Vermutung, dass diese Personen, deren langsam näherkommenden Schritte ich nun deutlich vernahm, auch für Mademoiselle Ardendos Ohnmacht verantwortlich gewesen waren. Vielleicht war man ruppig mit ihr umgesprungen, der Gedanke verursachte mir Wut.

Die junge Frau blickte mich an, und etwas in ihren Augen hatte sich von Zorn über meine Anwesenheit zu beinahe besorgter Unruhe gewandelt. Ich verstand nicht.

„Sie müssen gehen, Erik, schnell." Das war ihre einzige Warnung, ehe sie auch schon in Windeseile quer durch die Halle eilte. Kurz bevor sie in einem schmalen Seitengang verschwand, der vermutlich zum Zuschauerraum und ebenso hinter die Bühne führte, wandte sie mir noch einmal den Kopf zu. In den großen Augen lag ein merkwürdiges Funkeln – ein Ausdruck der Angst ganz gewiss, doch weniger vor mir, als ... ja ... als um mich.

Schon war sie verschwunden.

Was dachte ich nur?

Doch ihr Benehmen war höchst rätselhaft und ich konnte mir selbst nicht erklären, weshalb ich ihrer Aufforderung nun ohne Zögern nachkam. Vielleicht war es der sorgenvolle Blick Serafinas, vielleicht meine eigene Vorsicht, die mich unbewusst etwas ahnen ließ. Anstatt jedoch vor der Situation zu flüchten – ein Verhalten, dass den sich nähernden Gestalten eine viel zu große Macht über mich zugemessen hätte, wich ich geräuschlos in den Schatten einer der großen Marmorsäulen zurück, welche die Aufgänge der beiden Haupttreppen zierten.

Hier wartete ich geduldig, bis die Unbekannten in Sichtweite kamen. Noch ehe ich sie erblickte, erkannte ich eine Person an ihrer markanten Stimme, die meine Ohren in gewohnter Weise durch eine ganz besondere Penetranz beleidigte. Ausgerechnet die große Carlotta und ihr Schoßhund Gandin waren es, die nun durch die Halle stolzierten und ebenfalls in Richtung Aufführungssaal verschwanden.

Als ich sicher sein konnte, unbeobachtet zu sein, trat ich mit einem grimmigen Lächeln aus dem Schatten der Säule.

Welch eigentümliche Begegnungen dieser Tag doch mit sich gebracht hatte.

Serafina

Die Turmuhr des Campanile schlug Sieben, und die gelöste Stimmung eines verklingenden Arbeitstages übertrug sich auf das Gemüt eines jeden. Sogar die sonst so strenge Signora Scabrezza zeigte eine nahezu wohlwollende Miene. Allerorts war spürbar, dass die Vorbereitungen für den Galaabend trotz des knapp bemessenen Zeitplanes außergewöhnlich gut voran kamen.

„Es ist doch herrlich, dass du nun nicht mehr gar so lange arbeiten musst, nicht wahr?" Sophia und ich waren gerade damit beschäftigt, die Kostüme auf einem Garderobenständer zusammenzutragen, an denen wir in den nächsten Tagen noch letzte Verfeinerungen vornehmen müssten.

Ich nickte und bemühte mich um ein Lächeln, das leider nur Fassade blieb. Noch immer hing ich in Gedanken an den verwirrenden Geschehnissen des Tages. Es erfüllte mich jedoch mit Erleichterung, dass meine Cousine seit ihrer Verlobung so auf der Wolke ihres Glückes schwebte, dass sie unbeirrt weitersprach.

„Was hältst du davon, heute Abend noch bei Mama und mir vorbeizukommen, nachdem du von deinem Besuch bei Pater Giovanni zurückgekehrt bist? Das Kleid für den Maskenball habe ich zwar fertig, aber ich bin sicher, dass es noch hübscher aussehen wird, wenn ich es dir ganz genau anpassen kann ..."

Sophia lag soviel an diesem einen Ereignis, dass ich trotz meiner Müdigkeit und obwohl ich das Bedürfnis hatte meine durcheinander geratenen Gefühle in Ordnung zu bringen, in ihren Vorschlag einwilligte.

Sie war bereits gegangen, als ich noch ein letztes Mal hinter die Bühne zurückkehrte um zu kontrollieren, dass wir auch nichts von unserer Arbeit hatten liegen lassen, erkannte ich erstaunt, dass die Gesangsproben der besonders eingespannten Darsteller noch immer andauerten. Von der Bühne her vernahm ich den Bariton Signor Merlos, welcher gerade die Champagnerarie aus Mozarts Don Giovanni vortrug.

Neugierig, ob auch Carlotta Giudicelli unter den Verbliebenen war, lugte ich vorsichtig zwischen einem Dekor hindurch, das den Hinterbereich vom Rampenlicht abschirmte.

Das Schicksal wollte es wohl, dass ich in einem ganz besonderen Moment meiner Wissbegierde nachgab. Scheinbar sollte die Diva tatsächlich den nächsten Auftritt haben, denn sie wartete bereits mit ungeduldig verschränkten Armen und trommelnden Fingern am Vorhang mir gegenüber. Der Blick, mit dem sie die Darbietung Signor Merlos bedachte, kündete von Desinteresse, um nicht zu sagen Missfallen.

Schon von weitem sah ich im Dunklen Gandin auftauchen. Mit finsterem Blick näherte er sich der Sängerin. Die formelle Halsbinde seines Fracks hatte er gelockert und die offenen Haare fielen ihm wippend um die Schultern. Mit mahlendem Kiefer und einer Zornesfalte in der Mitte der Stirn bot er einen respekteinflößenden Anblick. Alles in seiner Körperhaltung sprach dafür, dass er aufs Höchste verstimmt war.

Die Carlotta schrak kurz zusammen, als er ihr einen kleinen Umschlag reichte. In dem Moment, als sie das Siegel auf der Rückseite erblickte, stieg Zornesröte in ihre Wangen.

Ich war ganz sicher, dass es sich um eine Nachricht von Erik handelte, welche die Gemüter der beiden so erhitzte, und ohne an jedes Risiko zu denken, wandte ich mich kurzentschlossen ab und huschte in der Dunkelheit hinter Vorhang und Bühnenbild so nahe an Gandin und die Giudicelli heran, bis mich nur noch ein hohes Dekor aus Pappmaschee von ihren Blicken abschirmte.

„... wir müssen wirklich etwas unternehmen, Jean-Pierre! Wie kann er wissen, dass wir ihm am Galaabend eine Falle stellen wollen?"

„Wie kann er annehmen, dass wir das nicht täten? Er scheint uns ganz einfach richtig einzuschätzen, meine Liebe. Erstaunlich ist nur, dass er uns von vorneherein ankündigt, dass unsere Bemühungen ohne Erfolg sein werden."

Mein Herz schlug schneller, als ich trotz Merlos Arie die dumpfen Schritte Gandins auf den Holzplanken vernahm, der die Diva offenbar ein wenig tiefer in die Schatten des Hinterbereiches zog.

Blanker Schrecken ergriff mich. Was, wenn die beiden mich entdeckten? Würde ich noch einmal so glimpflich davon kommen wie heute Mittag? Gandins Worte und sein drohendes Gebaren ließen keinen Zweifel in mir, dass es mir nicht gut ergehen würde ...

Die beiden Verschwörer waren nun unmittelbar in der Nähe meines Versteckes. Sogar ohne den Kopf vorzurecken, konnte ich den Rücken Carlottas erkennen, doch ihr Begleiter entzog sich noch immer meinem Blickfeld. Das war nur gut, denn so würde auch er mich nicht sehen können.

„Mach dir keine Sorgen, mon petit belle", seine Worte klangen beruhigend und ich hörte die Diva leise seufzen. „Überlass mir, was mit diesem Mann geschieht. Ganz egal wie vorsichtig er ist, sobald er sich an jenem Abend dir oder mir nähert, wird er es nicht überleben."

„Bist du verrückt?" Die Stimme der Sängerin schien lauter geworden zu sein, als sie beabsichtigt hatte, denn nach einem schweigsamen Schreckensmoment fuhr sie wesentlich leiser fort: „Bist du verrückt? Es wird in der Oper nur so wimmeln vor Leuten. Wie kannst du in diesem Trubel riskieren, jemanden umzubringen?"

„Niemand wird umgebracht werden ... Dieser Mann ist doch bereits ein Geist, oder nicht?" Ihr Liebhaber hatte seinen selbstüberzeugten Humor noch nicht verloren. „Vertrau mir. Wer könnte bei solch einem feiernden Durcheinander schon ausmachen wessen Dolch auf einmal in seinem Leib steckt, oder wessen Schuss den Schädel des ‚Phantoms' zum Bersten bringt? Gut, es wird sicher Panik ausbrechen, aber wir sind unser Problem danach ein für alle Male los"

Ein kalter Schauer lief mir über die Haut, als ich diesen Mann derart skrupellos über ein solches Verbrechen reden hörte, und gleichzeitig spürte ich die Hitze der Wut, welche sich langsam in meinem Bauch zusammenballte. Ich wusste nicht, was Erik mit Vaters Vergangenheit zu tun hatte und konnte mir keine Vorstellung davon machen, was ‚das Phantom der Oper' wirklich in der Zeit seiner Schreckensherrschaft getan hatte und was Legende war. Doch ich war fest entschlossen zu verhindern, dass diese beiden Personen ihm wirklich etwas derart Abscheuliches antaten. Ich war nicht einfältig, und bildete mir eine, eine gewisse Menschenkenntnis zu besitzen. Deshalb hielt ich die verbreiteten Erzählungen über die Untaten des Operngeistes für das phantasievolle Produkt einer ganzen Generation von Ballettratten.

Mein Eindruck von Erik war ein ganz anderer. Er hatte sich stets höflich verhalten und verstand es, sich mit höchster Eloquenz auszudrücken. Pater Giovanni hatte davon gesprochen, dass er weit gereist war und ohne Zweifel besaß der Mann mit der auffälligen Halbmaske ein überdurchschnittlich großes Maß an Bildung. Wie konnte so jemand wirklich ein Phantom des Schreckens sein? Wie hätte ein Mensch schlechten Charakters derart gefühlvollen Zugang zu Kunst und Musik – oh diese Musik, die mich bis in jeden Winkel meines Daseins erfüllt hatte, als ich ihr lauschen durfte... diese Stimme, die etwas in mir in wohligster Weise zum Erzittern gebracht hatte? Kein Zweifel! Mit der Zeit waren die Erzählungen über ihn mehr und mehr ausgeschmückt worden, bis das entworfene Bild von ihm die Wirklichkeit bei weitem übertraf.

Gandin und Carlotta wollten ihn also töten? Nun gut, das könnten sie schlecht, wenn Erik vor ihren Plänen gewarnt wäre und dem Maskenball folglich fernblieb. Kein Werk der Welt war es schließlich wert, das eigene Leben dafür zu riskieren. Es gab andere Wege, wie ein Komponist seinen Anspruch geltend machen könnte.

Mit Erleichterung erkannte ich, dass Signor Merlo Don Giovannis Arie beendet hatte, und die Carlotta mit einem tiefen Seufzen auf die Bühne marschierte. Auch Gandin würde sicher in einigen Minuten die Nähe meines Versteckes verlassen und ich konnte zur Santa Maria di Piccola aufbrechen. Pater Giovanni würde Erik noch einen Brief von seinem unbekannten Helfer übermitteln, der ihn warnte.

Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Man würde kein ‚Phantom' töten können, denn Phantome hatten die Eigenschaft, sich niemals wirklich sehen zu lassen.

Erik

Direkt am nächsten Morgen, nachdem ich der Carlotta erneut schriftlich übermittelt hatte, dass ich auf eine kompromisslose Erfüllung meiner Wünsche bestand und bereits im Voraus darauf hinwies, jedwede Art von Hinterhalt werde überflüssig sein, erhielt ich unerwarteter Weise Besuch.

Es war noch früh, kaum Sieben Uhr durch, und ich hatte gerade damit begonnen, im größten der ehemaligen Dienstbotenräume eine Kammer herzurichten, in der ich genügend Platz für einige einfache technische und chemische Studien hatte. Vor einiger Zeit war ich auf gewisse Formen von ‚Zaubertricks' gestoßen, die mir sehr nützlich dabei sein würden, am Galaabend des La Fenice einen mir gebührlichen Auftritt zu genießen.

Das Läuten der gusseisernen Türglocke drang über den Innenhof hinweg an mein Ohr. Ich erwartete niemanden und war ebenso wenig gewillt, meine Arbeit durch irgendeine unwichtige Person unterbrechen zu lassen, die sich vermutlich nur in der Adresse geirrt hatte.

Doch wer auch immer vorm Eingang des Palazzo stehen mochte, besaß die Dreistigkeit, auf seinem Einlassgesuch zu beharren. Meine Geduld war aufs äußerste strapaziert, und während ich in einer Aufwallung von Zorn einige Glasfläschchen mit wütender Hand vom Tisch zu Boden fegte, sah ich mich in Gedanken bereits dabei, den Störenfried von meinem Grund und Boden zu verjagen.

Mit kraftvollen Schritten durchmaß ich die Halle und zog die schwere Holztür ruckartig auf.

Was auch immer an Wut in mir gebrodelt hatte, es ebbte ab mit dem Erblicken Pater Scabrezzas, der ungeachtet meines stürmischen Auftretens ein Bild freundlichster Ruhe bot. Mir war sofort klar, dass sein Hiersein einen bedeutsamen Hintergrund haben musste, denn mein Blick fiel auf den kleinen beigefarbenen Umschlag, den er in der rechten Hand trug.

„Guten Morgen, mein Sohn."

„Pater ..." Zu mehr als einem höflichen Nicken sah ich mich trotz meines mittlerweile kühleren Gemütes nicht im Stande. Einen Augenblick schoss mir durch den Kopf, dass ich einen merkwürdigen Eindruck auf den Geistlichen machen musste, denn ich stand noch immer so in der Tür aufgebaut dar, als wolle ich mich mit bloßen Händen gegen einen wahren Sturm von Angreifern verteidigen und nicht bloß einen einfachen Kirchenmann gegenüber sehen.

Hastig besann ich mich auf meine guten Umgangsformen und trat einen Schritt beiseite, um den alten Mann herein zu bitten. Für einen Moment spielte ich sogar mit dem Gedanken, diesem unerwarteten Gast ein Frühstück anzubieten, doch ich wollte meinen guten Willen nicht überstrapazieren und so ließ ich ihn ganz einfach schlicht im oberen Salon Platz nehmen.

„Sie sind wirklich viel herumgekommen, Erik." Staunend wanderte sein Blick zu der rechts vom Fenster gelegenen Wand, die über und über mit Zeichnungen behangen war, die ich während verschiedener architektonischer Studien angefertigt hatte. „Sind diese alle nach den Originalvorbildern entstanden?"

„Das sind sie." Ruhig betrachtete ich mein Gegenüber.

„Ich bin wirklich beeindruckt! Der Felsendom, das Taij Mahal, die Pyramiden ... es ist nur wenigen Menschen vergönnt, diese alle mit eigenen Augen zu sehen." Anerkennend hatte er die Augenbrauen hochgezogen. Doch in seinem Gesicht lag auch etwas Trauriges, beinahe Mitleidvolles. „Und Sie sind immer alleine gereist?"

Ich verspürte einen dumpfen Stich in der Seele, dessen Ursache ich nicht erkannte. Vielleicht war es der Blick des Paters, vielleicht auch der Umstand, dass ich die Wendung fürchtete, welche dieses Gespräch durch seine letzte Frage annehmen könnte. „Ich möchte nicht ungeduldig scheinen, Vater, aber ist dieser Brief die Ursache ihres Besuches?"

„Oh ja!" Ein leises Lachen, gefolgt von einem zerstreuten Kopfschütteln und der weißhaarige Mann reichte mir den Umschlag. „Ihre außergewöhnliche Einrichtung hatte mich wohl ein wenig zu sehr gefangengenommen."

„Sehen Sie sich ruhig um, Vater. Doch wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne jetzt gleich lesen, welche Nachricht mir mein unbekannter Verbündeter dieses Mal durch Sie übermittelt hat." Nachdenklich wendete ich den Umschlag in meinen Händen. Kein äußeres Anzeichen verriet den Absender, genau wie immer...

„Solch eine Einladung werde ich mir nicht entgehen lassen, mein Sohn." Mit einem Blitzen der Begeisterung in den Augen erhob sich der Kirchenmann und trat mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an die Galerie meiner Bilder.

„Sie wirken belustigt, mein Sohn." Erstaunt blickte mich Pater Scabrezza an, nachdem ich den Umschlag geöffnet und die Zeilen überflogen hatte.

Tatsächlich lächelte ich angesichts der besorgten Nachricht. „Mein geheimnisvoller Wohltäter scheint sich wirklich große Sorgen um mich zu machen ... und mich ein wenig zu unterschätzen."

„Tatsächlich?" Mit freundlich interessiertem Gesicht ließ sich mein Gast wieder in den Stuhl mir gegenüber sinken und lud mich mit einer entsprechenden Geste ein, weiter auszuführen.

Meine Redseeligkeit überraschte mich selbst. Dieser Mann verstand sich in der Tat vortrefflich darauf, seinem Gesprächspartner auf eine gutmütige und subtile Art genau die Informationen abzuringen, die er hören wollte. Menschen wie ihm begegnete man nur selten, und ich hatte das Gefühl, ihm ruhigen Gewissens ein Stück weit entgegen kommen zu können.

„Der unbekannte Informant, dessen Namen sie noch immer nicht preisgeben wollen, scheint darum bemüht zu sein, mich vor allen erdenklichen Schwierigkeiten und Gefahren in Schutz zu nehmen. Obwohl ich der Lösung eines gewissen Problems mit zwei ... unangenehmen Zeitgenossen zum Greifen nahe bin, bittet ihr Freund mich, die Hände in den Schoß zu legen und mich keinem Risiko auszusetzen."

„Das klingt doch aber höchst vernünftig in meinen Ohren. Vielleicht sollten sie das als ein Zeichen ansehen, Erik." Er stützte die Ellbogen auf seine Knie und sah mich eindringlich an. „Ich sage Ihnen nun etwas sehr wichtiges mein Sohn, und auch wenn Sie es heute vielleicht noch nicht annehmen sollten, vergessen Sie es nie."

Wenn er meine volle Aufmerksamkeit hatte fesseln wollen, so war er damit erfolgreich. In seiner Stimme lag etwas Verheißungsvolles, Verschwörerisches, als stehe mir der Zugang einer universellen Wichtigkeit bevor. Einen irrationellen Moment lang fühlte ich mich wie ein Adept dessen Mentor ihm ein zutiefst spirituelles Geheimnis anvertraut.

„Sehen sie ... Sie kennen den Menschen nicht, der Ihnen helfen will. Und ich kann Ihnen soviel sagen, dass auch er nicht so viel von Ihnen weiß, wie es scheinen mag. Doch nichtsdestotrotz haftet Ihrer Person etwas an, das eine gewisse Loyalität hervorzurufen vermochte. Ich weiß, dass Sie sich nicht als einen Teil der menschlichen Gesellschaft erachten, und glauben Sie mir, mein Sohn, ich kann es verstehen, nach all dem, was die Welt Ihnen angetan hat."

An dieser Stelle seiner Worte hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Augen, von denen des Paters abzuwenden, und wenn ich diesem Drang widerstand, dann nur weil mein Geist von der schonungslosen Aufrichtigkeit seiner Worte wie betäubt war.

„Nicht alle Menschen sind so schlecht, wie Sie es oft in Ihrer Vergangenheit erfahren mussten." Scabrezza unterbrach sich, um sichtlich bewegt Luft zu holen. „Es wäre von mir viel zu viel verlangt, Ihnen jetzt zu sagen, dass Sie einen Schritt auf die Welt zugehen sollten. Doch um Ihretwillen: halten sie die Augen offen. Versuchen Sie im Blick Ihres Gegenübers nicht nur Hass zu erkennen und Ablehnung. Vielleicht verbirgt sich doch noch irgendwo ein Land, das Sie sich noch nicht erschlossen haben ..."

Serafina

„Principessa, was ist los mit dir?"

Es war das zweite Mal an diesem Donnerstagabend, dass beim Abwasch einer der Keramikteller meinen Händen entglitt und mit einem lauten Knall auf dem Boden zerschellte.

„Es ist nichts." Meine Finger zitterten, als ich von einem schlechten Gewissen geplagt log und Papas besorgten Blick auf mir ruhen spürte. Schnell bückte ich mich, um die Scherben aufzusammeln. Zu dumm, schalt ich mich in Gedanken selbst. Wenn ich heute Abend derart abgelenkt und ungeschickt war, dann lag dies allein an der Entscheidung, die ich vor genau zwei Stunden leichtsinnigerweise getroffen hatte. Ich sollte mich also in Acht nehmen und es nicht an unserem Geschirr auslassen.

Papa war wenig überzeugt von meiner Versicherung, das konnte ich seinem Gesicht deutlich ablesen. Dennoch schwieg er vorerst und versank statt dessen in ein dumpfes Brüten, aus dem er nur kurz aufschreckte, um mir zu zu nicken als ich mich zum Lesen ins Wohnzimmer zurückziehen wollte.

Mit eiligen Schritten durchquerte ich den Flur. Die Zimmertür schloss sich hinter mir, und ich blieb einen Moment mit dem Rücken an sie gelehnt stehen. Mein Herz klopft noch immer ganz wild, denn ich fürchtete den törichten Gedanken, dass mein Vater irgendwie heraus bekommen könnte, welch einen Verrat ich an ihm begangen hatte. Was hatte ich nur getan, nein, was war ich nur im Begriff zu tun?

Unendlich müde ließ ich mich auf der Recamiere nieder und legte einen Arm über die Augen.

Ich werde auf dem Maskenball anwesend sein, und Sie auch. Anbei befindet sich Ihre Eintrittskarte. Wenn Sie erscheinen, werte ich dies als einen Beweis Ihrer Vertrauenswürdigkeit, bleiben Sie der Veranstaltung fern, muss ich davon ausgehen, dass Sie trotz Ihrer offenkundigen Besorgnis um mein Wohl möglicherweise etwas Gegenteiliges im Schilde führen. In diesem letzten Fall, sähe ich mich gezwungen, anderweitig auszuschließen, dass Sie ihr Wissen über meine Person gegen mich verwenden könnten...

Eriks Zeilen hatten eine regelrechte Erpressung dargestellt. Auch Pater Giovanni hatte angesichts des Briefes schwermütig geseufzt und erklärt, dass Eriks Misstrauen einfach zu groß war, um mit solch einer Ungewissheit anders umgehen zu können. Würde er nicht die Identität des Unbekannten erfahren, ginge er mit Sicherheit jedem Hinweis nach, um an die gewünschte Information zu gelangen.

Hin und her gerissen, von der Angst enttarnt zu werden, dem Wunsch Eriks Vertrauen zu gewinnen und der Ungewissheit, was mit ihm geschehen könnte, da er offenbar trotz der gegen ihn geschmiedeten Pläne auf den Ball gehen würde, hatte ich mich schriftlich bereit erklärt am Galaabend anwesend zu sein. Jedoch nur unter einer Bedingung, von der ich hoffte, er könne sie nicht erfüllen: Ich würde mich ihm in keiner Weise zu erkennen geben. Wenn er von Auge zu Auge mit dem Unbekannten reden wollte, musste er herausfinden, wer dies ist und auf ihn zugehen.

Zweifellos war meine Zusage leichtsinnig gewesen, doch auch jetzt noch versuchte ich mich selbst zu beruhigen, indem ich mich daran erinnerte, dass ich maskiert sein würde, dass Erik nicht einmal wusste, ob sein Informant männlich oder weiblich war und dass somit selbst ein zufälliges aneinander Vorbeigehen vermutlich völlig harmlos verlaufen würde. Und sogar wenn er erkannte, wer sich unter meinem Kostüm verbarg, hatte ich als Sophias Begleitung nicht jedes Recht auf jener Veranstaltung zu sein?

Ich hoffte nur, dass die Aussicht, den geheimnisvollen Absender der Briefe zu treffen, ausreichte, um Erik von der Integrität meiner Absichten zu überzeugen.

„Serafina?"

Erschrocken fuhr ich auf. Müde wie ich war, musste ich einen Augenblick lang beinahe eingenickt sein, denn Papa war zu mir in den Raum getreten und stand nun mit hinter dem Rücken verschränkten Armen am Fenster. Er blickte hinaus, während er mit mir sprach.

„Du weißt, dass ich in Schwierigkeiten bin, Principessa, und du kennst auch den Mann, der dafür verantwortlich ist."

Ich konnte es nicht ausstehen, wenn er so etwas tat. Es kam nur höchst selten dazu, dass er sich beim Reden so von mir abwandte, dass ich keine Chance hatte, ihn zu unterbrechen und er nicht sah, ob ich gegen das Gesagte Einwand erhob. Allerdings konnte dieses Verhalten manchmal auch bedeuten, dass es ihm schwer fiel, etwas auszusprechen, und aus dem rauen Klang seiner Stimme schloss ich besorgt auf diese zweite Möglichkeit.

„Wann habe ich dir eigentlich das letzte Mal von deinem Onkel Stefano erzählt?" Diese Frage hatte er vielmehr an sich selbst gerichtet, denn er beantwortete sie mit traurig geschütteltem Kopf. „Das muss Jahre her sein. Sicher bin ich ihm kein guter Bruder, denn ich muss gestehen, dass sein Verlust mich zwar schmerzt, ich ihm aber nicht nachtrauere, wie es ein anständiger Mann tun würde."

Ich faltete die Hände im Schoß und während die Abendsonne rote und goldene Muster auf den Boden zu meinen Füßen warf, bildete sich eine beklemmende Enge in meinem Hals. Momente, in denen Vater mit derart gerührter Aufrichtigkeit sprach waren kostbar. Zu kostbar, als dass ich seine Worte durch irgendetwas zum Stillstand bringen wollte.

„Wir waren noch Kinder, hatten keine Ahnung von der Welt. Alles was wir wussten war, dass ein Leben in Vaters Buchbinderei nicht den Abenteuern entsprach, nach denen es uns verlangte. Und so taten wir das, was wir für richtig hielten, um dieser Enge zu entkommen." Einen Moment hielt er inne, und ich sah, wie sich seine Schultern in einem melancholischen Seufzer hoben und senkten. „Zwei Tage bevor sich Stefano mit Francesca Montellino verloben sollte, packten wir nachts unser Bündel und verschwanden aus der Stadt. Stefano war schon immer ein humorvoller und offener Mensch gewesen, und so fiel es uns nicht schwer, im Gegenzug für kleinere Hilfsarbeiten Unterkunft und Verpflegung zu bekommen."

Abermals unterbrach Papa sich, tief versunken in Erinnerungen, die ihn leise auflachen ließen.

Wenn ich an das kleine Portrait meines Onkels dachte, das neben dem von Mama und meinen Großeltern auf dem kleinen Tischchen neben Vaters Sekretär stand, konnte ich ihn mir ganz deutlich vorstellen. Es musste damals kurz vor der Zeit entstanden sein, als die beiden Jungen von Zuhause fortgelaufen waren. Fröhliche braune Augen, die dem Betrachter schalkhaft zublitzten, ein spöttisches Grinsen um den Mund, all das schien zu einem Menschen zu gehören, der nicht geschaffen war für die Sesshaftigkeit. Und auch wenn Papa schon immer von ruhigerer, bedächtigerer Natur gewesen war, hatte er seinen großen Bruder doch genügend bewundert, um selbst im Alter von dreizehn Jahren mit ihm fort in eine abenteuerversprechende Welt zu laufen.

„Wir waren schon lange unterwegs, beinahe zwei Jahre, und sehr weit herumgekommen, als wir bei Überquerung der Alpen auf eine kleine Gruppe Zigeuner stießen. Selten waren wir freundlicher angenommen worden, und da wir ohnehin nie ein festes Ziel vor Augen hatten, schlossen wir uns ihnen an. Unweit der deutschen Grenze trafen weitere Angehörige des fahrenden Volkes zu uns, und ehe Stefano oder ich es merkten, hatten wir einen festen Platz in dieser Gemeinschaft. Mein Bruder lernte schnell und beherrschte bald die beeindruckendsten Taschenspielerkunststücke. Einmal nahm er einem jungen Soldaten den ganzen Monatssold ab, weil der glaubte hinter den Kartentrick zu kommen, wenn er ihm nur lange genug ansehen würde. Ach Serafina! Was war das für eine schöne Zeit! Ich hatte vorher nie gewusst, was Freiheit wirklich bedeutet, und auch wenn ich mein Leben, so wie ich es heute führe, um nichts in der Welt eintauschen möchte, so fühle ich noch immer bisweilen ein Verlangen nach der grenzenlosen Weite von Möglichkeiten, die wir damals hatten..."

Endlich drehte er sich herum, um mich anzusehen und dabei zeichnete sich auf seinem Gesicht ein solch jungenhaftes Grinsen ab, wie ich es noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte. Noch immer leise lachend schüttelte er den Kopf, ließ sich in den Ohrensessel fallen, der zwischen Fenster und Bücherregal stand und streckte die Beine weit von sich. Mit einem unvermittelten Seufzen faltete er schließlich die Hände.

Ich war gerade im Begriff eine Frage zu stellen, als ich erkannte, dass sich etwas in seinem Gesicht veränderte. Der Blick verlor sich im Unsichtbaren seiner Erinnerung, und diese schien ihn nun mit Traurigkeit und Schmerz zu erfüllen. „Stefano heiratete Leanah im September des vierten Jahres unserer Wanderschaft. Ihr Vater war das, was man wohl als unser Clanoberhaupt bezeichnen würde und unser Ansehen in der Gemeinschaft wuchs schlagartig an. Während es mir eher unangenehm war, schien Stefano mit jeder Respektsbekundung, mit jeder neu dazukommenden Autorität zufriedener zu werden. Er kümmerte sich fürsorglich um die Hilfsbedürftigen und schlichtete mit Humor und Verständnis Streit, wo immer er aufkam. Da ich sein Bruder war, behandelte man mich mit ähnlicher Achtung wie ihn, auch wenn mein Beitrag zur Gemeinschaft, den ich hauptsächlich durch meine Portraitzeichnungen und die Versorgung der Pferde leistete, wesentlich geringer war. Für meinen kleinen Neffen, der ein Jahr später zur Welt kam, war ich beinahe wie ein großer Bruder, da Stefano, Leanah und ich immer ein sehr enges Verhältnis zueinander hatten..."

Ich saß da und wagte mich keinen Zentimeter zu bewegen. Vater kämpfte in diesem Moment mit den Tränen, ich konnte es an seiner heiseren Stimme hören, in seinen feucht werdenden Augen ablesen. Immer hatte er abgelehnt über diese Zeit zu sprechen und seine schonungslose Offenheit machte mir Angst. Ich ahnte, dass ich mehr erfahren würde, als ich vielleicht verkraften könnte.

„Carlo war noch nicht einmal zwei Jahre alt, als eine heftige Fieberepidemie viele aus unserer Gruppe befiel. Die Medizinfrauen konnten die tödliche Krankheit nicht stoppen, und gerade für die kleinen Kinder gab es keine Hoffnung auf ein Überleben. Seine Mutter folgte ihm nur eine Woche später." Vater schloss die Augen, war einen Moment lang zu sehr von seinen Gefühlen überwältigt, als dass er weitersprechen konnte. „Die folgenden zwei Jahre machten Stefano und mich zu anderen Menschen. Während ich mehr und mehr eine ernstere Natur bekam, zum ersten mal seit langem mit dem Gedanken spielte, nach Venedig, zu Mutter und Vater zurückzukehren, wuchs in meinem früher so lebensfrohen Bruder eine bedrohliche Mischung aus Verbitterung, Jähzorn und die Flucht zum Alkohol heran. Er konnte den Tod seiner Familie nicht ertragen und auch wenn er seine Wut oft an mir ausließ, hatte ich das Gefühl dazu verpflichtet zu sein, bei ihm zu bleiben."

Papas hilfloses Seufzen trieb mir Tränen in die Augen. Es war nicht länger verwunderlich, dass er nie über diese Zeit sprechen wollte. Selbst die Erinnerung daran schien beinahe unerträglich zu sein. Doch warum quälte er sich nun damit? Aus welchem Grund legte er all die schmerzhaften Erfahrungen seiner Vergangenheit offen vor mir?

Um Fassung ringend räusperte er sich, ehe seine Schilderung fortfuhr: „Doch das wahre Unglück stand uns damals noch bevor... wir verließen Deutschland und zogen in Richtung Frankreich. Wir schlugen unweit von Rouen unser Lager auf, mitten im Wald. Es war bereits Nacht, und kein anständiger Bürger trieb sich um diese Zeit noch herum. Und plötzlich erschien jemand wie aus dem Nichts, plötzlich stand er vor uns, Erik. Serafina, einen schrecklicheren Anblick hatten wir nie gesehen, es war ganz und gar grotesk. Eine Gesichtshälfte war wie die eines ganz gewöhnlichen Menschen, doch die andere..." Ein Schaudern durchlief ihn.

Ich wollte nichts mehr hören. Ein Gefühl von Übelkeit hatte mich erfasst. Natürlich war von diesem einen Erik die Rede, kein Zweifel. Nun war die Beantwortung meiner Fragen zum Greifen nahe. Ich würde erfahren, weshalb Vater und er einander derart hassten. Doch ich wollte es nicht! Ich ahnte, dass es so vieles ändern würde, ich ahnte, dass mit dieser Enthüllung nichts als Unheil herauf beschworen würde. Und trotz all meines Sträubens, war ich wie versteinert, unfähig meinen Vater zu unterbrechen.

„... dünne Haut, die Adern und Knochen durchscheinen lässt, eine tief eingesunkene Augenhöhle, wie bei einem Totenschädel. Er bot einen Anblick, den man nicht ertragen konnte, ohne dem Himmel zu danken, dass das eigene Gesicht nicht solch ein dämonisch verzerrtes Abbild eines Monsters war. Nur Stefano war mutig genug, sich ihm zu nähern. Er musste sofort erkennen, welches Potential in diesem Jungen steckt. Dieses kleine Monster wurde die Attraktion unserer Schaustellergemeinschaft. Die Leute kamen von weit her, um dafür zu bezahlen die Absurdität seines erschreckenden Anblicks mit wohligen Schauern des Grauens ertragen zu können. Vermutlich hätten wir damals allein von seinen Einnahmen die ganze Sippe ernähren können. Doch er forderte mehr und mehr Privilegien, was Stefano zum Schluss beinahe täglich an den Rand der Raserei trieb."

Stumm weinend vergrub ich mein Gesicht in den Händen.

Papas Stimme bestand nur noch aus einem traurigen Kratzen. „Wir waren in Paris, und eines Nachts, nachdem ich noch die Pferde versorgt hatte und in Stefanos und mein Zelt trat, lag mein Bruder blutüberströmt auf dem Boden. Mit einem Messer hatte man ihn übel zugerichtet, so dass er keine Möglichkeit gehabt hatte, auch nur um Hilfe zu schreien. Ich schlug eine Hand vor den Mund, daran erinnere ich mich noch genau. Plötzlich stürzte eine kindliche Gestalt an mir vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Ich hatte Erik deutlich erkannt, und auch das Blut an seinen Händen. Und obwohl ich sofort die Gendarmerie auf seine Fersen hetzte, die das ganze Gebiet auf den Kopf stellte, hat man ihn nie gefunden." Er schluckte. „Ich kehrte bald darauf in meine Geburtsstadt zurück und noch an dem Abend, an dem ich plötzlich vor der Tür deiner Großmutter stand, übernahm ich die Verantwortung für unser Geschäft, denn mein Vater war gestorben. In der selben Nacht, in dem sein Sohn Stefano von diesem Monster ermordet wurde, hatte unser Papa einen tödlichen Herzanfall gehabt..." Er unterbrach sich, den Kampf um seine Stimme endgültig verlierend.

Ich konnte weder mein Gesicht heben, noch das Zittern unterdrücken, welches mich erfasst hatte. Ein Teil von mir wehrte sich beharrlich dagegen, das eben Gehörte vollkommen an mich heran zu lassen.

Unvermittelt ergriff Papa sanft meine Hände und ich sah ihn mit Tränen in den Augen vor mir knien. Ich wandte den Kopf zur Seite, konnte seinem traurig flehenden Blick nicht begegnen.

„Principessa", murmelte er besorgt. „Ich hätte dir das alles nicht erzählt, wenn ich nicht hoffen würde, dich damit warnen zu können. Du warst so anders in den letzten Tagen, und seit der Nacht in der ich euch zusammen sah, habe ich Angst du könntest aus Neugier nicht vorsichtig genug vor diesem Mann sein. Du musst dich von ihm fern halten."

Meine Gedanken waren wie betäubt, alles, was ich spürte war ein diffuses Gefühlswirrwarr von Angst, Mitleid und Traurigkeit. Es gab Momente im Leben, von denen ich schon während sie stattfanden wusste, dass sie sich für immer in meine Erinnerungen eingruben. Dieses war einer von ihnen. Weder hatte ich Papa je zuvor derart bewegt und verzweifelt hilflos erlebt, noch hatte ich mich selbst je zuvor wie eine solch unvergleichliche Verräterin meiner Familie gegenüber gefühlt.

Vater war noch immer zutiefst bemüht, um meiner eigenen Sicherheit willen, seine Ängste mit mir zu teilen. „Erik war schon damals furchtbar gierig und schreckte vor nichts zurück, um sich selbst zu bereichern. Er weiß vieles über Stefano und mich, auf das wir wirklich nicht stolz sein können. Wenn alles über unsere Vergangenheit ans Tageslicht kommt, könnte es mich noch heute ruinieren! Würden die Kunden denn immer noch von weither in unser Geschäft kommen, wenn sie ahnten, dass ihre Zeichnungen und Bücher von jemanden stammen, der lange Zeit seines Lebens als Zigeuner umher gezogen ist? Nein! Es ist besser, wenn niemand weiß, was damals geschah. Erik wird aus unserem Leben verschwinden, sobald er mich zu seiner Zufriedenheit hat ausbluten lassen. Bis dahin flehe ich dich an, sei vorsichtig und hüte dich vor ihm, Principessa."