Kapitel 5
Erik
Wehrlos durchlebte ich die Tiefen fiebernder Alpträume. Die Schrecken der Vergangenheit bäumten sich unerbittlich vor mir auf und hielten mir all die Verfehlungen, all den Schmerz, all den Zorn vor Augen, was immer mich seit Anbeginn meiner Existenz begleitet hatte.
Ich fand mich wieder im schmutzigen Käfig der Zigeuner, wurde angegafft, bespuckt, versuchte vergeblich, mein Gesicht vor der johlenden Menschenmasse zu verbergen, vor meiner Mutter, vor Christine ...
Oh, Christine! Wieder und wieder sah ich sie mit dem Vicomte fortgehen, diesem Jungen, der sich reifer und fürsorglicher gezeigt hatte, als ich in meiner verzweifelten Liebe und der Angst, alles zu verlieren, im Stande gewesen war.
Da waren Schläge und Zurückweisung, Ohnmacht und auch das Gefühl von Blut an meinen Händen, die Erkenntnis, Menschen manipulieren und beherrschen zu können durch die Kunst des Tötens, Angst und Schrecken.
Von Zeit zu Zeit und viel zu selten, um all die Qual der Alpträume aufzuwiegen, erkannte ich jedoch ein besorgtes Gesicht über mir, spürte ich den Trost einer sanften Hand, die meine Finger mit beruhigender Fürsorge streichelte. Das Bild Serafina Ardendos verhieß für einen kurzen Moment Aufatmen, weniger Pein und beinahe einen Anflug von Geborgenheit. Sah ich sie, schien mein Herzschlag sich zu beruhigen, empfand ich nicht mehr den brennenden Wunsch nach ewiger Dunkelheit und Leere, die meiner Seele ein gnädiges Grab gewesen wäre.
Es war Nacht, als ich zum ersten Mal wieder das Gefühl hatte, Herr meiner Sinne zu sein. Sehr langsam nahmen meine Augen die von Kerzenschein beleuchteten Schemen des Schlafzimmers im Palazzo wahr und nicht länger nur formlose Schattenfelder oder verzerrte Traumgebilde.
Ich schluckte trocken und wurde mir schmerzhaft der eigenen Schwäche gewahr, die es meinem Körper nicht gestattete, sich aufzusetzen, oder dem Durstgefühl aus eigener Kraft Abhilfe zu schaffen. Den Kopf ein wenig wendend traf mein Blick ein aufgeschlagenes Buch, welches neben dem Bett in einem der Polstersessel lag. Also war ich nicht allein. Auf dem Nachttisch am linken Kopfende hatte jemand Verbandszeug, medizinische Tinkturen und ein Glas Wasser bereitgestellt.
Jeder Muskel meines Körpers schien in lautem Protest aufzuschreien, als ich mich vorsichtig nach dem Getränk reckte, wobei ich tunlichst darauf Acht gab, die schmerzende Wunde an meiner rechten Schulter nicht zu belasten.
Zitternd ertastete ich mit den Fingerspitzen den Rand des Glases, versuchte es zu fassen. Doch meine Koordinationsfähigkeit versagte mir ihren Dienst und so zersplitterte das Gefäß auf den Holzdielen des Fußbodens.
Klopfenden Herzens sank ich in die Kissen zurück, meine eigene Hilflosigkeit verfluchend und den Mann, der für diesen Zustand verantwortlich war, in Gedanken unsagbare Qualen antuend.
Eine dunkle Ahnung durchzuckte mich plötzlich, doch als meine Finger zum Gesicht hinauffuhren und die Maske berührten, welche noch immer mein entstelltes Gesicht verbarg, fühlte ich eine noch größere Dankbarkeit dem Menschen gegenüber, der sich um mich gekümmert haben mochte. Man hatte nicht nur meine Verletzung versorgt, sondern zudem noch großen Respekt gegenüber meiner die Maskierung betreffenden Eigenheit bewiesen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung wurde unvermittelt die Tür zum Schlafgemach aufgerissen, und eine in weiß gekleidete Gestalt stürmte in hektischer Sorge herbei.
Ich lächelte beim Anblich der jungen Frau. Serafina Ardendo ... um ehrlich zu sein, hatte ich nicht damit gerechnet, dass jemand anderes als sie für meine Rettung verantwortlich sein könnte. Schon stand sie neben meinem Bett, betrachtet mich mit weit geöffneten Augen, als könne sie noch nicht fassen, dass mein Blick den ihren mit Wachheit erwiderte.
„Serafina", ich erschrak angesichts der Rauheit meiner eigenen Stimme. „Es tut mir Leid, dir noch weitere Umstände bereiten zu müssen, doch dürfte ich ein Glas Wasser bekommen?" Angesichts unserer vertrauten Position hielt ich es für überflüssig, mich hinter förmlich distanzierten Floskeln zu verstecken und war zu einer weitaus persönlicheren Anrede übergegangen.
Sie blinzelte kurz und indem sich ein warmes Lächeln über ihre Lippen breitete, wich die besorgte Starre der Angespanntheit aus ihrer Haltung.
„Ich bin sofort zurück", erwiderte sie, fuhr geschäftig herum und lief mit schnellen kleinen Schritten zur Tür heraus.
Ihre offenen Locken wippten aufgeregt, und trotz meiner unerfreulichen Lage konnte ich nicht umhin, für einen Moment ihren ungezwungenen Anblick zu genießen, denn in den hellen Morgenmantel gehüllt glich sie tatsächlich einer himmlisch zauberhaften Erscheinung.
Ein dumpfes Schwindelgefühl ignorierend, stützte ich mich auf den linken Arm, um eine aufrechtere Position einzunehmen. Ich war erstaunt, dass diese Bewegung zwar ein stechendes Ziehen durch die verwundete Schulter sandte, mir ansonsten jedoch unerwartet leicht fiel.
Ich zog den Verband ein wenig zur Seite und untersuchte kühlen Blickes den Schaden, welchen Gandins Kugel angerichtet hatte. Offenbar war sie an den wichtigsten Nervenbahnen vorbeigeschlagen, denn trotz eines Taubheitsgefühls konnte ich meine Finger bewegen, sogar den Ellenbogen beugen. Die Wunde selbst war mit großer Sorgfalt verpflegt worden. Aufgrund einer gewissenhaften Desinfektion hatte sich keine Entzündung bilden können, und der Heilungsprozess verlief ausgesprochen gut.
Mein Kopf erhob sich, und ich sah mich Serafina gegenüber, die inzwischen lautlos das Zimmer wieder betreten hatte.
Beunruhigt schüttelte sie den Kopf, stellte dann das Glas Wasser auf den Nachttisch. Während sie darauf Acht gab, sich die bloßen Füße nicht an den Überresten des vorherigen Gefäßes zu zerschneiden, trat sie einen Schritt näher.
Fragend runzelte sie die Stirn. „Die Wunde braucht Ruhe ... du brauchst Ruhe, Erik. Darf ich?"
Auf mein zögerndes Nicken hin, griff sie nach dem bereitliegenden Verbandszeug und einem der kleinen Tinkturfläschchen. Sie tränkte zwei Leinenstücke mit dieser beißend riechenden Flüssigkeit, und nachdem ich die alte Bandage vollständig entfernt hatte, pressten ihre kleinen Hände den Stoff auf Vorder- und Rückseite der Verletzung.
Das Brennen ließ mich die Zähne zusammenbeißen, und während ich ihr nun half, den Druck mit meiner Linken zu übernehmen, griff sie nach einer weiteren Stoffbinde und umwickelte geschickt meine Schulter.
Zufrieden lächelnd betrachtete sie das Ergebnis.
Ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen. „Hast du dich die ganze Zeit um mich gekümmert?", war meine heisere Frage.
Serafina reichte mir das Glas Wasser. Ich hob es an die Lippen, trank und meine Kehle hieß die wohltuende Kühle willkommen.
„Pater Giovanni war die meiste Zeit über hier. Er hat die Medizin geholt und für deine persönlichen Bedürfnisse Sorge getragen. Ich habe ihm nur so gut es ging geholfen." Sie lächelte scheu und ich war erleichtert, mich nicht mit dem Gedanken quälen zu müssen, ihr noch zusätzliche Mühe aufgebürdet zu haben.
„Und ich habe die Nachtwache übernommen", fügte sie vorsichtig hinzu, offenbar um ihr Erscheinungsbild zu erklären, welches ihr plötzlich Unbehagen zu bereiten schien. Röte breitete sich über ihre Wangen und in charmanter Unsicherheit verschränkte sie die Arme vor der Brust. Als sie jedoch feststellte, dass sie in dieser Haltung unfähig war, das nun zwischen uns entstehende Schweigen zu brechen – denn alles, was ich in diesem Moment wollte und tat war, ihren entzückenden Anblick vollkommen aufzunehmen – ließ sie die Hände sinken.
„Ich werde die Scherben aufkehren", erklärte sie, allem Anschein nach auf der Suche nach einer Möglichkeit, der merkwürdig andächtigen Stimmung zu entfliehen, die im Begriff war, sich über uns zu senken.
Doch ich gedachte nicht, es ihr so einfach zu machen. Zu viele Wünsche und Fragen spukten durch meinen Geist. „Vermisst man dich nicht Zuhause?", stellte ich ohne Umschweife eine der gravierensten.
Der Schmerz ihres Blickes machte mir das Herz schwer. Ich hatte nicht angenommen, dass ihr Vater gestattete, was sie tat, doch die gegebene Antwort Serafinas lag jenseits meiner Vorstellungskraft.
„Das glaube ich nicht." Ihre Hände zitterten. Bedächtig rückte sie den Polstersessel näher, nahm das Buch beiseite und setzte sich. Schwäche schien für einen Moment über sie gekommen zu sein, und noch während sie mit leeren Augen einen unsichtbaren Punkt auf dem Boden anstarrte, fuhr sie fort: „Ich habe wohl kein Zuhause mehr."
Das Blut rauschte mir in den Ohren, als ihre Worte allmählich durch den Schleier meiner Überraschung hindurchsickerten. Ich biss die Zähne hart aufeinander, spürte brodelnde Wut in mir aufsteigen und ballte die Fäuste, auch über meine erträgliche Schmerzgrenze hinaus.
Ardendo! Was hatte er getan! Dafür, seiner Tochter solch sichtbaren Kummer zuzufügen, würde er bezahlen! „Man hat dich also verstoßen, weil du mir geholfen hast", presste ich mit mühsam verhohlenem Zorn hervor.
Noch immer sah Serafina mich nicht an, während sie zu meiner Verwunderung leise den Kopf schüttelte.
„Nein." Tränen traten ihr kaum merklich in die Augen, in denen sich glänzend schön der Kerzenschimmer brach. „Ich bin gegangen."
„Aus welchem Grund?" Misstrauisch fasste ich sie noch genauer in den Blick. Hier ging etwas vor sich, dass sich jeglicher Erklärbarkeit entzog. In was für einer eigentümlichen Situation war ich nur erwacht! Langsam ließ meine Anspannung nach, wich vielmehr dem rasch anwachsenden Gefühl von Neugier, welche Enthüllungen Mademoiselle wohl noch für mich bereithalten mochte.
Von Zärtlichkeit erfüllt, betrachtete ich sie. Eine undurchdringliche Aura der Einsamkeit schien Serafina zu umgeben. Ihre schmalen Schultern hoben sich in einem kurzen, stummen Seufzen, und ich konnte den Wunsch nicht leugnen, sie tröstend in meine Arme schließen zu wollen.
„Darf ich dir einige Fragen stellen, Erik?" Ihre Augen trafen die meinen mit einer solch aufrichtig hilfesuchenden Offenheit, dass ich spürte, wie vollkommen zugetan mein ganzes Herz Serafina von diesem Moment an unabwendbar war.
Alles, was ich zu Stande brachte, war ein knappes Nicken.
Um sich selbst zu beruhigen, atmete sie tief ein. Dennoch wirkten ihre Hände unsicher. Als sie schließlich sprach, wagte sie nicht, mich direkt anzuschauen. „Mein Vater hat dir etwas Schlimmes angetan, nicht wahr? Das ist der Grund, weshalb du ihn nach so vielen Jahren aufgesucht hast ..."
„Ja." Es war sicher der Pater gewesen, der die tatsächlichen Geschehnisse vor ihr enthüllt hat.
Serafina rang sichtlich um ihre Fassung, doch allein das beherzte Blinzeln der Lider vermochte die Tränen nicht zurückzuhalten. Schon rann eine glitzernd über ihre Wange und ich spürte, wie ein bedauerndes Stöhnen sich meiner Kehle entrang.
„Mon coeur ..."
Ohne zu verstehen, mit welch gefühlvollem Ausdruck ich sie bedacht hatte, bat ihr Blick mich, zu schweigen. „Ich bin von Zuhause fortgegangen, weil ich nicht ertragen kann, was meine Familie dir angetan hat." Sie schluckte schwer und schaute zu Boden. „Ich habe deine Narben gesehen. Nun weiß ich, wer die Verantwortung dafür trägt."
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich mit entblößtem Oberkörper vor ihr saß. Seufzend zog ich die Decke ein wenig höher, um Serafina zumindest einen Teil ihrer offensichtlichen Befangenheit zu nehmen. Der Gedanke, dass mich der liebevolle Schmerz ihres Blickes gestreift haben musste, brachte mich einen Moment in köstlichster Weise durcheinander.
Doch sofort fanden meine Gedanken wieder in die Gegenwart und zu der Ernsthaftigkeit ihrer Worte zurück.
Sie schien lange mit sich gekämpft zu haben, um das zu sagen, womit sie fortfuhr. „Ich werde Verantwortung für die Taten meines Vaters und meines Onkels übernehmen. Es ist nur gerechtfertigt, auch wenn ich sicher nicht in der Lage sein werde, alles an Leid aufzuwiegen." Geradezu demutsvoll ließ sie den Kopf hängen. „Du hast keine Angestellten und ich kann dir im Haus helfen, oder erledigen, bei was auch immer sonst du meine Dienste benötigen kannst."
Ich war vollkommen überwältigt und spürte gleichzeitig einen Schauer kalten Entsetzens, da ich erkannte, in welchem Ausmaß sie sich damit meinem Willen auslieferte. Gerade von ihr erwartete ich nichts dergleichen – keine Furcht, keine Bekundungen von Reue oder Schuldgefühlen, kein Mitleid ... nur ihr Lächeln, nur ihre Nähe. Es widerstrebte mir, dass sie sich möglicherweise verpflichtet fühlte, etwas zu tun, was sie aus freien Stücken wahrscheinlich nicht über sich gebracht hätte.
Weder konnte ich ihr Opfer annehmen, noch es ausschlagen. Serafina hatte sich mit ihrer Familie überworfen, und schickte ich sie fort, hatte sie nach größter Wahrscheinlichkeit nicht einmal einen Zufluchtsort.
„Du wohnst im Moment hier?"
Ein schwaches Nicken war die Antwort. Sicher hatte sie sich in eines der Gästezimmer, an deren Einrichtung ich bisher nichts verändert hatte, zurückgezogen.
„Gut, du kannst dort bleiben, so lange du es wüschst. Doch solltest du wissen, dass ich nicht von dir erwarte, irgendeine Schuld zu tilgen, die jemand anderes, nicht du, auf sich geladen hat." Sie schien etwas einwenden zu wollen, doch ich schnitt ihr mit fortwischender Handbewegung das Wort ab. „Ich bitte dich sogar darum, hier zu bleiben. Allerdings nur unter der Bedingung, dass dir meine Nähe ebenso erwünscht ist, wie mir die deine. Du sollst dich als meinen Gast betrachten."
Ich hatte erwartet, dass Serafina nicken und mir vielleicht ein Lächeln schenken würde, vielleicht sogar damit gerechnet, dass sie darauf bestand, sich ihr Hiersein durch Arbeit in meinem Haushalt zu verdienen. Doch nun verfolgte ich wie gebannt ihre zierliche Gestalt, die sich aus dem Sessel erhob, neben mich trat und sich schließlich am Rand der Bettkante niederließ.
Mein Herz zog sich zusammen. Eine Frau, die meine Nähe freiwillig zu suchen schien, die sich nicht abschrecken ließ, dass dieser Mann die Fassade einer Maske nutzte, um einen Teil seiner selbst zu verbergen, hinter dem ein Monster lauern mochte ... so wie es in meinem Fall zutraf!
„Ich bleibe", erwiderte sie schicht und strich zaghaft über meine rechte Hand.
Mit angehaltener Luft wagte ich, sie ruhig zu ihrem Gesicht zu erheben. Serafina blinzelte nicht, zuckte nicht zurück, als ich andächtig die weiche Haut ihrer Wange berührte.
Niemals wäre ich dazu in der Lage gewesen, wenn es nicht wie jetzt den Anschein gehabt hätte, die Welt dort draußen würde nicht länger existieren. Keine misstrauischen Blicke der Menschen um mich, keine vor Schaudern zurückweichende Mutter, keine verzweifelt hilflose Christine bestimmten meine Gedanken, nur Serafina Ardendos offener Blick, der alles zu verstehen schien.
Wir waren zwei schwarze Kieselsteine, in einem Meer aus hellem Sand, zwei Seelen, die ihre offensichtliche Unvollkommenheit in einem geschützten Moment der Zurückgezogenheit vergaßen.
Meine Maske schien sie so wenig zu stören, wie mich ihre Stummheit.
Und doch wagte ich nicht, dieses wohlmöglich trügerische Gefühl der Vertrautheit und Akzeptanz ganz zuzulassen. „Fragst du dich nicht, wer der Mann ist, dessen Obhut du dich unterstellst? Fragst du dich nicht, was sich unter dieser Maske verbergen mag?" Ich deutete wehmütig auf mein Gesicht.
Serafina lächelte traurig und ließ ihren Blick beinahe zärtlich über das schwarze Leder gleiten.
„Pater Giovanni hat mir von deinem Leben erzählt – nicht ohne zu erwähnen, dass er deine Erlaubnis dazu hätte ... und auch Vater machte kein Geheimnis aus ... deiner Besonderheit. Für mich spielt es keine Rolle."
Ich spürte etwas, dass mir die Kehle zuschnürte und schluckte schwer. Überwältigt von ihrer Sanftheit, fühlte ich mich beinahe zu Tränen gerührt. Auf eine gewisse Weise war diese warmherzige junge Frau das unschuldigste Geschöpf, dem ich je begegnet war, mehr noch als Christine in all ihrer vertrauensvollen Gutgläubigkeit. Ich nahm nicht an, dass Serafina mein wahres Gesicht tatsächlich kannte, sonst hätte sie sicherlich nicht so geklungen, als wäre sie selbst dann noch bereit dazu, zu bleiben und meine Berührung willkommen zu heißen, nähme ich die Maske ab.
Doch entgegen aller Vernunft, gab ich mich für einen Moment jener Illusion hin, Serafina könne wirklich einlösen, was ihre liebevolle Nähe so tröstlich versprach und mich annehmen, als wäre ich ein gewöhnlicher Mann.
Wie war es nur möglich, dass die erste Frau, die sich nicht zu fragen schien, welches Grauen unter dieser Maske lauerte, ausgerechnet die Tochter eines Menschen war, der mit dem Anblick dieser Hässlichkeit seine Taschen gefüllt hatte?
Serafina
Es war bereits nach neun Uhr am nächsten Morgen, als ich unruhig auf dem Flur wartete. Pater Giovanni würde bald eintreffen, und Erik hatte mich ausdrücklich gebeten, ihn rechtzeitig zu wecken.
Doch nichts hatte sich im Zimmer gerührt, kein Laut war zu vernehmen.
Noch einmal klopfte ich gegen das massive, dunkle Holz der Tür, dieses Mal etwas lauter. Es war gut möglich, dass er noch zu fest schlief, um mich hören zu können. Sicher würde es weiterer Tage bedürfen, ehe er seine Kräfte wiedergefunden hatte, und noch länger, bis die Schussverletzung verheilt war. Doch dass niemand antwortete, konnte auch einen anderen Grund haben ...
Vielleicht hatte sein Zustand sich verschlechtert? Als ich ihn gestern Nacht verließ, war er mir sehr erschöpft vorgekommen, was auch nicht verwunderlich war da er schließlich zum ersten Mal seit Tagen das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Vielleicht war es sogar für einen Mann wie ihn zu anstrengend gewesen.
Angespannt lauschte ich noch immer, während das Herz mir bis zum Halse schlug. Sollte ich es wagen ...? Ohne weiter darüber nachzudenken tat ich, was mir durch den Kopf schoss. Die Sorge um Eriks Wohlergehen gewann mit Leichtigkeit die Oberhand über jeden Bedacht der Förmlichkeit, der zweifelsohne zwischen zwei nahezu fremden Personen, wie wir es waren, angebracht gewesen wäre.
Mit Erleichterung spürte ich, dass die Klinke dem vorsichtigen Druck meiner Hand nachgab und schob die unverschlossene Tür leise einen Spalt breit auf. Ich spähte hinein. Der Raum war noch immer dunkel und wollte ich wirklich etwas Genaueres erfahren, so musste ich ihn wohl betreten. Sehr leise öffnete ich noch ein Stück weiter und schlüpfte ins Zimmer. Während sich meine Augen an die schattigen Lichtverhältnisse gewöhnten, wanderte mein Blick bereits suchend in Richtung Bett. Ich bemühte mich, ein wenig mehr zu erkennen, und als ich zu meiner Verwunderung sah, dass es leer war, konnte ich ein leises Keuchen nicht zurückhalten.
Als wäre es ein unsichtbares Zeichen, auf das man nur gewartet hatte, sprang mit einem Mal die Tür zum angrenzenden Badezimmer auf, und Erik trat aus einer Wolke von Wasserdampf herein. Sofort trafen seine Augen auf mich, die ich unschlüssig in der Mitte das Raumes stand und nervös den Kopf von seinem Anblick abwandte.
Er war barfuß, trug jedoch schwarze Hosen und ein schlichtes, weißes Baumwollhemd, dessen rechter Ärmel lose an der Seite herabhing. Erik hatte seine verwundete Schulter entlastet, indem er den Arm in einer Schlaufe ruhiggestellt hatte.
Meine Anwesenheit kam mir äußerst töricht vor, und obwohl ich deutlich wahrnahm, dass er weder verstimmt noch unangenehm überrascht war, fühlte ich mich geradezu dazu gezwungen, eine Erklärung für mein Hiersein abzugeben.
„Ich hatte geklopft und niemand machte auf. Es tut mir Leid, dass ich einfach so hereingekommen bin, aber ich habe mir Sorgen gemacht und dachte du bräuchtest vielleicht meine Hilfe."
Langsamen Schrittes kam er auf mich zu. Mir stockte das Herz, als er nur noch ein kurzes Stück von mir entfernt war. Der Duft von Seife und frisch gewaschener Haut stieg mir in die Nase und ich konnte nicht umhin tief einzuatmen.
Scheu blickte ich auf und war erleichtert, zwar einem belustigten Funkeln, jedoch keiner tadelnd verzogenen Miene zu begegnen. Erik hatte sich rasiert und anstelle der unheimlichen schwarzen Maske trug er nun wieder das weiße Ledermodell, welches ihm zwar eine gewisse Unnahbarkeit zu verleihen schien, jedoch genug Freiraum ließ, um vom Rest seines Gesichts auf eine entspannte Stimmung schließen zu können.
Einen halben Meter vor mir blieb er stehen, betrachtete mich in solch ruhiger Art, dass ein Schauer meinen Rücken herabrann. „Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Serafina." Mit diesen schlichten, wohlklingend artikulierten Worten trat er an mir vorbei zu einem der Fenster und öffnete die schweren Vorhänge mit der linken Hand.
Augenblicklich flutete hellster Sonnenschein den dunklen Raum und ein frischer Luftzug strömte herein, als Erik die gläsernen Flügel aufstieß.
„Du hast dich erstaunlich gut erholt", drückte ich schließlich mein Überraschen aus, als ich die sturmgrünen Augen abermals auf mich gerichtet fühlte.
Er zuckte die Schultern. Und auch wenn seine Antwort beinahe nach amüsanter Bescheidenheit klang, ahnte ich, dass ein größerer Ernst dahinter stand, als man oberflächlich vermuten mochte.
„Ich habe mich daran gewöhnt, so schnell wie möglich wieder meine Kräfte zu sammeln."
Leise nickend wollte ich mich zum Gehen wenden, um ihn erneut seiner Privatsphäre zu überlassen, doch eine kurze Anweisung ließ mich innehalten. „Warte im Salon auf mich. Es gibt etwas Wichtiges, das ich mit dir besprechen muss."
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, als ich mich fragte, was dies sein könnte. Verschiedenste Ahnungen durchzuckten mich - alle zugleich - doch ich zwang mich zu einem kurz angebundenen ‚Ja' und verließ dann den Raum.
Noch immer der bohrenden Ungewissheit ausgeliefert, was Erik von mir wollte, trat ich zum Fenster des Salons und blickte hinaus auf den Kanal. Friedlich glitzerten die sanften Wellenbewegungen und spiegelten die Pracht dieses hellen Sommertages wider.
Was Vater und Sophia wohl gerade tun mochten? Nun, sicher gingen sie um diese Zeit ihrer gewohnten Arbeit nach, aber welche Gedanken begleiteten sie? Seit der Nacht des Maskenballs hatte ich dieses Haus nicht mehr verlassen. Ich fühlte mich außer Stande, den Blicken dort draußen zu begegnen, denn ich war sicher, dass etliche Gerüchte über mein ungebührliches Verhalten bereits die Runde machten. Es war schwer, in einer Stadt etwas geheim zu halten, die derart dicht verwoben und verwachsen war, wie diese. Ich war nie wirklich Teil jener eingeschworenen kleinen Gemeinschaft gewesen, doch durch meine jetzige Unverfrorenheit disqualifizierte ich mich gänzlich.
Ich schloss meine Augen, ließ den Kopf hängen. Hoffentlich erlitten Sophias Lebenspläne durch mich keinen zu großen Schaden. Leider war nur zu fest davon auszugehen, dass man von mir auf meine kleine Cousine schließen würde, waren wir doch beinahe wie Schwestern aufgewachsen.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss meine Gedanken in die Gegenwart zurück und als ich mich langsam herumdrehte, hatte Erik den Raum bereits betreten. Tapfer bemühte ich mich um ein Lächeln.
Sein Blick blieb ernst. „Geht es dir nicht gut, Serafina?", die Stimme klang besorgt.
Warum kann ich meine Traurigkeit nur so schlecht verbergen, ärgerte ich mich insgeheim über mich selbst. Sei nicht so unbeherrscht!
„Mir fehlt nichts", log ich schnell und sah gleichzeitig, dass er mir nicht glaubte.
Mit skeptisch erhobener Augenbraue ließ er sich mir gegenüber auf der dunklen Recamiere nieder und bedeutete, dass ich ebenfalls Platz nehmen sollte. In seiner linken Hand bemerkte ich einen Brief. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Zögerlich strich ich meinen schlichten Baumwollrock glatt und setzte mich auf einen der bequemen Sitzhocker aus Leder, die zwar ungewöhnlich waren, sich aber hervorragend in das Bild dieses exotischen Interieurs einfügten. Ich faltete die Hände im Schoß und blickte Erik fragend an. Warum nur schien es so, als ließe er mich keine Sekunde aus den Augen? Mir war, als läge etwas Interessiertes in seinem Ausdruck, etwas Lauerndes, wenn auch nicht wirklich bedrohlich.
„Worüber wolltest du mit mir sprechen?", brach ich schließlich das Schweigen mit einer Frage meiner unruhigen Hände. Die unausgesprochene Spannung, welche sich immer wieder zwischen und zu bilden schien, machte mich nervös und trieb mir aus unerfindlichen Gründen Hitze in die Wangen.
In einer, trotz seiner Verletzung eleganten, beinahe raubtierhaft geschmeidigen Bewegung erhob sich der Maskierte, trat auf mich zu und hielt mir den Umschlag entgegen.
„Was ist das, Erik?" fragte ich, ohne zu wagen, das Dargebotene entgegenzunehmen.
„Öffne ihn, dann erfährst du es." Mit einem Schulterzucken ließ er den Brief in meine Hand gleiten, setzte sich abermals auf die Recamiere und betrachtete mich abwartend.
Misstrauisch wandten meine Finger den Umschlag, so als würde ich ahnen, dass er eine unangenehme Überraschung beinhaltete. Und erst nachdem ich mir selbst sagte, dass es weder einen Grund dafür gäbe, noch dass gewöhnliches Papier so gefährlich sein konnte, wie mein Benehmen vermuten ließ, hob ich die eingesteckte Lasche an der Rückseite und entnahm einen gefalteten Bogen.
Ich erschrak, riss weit die Augen auf, als ich ihn entfaltete und der Inhalt, der darin verborgen gewesen war, in meinen Schoß fiel.
Was sollte das? Ich verstand nicht ...
Voller Entsetzen blickte ich auf und suchte Eriks ruhige Augen, die meine Reaktion genauestens verfolgten.
„Das Geld gehört dir, Serafina", erwiderte er schlicht, während ich zitternd das Bündel aufnahm. Es war eine hohe Summe, mehr als ich je zuvor in meinem Leben gesehen hatte.
In einer verstörten und hastigen Geste legte ich es auf den kleinen Tisch zwischen uns. Irgendwie ertrug ich es nicht, darüber nachzudenken, was er mir mit diesem ‚Geschenk' sagen wollte. Womit hätte ich es mir verdient? Welchen Wunsch konnte er an mich haben, der es rechtfertigte, mir im Voraus einen solch großen Betrag Geld zu überreichen?
„Das kann ich unmöglich annehmen!" Vehement schüttelte ich den Kopf.
„Es gehört ohnehin deiner Familie, chérie." Ich überhörte die unbekannte Formulierung, mit der er mich bedachte. Seufzend wanderte Eriks Blick auf eine Zeichnung an der Wand neben ihm, ohne wirklich daran interessiert zu sein. Es hatte vielmehr den Anschein, als zögere er eine weitere Erklärung hinaus, möglicherweise weil sie ihm unangenehm war. „Ich habe das Geld von deinem Vater, doch ich brauche es nicht. Mir wäre wohler bei dem Gedanken, es in derObhut eines rechtmäßigeren Besitzers zu wissen. Natürlich werde ich gerne für dich sorgen, während du unter meinem Dach lebst, doch du sollst dich zu nichts verpflichtet fühlen. Es steht dir frei, jederzeit zu gehen, und das Geld würde ausreichen, dir eine Wohnung zu leisten." Seine Augen fanden die meinen, und für einen Moment tauchte ich ein in die zärtlichen Gefühle, die dieser undurchschaubare Mann in mir zu wecken vermochte.
Ich hätte ihm beinahe Unrecht getan, seinem Geschenk unlautere Beweggründe zu unterstellen. Eriks Worte zeugten von Großzügigkeit. Mit klopfendem Herzen wurde mir klar, dass er sich mir nicht nur für seine Rettung verpflichtet fühlte, sondern mir gern die Möglichkeit gab, unabhängig zu sein.
„Erik ...", begann ich und wusste nicht recht, was ich sagen sollte.
„Nimm es, mon petite étoile. Du brauchst dich nicht dafür zu bedanken. In deinen Händen bedeutet es mir mehr Zufriedenheit, als in meinen." Sein Lächeln war wehmütig. Hielt er noch immer etwas zurück, das es ihn eigentlich zu sagen drängte?
Langsam nahm ich das Bündel wieder auf, steckte es zurück in den Umschlag und ließ diesen in meinem Schoß ruhen. In Form dieses Geldes hielt ich nun die Schuld meines Vaters in den Händen und schämte mich, so wütend auf ihn zu sein, dass ich es ihm nicht einmal zurück geben wollte. Er hatte es sich mit zuviel Leid eines anderen Menschen verdient ...
„Danke." Mein Lächeln schien Erik zu freuen. Etwas in seinem Blick blitzte auf nahezu schurkische Weise und ich spürte mich erröten. Irgendwo in mir wisperte der Wunsch, zu ihm zu gehen, meine Arme um ihn zu legen – nicht zum Dank, nicht aus Verpflichtung, sondern einfach nur, weil ich das unergründliche Verlangen spürte, ihm nahe zu sein.
Natürlich gab ich dem Gefühl nicht nach. Wie hätte ich ein derartiges Verhalten erklären können? In der Nacht des Maskenballs, als ich ihn geküsst hatte – noch immer schämte ich mich für diese unbedachte Impulsivität -, hatte ich alle Konventionen vergessen. Doch bisher hatte er weder ein Wort über jene leichtfertige Vertraulichkeit verloren, noch nahm ich an, dass sein Interesse an mir in eine solche Richtung ging.
Als Erik ganz unvermittelt fragte, ob eine Lieferung aus Mailand für ihn eingetroffen sei, und ich erwiderte, man habe die Orgel in einem der hinteren Räumlichkeiten aufgestellt, so wie er es vor den Ereignissen am Montagabend mit dem Hersteller vereinbart hatte, erhob er sich. Ein Ausdruck von Vorfreude hatte sich über seine Züge gebreitet, und Ungeduld schien ihn zu beherrschen. Seine ansonsten so kontrollierte Fassade sank für einen Augenblick, und was darunter zum Vorschein kam, machte mich neugierig auf mehr. Wie mochte dieser Mann sein, wenn er sich nicht selbst die schweren Ketten der Zurückhaltung auferlegte?
So schnell der Moment gekommen war, war er auch schon wieder verflogen. Seine Stimme und Haltung waren ruhig, wie gewohnt. „Ich werde sie mir ansehen. Wenn es dir gefällt, begleite mich doch."
Mit einem kurzen Nicken folgte ich ihm.
Als wir den Hauptgebäudetrakt verließen und durch den Garten hindurch auf das Musikzimmer zugingen, nutzte ich die frische Sommerluft, um tief einzuatmen und meine Gedanken ein wenig zu sammeln.
Sicher sollte ich mir nicht den größten Teil meiner Zeit den Kopf über Erik zerbrechen, sondern vielmehr darüber, wie mein Leben von hieran verlaufen sollte. Meine Arbeitsstelle hatte ich zweifelsohne durch die tagelange Abwesenheit verloren. Traurigen Blickes war Pater Giovanni der Überbringer dieser Mitteilung von Signora Scabrezza gewesen. Es hatte mich weniger geschmerzt, als ich vermutet hätte.
Womit sollte ich nun die Leere meiner Tage füllen? Sicher würden die anfallenden Arbeiten in diesem Haushalt einige Zeit in Anspruch nehmen – denn an meinem Plan und der augenscheinlichen Notwendigkeit, Erik in dieser Hinsicht zu Diensten zu sein, bestand kein Zweifel. Doch da wir nur zu zweit den Palazzo bewohnten, würden diese Tätigkeiten kaum mehr als zwei oder drei Stunden in Anspruch nehmen.
Meine Überlegungen waren noch lange zu keinem Ergebnis gekommen, als wir das kühle Hinterhaus betraten. Unser Ziel lag im Erdgeschoss, direkt unter dem Gästebereich, den ich momentan bewohnte. Eriks Musikzimmer, das ehemals ein kleiner Lagerraum gewesen war, besaß keine Fenster.
Während er bereits mit andächtigen Schritten auf die eindrucksvolle Orgel zuging, welche die gesamte Wandfläche zu unserer Rechten einnahm, eilte ich zu einer kleinen Kommode gegenüber, um einen Kerzenleuchter zu entzünden. Anschließend wandte ich mich zwei Wandleuchtern zu, und kurz darauf war der Raum von einem warmen Lichtschein erfüllt.
Unschlüssig verharrte ich einige Meter entfernt, wagte kaum, mich zu bewegen, um Erik nicht aus seiner gedankenverlorenen Betrachtung des wunderschönen Instrumentes zu reißen. Es war augenscheinlich, dass es ein elementares Gefühl der Zusammengehörigkeit in ihm ansprach.
Beinahe zärtlich strichen die eleganten Finger seiner linken Hand über die schwarzen und weißen Tasten, und sein Verlangen, ihnen endlich die Klänge zu entlocken, die in diesem Moment seinen Geist zu durchdringen schienen, war geradezu greifbar.
Die Welt um ihn herum hatte aufgehört, zu existieren, als er sich langsam auf der Sitzbank niederließ und den verwundeten Arm aus der Schlaufe befreite. Sein Hemd rutschte zur Seite, und errötend lenkte ich meinen Blick von den sehnigen Muskeln fort.
Erik hingegen schien nichts mehr wahrzunehmen, auch nicht die Schmerzen, die es ihm ganz gewiss bereiten musste, beide Hände auf die Tasten zu senken und einen ersten, vorsichtigen Akkord zu spielen.
Schon bei diesem einfachen Klang schlossen sich seine Augen.
Ich hielt den Atem an, als ich erkannte, welchen Grund es hierfür gab.
Damals in der Kirche bei Pater Giovanni hatte ich Eriks Spiel nur gehört und schon war ich, zutiefst bewegt, zu Tränen gerührt gewesen. Doch nun durfte ich Zeugin eines einzigartigen, beinahe mystischen Anblicks sein, wie ich ihn mir nie hätte träumen lassen. Dieser Mann schien zu verschmelzen mit den Klängen, mit der Melodie. Alles in seiner Haltung, der friedliche Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen kündeten von Hingabe, einem Verständnis für das Wesen der Musik, das an Selbstaufgabe grenzte.
Nein, nicht ‚Aufgabe', dachte ich erzitternd, als ich mich überwältigt von der betörenden Leichtigkeit seines Spiels an die kleine Kommode lehnen musste. Erik wirkte nicht, als hätte er seine Kontrolle an diese ätherisch tanzende Melodie verloren, sondern als wäre er unbestreitbar ihr einziger Meister.
Der plötzliche Umschwung des Themas durchschoss mich mit einem Schaudern, und entsetzt empfand ich eine Welle von Schwindelgefühl, die mich zu überrollen drohte. Wo vorher noch kurze, heitere Noten ein unschuldiges, helles Bild gemalt hatten, züngelten mit einem Mal Flammen, erbebte die Erde.
Ich spürte die ungebremste Kraft von Wut und Schmerz tief in meinem Magen und tastete blind nach dem Halt einer Wand. Mein Blick galt einzig und allein Erik, dessen Bewegungen an Intensität gewonnen hatten, dessen Hände sich erbarmungslos in den Sumpf dieser Klänge gruben.
Unfähig, ein leises Keuchen zu unterdrücken, flogen meine Augenlider zu, nur um sich sofort wieder in Erstaunen zu öffnen, da sich die Stimmung des Spiels abermals in Sekundenschnelle geändert hatte.
Ein weiches, langgezogenes Seufzen von klarster Schönheit milderte mein erwachtes Unbehagen, und mit klopfendem Herzen sah ich den direkten Blick von Eriks Augen, in denen sich Bedauern und Wehmut wiederspiegelten. Ich fragte mich, ob mein Keuchen ihm überhaupt erst wieder zu Bewusstsein gebracht hatte, nicht allein zu sein. Die Melodie, mit welcher er den kleinen Raum nun füllte, schien direkt an mich gerichtet zu sein, mich zu besänftigen, mich zu rufen ...
Mein Atem, der eben noch schreckhaft, schnell und angespannt gewesen war, wurde ruhiger, und ich glaubte langsam von einem dichten, weichen Schleier umhüllt zu werden. Die volle Sanftheit der Töne streichelte meine Seele und sie verlor sich vollkommen überwältigt in ihr.
Die Melodie lockte mich, zog mich verführerisch einem ungewissen Ziel entgegen, das ich nicht zu benennen vermochte. In ihr schlummerte eine sehnsuchtsvolle Verheißung, ein bedingungsloses Versprechen und ich wünschte, mich diesen Empfindungen widerstandslos überlassen zu können.
Dass ich mich bewegt, ja sogar den Raum durchquert hatte, wurde mir erst in dem Moment klar, als ich mich unmittelbar neben Erik stehend wiederfand.
Er betrachtete mich unter halbgeschlossenen Lidern, und ich erschauerte. Als ich zaghaft links von ihm auf die kleine Sitzbank niedersank, war meine Blickrichtung der seinen entgegengesetzt. Ein leichter Schwindel hatte mich erfast, angesichts seiner Nähe und dem abermals erwachendem Drang, Erik zu berühren, noch einmal seine Hand an meiner Wange zu spüren, noch einmal seine Lippen auf den meinen.
Ich blickte zu Boden, lauschte dem aufgeregten Schlag meines bebenden Herzens und fragte mich angstvoll, was mich erwarten mochte, da jene sehnsüchtige Musik langsam leiser wurde, langsam fortebbte.
Schließlich sanken Eriks Hände friedlich herab.
Ich wagte nicht, mich zu rühren, wagte nicht den ersten mutigen Schritt zu machen, der doch so unausweichlich schien, angesichts dieses zärtlichen Blickes, den ich deutlich auf meinem Gesicht ruhen spürte.
„Mon coeur ...", flüsterte er schließlich mit rauer Stimme. Ich hielt den Atem an. „Wenn ich dich berühren würde, verschwändest du dann - wie ein Traum?"
Es war mir unmöglich zu antworten, und so schaffte ich nur, kaum merklich den Kopf zu schütteln.
Alles in mir kribbelte, als er sich zu mir wandte, und ich die sehnige Hand in meinem Nacken spürte, die gerade noch diesen Tasten solch träumerische Klänge entlockt hatte, und nun liebkosend meine Haut berührte.
Erschauernd sah ich, wie sein Gesicht immer näher rückte, sein Atem sanft über meine gerötete Wange strich. „Und wenn ich dich küsse, weichst du dann zurück?"
Ich konnte nur aufblicken, in diesen unendlich scheinenden Augen versinken, und meine Lippen dem Mann darbieten, der mein Herz doch längst besaß.
Erik
Es war Sonntag, und zwei Tage waren vergangen, in denen ich nun schon die Gesellschaft eines solch liebevollen Wesens genießen durfte. Es erstaunte und erschreckte mich, mit welcher Unbefangenheit, ja Freude Serafina meine Nähe annahm.
Ich sog die kühle Nachtluft tief ein, ergab mich für einen Augenblick den widersprüchlichen Gefühlen, die in meinem Innersten tobten.
Heute Abend war es mir schwer gefallen, den Palazzo zu verlassen, denn bis spät in die Nacht hatten Serafina und ich friedlich in der Stille des Hofgartens gesessen, und nur allzu gerne hätte ich länger in dieser ruhigen Gemeinschaft mit ihr verweilt. Die junge Frau hatte im Schein einer Laterne ihr Buch gelesen und dabei – völlig in einer anderen Welt versunken – immer wieder mit einer Strähne ihres hochgesteckten Haares gespielt. Auch wenn ich eigentlich damit hatte fortfahren wollen, Ordnung in meine mittlerweile recht umfangreichen Partituraufzeichnungen zu bringen, war ich doch derart von ihrem friedlichen Anblick gefangen gewesen, dass alles andere unwichtig erschien.
Als ich schließlich vor einer halben Stunde aufgestanden war, um mich – unter dem Vorwand müde zu sein - auf den Weg hierher zur Rialtobrücke zu machen, hatte auch sie sich mit einem erschöpften aber zufriedenem Lächeln erhoben.
Nachdenklich fuhr meine linke Hand hinauf zu den Lippen, wo ich noch immer Serafinas liebevollen Kuss zu spüren glaubte.
Nun hatte sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen, während ich an diesem nachtverschleierten Ort die Ankunft ihres Vaters erwartete, um diesem Mann den Todesstoß zu versetzen und mich nicht länger mit ihm und seiner Vergangenheit zu belasten. Es gab wichtigere Dinge, für die ich nun Sorge tragen musste. Zum einen war da Serafina und zum anderen Gandin!
Oh ja, Gandin und seine kleine Operndiva! Ich ballte die Faust und starrte finster in die Tiefe des Canale Grande. Sie würden sich nicht lange mit dem Vergnügen brüsten können, das ‚Phantom der Oper' besiegt zu haben. Ich würde mein Werk zurückerobern, und sie würden dafür bezahlen, was sie getan hatten.
Aus einigem Abstand vernahm ich näherkommende Schritte und schob alle Überlegungen, die nichts mit diesem Treffen zu tun hatten, entschlossen beiseite.
Zufriedenheit erfasste mich, als Ardendos Gestalt in den Schatten sichtbar wurde, und ich den gramgebeugten Anblick des unglücklichen Mannes erkannte.
„Du kommst spät. Was hat dich aufgehalten?"
„Sie wohnen im Palazzo, gegenüber des La Fenice?" Ardendo war im Abstand von etwa einem Meter stehen geblieben und hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf.
Ich hatte mein Cape so um die Schultern geschlossen, dass die einschränkende Verletzung unsichtbar blieb. Niemand sollte sich aufgrund dieser einen Vorteil ausrechnen können. „Ich wüsste nicht, was dich diese Information angeht, aber ‚Ja'. Das Haus gehört mir."
Die Augen des alten Mannes verengten sich zu schlitzen, Sein offensichtlicher Kummer hatte ihn altern lassen, seit wir uns das letzte Mal begegnet waren, und ich hob das Kinn, genoss sein Leid.
„Dann ist sie also bei Ihnen!"
Meine Antwort war ein anzügliches Lächeln, als ich beschloss, die Qualen Ardendos noch zu steigern. „Das ist sie ... freiwillig. Und angesichts ihrer charmanten Gesellschaft, die mich weitaus mehr entschädigt als dein kümmerliches Salär, bin ich gerne bereit, dir den restlichen Teil der Schuld zu erlassen. Serafina stellt eine wesentlich reizvollere Wiedergutmachung dar." Dass ich nie auch nur daran zu denken gewagt hätte, etwas zu tun, dass ihr widerstrebte, brauchte der alte Narr nicht zu erfahren.
Sein blasser Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem zornigen Rot. „Ich werde doch meine Tochter nicht verkaufen!"
Kühl beobachtete ich seine zitternd verkrampften Hände. „So? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du auch nur versucht hättest, sie aus dem Palazzo wieder in ihr Heim zurückzuholen. Sie bliebt bei mir."
Serafina hatte mir die Einzelheiten jener Nacht nicht verschwiegen, in der sie sich mit ihrem Vater überworfen hatte. Sein männlicher Stolz hinderte ihn wohl, den ersten Schritt auf sie zu zu machen, geschweige denn von ihr zu erbitten, nach Hause zu kommen. Wie verdrießlich für ihn! Die perfide Freude über dieses Dilemma seinerseits, durchströmte mich mit heißer Glut.
Dies war der Moment meines Triumphes! Der Schmerz in seinen Augen, die Gewissheit, Ardendo nun auch das genommen zu haben, was ihm am wertvollsten war, sollte aufwiegen, was sein Bruder und er an Schuld auf sich geladen hatten.
Ich wandte mich in dumpfer Befriedigung ab und überließ den Mann seinen Gedanken.
„Erik! Das kann doch nicht ihr Ernst sein!" Verzweiflung, Unglauben und ein letzter Funke Hoffnung schwangen in seiner Stimme.
Doch auch diesen löschte ich aus, als ich mich ein letztes Mal herumdrehte. „Oh, aber doch, Zingaro. Es ist mein Ernst ... und der deiner Tochter. Du wirst sie wohl niemals wiedersehen."
Während ich die Stufen der Brücke hinunterging wusste ich, dass ich gewonnen hatte.
Dunkelheit!
Angst!
Keuchen!
Feuerschein!
Starrende Augen, verzerrte Gesichter, lachende Menschen!
Und keine Möglichkeit, mich zu verstecken, keine Möglichkeit, zu entfliehen!
Auf einmal stand ich wieder auf der Bühne mit Christine, hielt ihre Hand, bat sie mit flehentlicher Stimme, bei mir zu bleiben, mich zu lieben ...
Ich sah ihr trauriges Lächeln und spürte, wie sie plötzlich die Maske von meinem Gesicht riss. Obwohl ich diesen Verlauf hätte vorhersehen können, erfasste mich Entsetzen, Traurigkeit und schließlich Zorn und Scham, als ich das grotesk verzerrte Fleisch einmal mehr dem grauenerfüllten Publikum darbot.
Grimmig sah ich zu der Loge auf, von wo aus der Vicomte dieses herrliche Schauspiel verfolgen musste, und erstarrte ...
Schreckensweite Augen, ein von unsagbar erschütterter Angst erfüllter Blick ...
Serafina!
Schweißgebadet schrak ich auf. Nichts als das Halbdunkel meines Schlafzimmers umgab mich – keine Gitter, kein Käfig, keine Bühne der Pariser Oper.
Mit einem leisen Fluchen setzte ich mich auf. Mein Hals war trocken und die Schusswunde machte mit einem stechenden Schmerz auf sich aufmerksam.
Welche Art von Befreiung aus meiner Vergangenheit die Abrechnung mit Ardendo auch gebracht haben mochte, dieser Alptraum, der dem Treffen gefolgt war, schien mir mit Abstand einer der schlimmsten zu sein, die mich in letzter Zeit heimgesucht hatten.
Ein freudloses Lachen entrang sich meiner Kehle. „Es sieht so aus, als müsste ich ein anderes Heilmittel finden." War es nicht genug zu wissen, dass der alte Mann durch mich nun die Person verloren hatte, welche ihm mehr bedeutete als alles andere? War es nötig, dass ich meinen Schwur brach, abermals zum Mörder werden müsste, um meines Seelenfriedens Willen? Welch makaberer Spielzug des Schicksals!
Plötzlich fiel mein Blick auf den schwachen Lichtschein vom Flur aus, und ich runzelte die Stirn angesichts der Tatsache, dass die Tür zu meinem Zimmer einen schmalen Spalt breit offen stand.
Noch einmal sah ich um mich, dieses Mal gezielt nach etwas Bestimmten Ausschau haltend. Tatsächlich, eine zurückhaltende Bewegung neben der Tür – dort, wo das Licht nicht hinreichte - und langsam näherte sich Serafinas Gestalt dem Bett.
Sie trug ein einfaches weißes Leinennachthemd, das Hals und Schlüsselbeine enthüllte und heller leuchtete, je näher sie kam. Ein verlegenes Lächeln lief über ihre Lippen, hielt sie aber nicht davon ab, sich auf den Rand des Fußteiles zu setzen und mich fragend anzuschauen.
Ihr langes Haar floss glänzend um die schmalen Schultern und streichelte sanft die weiche Haut ihres Nackens. Ich erschauerte angesichts dieser wunderschönen Erscheinung. Beinahe musste ich dem Alptraum, dessen Schrecken sie wohl auf mich aufmerksam gemacht hatte, dankbar sein.
„Du hast nach mir gerufen, und hier bin ich", sagte sie schlicht.
„Das sehe ich. Doch was viel entscheidender ist: was gedenkst du nun zu tun?"
Ein irritierter Ausdruck senkte sich über ihr Gesicht. „Weshalb hast mich denn hergerufen? Hast du Schmerzen? Soll ich Pater Giovanni bitten, ein wenig Laudanum zu besorgen?"
„Nein." Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich so laut gewesen sein musste. Vermutlich schlief Serafina, so wie ich, bei offenem Fenster, und der Hall des Hofes hatte meine Stimme bis zum Hinterhaus getragen. Es war mir unangenehm, sie geweckt zu haben. Normalerweise gestattete ich mir keine derartige Schwäche, denn ein Alptraum, der derart unangenehme Kraft besaß, war ein Zeichen für den auch weiterhin über mir wachenden Schatten der Vergangenheit.
Müde seufzend lehnte ich mich in die Kissen zurück. In den letzten Nächten hatte ich nur wenige traumlose Stunden lang geschlafen – ein Tribut, den ich der Erschöpfung zollte, die nach Gandins Hinterhalt noch immer auf mir lastete.
„Es war nichts mit mir, mon coeur. Du solltest wieder zu Bett gehen."
„Nichts?"
Ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Ganz gewiss war mir nicht daran gelegen, mit für Serafinas Blässe verantwortlich zu sein, die in den letzen Tagen ohnehin besorgniserregend zugenommen hatte.
Ein kaum merkliches Wippen der Matratze machte sich bemerkbar, als sie aufstand. Doch anstelle leiser, sich entfernender Schritte, vernahm ich plötzlich das Knarren von Holz, dass über die Bodendielen geschoben wurde.
Überrascht wandte ich den Kopf und sah im Halbdunkel, wie Serafina einen der beiden Polstersessel, die für gewöhnlich neben dem kleinen Cafétisch beim Fenster standen, links neben das Bett rückte.
Ich folgte ihrem Vorhaben mit belustigtem Interesse.
„Und was darf ich aus ihrem Tun schließen, Mademoiselle?"
„Ganz einfach, Erik." In einer fließenden Bewegung ließ sie sich auf die samtbezogene Sitzgelegenheit fallen und zog in ungezwungener Geste, ihre Beine unter den Körper. „Du bist noch immer nicht ganz gesund, und da ich ohnehin nicht gut einschlafen kann, wenn ich einmal aufgeweckt wurde, werde ich für den Rest der Nacht hier aufpassen." Entgegen ihrer Beteuerung, nicht müde zu sein, kämpfte sie tapfer gegen ein kleines Gähnen an.
„Wie unverfroren, Mademoiselle, allein mit einem Mann in seinem Schlafzimmer ... fürchten Sie denn nicht um Ihren Ruf?"
Auch wenn meine Augen sehr gut waren, konnte ich nicht genau erkennen, ob Serafina errötete. Aufgrund ihres gesenkten Kopfes und der Tatsache, dass sie meinem neckenden Blick auswich, war ich mir hierüber jedoch beinahe sicher.
„Ich denke nicht, dass ich meinem Ruf noch großartig Schaden zufügen kann, Monsieur. Und ich vertraue auf Ihr Ehrgefühl einer Dame gegenüber", gab sie schließlich ironisch zurück und bemühte sich gleichzeitig, in dem zwar bequemen, allerdings recht schmal gearbeiteten Möbelstück eine möglichst angenehme Schlafposition einzunehmen.
„Oh, mon petite étoile, das kann ich nicht mit ansehen." Ich musste verrückt sein, zu sagen, was ich nun sagte, zu tun, was ich nun tat. Vielleicht war es ein Anflug von nächtlicher Verklärtheit, vielleicht pure Selbstkasteiung, um meine und Serafinas Grenzen auszutesten. Soweit wie möglich rutschte ich an den äußersten Rand des breiten Bettes.
Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie erkannte, was mir vorschweben musste.
„Komm her." Oh diese verfluchte Heiserkeit meiner Stimme, die doch kaum einen Hehl daraus machte, wie inständig ich ihre Zustimmung erhoffte. „Wenn du schon auf deine Nachtwache bestehst, solltest du wenigstens versichert sein, am nächsten Morgen nicht mit vor Unbequemlichkeit schmerzenden Knochen zu erwachen."
Wir maßen einander. Abwartend, prüfend. Keiner rührte sich.
Was tat ich hier nur? Ich kam mir vor, wie ein alter Narr, der das endlich gnädige Schicksal solange herausforderte, bis es vor Angst wieder erblasste.
Bestenfalls konnte ich damit rechen, dass Serafina lächelte, sich verabschiedete und meine Worte als einen Scherz abtat. Ohne Zweifel wäre es klüger gewesen, den Dingen mehr Zeit zu lassen, die begonnen hatten, sich in gegenseitigem Einvernehmen still zwischen uns zu entwickeln.
Gerade als ich im Begriff war, ein leises Lachen hervorzuzwingen und mein Verhalten somit für unbedeutend zu erklären, erhob sie sich plötzlich und schnappte eine der leichten Leinendecken, die als Überwurf am Fußende zusammengelegt waren. In einer einzigen Bewegung wand sie den kühlen Stoff um ihre zierliche Gestalt, ließ sich an der gegenüberliegenden Seite der Matratze nieder und rollte sich, mit dem Rücken zu mir, ein.
„Gute Nacht, Erik", sah ich ihre blassen Hände hastig formen, wobei Serafina tunlichst darauf Acht gab, meinen Blick zu meiden.
„Gute Nacht, mon mystérieuxse." Zärtlich berührte ich die Spitzen ihrer Haare und war erstaunt, nicht nur spottende Leere zu ertasten, wie es bei einem Traum üblich gewesen wäre.
Nie zuvor hatte ich derart dicht bei einer Frau gelegen, und der berauschte Schlag meines Herzens, zerriss mir förmlich die Brust. So nah ... ich brauchte nur meine Hand auszustrecken und schon könnte ich durch den dünnen Stoff die pure Wärme ihrer Haut spüren. Ich könnte sie berühren, ich könnte sie küssen, ich könnte in ihr liebevolles Gesicht sehen ... und sie würde nur meine Maske erblicken.
Vielleicht nähme sie meine Zärtlichkeit tatsächlich gern entgegen, vielleicht erwiderte sie den dumpf vibrierenden Klang, der tief in mir erwacht war – doch es wäre nur eine Illusion, der sie sich hingab, verschleiert von der wirklichkeitsfernen Schlaftrunkenheit einer Nacht und der Täuschung dieser Maske, die Serafina vor dem Scheusal dahinter bewahrte.
Nein! Ich zwang mich zur Ruhe. Nein! Ich war nicht bereit das aufrichtige Gefühl von Zusammengehörigkeit einzutauschen, gegen die schale Befriedigung einer wollüstig aufkochenden Laune.
Mit jeder Minute, die verstrich gewann ich mehr Kontrolle über mein Verlangen zurück.
Serafina war eingeschlafen, und absolut unbewusst wandte sie sich so, dass ihr Gesicht mir schließlich gegenüber lag.
Friedliche Sanftmut stand in ihren Zügen. Geborgenheit ...
Vehement schob ich einen Gedanken an die andere Frau, die mir so großes Vertrauen entgegengebracht hatte, beiseite. Serafinas Gefühle waren anders, als die von Christine. Sie waren weniger bedingungslos, weniger selbstvergessen, weniger kindlich. Diese junge Frau war weitaus gefestigter in ihrer eigenen Person, als mein unschuldiger, kleiner Engel aus der Pariser Oper. Ich zweifelte nicht daran, Serafinas Gefühle zu verlieren, handelte ich ihrer Vorstellung von Menschlichkeit allzu sehr entgegen. Sie war durchaus in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie war zart, aber nicht zerbrechlich, beschützenswert, aber nicht hilflos.
Uns trennte nur ein winziges Stück. Ihr ruhiger Atem strich über die Haut meiner nicht maskierten Wange.
Ich wusste, dass ich in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde. Jede Müdigkeit war unwichtig, angesichts der Möglichkeit, Serafina zu betrachten.
Sollten vergangene Schrecken doch meine Träume bevölkern! Meine wachen Stunden füllte sie mit Frieden.
SerafinaAm nächsten Morgen hörte ich den angenehmem Klang einer Orgel, der durch das Fenster an mein Ohr drang. Auch in den letzten Tagen war ich von ihr geweckt worden, doch heute schien die Musik gedämpfter, gar nicht so, als käme sie aus Eriks Musikzimmer, das direkt unter meinen Gemächern lag.
Noch immer im wohlig tauben Gefühl des tiefen Schlafes gefangen, räkelte ich mich und versuchte zaghaft zu blinzeln. Die Vorhänge waren zwar zugezogen, doch helles Sonnenlicht stahl sich durch einen Spalt an der Seite.
Erschrocken fuhr ich auf. Mein Herz klopfte wild, als ich das Zimmer nicht als meinen kleinen Raum im Hinterhaus, sondern als Eriks Schlafgemach erkannte.
Wundert dich das, fragte eine spöttische kleine Stimme in meinem Hinterkopf. Schließlich bist du selbst gestern Abend in sein Bett gekrochen, meine Liebe.
Ehe ich in weitere beschämende Gedanken versinken konnte, sprang ich auf und hastete zurück in meine eigenen Räumlichkeiten. Erst als ich die Tür zum Badezimmer hinter mir geschlossen hatte, gestattete ich mir ein leises Seufzen.
Ich bereue nicht, was ich getan habe, dachte ich, während ich mein Nachthemd abstreifte, nach Schwamm und Seife griff. Und sollte ich bisher auch nur im Ansatz an der Richtigkeit meiner Entscheidung, bei Erik zu bleiben, gezweifelt haben, so dürfte sein Verhalten von letzter Nacht wohl Beweis genug sein. Papa war im Unrecht, ihn ein Monster zu nennen! Viele der ‚anständigen' jungen Männer hätten sich ganz andere Dinge herausgenommen, wenn ich ein derart gewagtes Benehmen an den Tag gelegt hätte.
Während ich meine Morgentoilette beendete, ertappte ich mich dabei, in die närrische Phantasie einzutauchen, wie ein Leben mit Erik aussehen mochte.
Doch ich schob diese von idealistischen Träumereien bestimmten Überlegungen beiseite, als mir plötzlich eine schauderhafte Gewissheit durch den Kopf schoss. Gandin und Carlotta Giudicelli, an die ich trotz Eriks Verletzung in den letzten Tagen kaum einen Gedanken verschwendet hatte, waren noch immer im Besitz seiner Oper, seines Lebenswerkes. Und so wie ich diesen Mann mittlerweile kennengelernt hatte, war nicht davon auszugehen, dass er diesen Umstand widerstandslos hinnahm.
Ich warf den Morgenmantel über und begab mich zu dem bescheiden gefüllten Kleiderschrank im Schlafzimmer. Er enthielt alles an Garderobe, was Sophia über Pater Giovanni von Zuhause fortschmuggeln konnte. Ich schlüpfte in das helle Unterkleid, schnürte eilig mein Korsett und zog ein luftiges, kupferrotes Tageskleid über. Während ich meine störrischen Locken zu bändigen versuchte und sie schließlich im Nacken zusammengesteckt bekam, grübelte ich weiter.
Nein, Erik würde die Dinge niemals einfach so auf sich beruhen lassen. Es war vielmehr wahrscheinlich, dass er sich schon längst mit Racheplänen trug. Und wenn Pater Giovanni mit den Ausführungen über Eriks Vergangenheit recht hatte, würde seine Vergeltung an der Diva und Gandin überaus unangenehm für die beiden aussehen.
Ich stockte in der Bewegung, die Tür zu öffnen, um auf den Flur zu treten. Er würde doch nicht soweit gehen, ihnen wirklich nach dem Leben zu trachten, oder doch? Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich den überdachten Außengang entlang in die Küche eilte, welche im vorderen Gebäudetrakt gelegen war. Ich musste mich von derartigen Grübeleien ablenken und so begann ich mein ohnehin gefasstes Vorhaben, wie jeden Morgen das Frühstück zu zubereiten.
Erik erschien genau in dem Moment im Türrahmen des Esszimmers, als ich die letzten Teller und das frische Rührei auftrug.
„Wie ich sehe, erwarten wir wieder einmal Gäste ...", scherzte er angesichts der Tatsache, dass ich tatsächlich wie auch an den Vortagen eine außergewöhnlich vielseitige Mahlzeit zusammengestellt hatte.
„Das ist nur die Schuld der Überfülle in deiner Vorratskammer. Die große Auswahl verwirrt mich", gab ich mit einem entschuldigenden Schmunzeln zurück.
„Ich werde mich bemühen, das zu ändern. Aber deiner eifrigen Kochkunst nach zu urteilen, sind die Vorräte ohnehin in ein oder zwei Tagen erschöpft. Es genügt also, wenn ich sie einfach nicht wieder auffülle", mit lakonischem Funkeln in den Augen, ließ er sich am Kopf der Tafel nieder.
Wiederholt fiel mir auf, dass er eigentlich über eine angenehme Art von sarkastischem Humor verfügte, zumindest bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er sich entschloss, ihn zu zeigen.
Das Frühstück nahmen wir schweigend ein. Erik gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die allzu großen Wert auf unverbindliche Konversation legte. Ich hatte den Eindruck , dass er Schweigen vorzog, ehe er sich mit Belanglosigkeiten aufhielt.
Doch leider war mir an diesem Morgen sehr an Ablenkung gelegen. Noch immer spukte das Bild Eriks, als düsterer Racheengel Carlottas und Gandins mir vor Augen. Gerade als er sich die letzte Tasse stark gebrühten Café eingoss, beschloss ich die Stille durch ein kleines, angenehmes Gespräch zu beenden.
„Von deinen Reisen nach Persien hast du mir bereits erzählt, Erik, auch von Russland, Indien und Ägypten ... aber noch nie von Paris. Dabei muss diese Stadt doch eine faszinierende Erfahrung sein! Ich habe einiges aufgeschnappt, da viele von Papas Kunden französische Geschäftsleute auf der Durchreise sind. Wann immer man ein wenig länger mit ihnen sprach, konnte man versichert sein, dass das Thema früher oder später auf eure Hauptstadt fiel. Alle, an die ich mich erinnern kann, sprudelten förmlich über vor Begeisterungshymnen auf Architektur und Lebensart ... Ist es dort wirklich so atemberaubend schön? Ist Paris wirklich dieser vor Lebendigkeit pulsierende Nabel der europäischen Welt?"
Etwas veränderte sich an der Stimmung im Raum, das merkte ich sofort.
Eine langen Moment maßen mich Eriks Augen mit abschätzender Kälte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich ein Wandel in seinem Ausdruck vollzogen, den ich mir nicht erklären konnte.
Sehr langsam stützte er die linke Hand auf die Tischplatte und erhob sich. Seine Aufmerksamkeit schien geradezu ins Nichts gerichtet zu sein, als er – mich vollkommen ignorierend – ans Fenster trat und hinausstarrte.
Zu spät wurde mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte, wenn ich mich auch noch immer fragte, worin dieser genau bestand. Konnte es sein, dass allein die Erwähnung dieser Stadt, in deren berühmten Opernhaus er seinen schreckensbehafteten Ruf erworben hatte, ausreichte, um eine derart angespannte Gefühllosigkeit auszulösen? Gemäß Pater Giovanni hatte er dieses Los doch freiwillig gewählt. Und auch wenn das meiste, was ich über das ‚Phantom' wusste, auf den Gerüchten der kleinen Ballettratten begründet war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Erik mit dieser Position in der Oper ...
Oh, was war ich nur für eine einfältige Gans! Natürlich! Die Oper – Christine ...
„Ich habe nicht viel zu sehen bekommen, von der Schönheit dieser Stadt", seine verächtliche Stimme drang durch den Schleier meiner Gedanken. „Wusstest du nicht, dass ich die meiste Zeit in Paris im Verborgenen verbracht habe? Notre Dame, die Champs-Elysées, der Louvre ... das alles sind Orte, die zu besuchen es mich weiß Gott mehr als einmal verlangte! Aber nicht um den Preis, mehr Blicke mit meinem leidlichen Aussehen auf mich zu ziehen, als diese Kunstwerke! Nein, mein Platz lag damals jenseits des Tageslichts, ja sogar jenseits jener Welt. Ich hasste die Menschen! Sie zergehen in ihrem Streben nach Dekadenz, Hast und Oberflächlichkeit! Und wenn ich heute durch die Straßen einer beliebigen Stadt wandere – sei es nun Wien, Rom, Sankt Petersburg oder Venedig – dann verabscheue ich sie noch immer!"
Ich erstarrte unter der Gewalt seiner Stimme. Sie hatte sich zu einem Donnern hinaufgeschwungen und selbst die wenigen schlimmen Wutanfälle Papas hatten mir keine derartige Angst eingejagt. Eriks Stimme klang erfüllt von Ekel und Zorn ... so als spräche er von den Menschen als einer andersartigen Spezies, mit der ihn nicht das geringste verband.
Als er sich herumdrehte und sein Blick förmlich durch mich hindurch zu gehen schien, mich überhaupt nicht wahrnahm, hatte ich deutlich vor Augen, welch bedrohlich machtvolle Erscheinung er für seine Gegner bieten musste. Bisher hatte ich ihn nur von einer anderen Seite kennengelernt - gebildet, beherrscht, von zurückhaltender Zärtlichkeit ... -, doch was sich nun offenbarte, war wohl Teil des Grundes, weshalb Vater mich vor ihm gewarnt hatte. Ich zweifelte nicht länger daran, dass dieser Mensch fähig war, jeden zur Strecke zu bringen, der ihm im Weg stand ... bis zur letzten Konsequenz.
Eriks Gesichtsausdruck zeugte von bebender Wut, und jeder Muskel seines Körpers schien so angespannt, als stünde ein Kampf auf Leben und Tod bevor.
Seine Augen trafen die meinen und ich war mir sicher, dass er nicht wusste, wen er vor sich hatte. Meine Hände zitterten.
„Was wisst ihr schon von Kunst, von Schönheit, von Ewigkeit?"
Langsamen Schrittes, mit der tödlichen Eleganz einer Raubkatze, kam er auf mich zu.
Er erkennt mich nicht, schoss es mir abermals durch den Kopf. Aus irgendeinem Grund ist er plötzlich so sehr in seinen Gedanken gefangen, dass er kaum noch zwischen ihnen und der Wirklichkeit unterscheiden kann.
Innerlich wappnete ich mich dagegen, tatsächlich von ihm angegriffen zu werden, und diese Angst versetzte mir einen schmerzhaften Stich. War das derselbe Mann, neben dem ich die Nacht über friedlich und geborgen geschlafen hatte?
Etwas ließ ihn blinzeln und abrupt innehalten. Der verschleierte Ausdruck seiner Augen wich einem Zögern, einem Erkennen. Es war, als erinnerte er sich plötzlich an etwas, das den Zorn in ihm beschwichtigte. Jetzt wirke er beinahe erschrocken über sich selbst. Er starrte auf den Boden, hatte die Faust geballt und zwang sich sichtlich unter Kontrolle.
Vorsichtig erhob ich mich aus dem Stuhl. Erik bewegte sich nicht, und als ich ihm schließlich fragend eine Hand auf den Arm legte, erntete ich ein qualvoll trauriges Lächeln.
„Paris ist wunderschön, mon petite étoile, da hast du Recht. In Paris wurde ich geboren ..."
Verwundert runzelte ich die Stirn. „Aber Pater Giovanni sagte, du stammst aus einem kleinen Dorf nahe Rouen ..." Ich wartete gespannt, und Eriks sanfte Stimme gab mir die Hoffnung, dass er vielleicht etwas mehr über sich preisgeben könnte.
„Das ist eine lange Geschichte, mon coeur. Bist du sicher, dass du sie zu hören willst?"
„Ja, ganz sicher, Erik."
„Nun gut." Mit einem kaum merklichen Seufzen deutete er in Richtung des Salons, und schließlich saßen wir uns hier einander gegenüber. Ich fühlte mich vor Aufregung ganz unruhig, angesichts der Aussicht, dass er einige Details seiner Vergangenheit enthüllen würde.
Endlich begann er und ich hing an jedem Wort seiner Lippen, bedacht darauf, keine noch so kleine Information meiner Aufmerksamkeit entschlüpfen zu lassen.
„Mein Eltern lebten tatsächlich in der Gegend von Rouen. Dort wuchs ich auf, bis ich alt genug war, um zu verstehen, dass man selbst ‚Zuhause' niemals über meine Deformation hinwegsehen würde. Seit ich denken kann, musste ich eine Maske tragen, und meine Mutter sagte mir einmal, dass sie meinen schrecklichen Anblick nicht einmal ertragen konnte, als ich noch ein Baby war. Nur der Umstand, mein Gesicht niemals sehen zu müssen, gab ihr die Kraft, mich überhaupt mit den überlebenswichtigsten Mitteln zu versorgen."
Gebannt hatte ich den Atem angehalten. Wie konnte eine Mutter nur derart handeln? Die Tatsache, dass ihr Kind nicht ausgesehen hatte, wie jedes andere neugeborene Geschöpf, niedlich und in jeder Hinsicht nahezu perfekt, musste sie empfindlich getroffen haben ... so stark, dass sie nicht dazu in der Lage gewesen war, es mit der Liebe anzunehmen, die ihm gebührt hätte.
Eriks Kindheit musste sehr kalt gewesen sein, doch als er jetzt über diese Zeit berichtete, wirkte er vollkommen emotionslos. Ich betrachtete sein gleichgültiges Gesicht. Die makellose Hälfte war ebenso ausdruckslos wie die Maske. Sein Anblick machte mir das Herz schwer. Die Mauer von Distanz, die dieser Mann sein ganzes Leben über um sich herum errichtet haben musste, wurde mit plötzlich deutlich bewusst. Es wirkte, als ließe er nicht einmal seine Erinnerungen wirklich an sich heran, und ich fragte mich unweigerlich, ob ein Mensch – ob ich – es jemals völlig schaffen könnte ...
Beschämt senkte ich den Blick. Zum ersten Mal fragte ich mich wirklich, wie das Gesicht aussehen musste, das sich unter dieser Maske verbarg. Traute ich mir selbst zuviel zu? Seine eigene Familie hatte diesen Anblick nicht ertragen, wie konnte ich mir also anmaßen zu sagen, dass es mich nicht kümmert? Ich wusste doch nicht, ob ich vielleicht auch erschrecken würde, ob ich nicht im ersten Moment zusammenzucken würde, nähme er die Maske ab. Und wenn ich so reagierte, konnte ich sicher sein, ihn sehr zu verletzen.
Nein, in Gedanken schüttelte ich den Kopf. Was immer sich unter seinem elfenbeinfarbenen -Schutzschild verbirgt, es kann mich nie den Mann vergessen lassen, der Erik ist ... Welchen Menschen macht schon ein bloßes, äußerliches Attribut aus? Wie könnte sein Anblick all das auslöschen, was seine Nähe in meinem Herzen in Brand steckt?
„Wie alt warst du, als du dein Zuhause", es fiel mir schwer, dieses Wort zu wählen, nach dem, was er gerade darüber erzählt hatte, „verlassen hast?" Ich hatte gezögert, eine Zwischenfrage zu stellen, doch zu meiner Beruhigung, schien Erik sich nicht daran zu stören.
„Das kann ich nicht mit Bestimmtheit festmachen. Aus verständlichen Gründen war der Tag meiner Geburt nichts, was man hätte feiern können." Gedankenverloren strich seine linke Hand über die Rückenlehne der Recamiere. „Neun oder zehn Jahre alt vielleicht. Es spielt keine große Rolle."
Ich unterdrückte ein Seufzen.
„Zuerst nahm ich an, dass es mir überall besser ergehen müsste, als in der Strenge meiner elterlichen ‚Obhut'. Meine Mutter hatte seit jeher dafür gesorgt, dass ich unser Haus nie verließ. Ich weiß nicht, ob um ihres Rufes Willen oder meiner Sicherheit. Aufgrund meiner Indisponiertheit suchte ich also von frühester Kindheit an Zuflucht bei den einzigen beiden Annehmlichkeiten, die mir zugestanden wurden: Büchern und der Musik. Mein Vater starb vor meiner Geburt, und meine Mutter war nicht arm, und wenn sie mich auch ansonsten nach Leibeskräften ignorierte, sorgte sie doch stets dafür, dass meine unersättliche Wissensgier ständig neue Nahrung bekam." Sich räuspernd blinzelte er kurz und kaum merklich, so als schiebe er einen unwichtigen Gedanken beiseite. Als er fortfuhr, bemerkte ich, dass er das Kapitel ausließ, was ihn und meinen Vater betreffen musste. „Nach meiner Flucht begann also eine jahrelange Wanderschaft, die mich durch viele Länder Europas führte. Doch einen Platz, an dem ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Zuhause fühlte, fand ich unweit der Gegend, in der ich aufgewachsen war."
„In Paris", formten meine Hände wie von selbst, und mir wurde klar, welchen Ort genau er meinen musste. „In der Oper."
Erik nickte. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Züge, wenn er auch noch immer recht unbewegt angesichts dieser Erinnerungen erschien. „Ja. Die Nachricht, dass ein Wettbewerb bezüglich der Pläne für den Opernbau ausgeschrieben worden war, erreichte mich in Heidelberg. Zwar begab ich mich schnellstmöglich nach Frankreich zurück, doch ich hatte zu spät von dieser Angelegenheit erfahren. Der Gewinner stand bereits fest. Zu meinem Glück stellte sich jedoch heraus, dass der junge Mann meine helfende Hand durchaus dankbar entgegen nahm. Durch meine Tätigkeit als Bauherr hatte ich mir einen gewissen Ruf erworben, auch wenn ich damals noch recht jung war."
In Gedanken fügte ich all die zeitlichen Informationen, die ich nun von Erik und Papa erhalten hatte zusammen. Er musste heute ungefähr neununddreißig oder vierzig Jahre alt sein ... doch wenn ich ihn mit anderen Männern dieses Alters verglich, wirkte er zwar überaus weltgewandt, doch durch etwas in seiner Ausstrahlung wesentlich jünger. So als hafte ihm eine geheime Lebenskraft an, die er aus einer überaus mächtigen Quelle schöpfen musste. Vielleicht war es die Aura aus Überlegenheit und Macht, die jede Faser seines Wesens zu durchdringen schien.
„Ich hatte mich der Welt dort draußen ohnehin nie sonderlich verbunden gefühlt. Ich war ihrer satt, war aller Menschen überdrüssig. Und meine Mithilfe am Bau gestattete mir also, einige Vorkehrungen zu treffen, um ihr für eine lange, sehr lange Zeit den Rücken zu kehren. Es bedurfte absoluter Abgeschiedenheit, mich meinen weiteren Studien gebührend zu widmen, und was noch wichtiger war – meiner Musik."
Hätte jemand anderes mir all diese Dinge erzählt, so hätte ich ihn ohne mit der Wimper zu zucken für einen anmaßenden Aufschneider gehalten. Doch in Eriks Worten schwang weder Stolz noch großartiges Interesse an diesen ungewöhnlich vielseitigen Begabungen. Er berichtete über Tatsachen, nichts als nüchterne Fakten. Er schien völlig losgelöst von dieser, seiner Vergangenheit. Über die auswendig gelernte Biografie eines Fremden hätte er nicht mit größerer Distanz sprechen können.
„Aber sagtest du nicht gerade noch, dass du in Paris geboren wurdest?" Ich konnte die Frage nicht zurückhalten, welche mir plötzlich durch den Kopf schoss.
„Das ist wohl richtig, mon petite étoile." Er klang beinahe amüsiert, angesichts meiner Verwunderung. „Ich sagte ja, dass es eine lange Geschichte wäre. Wenn ich es rückblickend betrachte, besitzen beide Aussagen ihre Richtigkeit. In Rouen wurde ich geboren – in Paris wurde ich geboren, wenn auch auf eine weniger physische Art."
„Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen, Erik."
Einen Moment lang blickte er mir schweigend in die Augen. Frustrierte es ihn, dass ich diesen eigentümlichen Gedankengang nicht nachvollziehen konnte?
Als er sich erhob, wäre ich beinahe aufgesprungen, um ihn zurückzuhalten und ums Weiterreden zu bitten. Doch ich erkannte, dass er lediglich zu der Wand trat, an der die vielen Skizzen und Gemälde hingen, die er während der weitführenden Reisen angefertigt haben musste. Vor einem kleinen Ölbild blieb er schließlich wie angewurzelt stehen, seinen Blick geistesabwesend auf die Leinwand gerichtet.
In den letzten Tagen hatte ich diese kleine Galerie oft bewundert, die exotischen Bauten und Landschaften förmlich in mich aufgesogen. Ich fragte mich, wie die Luft an diesem Ort riechen musste, welche Geräusche sie erfüllen mochten und ich beneidete Erik um die Erfahrung, so viele Länder und Menschen kennengelernt zu haben – auch wenn ich nicht daran zweifelte, dass ihn letztere mit Abstand am wenigsten gekümmert hatten.
Das Bild, welchem sein Blick nun galt, hatte sich mir allerdings besonders eingeprägt. Paris – die Operá Garnier.
„Ich habe etwa sechs Jahre dort gelebt", fuhr er unvermittelt fort, und seine Stimme klang, als spräche er mehr zu sich selbst, als zu mir. „In den Katakomben war ich angenehm ungestört. Nie zuvor und auch danach nicht mehr, konnte ich mich meiner Schaffensleidenschaft mit soviel Hingabe widmen, wie in jener Zeit. Die einzige Verbindung zur Welt des Tageslichts war eine alte Freundin, die sich inzwischen durch Zufall unter dem Opernpersonal befand. Mit ihr blieb ich schriftlich in Kontakt. Wäre alles gemäß meiner Pläne verlaufen, hätte ich dieses paradiesische Refugium nicht mehr lebend verlassen. In dieser Einsamkeit fühlte ich mich erstmals frei."
Die Bewegung, mit der Erik plötzlich herumfuhr, kam so überraschend, dass ich klopfenden Herzens zusammenschrak. Ohne sich vorher auch nur durch das kleinste Zeichen anzukündigen, war seine ruhige Beherrschung wie verflogen.
„Doch das Schicksal wollte es ja anders! Wahrscheinlich war es das Blut, das an meinen Händen klebt! Der Frieden jener Zurückgezogenheit jedenfalls, war mir nicht lange vergönnt ..."
Das Herz schlug mir nun bis zum Hals. In den letzten Tagen hatte ich die Tatsache verdrängt, dass Erik getötet hatte. Sein Verhalten mir gegenüber, machte mir dies nicht schwer. Doch die Bestätigung nun aus seinem eigenen Mund zu hören, stürzte mich in ein Wechselbad der Gefühle.
„Es tut mir Leid, ma petite."
Ich hatte nicht gemerkt, dass Erik vor mir stehen geblieben war. Die Augen wirkten bedrückt, beinahe traurig und etwas in seiner Haltung ließ mich wieder klarer denken. Ich konnte sehen, welch elementare Veränderung seit jener Zeit in diesem Mann vorgegangen sein musste. In ihm brodelte noch immer die Lava unterdrückten Zornes, der wahrscheinlich seit Eriks Kindheit wieder und wieder von Erfahrungen und Begegnungen genährt worden war. Ja, vermutlich war er dazu in der Lage gewesen, zu töten, wenn jemand seinen Hass auf sich gezogen hatte. Pater Giovanni hatte jedoch von einer Wandlung gesprochen. Tatsächlich schien Erik heute eine Möglichkeit zu kennen, die Dämonen seiner Wut fortzusperren, wenn er es wollte.
„Ich bin weit über den Punkt hinaus geschossen, den ich dir eigentlich hatte darlegen wollen." Seufzend trat er hinter mich, und ein Schauer lief mir über den Rücken, als seine Hand begann, sanft mit den feinen Haaren meines Nackens zu spielen. „Es war ein Engel, dem ich zu verdanken habe, dass ich aus meinem selbstgewählten Grab heraus stieg. Nicht, dass ich danach eine größere Sympathie für die Menschen verspürt hätte. Nein, sie waren mir lästig und unangenehm, wie seit je her. Doch auf einmal hatte ich neue Kraft, mich weniger daran zu stören."
Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber das leise Lächeln war geradezu spürbar. Langsam ließ er einen Finger über die Linie meiner linken Schulter gleiten. Diese Berührung schickte ein wohliges Zittern durch meinen Körper.
„Dies ist der Grund, weshalb ich lieber von Paris als dem Ort meiner Geburt spreche."
Mit einen schwachen Nicken versuchte ich den Drang zu ignorieren, mich einfach nach hinten zu lehnen. Erik stand nahe genug an dem großen Sitzhocker, dass ich mich getrost seiner Nähe entgegenbeugen könnte.
Doch eine nagende Angst hielt mich davon ab.
ErikIch war gesprächiger gewesen, als ich beabsichtigt hatte. Serafina machte es mir einfach, ihr gegenüber schonungslos offen zu sein, doch ich wusste auch, dass es Dinge gab, die zu hören für sie zu viel sein mussten.
Als ich tatsächlich wagte, zu erwähnen, verantwortlich für den Tod so machen Menschens zu sein, war deutlich zu spüren gewesen, dass ich an ihre Grenze gestoßen war.
Um sie zu beruhigen, gestattete ich meiner Hand, zärtlich die Haut ihres Nackens zu liebkosen. Während ich nun meine Lebensbeichte zu einem raschen Ende brachte, entspannte Serafina sich merklich unter meiner vorsichtigen Berührung.
Doch dann geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Sanft, aber bestimmt griff ihre kleine Hand nach der meinen und schon hatte sie sich mir entzogen und stand auf.
Was mochte in ihrem Kopf vorgehen? Noch sah sie mich nicht an, trat langsam ans Fenster und starrte hinaus.
Einen quälenden Moment lang, trug ich mich mit der Besorgnis, meine unverfälschten Worte könnten sich tiefer in ihre Gedanken gebrannt haben, als ihre Zuneigung zu mir ertrug.
„Und vermisst du heute deinen Engel nicht?" Um zu sprechen hatte Serafina sich seitlich zu mir gedreht, so dass sie mir nicht in die Augen blicken musste.
Sonnenlicht fiel durch das Fenster und zauberte goldenen Reflexe in einige haselnussbraune Locken, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. Ich konnte meinen Blick nicht von der hellen Schönheit ihres schlanken Halses abwenden, die mich danach verlangen ließ, sie abermals zu berühren, den lebendigen Puls unter meinen Fingern tanzen zu spüren, meine Lippen diese lockende Weichheit kosten zu lassen.
„Meinen Engel?", fragte ich, und fand doch, dass diese Beschreibung niemals besser auf ein Geschöpf gepasst hatte, als Serafina selbst.
„Christine ..." Wie unsicher ihre Hände wirkten, als sie den Namen der großen Sängerin formten.
„Ja." Ich trat einen Schritt näher auf die zierliche Gestalt zu.
Ein Schaudern durchlief diesen anmutigen Körper, und es war offensichtlich, dass Serafina eine beachtliche Willenskraft aufbrachte, um nicht dem Blick meiner Augen zu begegnen, die keine Sekunde von ihr lassen konnten.
„Weißt du, mon étoile rayonnant", ich senkte die Stimme und war mir vollauf bewusst, ihr Zittern noch zu verstärken. Ein weiterer Schritt brachte mich so nah an sie heran, dass mein Atem über ihr glänzendes Haar strich als ich weitersprach. „Wer könnte einen Engel nicht vermissen? Doch Engel sind nicht geschaffen für die Tiefen aller Gefühle ..."
Ein leises Keuchen entrang sich ihrer Kehle, als meine Hand sich mit besitzergreifender Sanftheit in Serafinas Nacken legte. Ihre feingeschnittenen Lippen formten ein kaum merklichem Lächeln, was mich entzückend erstaunte. Ich gebrauchte weder Drohung, noch eine Form von Täuschung oder ein anderes Hilfsmittel, meine Gefühle zu verschleiern, und doch hatte ich in diesem Moment die berauschenste Art von Macht über sie. Was noch faszinierender war – Serafina schien es zu gefallen!
„Und manchmal", langsam strichen meine Lippen über die samtene Haut ihrer geschlossenen Augenlider, „fliehen Engel vor einer Leidenschaft, die nur eine Frau ertragen kann ..." Mit diesen Worten schwand der letzte Funke meiner Zurückhaltung und hungrig ergriff mein Mund von dem ihren Besitz.
Und was ich kaum zu hoffen gewagt hatte geschah.
Ohne falsche Zurückhaltung schlang Serafina ihre Arme um meinen Hals, zog mich noch ein Stück näher an sich heran und erwiderte den Kuss in geradezu verzweifelter Hingabe.
Das Blut rauschte mir in den Ohren und ein brennendes Verlangen drängte mich, ihren Körper, der sich meiner Nähe sehnsuchtsvoll entgegenbog, immer mehr an mich zu pressen.
Schließlich ließ mein Mund widerwillig von dem ihren. „Mon coeur ..." Mit einem Stöhnen zwang ich die Flut der Wolllust nieder, die drohte, mich hinfortzuspülen. „Ich fürchte, dass ich mich nicht länger unter Kontrolle halten kann, wenn diese süße Qual auch nur einen Moment länger andauert."
Serafinas Wangen glühten vor Hitze und die Lippen waren von meinem Kuss verführerisch gerötet. Sie atmete schwer, rang sichtlich um ihre Fassung.
Warum hielt ich mich dennoch zurück? Es war offensichtlich, dass ihre Leidenschaft der meinen ein bebendes Echo entgegenwarf ... Doch als sie verwirrt den Kopf schüttelte und ein schüchternes Lächeln ihre Züge umspielte, ahnte ich, was mich hatte innehalten lassen: Sie war noch nicht so weit. In den letzten Tagen hatte sich ihr Leben vollkommen verändert. Sie hatte nicht nur mit ihrer Familie gebrochen, sondern lebte in Verhältnissen, die jeder anständige Bürger als überaus unehrenhaft bezeichnen würde. Diese Einschnitte waren gravierend genug, und ich war mir der Verantwortung, die es nun zu tragen galt durchaus bewusst. Sie würde Zeit brauchen, um hineinzuwachsen in die Situation, die sie voller Überstürzung angenommen hatte. Ich konnte das Gefühl nicht ertragen, ihre Lage vielleicht auszunutzen. Es wäre weder mir noch ihr angemessen.
Unsicherheit spiegelte sich in ihrem Blick, als ich einen Schritt zurücktrat, ihr in schlichter Zärtlichkeit über die Wange strich. „Komm, ma petite. Ich habe einen Katalog aus Paris holen lassen. Du solltest nicht immer die selben drei Kleider tragen müssen. Ganz bestimmt wirst du in ihnen etwas finden, das deinem Geschmack zusagt."
Auch wenn der Wunsch, sie in die Arme zu schließen noch immer ungebrochen war, wandte ich mich lächelnd von Serafina ab nahm erleichtert ihre leisen Schritte wahr, die mir schließlich zögerlich folgten.
Als der Nachmittag vergangen war, an dem ich mich von zwei Uhr an in mein Musikzimmer zurückgezogen hatte, um einige Stunden zu komponieren, spürte ich nicht zum ersten Mal das hinderliche Ziehen in meiner rechten Schulter.
Wütend stand ich auf. Gandin! Es war nur noch eine Frage der Zeit, ehe meine Rache diesen Emporkömmling empfindlichst treffen würde. Noch zwang ich mich dazu, der Verletzung die nötige Ruhe zukommen zu lassen, doch lange würde es nicht mehr dauern.
Oh, ich hatte mir einige Überraschungen einfallen lassen, die diesen Cretin und die überhebliche Diva sehr schnell aus der Sicherheit reißen würden, in welcher sie sich momentan noch wiegten.
Mochten sie auch glauben, vor meiner Asche zu stehen – das Phantom würde sich abermals aus ihr erheben.
