Kapitel 4
Erik
Es war am Sonntag, genau einen Tag bevor der Galaabend stattfinden sollte, als ich, trotz meines Widerstrebens gegen die sich durch die Gassen walzende Menschenmasse, um kurz nach Fünf Uhr den Palazzo verließ und den Weg in Richtung Basilika di Santa Maria Piccola einschlug.
Ich war aufs Höchste verstimmt, denn obwohl ich meinem werten Monsieur Unbekannt noch am Donnerstagabend eine Nachricht übermittelt hatte, in der ich auf Einzelheiten hinsichtlich unseres Zusammentreffens einging, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt keine Antwort erhalten.
Mit festen Schritten den Strom der Fußgänger teilend versuchte ich die in mir brodelnde Wut ein stückweit abzukühlen. Scheinbar hatte sich mein Verdacht als richtig erwiesen. Dass dieser Informant nicht dazu bereit war, sich mir zu erkennen zu geben, nahm ich als ein deutliches Zeichen für seine nicht vorhandene Vertrauenswürdigkeit. Sollte er keine Hintergedanken gegen mich hegen, wäre es kein Risiko für ihn gewesen, unmaskiert auf dem Galaabend eine kurze Unterredung mit mir zu führen.
Ein erneutes Gespräch mit Pater Scabrezza war unumgänglich. Der Zeitpunkt war gekommen, um einige Details über die fragwürdige Person in Erfahrung zu bringen, die ein derart zwielichtiges Bild bot, und der alte Mann war meine einzig mögliche Informationsquelle. Angesichts der Tatsache, dass er bisher sowohl mir, als auch dem Unbekannten Loyalität entgegengebracht hatte, fiel mir das Vorhaben ihm dennoch einige Auskünfte abzuringen nicht leicht. Ich tat es nur zu meiner eigenen Sicherheit, denn am morgigen Abend konnte ich keinen unliebsamen Zwischenfall riskieren.
Die schwere Holztür gab meinem Öffnen mit lautem Knarren nach und fiel hinter mir geräuschvoll wieder ins schloss. Ich atmete kurz auf, angesichts der angenehmen Kühle im Inneren des steinernen Gemäuers. Aus dem Kirchenraum heraus erklang ein übermütiges Lachen und das Geräusch schneller Schritte eines laufenden Kindes.
Mit einem kurzen Zögern trat ich weiter ein, durchquerte die zweite Holztür, welche offen stand und das Foyer vom Schiff trennte. Tatsächlich, als ich hinein ging konnte ich nur noch aus den Augenwinkeln eine kleines Gestalt auf mich zu huschen sehen und instinktiv einen Schritt zur Seite weichen, damit der kleine Junge – etwa vier Jahre alt, glatte schwarze Haare, in einen dunkelblauen Matrosenanzug gekleidet – nicht in seiner übermütigen Jagd nach einer vorbei huschenden Maus gegen meine Beine lief.
Als die erschrockenen Kinderaugen mir und vor allem meiner Maske gewahr wurden, vergaß der Kleine darauf zu achten, wohin ihn seine tapsigen Schritte trugen, und ehe ich noch eingreifen konnte, war er schon mit einer der massiven Holzbänke zusammengestoßen. Mit einem kurzen schrillen Aufschrei taumelte er ein Stück in die entgegengesetzte Richtung, ehe er rücklings auf dem Boden landete und in Tränen ausbrach.
Neben dem Kind in die Knie gehend, ignorierte ich seinen Schrecken, um mich zu vergewissern, dass er nicht ernsthaft verletzt war.
„Hast du dir sehr weh getan?"
Er schluckte, hielt sein eben noch lautes Weinen zurück und nickte vorsichtig. Die Angst in den großen Augen war langsam einem Ausdruck von Neugier gewichen, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Es wäre bedauerlich, den Kleinen noch mehr zu verstören...
„Bestia!"
Fantastisch!, schoss es mir voller Zynismus durch den Kopf.
Der Ausruf seiner Mutter, die entsetzt funkelnden Auges vom Beichtstuhl herbeistürmte, ließ das Kind abermals verängstigt aufweinen. Panik stand der schwarzgekleideten jungen Frau ins Gesicht geschrieben, während sie den Blick nicht von ihrem Sohn und mir abwandte.
„Lassen Sie ihre Hände von meinem Jungen!", keifte sie vor Zorn.
Ruhig erhob ich mich und taxierte sie.
Mit einem rabiaten Zug hatte sie den Kleinen auf die Beine gerissen und von mir fortgezogen.
„Signora Debeni, ich bitte Sie!" Erst jetzt bemerke ich Pater Scabrezza, der dieser Furie auf dem Fuß folgte und sichtlich betroffen war, angesichts ihres respektlosen Ausbruchs. „ Der Herr wollte Antonio doch nur helfen."
Ich schwieg angesichts des erbosten Blickes der Frau, deren Verachtung ich lediglich durch eine deutliche Zurschaustellung meiner Gleichgültigkeit und Kühle begegnen konnte.
„Helfen!" Sie spuckte mir das Wort förmlich entgegen. „Sie sind kein anständiger Mann, Signor! Der würde sein Gesicht nicht in der Öffentlichkeit unter einer albernen Maske verbergen."
Ihr abfälliger Blick ließ eine altvertraute Wut in mir aufsteigen und es kostete mich ein großes Maß an Beherrschung, ihr nicht naturgemäß nachzugeben. Ruhig, ermahnte ich mich selbst, und bemühte mich, die Angespanntheit meiner sämtlichen Muskeln zu ignorieren.
Nun wandte sich die Frau an Pater Scabrezza, während ihr Kind sich an ihre Röcke klammerte. Inzwischen war es so verwirrt, dass es sogar vergaß zu weinen und nur noch mit großen Augen von einem zum anderen von uns blickte.
„Verzeihen Sie, Pater, doch ich bezweifle, dass ein Haus Gottes der richtige Ort für eine derartige Gestalt ist!"
Ich ballte die Fäuste, um meine Hände nicht gegen sie zu richten.
„Dio mio! Er schaut wie der Teufel persönlich." Sie schnappte ihren Sohn, und während sie den kleinen Kopf beschützend an ihre Brust presste, wich sie zurück. „Seien Sie vorsichtig, Pater", warnte sie noch, ehe sie hastigen Schrittes die Kirche verließ. Natürlich nicht ohne noch einmal einen misstrauischen Blick über die Schulter zu werfen, beinahe als befürchtete sie, dass ich ihr folgen könnte.
Daran, wie verbissen meine Kiefer aufeinander mahlten, wurde mir bewusst wie stark mein Zorn mittlerweile angewachsen war. Lächerlich! Welch eine Anmaßung! Diese unwürdige Person hatte sich mehr herausgenommen, als ich für gewöhnlich zuließ. Und da mich die Anwesenheit ihres Jungen und Pater Scabrezzas zurückgehalten hatte, das volle Ausmaß meiner Autorität auszuschöpfen, brodelte die Wut nun im mir, wie Lava in einem verschlossenen Vulkan.
Es war besser zu gehen, ehe sich mein Zorn ungerechtfertigter Weise auf jemand anderes entlud. Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich zur Tür.
„Warten Sie, Erik." Scabrezza eilte an mir vorbei und versperrte den Weg so, dass ich stehen bleiben musste. Sein Gesicht zeigte aufrichtiges Bedauern. Traurig schüttelte er den Kopf. „Signora Debenis Reaktion war nicht angemessen. Sie ist eine impulsive Person, und sicherlich hätte sie Sie nicht derart angegriffen, wenn sie ihre Worte ein wenig bedacht hätte."
Was ganz ohne Zweifel eine gut gemeinte Entschuldigung hätte sein sollen, ließ meine Wut nur noch mehr kochen. Natürlich, wie konnte man auch einer Mutter Vorwürfe machen, nur weil sie ihr Kind vor einem Monster in Schutz nahm?
Meine Stimme war eine eisige Warnung. „Hüten Sie Ihre Herde, Pater. Sonst kann es leicht passieren, dass einige Schafe unterwegs verloren gehen und nie wieder auftauchen."
Seinen erschrockenen Blick ignorierend schob ich mich an dem alten Mann vorbei. Nur zu deutlich war ich mir des Funkens von Angst bewusst, der in seinen ansonsten so ruhigen Augen glühte. Meine Worte hatten letzten Endes doch den falschen getroffen, selbst wenn sie bei weitem nicht so drohend und gewaltig waren, wie das, was mir eigentlich auf der Zunge brannte.
„Erik ..." Seiner Stimme haftete etwas an, das mich beinahe anflehte, nicht im Unguten dieses Gebäude zu verlassen.
Ich wollte aus der Tür treten, in meine Wohnung zurückkehren und über meinen Racheplänen an Carlotta und Gandin diese Begegnung vergessen. Welche Rolle der unbekannte Informant innehatte, schien jede Bedeutung eingebüßt zu haben. Ich wollte keinen Menschen sehen oder hören. Ich wollte nur meine Ruhe.
Und dennoch ließ mich etwas innehalten und herumdrehen. Noch immer stand der Pater hilflos da und sah mich mit bemitleidenswert besorgtem Blick an. Dachte er wirklich, ich könnte dieser Frau etwas antun? Fürchtete er sich vor mir?
In meinem Magen zog sich ein unangenehm harter Knoten zusammen. Ich war es gewöhnt, furchtsam oder befremdet beäugt zu werden. Oft war mir diese Angst mehr als willkommen gewesen, denn sie mehrte den Respekt vor mir und hielt lästige Zeitgenossen davon ab, meine Nerven zu strapazieren. Doch dieser Mann war jemand, von dem ich es nicht ertragen konnte, gefürchtet zu werden.
Erstaunt erkannte ich, dass es mich tatsächlich kümmerte, was dieser alte Pater über mich dachte - ein Gefühl, dass ich beinahe vergessen zu haben glaubte.
In mir stieg der Drang auf, etwas zu tun, das mir jahrelang nicht mehr in den Sinn gekommen war. Ich kehrte langsam um und blieb schließlich vor Scabrezza stehen, dessen Augen begonnen hatten sich vor Verwunderung zu weiten.
„Ich ..." Das tiefe Durchatmen klang seltsam fremd in den eigenen Ohren. „Ich bitte Sie um Verzeihung, Pater. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich werde nicht der Wolf sein, der Ihre Herde dezimiert."
Der alte Mann ergriff unvermittelt meine Hand und klopfte sie zutiefst gerührt. Es wirkte als sei er den Tränen nahe. „Es ist schon gut, mein Sohn., lassen Sie uns nicht mehr davon reden. Kommen Sie ..." Lächelnd hatte er sich bereits wieder aus der kurzen Geste gelöst und forderte mich mit einem Wink auf, ihm zu folgen. „Ich hoffe doch, dass Sie die Zeit haben, einen Schluck Wein mit mir zu trinken."
So fand ich mich schließlich in der kleinen, behaglich eingerichteten Küche wieder, die zur Kirchenwohnung im Hinterhof gehörte. Sein Heim war unerwartet üppig angefüllt mit verschiedensten Ikonen, Büchern – Shakespeare und Goethe, Descartes aber auch Kant und sogar Feuerbach waren darunter -, die sich allerorts stapelten und Bildern an den Wänden, unter denen ich voller Erstaunen die Signatur Ardendos entdeckte.
Bald hatte Pater Scabrezza zwei Gläser Rotwein eingeschenkt und erklärte mir einem Zwinkern. „Mein Bruder besitzt ein Weingut in Bardolino. Jedes Jahr schickt er mir drei große Kisten mit Flaschen. Ich trinke nicht viel, und mittlerweile könnte ich ein eigenes Geschäft eröffnen, in dem ich die Vorräte meines Kellers anbiete."
Ich verzog das Gesicht, als ich einen Schluck probierte.
„Dass er sein Handwerk versteht, habe ich nicht behauptet", lachte der alte Mann. „Es dauert eine Weile, bis man sich an einen derart trockenen Tropfen gewöhnt."
„Vorausgesetzt man strebt es überhaupt an", erwiderte ich mit einem leisen Lächeln und schob das Glas ein Stückchen von mir fort.
Mein Kommentar amüsierte den Pater deutlich, doch schließlich bestand er: „Und nun sagen Sie mir, was Sie heute Abend hier her geführt hat, Erik. Als Sie Donnerstag gingen, hatten Sie doch erwähnt, einige Tage lang zu beschäftigt zu sein, um sich dem Orgelspiel und Ihrem Werk widmen zu können."
„Das ist richtig, Pater. Doch mein Hiersein hat auch einen anderen Grund als die Musik." Nachdenklich griff ich abermals nach dem Weinglas und beobachtete den kreisenden Tanz der bordeaux-farbenen Flüssigkeit, als ich es sanft hin und her schwang. „Auf meinen letzten Brief an Monsieur Sconosciuto habe ich bislang keine Antwort erhalten. Angesichts der Tatsachen, dass dadurch ein morgiges Treffen eventuell in Gefahr gerät und dass ich in Hinsicht auf ein bestimmtes Ereignis kein unliebsamen Überraschungen riskieren kann, bin ich nun äußerst verstimmt. Und ehrlich gesagt zweifle ich mittlerweile zu stark an der Integrität dieser Person, als dass ich Sie, Pater, nicht doch nach ihrer Identität fragen müsste." Die Unterarme auf den Tisch gestützt, lehnte ich mich vor und blickte mein Gegenüber eindringlich an. „Ich muss darauf bestehen, dass Sie mir den Namen nennen, damit ich den unbekannten Informanten aufsuchen kann."
Die Augen des alten Mannes wanderten ins Leere, und obwohl er auch weiterhin sein Lächeln beibehielt, hing eine deutlich spürbare Traurigkeit im Raum. Nach einem kurzen Moment des Schweigens seufzte er und schüttelte dann den Kopf. „Es tut mir sehr Leid, aber das kann ich nicht tun. Ich fürchte, es haben sich inzwischen einige Dinge ereignet, die es dieser gewissen Person unmöglich machen, Ihnen weiterhin zu helfen."
„Ich verstehe. Dann ist es also richtig, dass mein vermeintlicher Wohltäter nun gegen mich ist." Geschüttelt von der Anspannung, die mich erfasste, ballte ich die Fäuste. „Dann muss ich mich fragen, weshalb Sie diesen Menschen dennoch schützen, Pater. Bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass Sie gegen mich sind ..."
„Das bin ich auch nicht, mein Sohn. Es ist keinesfalls so, dass Ihnen Konsequenzen irgendeiner Art daraus drohen, wenn Sie keine weitere Unterstützung von dem Unbekannten erhalten. Er hat mir versichert, Ihnen alle Informationen gegeben zu haben, über die er verfügte. Weder will er Ihnen schaden, noch hegt er Hass gegen Sie. Und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass er Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten wird."
„Mit dem, was Sie gerade sagen, fällt es mir noch schwerer zu verstehen, weshalb er diesen Standpunkt nicht persönlich vertreten kann. Angenommen die Angelegenheit gilt als abgeschlossen für ihn, so kann er doch zumindest einem anonymen Treffen auf dem Maskenball zustimmen. Es würde ihn in keinster Weise beeinflussen."
„Ganz so einfach ist es nicht, befürchte ich." Dem Eindruck nach schien der Pater hin und her gerissen zu sein. Seine Loyalität beiden Parteien gegenüber war bemerkenswert. „Diesem unbekannten Briefschreiber war Ihre Vergangenheit nicht vollends bewusst, Erik. Und nun hat er von einigen Dingen über Sie erfahren, die es seinem Gewissen nicht länger ermöglichen, in Kontakt mit Ihnen zu stehen." Er musste das Misstrauen in meinen Augen lesen, denn sofort ergänzte er: „Ihm war nicht bekannt, was ich weiß, Erik – nicht die Umstände, die Sie als Mann geformt haben. Für diese Person war es eine Erschütterung zu hören, dass durch Ihre Hand Menschen gestorben sind, und mir wurde klar gemacht, dass er keinen weiteren Kontakt zu Ihnen wünscht."
Ernüchterung schwappt über mich, kalt wie Eiswasser. Meine Vergangenheit wurde zu einem Fallstrick, den ich nicht umgehen konnte. Ich wusste, dass mich dieser Mann nicht weiter kümmern sollte, ich wusste, dass es wichtiger war, die Pläne Charlottas und Gandins zu vereiteln. Und dennoch fühlte ich mich von diesem Unbekannten ebenso ungebührlich gerichtet, wie von der überbesorgten Mutter kurz zuvor.
„Sie, Pater, wissen welche Beweggründe mich dazu bewegten zu tun, was ich tat."
Der alte Mann nickte. „Das ist richtig. Und auch wenn ich es weder gutheiße, noch selbst so gehandelt hätte, kann ich es doch nachvollziehen." Er hielt kurz inne und schüttelte mit verständnissuchendem Blick den Kopf. „Doch meinem Bekannten konnte ich keine Erklärung zu Ihrem Verhalten abgeben. Das Beichtgeheimnis verhindert, dass ich darüber spreche, was Sie mir im Vertrauen sagten."
„Dann entbinde ich sie hiermit davon", waren meine impulsiven Worte. „Sagen Sie dem Mann, was immer nötig ist, um an dem Treffen festzuhalten."
Eine Weile erwiderte der Pater nichts, sah mir intensiv in die Augen, als suche er eine Antwort. Dann, ganz langsam, lehnte auch er sich auf den Tisch gestützt vor. Täuschte ich mich, oder erfüllte seinen Ausdruck ein beinahe belustigtes Blitzen?
„Warum ist Ihnen das so wichtig, Erik?"
Ich wollte schon den Mund öffnen, um etwas zu erwidern, doch die Erkenntnis, die mich erfasste, hielt mich davon zurück. Schweigen war die einzige Antwort auf diese Frage, die ich hatte. Es war nur ein Instinkt, dass ein solches Treffen von höchster Bedeutung wäre.
Serafina
Das Buch war unbeachtet in meinen Schoß gesunken, und ich starrte hinaus aus dem Wohnzimmerfenster ins Abendglühen über dem glitzernden Wasser.
In welch einer merkwürdigen Stadt ich doch lebte! Es schien so viele Wege zu geben, wie in einem Labyrinth - Tausende von Gassen, Hinterhöfen, Brücken und gemütlichen Plätzen. Und auch wenn man den Eindruck haben konnte, immer wieder Neues zu entdecken, eine Straße entlang zu kommen, auf der man noch nie gegangen war, blieb die Lagunenstadt doch unweigerlich so klein und überschaubar, dass es unmöglich war jemandem, der sich hier aufhielt, dauerhaft aus dem Weg zu gehen.
Heute hatte ich ihn gesehen, nur von Weitem zwar – und ich war sicher, dass Erik mich nicht einmal bemerkt hatte – aber sofort hatte ein schwindelerregendes Gefühl mich erfasst und mein Herz bis zum Halse schlagen lassen. Ich schämte mich, dass ich keine Angst vor diesem Mann empfand, sondern es mich statt dessen nach Vaters Erzählung noch mehr verlangte, Eriks Verhalten von damals wie heute zu verstehen.
Stimmen aus dem Flur ließen meinen Kopf in Richtung Tür herumfahren. Sicher war es Sophia, die heute Abend noch mein Kleid für den Ball vorbeibringen wollte - den Ball, vor dem es mir mittlerweile nur noch mehr graute.
Ich klappte meine Lektüre zusammen und stellte sie zurück ins Bücherregal. Leise seufzte ich. Morgen würde ich das Kapitel noch einmal lesen müssen, denn heute hatten mich die Worte kaum erreicht, welche meine Augen lediglich gedankenverloren überfliegen konnten.
In dem Moment, als ich Sophia entgegengehen wollte, öffnete sich bereits die Tür zum Wohnzimmer. Zu meiner Überraschung sah ich mich Vater gegenüber, der von Pater Giovanni begleitet wurde, welcher darum bat, einen kurzen Moment allein mit mir reden zu können.
„Langsam gewöhne ich mich daran, dass scheinbar jeder Geheimnisse vor mir zu haben scheint", lachte Papa, doch ich spürte den Anflug von Besorgnis in seinem Blick zu mir, ehe er sich wieder an seinen Freund wandte. „Wenn ihr eure kleine Verschwörung abgesprochen habt, kannst du mir ja bei einem Glas Wein in der Küche Gesellschaft leisten, Giovanni."
„Sehr gerne. Aber nur kurz, Paolo. Ich bin heute Abend ein wenig in Eile."
Nachdem wir unter vier Augen waren, bot ich dem Pater einen Platz an und ließ mich ihm gegenüber nieder.
„Ich nehme an, dass es einen bestimmten Grund für Ihren Besuch gibt", begann ich vorsichtig.
Daran, dass der alte Mann mir in Gebärdensprache antwortete, wurde mir bewusst, wie sehr er darauf bedacht war, dass mein Vater nichts von unserer Unterredung mitbekam. Er hielt sich nicht mit Umschweifungen auf. „Erik war heute Nachmittag bei mir, Serafina. Du hast auf seinen letzten Brief nicht geantwortet, und nun misstraut er seinem unbekannten Helfer. Die Identität dieser Person herauszufinden, ist eines seiner größten Bestreben. Er bat mich darum, noch einmal mit dir über euer Treffen zu sprechen und nichts unversucht zu lassen, um dich doch noch dazu zu überreden. Dieses Zusammentreffen ist Erik sehr wichtig. Zum einen, um sich der Vertrauenswürdigkeit des Unbekannten zu vergewissern und zum anderen aus einem Grund, den er scheinbar selbst noch nicht einmal genau benennen konnte."
Ich wandte den Blick ab, runzelte die Stirn. Bevor ich etwas erwiderte, musste ich ein wenig Ordnung in das Chaos meiner Gedanken bringen.
„Weshalb erzählen Sie mir das alles, Pater? Sie wissen, dass ich diesem Mann unmöglich gegenübertreten kann. Nicht nach all dem, was er meiner Familie angetan hat." Meine Hände zitterten, denn ich fühlte mich zutiefst aufgewühlt. Zum einen weil ich fürchtete Erik könnte tatsächlich erst dann aufhören nach einem Informanten zu suchen, wenn er ihn gefunden hatte, und zum anderen weil ich wütend auf mich selbst war. Wie konnte ich nur wahrhaftig noch immer den Wunsch verspüren, das Gespräch mit diesem Menschen zu suchen?
Beinahe wäre mir Pater Giovannis Antwort auf meine Frage entgangen. „Mein Kind, du musst bedenken, dass du nur eine Perspektive der vergangenen Geschehnisse kennst. Ganz sicher sagt dein Vater die Wahrheit, aber eben von seinem eigenen Standpunkt aus. Erik würde dir vielleicht ganz andere Beweggründe für seine Taten nennen als die, welche du vermutest."
So sehr ich auch die Wirklichkeit seiner Worte erkannte, so sehr sperrte ich mich im Moment noch dagegen, was für Konsequenzen ich aus ihnen ziehen könnte.
„Die Zeit verändert einen Menschen, Serafina. Ich sage ja nicht, dass du auf den Ball gehen und unbedingt das Gespräch mit ihm suchen solltest. Bestehe ruhig weiterhin auf deine Forderung zwar zu erscheinen, dich ihm aber nicht zu Erkennen zu geben. Er wird sich der Aufrichtigkeit deiner Worte wieder sicher sein, und du weißt genau wie ich, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass er dich erkennen könnte."
Mein Blick war starr auf die im Schoß gefalteten Hände gerichtet, deren Finger sich beinahe verzweifelt aneinander klammerten. Ich wusste, dass der Pater Recht hatte, und auch wenn ein Teil von mir sich noch immer in heftigem Widerwillen sträubte, war mir bereits klar, dass ich einlenken würde.
„Sagen Sie ihm, ich werde da sein." Während ich diese Worte ausdrückte, beschlich mich die Ahnung, einen Pakt mit meinem Schicksal zu schließen, dem ich mich unmöglich entziehen konnte.
Erik
Die untergehende Sonne überzog das Bodenmosaik des Markusplatzes mit einem rosé goldenen Schleier und Möwenschreie hallten vom Wasser aus herüber, als der alte Mann sich plötzlich herum drehte, stehen blieb und lächelnd auf mich wartete.
Ich hatte mir nicht länger die Mühe gemacht, ihm unbemerkt zu folgen und so trat ich langsamen Schrittes auf ihn zu.
„Nun wissen Sie es also, Erik."
Ich glaubte beinahe so etwas wie Erleichterung in seiner Stimme zu hören. Er schien keinesfalls beunruhigt zu sein, eine Reaktion, die ich vielmehr erwartet hatte.
„Meinem Eindruck nach haben Sie mich bereits auf dem Hinweg bemerkt, Pater."
Ein leises Lachen war seine Antwort. „Irgendetwas machte es unvermeidbar, dass Sie früher oder später die Wahrheit erfahren. Tatsächlich entdeckte ich Ihren Schatten in der Gasse hinter mir erst nachdem ich Ardendos Haus erreicht hatte. Von da an wäre jeder Ablenkungsversuch wohl überflüssig gewesen."
Da ich dieser Feststellung nichts entgegenzusetzen hatte, schwieg ich.
„Ihr Informant wird morgen auf der Galaveranstaltung zugegen sein, jedoch in der festen Annahme, dass Sie nicht wissen, um wen es sich bei dieser Person handelt. Was werden Sie also mit Ihrer neu gewonnenen Erkenntnis anfangen, mein Sohn?"
Auf diese Frage Scabrezzas hatte ich auch dann noch immer keine Antwort gefunden, als ich mehrere Stunden später die letzten Vorkehrungen für meinen morgigen Auftritt im La Fenice abgeschlossen und mich in die nachtkühle Abgeschiedenheit des mit Zypressen und Orangenbäumen bewachsenen Innenhofes zurückgezogen hatte.
Umgeben von meinen Notenblättern saß ich im Schein einer kleinen Öllampe auf dem puren Gras. Die Luft war noch immer stickig und wahrscheinlich würde es in den nächsten Tagen ein kräftiges Gewitter geben. Doch obwohl in den Räumen meines Palazzo ein kühleres Klima herrschte, genoss ich lieber den Anblick des sternenklaren Himmels und die tröstliche Nähe der lebendigen Erde unter mir.
Wie ein ausgebreiteter Fächer lagen die Aufzeichnungen um mich herum, die ich Blatt für Blatt zur Hand nahm und meine komponierten Klänge nahezu physisch zu hören vermochte.
Im Lauf der nächsten Woche würde aus Mailand die Orgel geliefert werden, welche ich speziell nach den von mir benötigten Maßen hatte anfertigen lassen. Die Aussicht, bald wieder ein solch herrliches Instrument mein Eigen nennen zu können, erfüllte mich mit beinahe berauschter Vorfreude. In Gedanken strich ich bereits sehnsüchtig über die glänzenden Klangpfeifen und liebkoste die schwarzweißen Tasten voll Zärtlichkeit, als wäre es die sanfte Haut einer geliebten Frau...
... einer Frau, die es niemals für einen Mann wie mich geben würde.
Die Hand mit den Noten sank langsam herab, und obgleich mein Blick sich auf den kleinen flackernden Feuerschein der Leuchte richtete, waren meine Überlegungen doch sehr weit von diesem profanen Objekt entfernt.
„Serafina Ardendo..." Also war mein erster Verdacht doch der richtige gewesen. Auch wenn sich die junge Frau alle Mühe gegeben hatte, Distanz zwischen sich und mir zu schaffen, war sie es gewesen, die mich auf die Pläne Carlottas und Gandins aufmerksam gemacht hatte. Offenbar musste ihr Vater ihr erst vor kurzem enthüllt haben, in welch unheilvoller Beziehung wir zueinander standen, und da Serafina mit dieser Kenntnis nicht umzugehen vermochte, hatte auch mein unbekannter Informant seitdem auf meine Briefe hin geschwiegen.
Doch weshalb hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht, mit mir in Kontakt zu treten und war diesem schauderhaft maskierten Fremden nicht von Anfang an aus dem Weg gegangen? Litt sie unter dem unseligen Fluch eine viel zu großen Herzens, dass seinen Besitzer dazu zwang, gegen jede drohende Ungerechtigkeit vorzugehen, auch ungeachtet persönlicher Konsequenzen? Und wenn sie wusste, dass ich für den Tod ihres Onkels verantwortlich war, aus welchem Grund hatte sie dann Pater Scabrezza übermitteln lassen, dass sie – zwar im Glauben nicht von mir erkannt zu werden, aber immerhin unter dem Risiko, dass es mir doch möglicherweise gelänge – auf dem Maskenball des La Fenice erscheinen würde?
So lange ich auch über diese ungewöhnliche junge Frau nachdachte, aus ihrem Verhalten mir gegenüber wurde und wurde ich nicht schlauer.
Morgen, ermahnte ich mich selbst zur Geduld. Nachdem sich mein ‚Triumph des Don Juan' wieder in den Händen seines rechtmäßigen Urhebers befand, würde ich Serafina Ardendo zur Rede stellen. Ich würde ihrem Wunsch nach Unbehelligtheit nicht nachkommen, ehe sie meine Fragen beantwortet hatte.
Bei dem Gedanken ihr am nächsten Abend auf dem Ball gegenüber zu stehen, konnte ich mich eine genussvollen Lächelns nicht erwehren.
Serafina
„Lass es so. Du siehst wunderbar aus." Sophia trat neben mich und rückte die weite Kapuze meines Kostüms zurück, die ich mir gerade noch tiefer ins Gesicht ziehen wollte. „Du hast ja gleich noch deine Maske auf, und wenn dir der Stoff zu tief ins Gesicht hängt wirst du noch stolpern müssen." Mit diesen Worten zupfte sie noch einmal hier und da an meinem Rock, und drehte sich ebenfalls zu Mutters großem Wandspiegel, in dem ich mich schon die ganze Zeit über nachdenklich betrachtete.
„Und, bist du zufrieden mit unseren Gewändern? Eigentlich hatte ich ja das Orangerote für dich gemacht, aber nun bin ich doch froh, dass du etwas Dezenteres wolltest." Kichernd drehte sie sich einmal um die eigene Achse. „Denn ich fühle mich ganz wundervoll als ‚Sonnentag'."
Sophia hatte die Tag-Nacht-Symbolik unserer Verkleidung ganz gewiss gewählt, da Tante Antonella nicht oft genug betonen konnte, wie verschieden meine Cousine und ich doch wären.
„Ich bin überwältigt", formten meine Hände schließlich. „Deine Arbeit ist so unbegreiflich schön geworden." Ich wiegte mich ein wenig in den Hüften, wobei die goldenen Glasschmucksteine auf dem weiten dunkelblauen Satinrock gleich einem Sternenhimmel funkelten. Das Kleid hatte einen schulterfreien Ausschnitt, eingesäumt von goldgefärbter Spitzenborte, weite Flügelärmel und einen schleppenlangen luftigen Umhang mit Kapuze, unter der ich mein hochgestecktes Haar verbarg.
Erik würde mich unmöglich erkennen. In diesem Moment erkannte ich selbst mich ja kaum.
„Warte, ich hole schnell unsere Masken." Sophia, der mit ihren eifrig geröteten Wangen die Aufregung vor diesem besonderen Abend deutlich ins Gesicht geschrieben stand, huschte zur Tür heraus, da ihr Korb noch unten im Hausflur stehen musste. Es kam mir ein wenig seltsam vor, ihre Schritte nicht gleich wieder die Treppe hochkommen zu hören. Als sie endlich wieder den Raum betrat, erstarrte ich innerlich.
Nachdenklich hatte meine Cousine die Stirn gerunzelt. In ihrer rechten Hand hielt sie einen kleinen Briefumschlag, den sie mir schließlich mit fragendem Blick entgegenreichte.
„Das ist für dich, Serafina, von Pater Giovanni." Nachdem ich, erfüllt von einer dumpfen Beunruhigung, das Schreiben entgegen genommen hatte, stellte sie ihren Korb auf mein Bett und begann darin nach unseren Masken zu suchen. „Merkwürdig, dass er ihn nicht selbst abgegeben, sondern unter der Tür hindurch geschoben hat."
Auch wenn auf der Außenseite der Name des Paters als Absender angegeben war, ahnte ich doch zurecht, eine unangenehme Wendung und sah diesen Verdacht bestätigt, als im Inneren des Umschlages ein Brief von einer anderen Person als Vaters Freund zu finden war.
Ängstlich spähte ich zu Sophia, doch meine Cousine schien ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Korbes gerichtet zu haben, während sie nun leise vor sich hin summte. Also wagte ich, einen Blick auf die Zeilen zu werfen, auch wenn meine Finger zitterten, als ich leise das Papier entfaltete.
Tragen Sie eine Rose in der in der linken Hand.
Erik
Welch eine seltsame Anweisung. Wie konnte er annehmen, dass ich ihr nachkommen würde? Hatte ich nicht deutlich klar gemacht, dass ich keinen Schritt unternehmen würde, mich ihm zu Erkennen zu geben?
Mehr beinhaltete das Schreiben nicht und insgeheim atmete ich erleichtert auf. Ich hatte schon befürchtet, dass etwas wesentlich Unangenehmeres mich in Form dieses Schreibens erreichen würde. So würde ich es einfach nur ignorieren.
Die stickige Wärme, die in den letzten Tagen über der Stadt gehangen hatte, wich zuerst einem leicht aufkommenden Wind, dem jedoch genau in dem Moment ein Gewittergrollen folgte, als Sophia und ich das La Fenice erreichten.
Einige verkleidete Gestalten eilten von hier und da dem Eingang entgegen, um noch vor dem Einsetzen des Regens in das Innere des Theaters zu gelangen.
In der großen Empfangshalle herrschte bereits ausgelassenes Treiben. Masken und Kostüme, wohin man auch sah. Da waren Bajazzos, die mit verschleierten Rokokodamen scherzten, Pestdoktoren, die mit ihrem schwarzen Gewand Todesengelgleich die Halle durchwanderten, bunte Comedia del Arte Charaktere, Fantasiegestalten und dunkle raubtierhafte Fratzen.
Ein oder zwei Male zuvor war ich mit Vater in der Oper gewesen, doch damals hatten wir schlicht den Weg zu unseren günstigen Plätzen eingeschlagen, ohne auf die sich amüsierende Hautevolee zu achten. An einem ausgelassenen Galaabend wie heute war an ein derart bescheidendes Auftreten nicht zu denken.
Ich hielt mich eng an Sophias Seite und hoffte, dass man mir mein Unbehagen nicht allzu deutlich anmerkte. Dieser laute und vor Leben vibrierende Ort behagte mir nicht. Ich hatte Angst unterzugehen in diesem Meer aus lärmenden Menschen.
Und noch etwas anderes ließ mir keine Ruhe. Obwohl Sophia mich mit einer goldenen Maske ausgestattet hatte, die das gesamte Gesicht bedeckte, hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden. Hinter welcher Verkleidung mochte sich Erik verbergen? Ich bereute mein Hiersein zutiefst.
„Dort hinten ist Alessandro", rief meine Cousine plötzlich aus, sprang auf die Zehenspitzen und winkte ausgelassen einem jungen Mann im Kostüm eines byzantinischen Kaufmannes zu. Dieser lächelte und bahnte sich einen Weg zu uns, wobei er einigen Ballgästen begrüßend entgegennickte.
Alessandro Alterigia - vierundzwanzig Jahre alt, wasserblaue Augen und ein angenehm zurückhaltendes Auftreten – geleitete uns, nach einer kurzen Führung durch die prachtvoll geschmückten Empfangshallen, zu der Loge seiner Familie, von wo aus wir die Vorstellung beobachten konnten, die in kurzer Zeit beginnen würde.
Nach und nach füllte sich der Raum, als das Publikum seinen Sitzplätzen entgegenströmte. Das Theater bot Platz für etwas mehr als achthundert Gäste und an einem Abend wie diesem, war jeder einzelne ausverkauft. Um so seltsamer kam es mir vor, dass sich in der Loge, die der unsrigen schräg gegenüber lag, offenbar niemand aufhielt. Sie war völlig dunkel und schien auch mit Beginn der Aufführungen nicht benutzt zu werden.
Wäre es mir möglich gewesen zu sprechen, hätte ich mich mit einer diesbezüglichen Frage an Alessandro Alterigia oder seine Eltern gewandt, die mittlerweile ebenfalls bei uns Platz genommen hatten. Doch so widerstrebte es mir, Sophia als Übersetzerin zu bemühen, nur um meine Neugier zu befriedigen.
Und als die Vorstellung begann hatte ich die Loge auch schon vergessen. Laut des ausliegenden Programms sollte die Darbietung Carlotta Giudicellis aus ‚Triumph des Don Juan' von Jean-Pierre Gandin - offiziell – an vierter Stelle stehen. Also hatten sie trotz Eriks Mahnung nicht von diesem Auftritt Abstand genommen. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, dass der wahre Komponist hiervon gar nicht begeistert war.
Signora Briga bot eine wunderschöne Intonation von Mozarts Königin der Nacht dar, und ich hatte den Eindruck, dass sie sich ganz besondere Mühe gab, die Herzen des Publikums zu erobern, ehe ihre schärfste Konkurrentin die Bühne betrat. Ihr folgten Signor Merlo und Signorina Maria Castelli, die das erste Mal vor einer so großen Zuschauerzahl sang, ihre Sache jedoch bemerkenswert gut machte.
Gespannt lehnte ich mich ein wenig vor, als nun endlich die große Carlotta und Signor Vellutato ihren Auftritt hatten und sich bereit machten, das Liebesduett aus ‚Triumph des Don Juan' vorzutragen.
„Das Kleid ist wirklich herrlich geworden, Serafina", flüsterte Sophia mir leise zu. „Schade nur, dass eine so eingebildete Frau wie die Giudicelli sich damit schmücken darf."
„Danke", erwiderte ich lächelnd und bemerkte den ebenfalls belustigten Blick, den Alessandro meiner kleinen Cousine auf ihren spöttischen Kommentar hin zu warf. In Gedanken setzte ich nun also Humor auf die Liste seiner Vorzüge, die ich in Besorgnis um Sophias Zukünftigen begonnen hatte.
Als ich mein Augenmerk wieder auf die Bühne richtete, fiel mir auf, dass die Diva zwar in erhabener Geste den Kopf emporreckte und kokett ihre Hände in die Hüften gestützt hatte, doch ihr Blick einige Male unruhig über die Zuschauerreihen flog. Suchte sie nach Erik? Bereute sie, so starrsinnig auf ihre Darbietung beharrt zu haben?
Das Orchester spielte seinen langsam einsetzenden, verführerisch sirrenden Auftakt, und gerade als La Carlotta zu singen begann:
„Unschuldig ahn' ich nicht,
was er längst weiß ..."
streiften ihre Augen plötzlich die uns gegenüber liegende leere Loge und verharrten dort. Nichts im Gesicht der Diva änderte sich, doch ich hatte das Gefühl, als ginge ihrer Stimme eine gewisses Farbe verloren, die ansonsten den Klang so prägend zierte.
Zaghaft wandte ich den Blick, um ebenfalls in die Richtung zu schauen und herauszufinden, ob dort der Grund für die Änderung im Gesang der Carlotta zu finden sei. Im Inneren des tiefliegenden Balkons war rein gar nichts zu sehen, als absolute Dunkelheit.
Gerade als ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Bühnengeschehen zuwenden wollte, blitzte plötzlich etwas glühend rotes in besagter Loge auf. Ich hatte beinahe den Eindruck, als beobachteten zwei feurig leuchtende Augen den Saal aus einer raubtierhaft zurückgezogenen Distanz.
„Erik!", schoss es mir durch den Kopf. Mein Herz schlug um ein Vielfaches schneller und ich war froh, eine Maske zu tragen, so dass niemand das Flammen meiner Wangen sehen konnte.
Während des ganzen Auftritts der Diva musste ich mich förmlich dazu zwingen, nicht ununterbrochen in die Finsternis zu starren, von wo aus ‚das Phantom der Oper' seine Gegenspielerin im Blick behielt. Und seine Präsenz wirkte sich deutlich auf die Kunst der Sängerin aus, selbst wenn er sich ansonsten passiv verhielt.
Man konnte nicht sagen, das die große Giudicelli schlecht sang, sie traf ihre Töne, doch das hatte auch die junge Maria Castelli getan. Die Darbietung der Diva war mittelmäßig, und obgleich Signor Vellutato sich bemühte, den leidenschaftlichen Worten und ekstatischen Klängen lebendiges Feuer zu verleihen, so blieb dieses Liebesduett doch seltsam stumpf. Und als die beiden die Bühne verließen, das Publikum ihnen einen langanhaltenden Applaus zollte, blieb doch der schale Nachgeschmack, dass man die Möglichkeiten, die hier in Stück und Stimme gegeben waren nicht völlig ausgeschöpft hatte.
Erik
Der letzte Vorhang war gefallen und ein letztes Mal hatten die Künstler – unter ihnen schlechte wie gute, wenn auch keine herausragenden Talente – ihren verdienten Applaus entgegengenommen. Nun strebte alles den Feierlichkeiten entgegen, für die die geräumigen Foyers noch prachtvoller als sonst aufgeputzt worden waren.
Ich verweilte noch einen Augenblick in der Dunkelheit der Loge. Vorsichtig löste ich die Maske von meinem Gesicht und tauschte sie hastig gegen eine andere aus, wobei ich genauestens darauf achtete von Schatten und Dunkelheit verschluckt zu werden, so dass mich niemand sehen konnte.
Noch einmal betrachtete ich das starre, schwarze Holz, um dessen Augenaussparungen herum ich eine fluoreszierende Paste aufgetragen hatte.
„Ausgezeichnet", murmelte ich leise, mit zufriedenem Lächeln. Die Substanz auf Phosphorbasis hatte ihre Zwecke hervorragend erfüllt. Nachdem die Carlotta sich hatte sicher sein können, dass die Aufmerksamkeit des ‚Operngeistes' auf ihr lag, war alles, was sie mit ihrer Stimme noch erreichen konnte, nur noch ein fader Abklatsch großer Sangeskunst gewesen. Natürlich hätte ich auch eine effektvollere Blamage für die Diva inszenieren können, doch war dieser Plan noch eine Spur perfider gewesen.
Die Giudicelli musste sich ihren blassen Auftritt am heutigen Abend ganz alleine selbst zuschreiben. Die auferlegten Ketten, die ihre Stimme hielten, hatte nicht irgendein Phantom verursacht, auf das man bequem die Schuld hätte schieben können, sondern nur ihre eigene Angst.
Und Mittelmaß zu sein, war für die Diva mindestens ebenso schlimm, wie ein Auftritt, bei dem sie sich völlig im Gesang vergriffen hätte.
Mein Blick fiel auf die Loge der Familie Alterigia, schräg gegenüber. Ich erkannte, dass ich wohl nicht die einzige Person war, die auf ihrem Platz in dem sich stetig leerenden Zuschauerraum verharrt hatte. Ein junger Mann und zwei Damen saßen noch dort. Offenbar amüsierten sich zwei von ihnen – der Herr in Renaissance Mode und die Dame in ein leuchtend orangefarbenes Kleid gewandet – köstlich, denn sie schienen miteinander zu scherzen und ich hörte ihr leises Lachen. Was jedoch meine Aufmerksamkeit vielmehr auf sich zog, war die andere junge Frau, die in ihrer nachtfarbenen Robe, welche nur hier und da bei einer Bewegung sanft auffunkelte, beinahe in der Dunkelheit verschluckt zu werden schien.
Jetzt wandte man sich an sie und die unbekannte Grazie beugte sich ein wenig vor, offenbar um das Gesagte besser verstehen zu können. Ihre Antwort ließ meinen Herzschlag für einen Moment aussetzen, denn diese bestand nicht aus einigen auf die Distanz unhörbaren Worten, sondern ich konnte die Gebärdensprache ihrer Hände einwandfrei nachvollziehen...
„Begeben wir uns ruhig in die große Empfangshalle. Und sollte mir das Durcheinander wirklich zu sehr zusetzen, kann ich mich wieder hier hin zurückziehen."
Die Drei erhoben sich und meine Blicke folgten Serafina, bis sie als Letzte die Loge verließ.
„Mademoiselle Sconosciuto", murmelte ich leise und lächelte unter der schwarzen Maske und dem dunklen Tuch, das den Rest meines Gesichtes verbarg. „Ich hatte nicht angenommen, dass es so einfach wird, Sie ausfindig zu machen."
Langsam erhob ich mich und trat ebenfalls in den Gang, der zu den Feierlichkeiten führte.
Nun gut, sobald ich Carlotta und Gandin meine Aufwartung gemacht hätte, würde ich die Zeit finden, mich mit Serafina zu befassen. Jetzt, da ich ihre Maskierung kannte, war es ein Leichtes, sie wiederzufinden.
Ich passierte eine Gruppe lachender Harlekine, die mich in meiner schwarzen Kostümierung nicht beachteten. Es war ein eigentümliches Gefühl, die Menge der ausgelassenen Menschen zu durchqueren und dabei keinerlei Aufsehen zu erregen. Masken trugen ohnehin all jene, die sich in den Hallen tummelten.
Im großen Empfangssaal hatte man eines der zwei Treppenpodeste abgesperrt um einer kleinen Tanzkapelle Platz zum Musizieren zu lassen. Die Lichtverhältnisse waren sehr zu meinem Vorteil. Um der Stimmung einen intimeren Charakter zu verleihen, wie es eine sinnesfreudige Maskerade erforderte, hatte man darauf verzichtet, den großen Lüster zu entzünden, sondern auf einige wenige Gaslampen an den Wänden zurückgegriffen, die einen sanft glühenden Schein verbreiteten.
Ich zog mich an den Rand des Geschehens zurück und wartete. Am Fuß der Haupttreppe machte ich Alterigia aus, und es erstaunte mich, Serafina und ihre Begleiter ebenfalls dort stehen zu sehen. Der junge Mann aus der Loge plauderte offenbar angeregt mit dem Herrn Direktor, wobei er die Hand der jungen Dame im gelben Gewand nicht losließ. Einzig Mademoiselle Ardendo schien sich nicht recht zu den anderen zugehörig zu fühlen. Sie hatte die Hände gefaltet und den Blick hinter ihrer goldenen Vollmaske gedankenverloren auf den Boden gerichtet. Es war ganz offensichtlich, dass sie sich in dieser feiernden Menschenmenge nicht wohl fühlte. Ihre Haltung stand in auffallendem Kontrast zu dem Gebaren der übrigen Gäste, für welche dieser gesellschaftliche Anlass vielmehr Gelegenheit war, sich im Schutz von Maske und Verkleidung der Zwänge förmlicher Konventionen zu entledigen.
Dem würde ich bald Abhilfe schaffen. Ich beabsichtigte nicht, in mitten all dieser vergnügungssüchtigen Narren das Gespräch mit ihr zu suchen. Was ich im Begriff war zu tun, würde mir eine hervorragende Möglichkeit bieten, einen Augenblick mit ihr allein sein zu können, und über die Dinge Auskunft zu bekommen, welchen mein Interesse galt.
Die Maskierung der Carlotta war nahezu dilettantisch – zumindest wenn man es unter dem Standpunkt betrachtete, dass es überhaupt eine solche sein sollte. Das dünne Samtgeflecht um ihre Augen diente wohl mehr als Zierde, denn ihr Gesicht zu verhüllen. Sie trug eine verschwenderisch aufgeputzte Robe und wirkte wie die Königin dieser dekadenten Versammlung. Von ihrem Schoßhündchen Gandin fehlte noch jede Spur. Doch wonach ich Ausblick gehalten hatte, befand sich in ihrer Hand. Allem Anschein nach wunderte sich der Direktor über die schwarz eingeschlagene Mappe und deutete darauf.
Nun gut, ich verspürte nicht das Bedürfnis, diese Angelegenheit länger als nötig hinauszudehnen. Wenn Gandin es für unnötig hielt zu erscheinen, wäre es unhöflich, die Carlotta warten zu lassen.
Ich griff zu den beiden Blechdosen, die ich in meinem Ärmel verborgen gehalten hatte, vermischte die enthaltenen Substanzen mit einem kräftigen Schütteln und platzierte die brisante Überraschung am äußeren Fuß der Doppeltreppe. Nun galt es schnell zu handeln und diese Prozedur auch am anderen Ende der Stufen durchzuführen. Ich schob mich durch die Feiernden, wobei ich darauf achtete, nicht von Alterigia und seinen Begleitern gesehen zu werden, die nun in ein Gespräch mit der Diva verwickelt waren.
Es dauerte nicht einmal eine volle Minute, bis der Raum immer schneller begann, sich mit einem tiefroten Rauch zu füllen. Zuerst wichen die meisten Gäste verwundert vor ihm zurück, doch schon bald verharrten sie und betrachteten in ruhiger Faszination diesen geheimnisvollen Anblick. Das Orchester spielte unbeirrt weiter, und man schien das ganze für eine weitere exquisite Unterhaltung der Theaterdirektion zu halten.
Sobald das Farbenspiel der Feuerwerkskörper einsetzte, welche ich mit einer raschen Bewegungen an der sich neben mir befindlichen Gasleuchte entzündet hatte, wich das hier und da entstandene erschrockene Raunen des Publikums, begeistertem Applaus.
Dies war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Blitzschnell bewegte ich mich unter dem Mantel des dichten Nebels zu der Diva. Ich musste mich beeilen, denn es war nur eine Frage der Zeit, ehe man die Flügeltüren öffnen, und sich mein Ablenkungsmanöver somit an der nächtlichen Luft verflüchtigen würde.
Die Sichtverhältnisse waren äußerst schlecht, und es war gut, dass ich mir zuvor die Position der kleinen Gruppe um Carlotta Giudicelli eingeprägt hatte. Erst als ich nur noch einen knappen Meter von ihr entfernt war, konnte ich die Diva schemenhaft erkennen. Alterigia und die anderen mussten sich ein Stück von ihr entfernt befinden, denn sie stand ziemlich isoliert und im dichten Rauch völlig allein scheinend.
„Madame, ich denke Sie haben etwas bei sich, dass mir gehört."
Erschrocken fuhr sie zu mir herum. „Sie dreckiger Schuft!", zischte sie, und presste die schwarze Mappe wie einen Schutzschild vor die Brust, als könne sie mich mit dieser Geste zurückhalten.
Mit einer Handbewegung, die meine Ruhe widerspiegelte, forderte ich sie auf, mir das Werk zu übergeben.
„Es ist das Phantom der Oper!" rief sie urplötzlich mit durchdringend schriller Stimme. „Es ist das Phantom der Oper! So ergreifen Sie es doch!" Sie blickte gehetzt um sich, und schließlich konnte ich ein trockenes Lachen nicht zurückhalten.
„Rufen Sie lauter, Madame, ich bin sicher, dass sich auch die übrigen Besucher über diesen köstlichen Scherz amüsieren wollen." Mit gezielter Schnelligkeit hatte ich ihr die Mappe entwunden. Meine Stimme wurde leiser und angesichts der unterschwelligen Drohung erstarrte die Diva. „Sie glauben doch nicht wirklich, dass auf einem Maskenball jemand auf etwas derartiges eingehen wird, oder etwa doch? Viel wahrscheinlicher ist es, dass man annimmt, die großartige Primadonna müsste durch ein solches Gezeter von ihrer beklagenswerten Sangeskunst am heutigen Abend ablenken ..."
Meine Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Mit offenem Mund starrte mich die Carlotta an und war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidert.
Bewegung kam in den roten Rauch, und mir wurde klar, dass jemand endlich auf die Idee gekommen war, die Türen zu öffnen, und diesem Spuk ein Ende zu bereiten.
Ein letztes Mal wandte ich mich an die Frau mir gegenüber. „Sie werden dafür sorgen, dass die Noten des Orchesters beseitigt werden, Madame. Sollte auch nur auf der entlegensten Provinzbühne jemals wieder ein Takt meines Stückes gespielt werden, verspreche ich, Sie persönlich dafür zur Rechenschaft zu ziehen."
Ohne sie aus den Augen zu lassen, trat ich soweit in den Schutz des Nebelmantels zurück, bis sie mich nicht mehr ausmachen konnte. Wenn der erste Teil meines Planes für heute Abend schon ein geschwindes Handeln erfordert hatte, so musste ich nun noch die Schnelligkeit steigern. Mein Blick flog um mich, und als sich der Rauch langsam lichtete und die schemenhaften Konturen der Menschen um mich herum langsam wieder an Klarheit gewannen, machte ich die junge Frau aus, der mein Interesse galt. Glücklicherweise stand auch sie allein, und unser Verschwinden würde nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Ich wusste, dass mein Verhalten ihr Angst einjagen musste, dennoch griff ich bestimmt nach ihrer Hand und zog sie ungeachtet ihres vehementen Sträubens nach draußen. Das schlechte Gewissen stach mich stärker, als ich erwartet hatte, denn ich konnte förmlich spüren, wie Serafina Ardendo unter ihrer starren Maske tonlos schrie. Es war ihr nicht möglich, sich hilfesuchend an die übrigen Ballgäste zu wenden und ich nutzte diesen Umstand und die Tatsache, dass ihre zierliche Figur meiner Stärke weit unterlegen war, unerbittlich aus.
Die Menschen um uns herum waren viel zu sehr damit beschäftigt, ausgelassen und lachend den Rauch hinfort zu treiben, und die kurz unterbrochenen Feierlichkeiten fortzusetzen, als dass irgendjemand auf mich und meine Begleiterin achtete.
Noch vermied ich es, sie anzublicken, doch spürte ich deutlich die Verzweiflung, mit der sie ihr Handgelenk meinem Griff zu entwinden versuchte.
Als wir die Flügeltür nach draußen passierten, stieß ich auf ungewöhnlich harten Widerstand. Mit der freien Hand klammerte sich Serafina an den hölzernen Rahmen und schien ihn um keinen Preis der Welt loslassen zu wollen.
Ein kurzer Blick ins Innere des Saales hinter uns verriet mir, dass die Carlotta Gandin schließlich gefunden hatte, und beide sich nun grimmig nach der phantomhaft verschwundenen Gestalt umschauten.
Meine behandschuhten Hände griffen mit sanfter Bestimmtheit nach den Schultern Serafinas. „Mademoiselle", knurrte ich eindringlich und suchte den Kontakt zu ihren hinter der Maske weit aufgerissenen Augen. Angst und Erkennen spiegelten sich nun in ihnen wider. „Sie werden mich nun kurz begleiten. Ich verbürge mich dafür, dass Ihnen kein Leid geschehen wird."
Mit einer sekundenschnellen Bewegung hatte ich die dunkelrote Rose aus einem Ärmel meiner Tunika hervorgezaubert, öffnete behutsam Serafinas linke Hand, die sich mittlerweile vom Türrahmen gelöst hatte und schloss deren Finger um dieses Symbol unseres Erkennens.
„Ich denke, dies sollten Sie tragen, Mademoiselle."
Voller Faszination betrachtete sie die tiefroten Blütenblätter und führte diese trotz der starren Maske an ihr Gesicht, als wolle sie den lockenden Duft einatmen.
Als ich sie dieses Mal vom Ballgeschehen fort mit mir zog, folgte sie ohne zu zögern.
Sobald wir den Schutz des Theaters verließen, fielen die ersten Regentropfen des in der Ferne bereits grollenden Gewitters. Neben dem Gebäude befand sich eine schmale, geschützte Häuserschlucht, die zum Bootsanlegeplatz an der Hinterseite des La Fenice führte. Niemand war zu sehen. An diesen abgeschiedenen Ort führte ich die junge Frau und stand ihr – die Wand im Rücken und mich abwartend musternd – schließlich dicht gegenüber.
Einen Moment lang wusste ich nicht recht, was ich sagen oder gar tun sollte, dann entschloss ich mich zumindest das schwarze Tuch des persischen Turbans zur Seite zu nehmen, welches neben der pechfarbenen Ledermaske über Stirn, Wangen, Nase und Oberlippe mein Gesicht verbarg.
Im Gegenzug zu meiner Geste fuhr Serafinas Hand hinauf, streifte die nachtblaue Kapuze von der üppigen Kaskade ihrer glänzenden Haare und löste schließlich das Band, mit dem die goldene Vollmaske gehalten wurde. Langsam glitt das störende Kleidungsstück herab und gab den Blick auf ihre entzückend geröteten Wangen frei. Die großen Augen funkelten in einer höchst köstlichen Mischung aus Sorge und Belustigung, so als könne sie sich für keine der beiden Gefühlsmöglichkeiten vollständig entscheiden. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und klemmte dann die Rose am Taillenband ihres Kleides, um die Hände ungehindert sprechen zu lassen.
„Wie lange wissen Sie das schon, Erik?"
Vor Aufregung atmete sie schwer und mit nahezu schmerzlichem Verlangen wurde mir schlagartig unsere körperliche Nähe bewusst. Ich wich einen Schritt zurück und spürte ein Lächeln in mir aufsteigen. „Nicht lange genug, um mir zu erklären, weshalb ausgerechnet Sie mir helfen, Serafina Ardendo."
„Ich sollte es nicht tun, angesichts der Geschehnisse, die Sie und meine Familie so unüberbrückbar verbinden ..." Ihr Blick sank traurig herab, ebenso wie die zitternden Hände.
Sie hatte zweifelsohne große Angst, und ich konnte es verstehen angesichts ihrer hilflosen Lage mir gegenüber. Welche Befriedigung auch immer ich mir von meinem Handeln erhofft hatte, es verblasste in Anbetracht des Wunsches, Serafinas Unbehagen so schnell wie möglich zu beenden.
„Warum gehen sie nicht, Mademoiselle Ardendo?" Ich trat noch einen weiteren Schritt zurück und gab den Weg frei, der sie zum Theater führen würde.
Der Regen war mittlerweile stärker geworden, und für einen endlos scheinenden Augenblick in dem die junge Frau mich offen und fragend ansah, war das leise Prasseln des in die Gasse fallenden Wassers das einzige zu vernehmende Geräusch.
Ein Teil von mir hatte sich bereits damit abgefunden, dass Serafina unverzüglich an mir vorbeistürmen und mich keines Blickes würdigen würde. Vielleicht war es das beste für uns beide, denn ich war mir des unsichtbaren Bandes nur zu deutlich bewusst, das sich zwischen mir und ihr zu entwickeln begann. Wenn sie es nun durchtrennte, würde es mir leichter fallen die Dinge auf sich beruhen zu lassen, und das einzige Ziel weiter zu verfolgen, welches mich in diese Stadt geführt hatte.
Doch zu meiner Überraschung bewegte sie sich sogar noch ein kleines Stück näher an mich heran. Skeptisch blickte zu mir auf. Wie klein und zerbrechlich sie wirkte, und gleichzeitig so überaus selbstbewusst und bereit, sich zu verteidigen! Von der Feuchtigkeit hatten sich ihre lockigen Haare noch eine Spur widerspenstiger zusammengerollt und der teure Stoff ihrer Robe glänzte dunkel. Es schien sie nicht zu stören.
Argwöhnisch legte sie die Stirn in Falten.
Nun trennten uns nur noch wenige Zentimeter voneinander und ich musste den brennenden Wunsch niederkämpfen, eine Hand auszustrecken, ihre vom Regen benetzte Schulter zu berühren und Serafina Ardendo, die Tochter meines Feindes, die Retterin meines Lebenswerkes einem impulsiv sehnenden Verlangen nachgebend an mich zu pressen.
Ihre Augen! Oh diese Augen! Sie waren so wach, klar und forschend, als wollten sie meine Seele vollständig ergründen. Ich hatte diesem Blick nichts entgegen zu setzen, und mich beschlich das Gefühl, ihm hilflos ausgeliefert zu sein. Da war nichts Erschrockenes und auch nicht die ergebene Verklärtheit Christines engelhafter Hingabe. Da war nur Neugierde und das unverhohlene Interesse, ein spannendes Mysterium zu ergründen, welches sie in mir zu sehen schien.
„Und das ist alles?" Den Kopf fragend geneigt, kniff sie ihre Augen prüfend zusammen. „Sie machen sich die Mühe, mich hierher zu führen, eine Rose zu verschenken und mich dann in die Dunkelheit einer Gewitternacht wie dieser zurück zu schicken? All das, ohne mir auch nur den Schutz Ihrer Begleitung anzubieten?"
Welch eine merkwürdige Vorstellung, in mir nicht eine drohende Gefahr zu sehen, sondern mich wie einen Edelmann von tadellosestem Ruf zu behandeln.
„Ich glaube kaum, dass ich die geeignete Person bin, um Ihnen Sicherheit zu bieten, Serafina Ardendo."
„Meinen Namen kenne ich, Erik. Sie brauchen mich nicht so oft daran zu erinnern, dass ich Sie eigentlich für das verachten sollte, was Sie meiner Familie angetan haben."
„Dennoch schrecken Sie nicht davor zurück, mir zu helfen. Gestatten Sie mir die Frage nach dem ‚Warum'?" Endlich sprach ich aus, was mir seit dem gestrigen Abend keine ruhige Minute mehr gelassen hatte.
„Sie sind eine Schurke, Erik – Phantom der Oper -, aber zweifelsohne auch ein interessanter Mann."
Meine Sprache verließ mich angesichts ihrer Worte, die in gravierendem Widerspruch zu dem standen, was ich erwartet hatte. Noch nie war ich einer Frau begegnet, die sich mir gegenüber derart verhalten hatte.
Serafina wirkte so ruhig und gefasst, als wäre die Situation in der wir uns befanden eine der normalsten dieser Welt.
Ehe ich etwas erwidern konnte, durchpeitschte ein Donnerknall die Stille dieser Nacht, gefolgt vom gleißenden Licht eines Blitzes. Irgendwo schien er eingeschlagen zu haben und unwillkürlich zuckte mein Kopf in die vermeintliche Richtung.
Als ich ihn abermals zu Serafina drehte – denn ich hatte den Schrecken der jungen Frau deutlich gespürt – war ihr Gesicht mit einem Mal ganz nah an meinem. Einem unabwendbaren Instinkt folgend, schloss ich die Augen und hielt still angesichts der federleichten Weichheit ihrer Lippen auf meinem Mund.
Sie hatte mir beide Hände auf die Schultern gelegt und streckte sich, um ihr leichtsinniges Vorhaben durchführen zu können. Ich war unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren.
Diese Erfahrung schien derart unwirklich, derart jenseits erklärbarer Vernunft, so dass ich weder in der Lage war, die unerwartete Zärtlichkeit gebührend zu erwidern, noch die Distanz zu schaffen, welche nötig gewesen wäre, um das in mir brodelnde Chaos der Gefühle zu beschwichtigen.
In der Überfülle des Augenblicks nahm ich tausend Banalitäten auf einmal wahr, als wären meine Sinne schärfer denn je. Das Geräusch des Regenplätscherns in den Pfützen, das Gefühl der durchnässten Kleidung auf meiner Haut, die vorsichtige Berührung Serafinas Hände, der dezente Duft ihres Parfums, das Streicheln ihrer Lippen...
Plötzlich löste sie sich abrupt von mir und sprang zusammenzuckend einen Schritt zurück. Fassungslosigkeit lag in ihrem Blick und Verwirrung umwölkte die Stirn. Wie auch ich schien sie selbst nicht ganz zu verstehen, was eben gerade geschehen war.
„Es tut mir leid." War die einzige kleine Geste, zu der sich Serafina im Stande sah, ehe sie sich bestürzt abwandte und die Flucht ergriff.
Ich hielt sie nicht auf, blickte nur stumm und unfähig einen klaren Gedanken zu fassen hinter ihrer in der Nacht verschwindenden Gestalt her.
Langsamen Schrittes trat ich in Richtung des Kanals und starrte in die Dunkelheit des aufgewühlten Wassers. Ich fühlte mich erstaunlich ruhig. Zwar schlug mir das Herz so laut, dass ich es trotz des Gewitters in meinen Ohren vernehmen konnte, doch eine angenehme Zufriedenheit hatte sich über mein Gemüt gesenkt.
Auf eine derartige Begegnung hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ohne dass ich irgendeine Form von Druck auf Serafina ausgeübt hätte, hatte sie sich mir in solch vertrauter Weise genähert. Es schien als erwidere sie die Faszination und das Interesse, das auch mich von Anfang an zu ihr gezogen hatte.
Ein unsichtbares Gespinst, welches uns beide als Außenseiter verband, machte es unvermeidlich, die Nähe des anderen zu suchen.
Einst hatte ich ähnlich empfunden wie Mademoiselle Ardendo heute, und zwar in jener Zeit, als ich Christines Engel geworden war, mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, als ihr aus dem Verborgenen heraus beizustehen – ehe sie den Vicomte wiedergetroffen und ehe die Geschehnisse ihren unheilvollen Lauf genommen hatten.
Serafina ... sie war wie ein helleres Spiegelbild meiner selbst, angetan mit all den lauteren Eigenschaften, zu denen ich damals nicht fähig gewesen war. Auch wenn sie es selbst nicht so deutlich zu benennen vermochte, handelte sie doch unterbewusst ihren Gefühlen entsprechend.
Ich verstand nicht, was sie zu mir zog, doch würde ich nicht die Augen vor all den Möglichkeiten verschließen, die diese Affinität mit sich bringen mochte.
Zufrieden lächelnd hob ich das Gesicht, um das nächtliche Spiel der Blitze am schwarzen Horizont zu beobachten.
Sie war erschrocken vor ihrer eigenen Reaktion davongelaufen, dennoch würde sie wiederkommen. Ich wusste es so sicher, wie ich mein eigenes Verhalten vorrausgesagt hätte.
Es war eine neue Chance, wenn auch noch immer vage. Dieses Mal würde es anders werden ... Meine Hand tastete nach dem kleinen Ring an der Kette um meinen Hals. Dieses Mal würde ich keine Katastrophe heraufbeschwören, die all meine Pläne zunichte machte.
Meine Gedanken rissen jäh ab. Dass jemand hinter mich getreten war, wusste ich bereits bevor ich herumfuhr. Ich konnte es deutlich spüren, an dem Kribbeln, das meinen Nacken erfasste.
„Monsieur le Fantome nehme ich an?"
„Zu Ihren Diensten, Monsieur Gandin."
Serafina
Ich hatte gerade die kleine Brücke passiert, die mich vom Theater fort in Richtung Zuhause führen würde, als ich wütend auf mich selbst stehen blieb. Was war ich doch für ein erbärmlicher Feigling! Zweifelsohne gab es keine Entschuldigung für mein Verhalten, sowohl Papa, als auch Erik, als auch mir selbst gegenüber.
Ich war so töricht gewesen, dem Drang nachzugeben, der mich von Kopf bis Fuß urplötzlich erfasst hatte, und nun ertrug ich nicht, mich den Konsequenzen zu stellen.
Dabei war die ganze Situation erst durch meine überstürzte Flucht noch um ein Vielfaches beschämender geworden. Was dachte dieser Mann nun bloß von mir?
Ich hätte mein Verhalten durch die Absurdität der Situation, mein Erschrecken über den plötzlichen Blitz oder einen anderen nachvollziehbaren Grund erklären und als entschuldbar darstellen können. Sicherlich war über meine ungebührliche Geste hinweg zu sehen. Was konnte sie diesem Mann schon bedeuten?
Ganz bestimmt nicht das selbe wir mir, ganz bestimmt nicht das selbe wie einer einfältigen Gans, die den ersten und wohlmöglich einzigen Kuss ihres Lebens einem Mann abgerungen hatte, der beinahe ein Fremder war – schlimmer noch, ein geheimnisumwölkter Feind ihres Vaters.
Ich schloss die Augen und zwang mich, tief durchzuatmen.
Jetzt war wahrhaftig der Moment gekommen, in dem ich eine Entscheidung fällen musste, ob ich zukünftig noch Respekt vor mir selbst haben könnte oder nicht. Ging ich nun einfach nach Hause und tat so, als sei nichts geschehen, dann lud ich mir bloß Schuldgefühle und fruchtlose Grübeleien auf, die mich lange, sehr lange quälen würden.
Also tat ich das einzige, was ich mit meinem Gewissen vereinbaren konnte und kehrte um.
Natürlich war es mir unangenehm, Erik noch einmal gegenüberzutreten und eine Angelegenheit zu klären, welche ohnehin mehr als kompromittierend für mich war. Doch um wenigstens einen Teil meines Stolzes zu bewahren, fühlte ich mich hierzu verpflichtet.
Schon tauchte die noch immer vom Festgeschehen erleuchtete Fassade des La Fenice vor mir auf und mir wurde erst jetzt bewusst, dass Sophia mich längst suchen musste. Sobald ich mit Erik gesprochen hätte, würde ich meiner Cousine mitteilen, dass ich besser nach Hause ging. Diese Nacht hatte bei Weitem mehr als genug Erfahrungen für mich bereitgehalten.
Entschlossenen Schrittes bog ich in die Gasse neben dem Theater – und erstarrte. Dann presste ich mich hastig in einen dunklen Hauseingang, ohne dabei die Augen von der Szene abzuwenden, die sich unten am Wasser abspielte.
Zwei düstere Gestalten – eine davon zweifelsohne Erik, dessen schwarze arabische Tracht von den Schatten nahezu verschluckt wurde, die andere ein Mann in Frack und Zylinder – standen einander lauernd gegenüber.
Bestürzt riss ich die Augen auf. Etwas Silbernes blitzte in der Hand dieses Kerls, der mit dem Rücken zu mir stand und Erik in Richtung Wasser drängen zu wollen schien. Eine Pistole!
Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, als Erik völlig ruhig die Hände von sich streckte und damit zu erkennen gab, dass er unbewaffnet war. Ein Blitz leuchtete kurz auf, und selbst auf die meterweite Distanz zwischen uns, konnte ich das süffisante Lächeln erkennen, das die Lippen des Maskierten herablassend umspielte.
Kaltblütig zielte der andere Mann auf seinen Kopf und da dämmerte mir, dass es Gandin sein musste, entschlossen, das Phantom der Oper endgültig aus dem Weg zu räumen.
Fieberhaft blickte ich mich um. Was konnte ich nur tun?
Plötzlich klang von Weitem ein lautes Lachen herüber und ließ mich erschrocken in Richtung dieses Lärms blicken. Drei oder vier Ballgäste in bunten Kostümen schlenderten, sich gegenseitig stützend, am Eingang der Gasse vorbei, ohne den Geschehnissen in ihrem Inneren Beachtung zu schenken.
Ein wütender Ausruf ließ meinen Kopf wieder in Richtung Wasser herumfahren. So wie auch mich, musste die kurze Störung die Aufmerksamkeit Gandins abgelenkt haben. Erik nutzte jene Unaufmerksamkeit seines Gegners und griff an.
Ich konnte erkennen, dass er nach den Handgelenken seines Gegners griff, und dann ging auf einmal alles so schnell, dass ich die Bewegungen der beiden Kontrahenten kaum noch auseinanderhalten konnte. Gandins Hut fiel zu Boden, heftig rangen die beiden Männer miteinander - wobei ich nicht zu sagen vermochte, welcher von ihnen die Oberhand behielt – und dann löste sich ein Schuss, der mich entsetzt zusammenzucken ließ.
Die Kämpfenden erstarrten.
Mein Herz klopfte derart aufgeregt, dass mir schwindelig wurde, und ich tastete nach der kühlen Hauswand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bitte lass nichts Schlimmes geschehen sein, betete ich stumm.
Ein raues, leises Lachen war die Antwort, und ich erkannte im Schein eines weiteren Blitzes, wie Gandin einen Schritt zurück trat. Es war Erik, dessen Stimme ich gehört hatte und dessen Knie nun plötzlich einknickten, bis sie auf den harten Steinboden aufschlugen. Schwäche musste ihn erfasst haben, denn als Gandin nach einer Mappe oder etwas ähnlichem griff, das dem Maskierten vor der Auseinandersetzung aus einer Hand gefallen war, behielt er lediglich den spöttischen Blick auf seinen Gegner bei, ohne sich auf eine andere Weise zur Wehr zu setzen. Allem Anschein nach war er dazu nicht mehr in der Lage.
Ich schloss die Augen und schluckte schwer. Erik war getroffen. Und ich stand hier, konnte nichts tun! Wann würde der nächste Schuss fallen, jener, der tödlich sein würde? Denn daran, dass Gandin ihn umbringen würde, zweifelte ich nicht mehr. Er würde sich brüsten mit der Behauptung, dem ‚Phantom der Pariser Oper' den Garaus gemacht zu haben. Selbstverständlich ohne die ehrenlose Art dieses Verbrechens zu erwähnen.
Das Geräusch von etwas Schwerem, das ins Wasser fiel, ließ meine verzweifelten Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehren.
Nun war es nur noch die Gestalt von Carlottas hassenswerten Liebhaber, die ich unten am Kanal ausmachen konnte. In aller Seelenruhe klopfte er sich die Hände, als wolle er so imaginären Schmutz beseitigen. Dann bückte er sich nach seinem Hut, wischte auch diesen kurz ab und setzte ihn auf. Das diabolische Lächeln auf seinem Gesicht war trotz Dunkelheit und Entfernung deutlich erkennbar.
Angstvoll wich ich so tief wie möglich in den Hauseingang, während Gandin nun pfeifend die Gasse hinauf und zurück in Richtung des Theaters schlenderte. Er war derart zufrieden mit sich selbst, dass er mich nicht einmal bei hellstem Tageslicht entdeckt hätte.
„War es hier, Serafina?" Pater Giovannis Gesicht wirkte blass, war gezeichnet von Sorge und Traurigkeit, als wir bereits zum zweiten Mal am kleinen Steg suchten, welcher an der Rückseite des La Fenice als Anlegeplatz diente.
Ich nickte heftig, und wieder glitten meine Augen über das tintengleiche Gewässer. Der Gedanke, dass ich heute Nacht Eriks Tod mitangesehen hatte, erschien mir unerträglich. Aber war es nicht sinnlos, noch immer einem Funken Hoffnung hinterher zu jagen? Gandin hatte sicher gründlich dafür Sorge getragen, dass ihm niemand mehr in seine Pläne hineinfunkte.
Nein! Es konnte einfach nicht sein, dass ein Mann wie Erik auf diese Weise zu Tode kam!
Tapfer hielt die kleine Laterne des Paters dem noch immer vom Himmel herabströmenden Regen Stand. Das Gewitter war langsam fortgezogen, und nur in der Ferne vernahm man ein dumpfes Donnergrollen.
Es musste bereits weit nach Mitternacht sein, und ich war dankbar, meinen väterlichen Freund bei dieser trostlosen Suche an meiner Seite zu wissen. Er war unverzüglich mitgekommen, als ich verstört und bis auf die Knochen durchnässt vor seiner Tür gestanden hatte. Ihm lag viel an Erik, das hatte ich von Anfang an gewusst. Schrecken hatte deutlich in seinen Augen gestanden, als ich berichtete, was geschehen war.
Ich fror und war erschöpft, doch lief ich weiterhin den Kanal ab.
„Serafina!" Seine Stimme klang energisch und mir war sofort klar, dass der Geistliche eine wichtige Entdeckung gemacht hatte. Eiligen Schrittes kehrte ich zu ihm, der nun mit dem Rücken in meine Richtung am Boden kniete, zurück. Als ich näher kam, sah ich den Grund seines Ausrufs im dämmrigen Laternenschein.
Am Eingang einer kleinen, schmalen Gasse lag, gelehnt an die nächste harte Häuserwand, eine zusammengesunkene Gestalt, die vollkommen in Schwarz gehüllt war.
„Erik!", schoss es mir durch den Kopf, während ich neben dem Pater zum Stehen kam und ihm auf die Schulter klopfte. „Lebt er?", war meine angstvolle Frage, als ich den Blick des alten Mannes auf mich gerichtet spürte.
„Ja, aber nicht mehr lange, wenn wir ihn nicht bald nach Hause schaffen und die Schusswunde versorgen." Seine ernste Miene machte keinen Hehl daraus, wie kritisch es um den zusammengebrochenen Mann stand.
„Dann beeilen wir uns!" Ich hatte Mühe, dem Drang zu weinen nicht nachzugeben
Eriks Kopf war schlaff zur Seite gesunken, die Augen geschlossen. Nichts im unmaskierten Teil des Gesichts ließ darauf schließen, dass diesem Mann noch Leben innewohnte.
Mit einem leisen Ächzen erhob sich Pater Giovanni und griff nach einem Arm des Bewusstlosen, um ihn auf dem Weg zum Palazzo zu stützen. Ohne zu zögern hatte ich mir schnell den anderen über meine Schulter gelegt und tat es dem alten Mann gleich.
Unser Unterfangen war nicht einfach. Dem Pater machten seine Schmerzen, mir die fehlende Körperkraft und das hinderlich nasse Kleid zu schaffen. Dennoch brauchten wir keine fünf Minuten, um Eriks Haus zu erreichen, welches der Geistliche mit einem Schlüssel öffnete, der sich in der Tasche seines Besitzers befunden hatte.
„Vielleicht solltest du nach Hause gehen, Serafina. Es ist sehr spät, und man wird sich Sorgen machen, wo du bleibst."
Wir hatten Erik in sein Schlafzimmer hinauf gebracht und auf das große Bett gelegt. Pater Giovanni hatte ihm die nasse Kleidung ausgezogen, während ich am anderen Ende des großen Raumes ein Feuer im Kamin entfachte. Angesichts der Schussverletzung hatte der Pater ein leises Gebet gesprochen und sie dann notdürftig mit einem in Steifen gerissenen Leinentuch verbunden.
Ich hatte tunlichst vermieden, mich umzublicken oder an die Tatsache zu denken, dass wir Erik zwar gefunden haben mochten, dies allerdings kein Garant für sein Überleben war.
„Nein!" Nun fuhr ich herum, verließ meinen Platz beim Feuer jedoch nicht. „Ich fühle mich verantwortlich für ihn."
„Aber Kind, was geschehen ist, ist doch nicht deine Schuld!"
Ich nickte. „Ja, das weiß ich. Aber ich war da, ich habe es gesehen!" Vorsichtig und langsam wagte ich, vorzutreten und das noch immer maskierte Gesicht des Verletzten zu betrachten. Scheinbar war die Blutung seiner Wunde gestoppt, denn der provisorische Verband war noch immer von unschuldigem Weiß. Zwar wagte ich nur kurz hinzusehen, doch nahm ich mit Erleichterung wahr, dass sich sein Oberkörper mit den breiten, sehnigen Schultern unter der Decke ruhig und regelmäßig hob und senkte. Als scharfer Kontrast stach die pechschwarze Maske von den hellen Laken ab. Ich konnte verstehen, dass Pater Giovanni sie nicht angerührt hatte, denn auch mir wäre eine solche Handlung wie die Überschreitung einer zutiefst persönlichen Grenze erschienen.
„Fragen Sie nicht warum, Pater, ich kann es nicht erklären. Aber ich fühle mich für ihn verantwortlich." Ein trauriges kleines Lächeln stieg in mir auf. „Grotesk, nicht wahr? Ich sollte doch vielmehr froh sein, da er nun nicht länger eine Gefahr für Vater ist ..."
Wohlwollend schüttelte Papas Freund den Kopf. „Nein, Serafina. Die Dinge, welche Erik und deinen Vater aneinander ketten, sind schwer zu verstehen. Du solltest sie dir nicht zu eigen machen. Sie betreffen dich nicht, auch wenn dein Loyalitätsgefühl dir sicher etwas anderes sagt. Es ist vollkommen richtig, dass du dir ein eigenes Bild von diesem Mann machst, anstelle das eines anderen zu übernehmen."
Ich schwieg. Das hatte ich bereits getan, und meine Meinung widersprach der von Papa in vielerlei Hinsicht.
Plötzlich machte Eriks Körper eine ruckhafte Bewegung durch, sein Kopf schlug unruhig von einer Seite zur anderen. Ein dumpfes Knurren war zu vernehmen, und wo sein Gesicht eben noch starr und leblos gewirkt hatte, verzerrte es sich nun in Zorn und Schmerz. Nur die weiterhin geschlossenen Augen verrieten, dass er noch immer nicht das Bewusstsein wiedererlangt hatte.
Beunruhigt legte Pater Giovanni ihm eine Hand zwischen Hals und Kinn, um die Temperatur zu überprüfen. „Er hat Fieber. Das macht mir Sorgen. Gott sei gedankt ist die Wunde an seiner Schulter nur ein Durchschuss. Das ist zwar schmerzhaft, bedeutet jedoch keinen allzu starken Blutverlust. Sollte sich jedoch etwas entzünden ..." Er schüttelte den Kopf, sprach nicht weiter.
„Wir müssen einen Arzt holen!"
„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, Serafina. Man wird Fragen stellen. Eine Schussverletzung kommt nur selten vor. Sicher würde Erik Aufsehen dieser Art vermeiden wollen. In Frankreich ist er ein gesuchter Mann, und ich weiß nicht, wie man hier auf ihn reagiert, wenn Misstrauen geweckt wird. Vielleicht brächten wir ihn nur in Gefahr." Der alte Mann schien einen Moment zu überlegen, ehe sich die ernsten Augen auf mich richteten. „Ich werde zu Dottore Gardeno gehen. Er wird keine Fragen stellen, mir sagen, was zu tun ist und alles mitgeben, was ich brauche. Du wirst eine Zeitlang allein auf ihn Acht geben müssen."
Erik hatte sich etwas beruhigt, und nur ein leises Flattern der Augenlider, ein kaum merkliches Zucken um den Mund gab den Kampf zu erkennen, der in seinem Inneren toben musste.
Auch als ich dem Pater zur Antwort zunickte, löste sich mein Blick für keine Sekunde von jenem maskierten Gesicht.
Die Schritte des Geistlichen entfernten sich und in einem hilflosen Instinkt schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Ich hatte Angst, unleugbar und überwältigend. Was sollte ich tun, wenn Eriks Zustand schlimmer wurde, wenn er starb? Schwer schluckend schloss ich die Augen.
„Ich werde dir trockene Kleidung mitbringen, Serafina. Es ist niemandem gedient, wenn du auch noch krank wirst."
Die Tür fiel ins Schloss und ich war allein. Das Ticken einer Mahagonistanduhr neben dem Bett wurde mir erst jetzt gewahr, und schon nach wenigen Sekunden erfüllte es mich mit wachsendem Unbehagen. Alles drängte mich danach, beide Hände auf die Ohren zu pressen und dieses gleichgültige, stoische Zeichen der verstreichenden Zeit auszusperren. Doch ich verharrte, wo ich war, betrachtete weiterhin vom Fußende aus den bewusstlosen Mann mit der Maske. Er war zum Zentrum meiner Aufmerksamkeit geworden, und mir war klar, dass ich die unsinnige Befürchtung hegte, es könne ihm schlechter gehen, sobald ich meinen Blick abwandte.
Wie lange diese angespannte Starre anhielt vermochte ich nicht zu sagen, doch plötzlich durchfuhr ein unruhiger Blitz abermals Eriks Körper und ließ mich erschrocken an seine Seite eilen. Die Kiefer mahlten aufeinander und es klang, als unterdrücke er den Drang zu schreien. Beide Hände hatten sich in die Laken gekrallt und wieder warf er fieberhaft den Kopf hin und her.
Ich stand da, hatte hilflos die Arme erhoben und wusste doch nicht, was ich tun sollte.
Wenn er sich weiter so ruckhaft bewegte, konnte es leicht passieren, dass die Wunde erneut aufbrach.
Da! Schon war die Decke ein Stück weit zur Seite gerutscht!
Ich erstarrte. Voller Grauen weiteten sich meine Augen.
Eriks Oberkörper war über und über mit Narben bedeckt. Striemen und Schnitte mussten sich vor langer Zeit in sein Fleisch gegraben haben und hinterließen nun ein grob gewebtes Netz anklagender Erinnerungen.
„Zingari!" Ein Knurren löste sich aus seiner Kehle. „Zingari!"
Nur ein Wort, aber es war deutlich zu verstehen. Zigeuner!
Es folgten einige Sätze, die Erik förmlich ausspuckte, und aus der Fremdartigkeit des Klangs schloss ich darauf, dass es persische Flüche waren.
Das markerschütternde Brüllen ließ förmlich die Wände erzittern und in unheilvoller Intensität krampfte sich mein Magen zusammen.
Unvermittelt wichen Wut und Schmerz einem Seufzen und Eriks rechte Hand fuhr hoch, griff ins Leere. Heftiges Beben schüttelte ihn. „Christine ..." Seine Stimme war rau und belegt. „Tu dois m'aimer ..." Stoßweises Keuchen verschluckte einen großen Teil seiner Worte. „Christine ..." Immer wieder tasteten seine Finger vergeblich in der Dunkelheit nach einem unbekannten Ziel. Flehentlich seufzend bäumte er sich abermals auf.
Ganz langsam, voller Zögern hob ich eine Hand der von Erik entgegen. Mein Herz klopfte wild, und als ich die Nähe seiner fiebernden Haut beinahe schon spürte, hielt ich im letzten Moment inne. Würde meine Berührung ihm überhaupt Trost bringen können? Würde ich mit dem Gedanken zurecht kommen, dass er mich in seinem Zustand ganz sicher für eine andere Frau hielt? Christine ...
Mit unerwarteter Kraft schlossen sich seine Finger um meine Hand, pressten sich fest gegen mich.
„Du ...", hörte ich ein Flüstern und erkannte entsetzt, dass seine Augen halb geöffnet waren. „Wie kann in dieser dunklen Familie nur ein so heller Stern strahlen?"
Unfähig zu reagieren gestattete ich Erik, mit der anderen Hand meine Wange sanft zu berühren, ehe seine Lider mit einem Flattern wieder zuflogen und er vollkommen ruhig zurücksank.
Ich war wie betäubt. „Zingari!", hallte es dumpf in meinem Kopf wieder und schaudernd wanderte mein Blick noch einmal über diesen geschundenen Oberkörper, der sich endlich in friedlichem Atmen hob und senkte.
Wie alt hatte Vater gesagt, war Erik gewesen, als Stefano und er ihn trafen?
Stechende Kopfschmerzen erfassten meine Schläfen, als ich an die Worte Pater Giovannis dachte, als er mich am Abend vor dem Ball aufgesucht hatte. „Mein Kind, du musst bedenken, dass du nur eine Perspektive der vergangenen Geschehnisse kennst. Ganz sicher sagt dein Vater die Wahrheit, aber eben von seinem eigenen Standpunkt aus. Erik würde dir vielleicht ganz andere Beweggründe für seine Taten nennen als die, welche du vermutest."
In diesem Moment ahnte ich, dass die Wahrheit mehr war, als ich ertragen konnte. Doch mir war vollauf bewusst, dass ich mich ihr niemals entziehen würde.
„Wo bist du gewesen?" Vaters Stimme schlug mir wütend entgegen. Er stand im Hausflur, angetan mit Mantel und Hut. Offenbar hatte er sich gerade auf die Suche nach mir machen wollen, als ich an die Tür klopfte.
Ich verharrte draußen und ließ den Regen weiterhin mit sanfter Stetigkeit auf mich nieder rieseln.
Das Beklemmungsgefühl, das mich vor langem erfasst hatte, war seit Pater Giovannis Erscheinen und meinem hastigen Aufbruch nach Hause noch schlimmer geworden. Ich hatte dem alten Mann keine Erklärung für meine Überstürztheit gegeben. Die Zeit drängte mich. Ich konnte die bohrenden Fragen, die schwelende Wut nicht aufschieben.
Nein, eigentlich waren es keine Fragen, nichts, was ich herausfinden musste. Eriks Narben, seine Reaktionen sprachen für sich.
Mein Blick senkte sich kurz und fiel auf die Türschwelle. Voller Unbehagen wurde mir klar, wie sehr ich mich dagegen sträubte, sie zu übertreten.
„Komm sofort rein, Serafina!" Vaters Augen funkelten aufgebracht, und die Tatsache, dass ich keinerlei Anstalten machte, seiner Anordnung nachzukommen, verschlechterte seine Laune zusätzlich. „Dein Verhalten ist absolut indiskutabel! Sophia erzählte vollkommen aufgelöst, dass du plötzlich verschwunden warst. Und nicht genug damit, dass du deiner Cousine nicht sagst wohin du gehst, du bleibst auch noch geschlagene drei Stunden verschwunden!" Zornesröte hatte sich über das sonst so sanfte Gesicht gebreitet. „Es ist bereits nach zwei Uhr!"
Dass Sophia sich Sorgen gemacht hatte, tat mir leid. Ich wusste, dass auch Vaters Reaktion nur aufgrund seiner Angst derart heftig war, doch darauf konnte ich nun keine Rücksicht nehmen.
„Du hast mich belogen, Papa!" Weshalb hätte ich nicht sofort aussprechen sollen, was sich als schwarzer Klumpen in meiner Seele festgesetzt hatte? „Und das nur, um eine Grausamkeit zu vertuschen, für die du gemeinsam mit Onkel Stefano die Verantwortung trägst! Erik hatte sicherlich gute Gründe, heute mit seinen Forderungen an dich zu treten, nicht wahr?"
Vater bewegte sich nicht. Nur ein bestürztes Starren verriet, dass meine Worte ihn überhaupt erreicht hatten.
„Was habt ihr euch einfallen lassen, um ihn – ein Kind! – dazu zu bringen, den schaulustigen Massen sein Gesicht vorzuführen? Hattet ihr keine Skrupel, jemanden, der euch weit unterlegen war so zu schlagen und misshandeln, dass man noch heute die Spuren sieht? Und alles dass nur für Geld?" Die Tränen, welche seit Stunden lediglich hinter meinen Augen gebrannt hatten, brachen hervor und strömten mir die Wangen herab. Ich fühlte mich hundeelend, naiv und getäuscht. Der Mann, in dem ich ein Leben lang nur meinen gutmütigen, sanften Vater gesehen hatte ... wer war er wirklich? Hinter der Seite, welche ich gut kannte, verbarg sich noch eine andere. Und die machte mir Angst.
„Du warst bei ihm?" Jede Farbe war aus seinen Wangen gewichen. „Wie konntest du, Serafina? Er hat deinen Onkel ermordet!"
Ich musste die Zähne schmerzhaft fest aufeinander beißen, um die Beherrschung nicht zu verlieren. „Ich kann mir beinahe denken, was ihn dazu trieb! Notwehr!"
„Nein, nichts als sein diabolisches Wesen!"
Ich war entsetzt. „Was ich gesehen habe genügt." Ich schluckte schwer, und dennoch konnte ich nicht mehr zurück. Von hier aus gab es nur noch einen einzigen Weg. „Papa... ich werde nicht wiederkommen."
Er war unfähig, sich zu regen.
In dem Moment, als ich mich abwandte und entschlossen zu Pater Giovanni und Eriks Zuhause zurückkehrte, besaß ich nichts mehr, kein Heim, keinen Vater. Was nun aus mir werden sollte, wusste ich nicht.
