Kapitel 6
Serafina
Es war früh am Dienstag Nachmittag. Seit beinahe zwei Wochen lebte ich nun bei Erik und von Tag zu Tag wuchs die Zuneigung, die ich diesem Mann entgegenbrachte. Er behandelte mich mit größtem Respekt, sprach viel mit mir... und hörte mir zu. Ich hatte das Gefühl, Zugang zu einer neuen Welt gefunden zu haben, einer Welt, die außerhalb all der liebevollen Enge meiner Familie lag.
Heute hatte ich zum ersten Mal das Haus verlassen, obwohl ich mich noch immer nicht gut dabei fühlte, auf der Straße wieder und wieder mit abschätzigen Blicken bedacht zu werden. Meine Annahme, dass bereits jetzt üble Nachrede und Klatsch gegen mich und meinen ‚ungebührlichen Lebenswandel' in dieser Nachbarschaft kursierte, hatte sich leider als vollkommen richtig herausgestellt.
Ich versuchte über ihrer Missbilligung und meinem Unbehagen zu stehen und ob den Kopf noch ein wenig höher.
Als ich mich fortgeschlichen hatte, war Erik bereits seit einiger Zeit in seine Arbeit vertieft gewesen. Für die nächsten Stunden konnte ich also unbemerkt meinem zwar ehrenhaften aber überaus leichtsinnigen Plan nachgehen. Wenn er komponierte, nahm er nichts anderes mehr wahr. Ich hatte mich währenddessen stets mit einem Buch in den Garten zurückgezogen und meistens doch nur gedankenverloren den Klängen gelauscht, die vom Musikzimmer her an mein Ohr drangen, mich ergriffen und nicht zuließen, dass etwas anderes meine Gedanken oder Gefühle beherrschte.
Für einen Augenblick atmete ich tief auf, und versuchte mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Noch immer konnte ich nicht glauben, was ich gerade tat, als meine Schritte mich zielstrebig die Treppe des Hotels Il Corona, am Campo San Luca hinauf führten. Schnurstracks ließ ich den Pagen, der mich keines Blickes würdigte, hinter mir und begab mich voller Nervosität zur Rezeption.
„Zimmer Einhundertundzwölf", rang sich der Concierge, nachdem ich ihm den Zettel mit meiner Frage ausgehändigt hatte, mühevoll ab, nicht ohne mich noch einmal eindringlich von oben bis unten zu mustern. „Sie sind die angekündigte Schneiderin?"
Meine Hände schlossen sich fester um den Griff des Arbeitskorbes. Ich nickte knapp und bemühte mich, mir das Unbehagen nicht anmerken zu lassen, dass mir der bebrillte Mann mit den schwammigen Gesichtszügen und der Grund meines Hierseins bereiteten.
„Finden Sie es allein, oder soll ich Ihnen eine Begleitung zu Seite stellen, Signorina?"
Der Herr verstand wohl was ich von der Frage hielt, als ich mich mit einem trockenen Lächeln abwandte und den Weg zur großen Foyertreppe einschlug.
Es dauerte nur wenige Minuten und schon klopfte ich an der hellen Holztür mit der edlen goldenen Klinke und wartete mit angehaltenem Atem.
Angespannt dachte ich daran, weshalb ich diesen Auftrag annahm, den mir Pater Giovanni vorhin durch eine kurze Mitteilung unterrichtet hatte. Sicherlich war es Signora Scabrezza nicht leicht gefallen, ihren Bruder darum zu bitte, mich zu informieren ...
Es schien endlos zu dauern, ehe man sich erbarmte, mich hereinzulassen. Und ich wünschte mir kurz, weniger waghalsig in diese Situation gestürzt zu sein, deren Verlauf ich in keiner Weise überblicken konnte.
Ein Dienstmädchen öffnete mir und ließ ein scheues Lächeln aufblitzen. Ihr kindliches Gesicht bot ein Beispiel an Schüchternheit und ich konnte es ihr nur zu gut nachfühlen. Mit gesenktem Kopf ging sie durch den kleinen Eingangsbereich voraus, um ihrer Herrin meine Ankunft zu melden.
„Da bist du ja endlich!", begrüßte Carlotta Giudicelli mich, ohne dabei ihren Blick vom Spiegel abzuwenden. „Ich dachte schon, du hättest kein Interesse an dem aussichtsvollen Auftrag, den ich dir anbiete." Sie legte eine große Puderquaste beiseite, um nach einem kleinen Tiegel scharlachroter Lippenpaste zu greifen. „Du hast genau zehn Tage, um meine Reisegarderobe anzufertigen. Spanien – du solltest also etwas Leichtes ins Auge fassen."
Ein tiefes Seufzen entrang sich der Diva, als sie lustlos von den Schminkutensilien ließ, um sich ihrem verzogenen Hündchen zu widmen, das wie immer nicht weit war. Müde und gelangweilt thronte der weiße Pudel auf einem kostbaren Satinkissen zu ihrer Rechten.
„Mir wäre es ja auch lieber, diese wichtige Angelegenheit jemandem mit mehr Sachverstand anzuvertrauen, doch in dieser stinkenden Stadt scheinst du tatsächlich diejenige zu sein, die ihr Handwerk noch am Ehesten versteht, meine Teure."
Während die Primadonna sich in weiteren Ausführungen über einen Vergleich der Pariser Schneidereikunst mit derer dieser italienischen Kloake verlor, ließ ich meinen Blick unauffällig durch die verschwenderisch eingerichtete Hotelsuite wandern. Offenbar gab es zusätzlich zu diesem Schlafzimmer, in dem wir uns momentan befanden, noch einen weiteren kleinen Raum – wahrscheinlich ein Badezimmer -, dessen Tür von hieraus abzweigte.
Es würde sicherlich einiges an Zeit in Anspruch nehmen, ehe ich allein in diesen Zimmern fand, wonach ich suchte – ganz zu schweigen von den übrigen Räumlichkeiten dieser Suite. Hoffentlich blieb mir wenigstens die Anwesenheit Gandins erspart, während ich dem schwierigen Plan verfolgte, der mich in Carlotta Giudicellis Gesellschaft geführt hatte.
Wäre ich aufrichtig an ihrem Auftrag interessiert gewesen, so hätten ihre folgenden Vorschläge mir wohl den Schweiß auf die Stirn getrieben. Zweifelsohne mussten die wertvollen Stoffe, welche sie lustlos vor mir ausbreiten ließ, Signora Giudicelli ein kleines Vermögen gekostet haben. Ihre kleine Zofe wagte kaum, die Bahnen aus edlem Seidenatlas, die luftigen Wolken feinsten Chiffons auch nur zu berühren. Doch was mir schnell auffiel war, dass bei all dieser verschwenderischen Pracht nicht einmal der Ansatz von Harmonie herrschte. So bestand die Diva auf grell ins Auge fallende Mischungen des Materials – ein brombeerfarbenes Tageskleid mit purpurnen Elementen, ein orangefarbenes Teekleid deren kanariengelbe Ärmel einen schreienden Kontrast zu der Tannengrünen Rockborte darstellten.
Innerlich schüttelte ich mich. Gewiss wurde die Sängerin in dieser Garderobe zum Mittelpunkt jeder Aufmerksamkeit, doch ob ihr Geschmack Bewunderer finden würde? Ich zweifelte daran.
Gerade als ich damit begonnen hatte, die genauen Maße Signora Carlottas zu nehmen und mich nach Kräften bemühte, ihre Überheblichkeit zu ignorieren, klopfte es an der Eingangstür.
„Öffne die Tür, Nanette!"
Die Diva, die bisher lediglich geschminkt und frisiert war, jedoch noch keinerlei Tagesgarderobe angelegt hatte, warf hastig einen malvefarbenen Morgenmantel über.
Leise Stimmen drangen aus dem Empfangszimmer herüber, und ich wurde den Eindruck nicht los, dass etwas Bedrohliches immer näher rückte.
Als Nanette abermals das Schlafzimmer betrat, glühten ihre Wangen förmlich und sie wich jedem Blick aus. Offenbar war das junge Mädchen noch mehr eingeschüchtert und zutiefst echauffiert worden. „Monsieur Gandin, Madame.", flüsterte sie mit einem zaghaften Knicks.
Die Primadonna lächelte strahlend und strebte der Tür zum Flur entgegen. „Folge mir, Nanette! Reich uns einen Sherry. Und du, mein Täubchen, machst dich an die Arbeit! Sollte nicht alles rechtzeitig fertig werden, wirst du nicht eine einzige Lira sehen!"
Ergeben neigte ich den Kopf und verharrte in dieser demutsvollen Geste, bis die beiden Frauen das Zimmer verlassen hatten.
Sobald ich ihre sich entfernenden Schritte vernahm, blickte ich mich gehetzt um. Ich hatte nicht viel Zeit. Zu meinem Glück ignorierte der träge Pudel Carlottas meine eilige Suche geflissentlich. Scheinbar war ich seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Selbst als ich an ihm vorbei zu den Schubladen ihres Toilettentisches trat, gab er sich nicht die Mühe, mich mit seiner Aufmerksamkeit zu beehren.
Hoffentlich hinterließ meine Suche keine augenscheinlichen Spuren.
Tiegel und Puderdosen, feinste Taschentücher mit Spitze und Monogramm und Unmengen von Schmuck hortete die Diva in ihrem Besitz. Nachdem ich schließlich auch noch im Badezimmer und unter dem Bett nachgesehen hatte, ließ ich mutlos die Schultern sinken. Was hatte ich mir nur bei diesem Vorhaben gedacht?
Seufzend strich ich eine aus der Form geratene Haarsträhne aus meiner Stirn und sah mich ein letztes Mal um. Wahrscheinlich hatte man Eriks ‚Don Juan' gar nicht hier. Vielleicht bewahrte Signora Carlotta es im Salon auf, oder – was noch schlimmer war – vielleicht hatte Gandin sich dieses Werkes angenommen.
Das Schoßhündchen gähnte mit einem leisen Jaulen und ließ sein wohlfrisiertes Haupt wieder auf die Vorderpfoten sinken. Dabei verrutsche das glänzend rosefarbene Satinkissen ein wenig, das mitsamt des Tieres auf einem hellen Rattanhocker lag. Ein dunkles Objekt, das mit einem Mal zum Vorschein kam, zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
Vorsichtig, um den Pudel nicht doch noch dazu zu bringen Frauchen und Monsieur Gandin durch plötzliches Gebell zu alarmieren, näherte ich mich seinem Ruheplatz.
Mein Herz machte einen aufgeregten Sprung. Tatsächlich! Was im Ansatz unter dem Kissen sichtbar geworden war, musste etwas wie ein Ledereinband sein - wenn ich noch ein bisschen mehr Glück hatte, die Mappe, welche Erik am Abend des Maskenballs an Gandin verloren hatte.
Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen, als ich erkannte, wie nahe ich meinem Ziel war. Alles, was ich zu tun brauchte war, die Hand auszustrecken und es an mich zu nehmen ...
Der warnende Blick des Hundes ließ mich zurückschrecken. Mit einem Mal schien ich zum Zentrum seiner Wachsamkeit aufgestiegen zu sein. Ein leises Knurren grollte drohend in seiner Kehle, und plötzlich auf dem Flur ertönende Schritte, trieben mir kalten Schweiß auf die Stirn.
Ich hatte nur noch sehr wenig Handlungsspielraum, und so konnte ich nicht einmal mehr ruhig über die Möglichkeiten nachdenken.
Ich packte den kleinen Hund, beachtete nicht, dass er – Gott sei Dank vergeblich – nach meiner Hand schnappte und setzte ihn in Mitten der teuren Stoffe, die ich mit einer flüchtigen Handbewegung so gut es ging in Unordnung brachte.
Das Kläffen des Tieres machte Frauchen und ihren Begleiter wohl vollends aufmerksam und schon hörte ich, wie man sich energisch der Tür näherte.
Ich wirbelte zurück zum Hocker, ergriff die Mappe, rückte das Kissen gerade und versteckte meine Beute unten im Schneiderkorb, ehe ich mich in eine Ecke zwischen Bett und Zimmertür flüchtete.
Carlottas Pudel war außer sich vor Wut über meine Respektlosigkeit, stand mit aufgestelltem Nackenfell auf einer fliederfarbenen Satinbahn und bellte lautstark in meine Richtung.
Mir wurde beinahe schwindelig angesichts dessen, was ich gerade getan hatte und vor Angst bei dem Gedanken, man könnte mir auf die Schliche kommen.
Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und einen Wimpernschlag später sah ich mich Monsieur Gandin gegenüber, dessen funkelnder Blick auf mir ruhte.
„Mademoiselle petite coutière!" Die schmalen Lippen formten ein anzügliches Grinsen. „Wo immer Unruhe aufkommt, da scheinen Sie nicht weit zu sein. Hatte ich doch recht mit meiner Vermutung, dass Sie uns ausspionieren? Machen Sie sich nicht die Mühe, zu antworten, ma belle ..."
Er kam ein Stück näher auf mich zu, bis ich deutlich das Misstrauen dieser kalten blauen Augen auf meiner Haut kribbeln spüren konnte. Als er gerade die Hand zu meinem Gesicht hob, und ich bereits innerlich erbebte vor Unbehagen und Angst, stürmte plötzlich die rothaarige Diva herein und Gandin zog sich zurück. Dies würde wohl die einzige Gelegenheit sein, bei der ich die Anwesenheit Carlottas herzlich willkommen hieß.
Schon hatte sie den noch immer ohrenbetäubend kläffenden Pudel in ihre Arme gerissen und wiegte ihn tröstenden Wortes, als wäre er ein kleines Kind, das es zu beruhigen galt. Dann schließlich wandte sich die Aufmerksamkeit Signora Giudicellis auf mich.
„Was fällt dir ein, du dumme Gans! Nicht nur, dass du diese teuren Stoffe durcheinander bringst, nein, du ängstigst meinen kleinen Papageno auch noch zu Tode!"
Scheinbar schuldbewusst senkte ich den Kopf. Besser sie blieb bei dieser absurden Annahme, als dass sie meiner wahren Absicht auf die Spur kam.
Wutentbrannt näherte sie sich mir. Voller Entsetzen sah ich ihre Hand emporfahren, und schon hallte der Schlag, welcher meine Wange traf, mir durch den Kopf. In meinem ganzen Leben war so etwas noch nie passiert. Nicht einmal Papa oder Tante Antonella hatten es für nötig gehalten, mich derart in die Schranken zu weisen.
Meine Haut brannte schmerzhaft, und ich ahnte, dass sie bereits feuerrot anlief. Ich war vollkommen fassungslos.
„Mach dass du hier raus kommst! Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder einen Auftrag bekommst – nicht in dieser Stadt! Man wird sehr schnell erfahren, wie schlampig du arbeitest! Hinaus!"
Gandin verfolgte die Szene mit offenkundiger Belustigung.
Ich versuchte weder an ihn, noch das abwertende Verhalten der Diva zu denken, während ich nach meinem Korb griff und mit gesenktem Kopf aus der Hotelsuite eilte. Tränen der Erleichterung stiegen auf, als sich die Tür hinter mir schloss.
Ich hatte es geschafft! Ich hatte es tatsächlich geschafft!
Natürlich würden sie mich verdächtigen, sobald sie die fehlenden Noten und Aufzeichnungen bemerkten, aber ich zweifelte daran, dass sie dieser Vermutung wirklich nachgehen würden.
Denn bevor ich den Weg zur Treppe und hinunter in die Lobby einschlug, schob ich einen kleinen, unschuldig aussehenden Umschlag unter der Zimmertür Signora Giudicellis hindurch. Er würde den beiden Herrschaften eine Erklärung für das Verschwinden ihres wohlgehüteten Schatzes liefern.
Der Triumph ist mein.
Das Phantom
Erik
Mit zornigen Schritten durchmaß ich die Eingangshalle in Richtung Haustür.
Die letzten zwei Stunden hatte ich mich in nahezu übermenschlicher Beherrschung geübt, eine Eigenschaft, die mir noch nie gelegen hatte, dennoch zwang ich sie mir bisweilen auf. Doch nun war meine Geduld weit mehr strapaziert, als dass ich auch nur eine Minute länger tatenlos abwarten konnte.
Es war das unbestimmte Gefühl gewesen, dass etwas nicht stimmen konnte, was mich heute – früher als an anderen Tagen üblich – dazu getrieben hatte, aufzustehen und meine Arbeit vorerst ruhen zu lassen. Erfüllt von einer dumpfen Vorahnung war ich in den Garten getreten. Serafinas Anblick, sie für einen kurzen Moment warm und beruhigend in meinen Armen zu spüren, hätte sicherlich einen Großteil der Anspannung vertrieben, die sich mehr und mehr in mir auszubreiten drohte. Leider war im Garten niemand anzutreffen gewesen, auch nicht im Salon und nicht einmal in den Räumlichkeiten des Hinterhauses, wohin Serafina sich bisweilen tagsüber zurückzog.
Ich war mehr und mehr in Rage über ihr mysteriöses Verschwinden geraten.
Weshalb hatte sie das Haus verlassen, schien dieser Gedanke ihr doch stets große Sorge bereitet zu haben? Und aus welchem Grund hielt sie es nicht für nötig, mir eine Nachricht über ihren Verbleib zu hinterlegen?
Anfangs hatte ich versucht, mich mit dem Gedanken zu beruhigen, Serafina würde vielleicht lediglich dem alten Pater einen sehr kurzen Besuch abstatten. Doch mit der immer mehr anwachsenden Zeitspanne ihrer Abwesenheit, schien mir diese Möglichkeit letztendlich unwahrscheinlich.
Und als ich nun nach der Messingklinke der Haustür griff, war ich fest entschlossen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich riss die Tür auf – und erstarrte mitten in der Bewegung.
Erschrocken fuhr Serafina herum und starrte mich aus angstvoll geweiteten Augen an. Ihr Anblick nahm mir für einen Moment die Luft zum Atmen, ehe ich in all meiner Sorge nur noch nach ihrer Hand greifen konnte, um sie unsanft hereinzuziehen. Hinter mir schlug ich die Tür mit derartiger Wucht zu, dass ihre Scharniere bedenklich knackten.
„Wo bist du gewesen?", fuhr ich die Eingeschüchterte an, unfähig, eine aufkochende Mischung aus Erleichterung, Misstrauen und Zorn zurück zu halten. Meine Finger schnellten vor und schlossen sich fest um Serafinas Handgelenke, den Schmerz in meiner Schulter ignorierend. Achtlos polterte ihr Korb auf den Boden, als Serafina sich mit schmerzverzogenem Blick von mir loszumachen suchte.
Ihr Widerstand stimmte mich noch wütender. „Du hältst es also nicht für nötig, mir mitzuteilen, wenn es dir beliebt, das Haus zu verlassen! Nun gut, ganz wie du denkst! Du bist schließlich keine Gefangene! Für mich war es jedoch ein überaus unproduktiver Nachmittag, und das nur, weil ich gerne über die Dinge Bescheid wüsste, die sich unter meinem Dach abspielen!"
Noch immer wand sie sich verzweifelt in meinem Griff, was mich immer tiefer in einen zornigen Sumpf trieb, von dem ich doch selbst in all meiner Impulsivität wusste, dass er letztendlich nichts als schale Niederlage bedeuten würde.
„Weshalb bist du fortgegangen? Sag es mir!" Die Ungewissheit fraß mich beinahe auf. Ja, sie war zurückgekehrt, doch die Stunden des Wartens waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Zuletzt hatte ich sogar befürchtet, auch Serafina könne trotz all ihrer Bekundungen liebevoller Zugewandtheit, für immer von mir gegangen sein.
Zum jetzigen Zeitpunkt war ich kaum in der Lage, all die Erinnerungen und Gedanken auseinander zu halten, die sich wie ein aus unzähligen Schichten bestehender Schleier über meine Sinne zu legen schienen.
Ich packte Serafina bei den zierlichen Schultern, vergaß die Angst, ihr Schmerzen zuzufügen und begann sie zu schütteln, bis ihre Zähne hörbar aufeinander schlugen.
„Warum? Du wolltest fort von mir! Warum?"
Je mehr sie sich wehrte, desto unerbittlicher hielt ich sie.
Plötzlich schien ihr Gesicht sich zu verändern, nahm in einem verschwommenem Wabern nach und nach die Züge Christines an. Das konnte nicht sein! Ich wusste genau, dass es unmöglich war!
Als hätte ich mich an glühendem Eisen versengt, riss ich die Hände zurück. Ich taumelte einen Schritt von der jungen Frau fort, und wo eben noch anklagende Wut in mit gebrannt hatte, breitete sich plötzlich das nagende Gefühl einer unsagbaren Schuld aus. Selbst wenn sie wollte, hätte Serafina mir nicht antworten können, während ich ihre Handgelenke und Schultern in Schach hielt. Ich hatte vergessen, dass sie sich nicht über Lautstärke äußern konnte. Es kam mir zu selbstverständlich war, mit ihr zu reden, und mit der Zeit hatte ich vergessen, dass der Tanz ihrer Hände den Klang eines Stimmorgans ersetzte.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch. Der scharfe Schmerz meiner verwundeten Schulter war wohl die gerechte Strafe für meine aufbrausende Unbeherrschtheit.
„Vergib mir, mon coeur", presste ich schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Meine Augen flogen auf, als ich merkte, dass Serafina energisch an meinem Hemdsärmel zog.
Ihr funkelnder Blick hätte wohl die ganze Wüste Ägyptens gefrieren lassen können, und traf doch nur mein Herz. Ich war mir bewusst, es zu verdienen. Einige Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und die Wangen waren vor Aufregung hitzig gerötet – doch da war noch etwas anderes, das mich schließlich leise aufstöhnen ließ.
„Oh non!"
Sie schlug meine Hand aus, die zu dem Bluterguss an ihrer Wange hatte hinauffahren wollen.
Ich war mehr als zu weit gegangen, sie derart zu verletzen.
„Bist du endlich fertig?", fragte sie schließlich mit aufgebracht zitternden Fingern. „Möchtest du dich noch etwas mehr austoben, oder kann ich dir nun berichten, was dieser Nachmittag für mich bereitgehalten hat?"
Noch immer bedauernd gefangen in der Betrachtung ihrer zerbrechlichen, malträtierten gestalt, brachte ich nichts anderes als ein schwaches Nicken zu Stande.
Serafina deutete es richtig. Seufzend strich sie sich über die neue weiße Bluse und den smaragdgrünen Rock, und ich versuchte jeden Wunsch zu unterdrücken, sie liebevoll in die Arme zu schließen, meiner aufrichtigen Reue durch Zärtlichkeit Ausdruck zu verleihen.
„Also gut", fuhr sie fort. „Ich schlage vor, dass wir uns in den Salon setzen, denn ich denke das Gespräch könnte länger dauern, und ehrlich gesagt bin ich zu erschöpft, als dass ich die ganze Zeit dabei hier in der Halle stehen bleiben möchte." Sie bückte sich kurz, griff nach ihrem Arbeitskorb – weshalb um alles in der Welt hatte sie den bei sich gehabt – und schritt erhobenen Hauptes die Treppe hinauf.
Ich nutzte diesen kurzen Moment der Unbeobachtung und schüttelte verwirrt meinen Kopf. Welch ein Aufruhr der Gefühle! Und welch eine unverzeihliche Tat, Serafina in meiner barschen Unbeherrschtheit offenbar sogar geschlagen zu haben. Ich fühlte mich elend bei diesem Gedanken, und als ich ihr mit müden Schritten folgte, mich schließlich auf der Recamiere des Salons niederließ, glaubte ich nichts weiter mehr empfinden zu können, als ein unbestimmtest Gefühl von Verlust und Bitterkeit. Sollte die junge Frau mir nun verkünden, dass sie den Entschluss gefasst hatte, dieses Haus nicht länger mit mir zu teilen, so durfte ich mich an der Gewissheit laben, mir diesen Verlust selbst zuzuschreiben. Wonach auch immer ich in Verlangen griff, wenn ich sie öffnete, würde meine Hand leer sein.
Traurig betrachtete ich ihr erschöpft wirkendes Gesicht, während sie sich mir gegenüber setzte und den Korb vor sich auf den Boden stellte.
„Pater Giovanni kam heute Nachmittag vorbei, gerade als du an deine Arbeit gegangen warst", begann sie eine Erklärung, die keinesfalls zur Besserung meiner Schuldgefühle beitrug. „Seine Schwester, die Schneidermeisterin, in deren Diensten ich ja bis vor Kurzem stand, ließ mir über ihn einen letzten, sehr wichtigen Auftrag ausrichten. Und ich willigte ein. Es bedeutete mir sehr viel, mich ein letztes Mal zu beweisen."
Ich verstand. Dies war also auch der Grund, weshalb Serafina ihren Arbeitskorb bei sich trug.
„Mein Wunsch, diesen Auftrag zu erfüllen, war so dringend, dass ich keine Zeit verlieren wollte. Und nachdem ich ihn erfolgreich abgeschlossen hatte ..."
Zu meiner Verwunderung lächelte sie plötzlich gedankenverloren, während ich mich noch fragte, wie eine Aufgabe aussehen mochte, die eine junge Schneiderin an einem einzigen Nachmittag abschließen konnte.
Mein Blick ließ keine Sekunde von ihr, als sie unvermittelt voller Eifer aufsprang, wobei strahlende Freude sich über ihr Gesicht ausbreitete. Was mochte nur in diesem anmutigen Geschöpf vorgehen, dessen Verhalten mir momentan zu tiefst unklar war? Keine noch so kleine Spur von Wut über mein ausfallendes Benehmen in der Eingangshalle schien nun noch erkennbar. Viel eher hatte ich den Eindruck, dass Serafina etwas von schelmischer Verschworenheit im Schilde führte.
Ebenso misstrauisch, wie neugierig runzelte ich die Stirn.
„Ach bitte, Erik", äußerte sie einen noch befremdlicheren Wunsch. „Würdest du für einen Moment deine Augen schließen?"
„Was hast du bloß vor?", murmelte ich, nun vollends verwirrt, kam ihren Worten jedoch schließlich nach. „Ich hoffe nur, dass du dir im Klaren darüber bist, dass ich am heutigen Tag bereits den Großteil meiner Geduld aufgebraucht habe. Mir steht der Sinn keinesfalls nach weiteren Spielchen oder Rätseln."
Blind, wie Serafina mich haben wollte, nahmen meine übrigen Sinne nun alles um mich herum, noch deutlicher wahr. Ich vernahm das leise Rascheln ihrer Kleidung und dass sie irgendetwas an ihrem Arbeitskorb tat. Dann lauschte ich den kleinen, schnellen Schritten, die sich mir näherten, und als sie schließlich direkt links von mir zum Stehen kam, konnte ich den schwachen Jasminduft ihrer Seife einatmen. Ich war versucht, einfach die Augen zu öffnen und mich ganz an ihrer facettenreichen Schönheit zu erfreuen. Doch unter Aufbringung aller Willenskraft widerstand ich dieser Versuchung.
Serafina beugte sich vor, so dass ich die Nähe ihres warmen Körpers beinahe auf meiner Haut spüren konnte, und der Impuls, mich ihr entgegen zu lehnen wurde umso stärker. Doch als ich fühlte, wie ein flaches Buch, oder besser eine Mappe auf meinen Oberschenkeln platziert wurde, erstarrte ich und hielt die Luft an.
„Was ist das, mon coeur? Kann ich die Augen jetzt öffnen?"
Zur Antwort ergriff die junge Frau meine Hände und führte sie hinauf an ihre aufgeregt hitzigen Wangen, damit ich das Nicken spüren konnte. Schnell brachte Serafina die Handflächen nun auf den leichten, ledergebundenen Schatz, welchen sie in meinen Schoß gebettet hatte.
Langsam öffnete ich die Augen, und traute dennoch nicht dem Anblick, der sich ihnen bot.
„Du erstaunst mich."
Ihr stolzes Lächeln ruhte auf mir, als ich atemlos nach dem Noteneinband griff und die Finger zärtlich über mein heimgekehrtes Werk streichen ließ. Es war hier, es war wieder mein.
„Wie um alles in der Welt konntest du nur daran gelangen, mon petite jacasse ... meine kleine, diebische Elster?" Sie musste die Gefahr auf sich genommen haben, Gandin und Carlotta dieses Werk persönlich zu entwenden. Ohne Zweifel ein Vorhaben, das leicht ihr Leben hätte kosten können.
„Manchmal steht einer kleinen Schneiderin mehr Zugang offen, als einem großen Phantom, lieber Erik." Amüsiert hob sie die Augenbrauen, kostete sichtlich aus, mich derart in Erstaunen zu versetzen. „Und dann zahlt es sich aus, von den meisten Menschen nicht ernst genommen zu werden. Was für Hintergedanken könnte ein unauffälliges Ding wie ich schon hegen?"
„Ohne Zweifel steckst du nicht nur für mich voller Überraschungen, ma chére." Auch wenn ich einem Lächeln nicht widerstehen konnte, quälte mich ebenso die Sorge um Serafinas Wohl. Was, wenn man merkte, dass sie mit dem Verschwinden ‚Don Juans' in Verbindung stand? „Du hättest nicht soviel riskieren dürfen", murmelte ich sanft und spürte eine Ergriffenheit in mir aufsteigen, die jenseits aller Worte lag. Wie mochten die Gefühle einer Frau aussehen, die derart viel aufs Spiel setzte, um einem Mann wie mir zu helfen? Ich wagte kaum an die Möglichkeiten zu denken, die sich nur allzu bereitwillig in Form von Serafina Ardendo vor mir auftaten.
Weiterhin lächelnd zuckte sie leichthin die Schultern. „Es war gar keine so große Gefahr. Schließlich hatte die Diva mich höchstpersönlich herbestellt. Ich habe lediglich die günstige Gelegenheit ergriffen, um daran zu erinnern, dass dem ‚Phantom der Oper' nicht durch eine einfache Kugel beizukommen ist. Vielleicht werden die beiden nun erkennen, wieviel Macht du wirklich besitzt, wenn es dir keinerlei Probleme bereitet, dein Eigentum aus ihren Händen zurück zu erobern." Sie errötete entschuldigend. „Es tut mir Leid, doch um wirklich sicherzugehen, dass man nicht mich verdächtigt, sondern Gandin und die Giudicelli einen tüchtigen Schrecken bekommen, habe ich in deinem Namen eine Nachricht hinterlassen, Signor ‚Il Fantasma dell' Opera'"
All ihren Versicherungen zum Trotz, breitete sich ein Gefühl von Beklemmung in mir aus. „Was, wenn man dir gefolgt ist?"
Serafina seufzte und erhob sich. Scheinbar war es ihr unangenehm, mir durch ihr Handeln Sorge bereitet zu haben. „Ich ...", begann sie und hielt dann inne, um sich nervös über die Schläfen zu reiben. „Ich bin eine Weile ziellos durch die Stadt gewandert, um jeden abzuschütteln, der mir eventuell auf der Spur sein könnte. Und danach war ich noch einmal bei Pater Giovanni und habe der Probe des Chores gelauscht. Bevor ich dann hierher kam, nahm ich abermals einige Schleichwege. Mit Verlaub, ich denke nicht, dass Gandin oder die Diva mir auf dieser Odyssee hätten folgen können ..."
„Ja, du hast wirklich an alles gedacht, mon petite étoile." Während ich die Ledermappe neben mir ablegte, stand ich auf und trat der jungen Frau entgegen, die mich fragend anblickte. Dieses Mal wich Serafina nicht zurück, als ich zärtlich ihre Wange mit einer Hand liebkoste, wobei ich natürlich darauf achtete, die schmerzhafte Blessur zu meiden. „All das nimmst du auf dich, und zum Dank, behandle ich dich derart grob. Kannst du es mir nachsehen?"
Das Abendlicht fiel warm zum Fenster herein und zauberte goldene und kupferfarbene Reflexe in Serafinas braunes Haar, als sie mit einem strahlenden Lächeln ihren Kopf schüttelte. „Oh nein! Das warst du nicht, Erik! Das ist ein Andenken daran, wie undamenhaft sich eine große Sängerin verhalten kann."
„Welch Frevel", murmelte ich und ließ meine Hand von ihrer Wange über die zarte Haut des Halses zum Nacken hin gleiten. „Dafür sollte das Phantom ihr eine Lektion erteilen."
„Das Phantom sollte sich lieber gebührlich bei seiner Wohltäterin bedanken", verkündete Serafina mit einem schüchternen Glanz in den Augen, der mich ahnen ließ, von welcher Art der einzige Dank sein würde, der sie zufrieden stellte.
„Ja, das sollte ich wohl." Eine Hand noch immer in ihrem Nacken, die andere um ihre Taille geschlungen, zog ich meine kleine Meisterdiebin ein Stück näher an mich. Ihre Gestalt, die sich mir sehnsuchtsvoll entgegenbog, an der meinen zu spüren, war berauschend und quälend zugleich. Es schien, als könne ich soviel Glück nicht ertragen, als rechnete ein Teil von mir noch immer damit, sie könne sich jeden Moment von mir losmachen.
Zentimeter nur, trennten unsere Lippen, ihr Atem streichelte meine Haut und machte mir doch auch schmerzlich bewusst, dass noch immer eine Maske zwischen uns stand.
Serafina hatte die Augen geschlossen, bot mir bereitwillig an, ihren Mund mit dem meinen zu verschmelzen – ein so süßes Versprechen, zum Greifen nah ...
Der Herzschlag raste in meinen Ohren, wie glühende Lava schoss ein unsagbares Verlangen durch meinen ganzen Körper. Ihre Nähe, das Gefühl ihrer weichen Berührung, die sich mir verführerisch entgegenlehnte ... Ich wollte sie. Ich wollte alles von diesem Geschöpf.
„Nein", hörte ich mich selbst heiser vor Lust sagen, und konnte doch nicht glauben, was ich tat.
In einem verwirrten Blinzeln flogen Serafinas Augen auf, diese großen, endlosen Tiefen grünen Meeres, in denen ich bereit war, meine Seele zu einzutauchen.
„Mon coeur, diese Belohnung kann ich dir nicht geben. Heute könnte ich mich nicht zurück halten, wenn ich von dir koste. Ich würde zum Wolf ... und dich verschlingen."
Ein leises Keuchen entrang sich ihrer Kehle, und gerade als ich behutsam, wider jeden Wunsch, der verzehrend in mir brannte, begann meine Hände von ihr zu lösen, gab Serafina mir Antwort.
Die Kraft, mit der sie ihre hungrigen Lippen auf meinen Mund presste, wie sie ihre Arme um meinen Hals schlang, um sich noch näher an mich zu schmiegen, raubte mir alle Kontrolle.
Getrieben von der Übermacht meiner Begierde, stürzte ich mich ihrer Hingabe rückhaltlos entgegen. Entzückt lauschte ich ihrem leisen Stöhnen, als ich die Haut ihres schlanken Halses, ihrer Schlüsselbeine liebkoste, meine Finger die Kaskade ihrer Haare lösten und sich tief hineingruben. Ich tastete, schmeckte, nutzte all meine Sinne um Serafina ganz zu erfahren, jedes erdenkliche Detail ihrer Sinnlichkeit in mich aufzunehmen.
Mit Bestimmtheit schlang ich den linken Arm um sie und hob sie auf, ohne das leise protestierende Ziehen meiner Schulter zu beachten. Wir hatten einen Weg betreten, dem wir unweigerlich bis zu seinem Ende folgen würden. Innezuhalten schien mir beinahe unmöglich, ich hätte das Gefühl gehabt, verglühen zu müssen. Doch nichts in Serafinas erwidernder Leidenschaft gebot mir, mich zurückzuhalten. Unersättlich ließen meine Lippen keinen Moment von den ihren, als ich sie ins Schlafzimmer trug.
Was spielte Zeit schon für eine Rolle, wenn es Welten zu entdecken galt, die wir beide nie gekannt hatten?
Zufrieden und erschöpft ineinander verschlungen, besiegte uns schließlich der Schlaf.
Es war Serafinas Haar, dass mir irgendwann über Gesicht und Schultern strich und mich dazu brachte, in lächelndem Widerwillen die Augen zu öffnen. Doch was ich dann in ihrer kleinen Hand erblickte, riss mich schlagartig aus dem träumerischen Schleier der Nacht.
In einer einzigen Bewegung, voller Entsetzen und Scham, stieß ich die Neugierige fort und bedeckte hastig meine entblößte Gesichtshälfte mit der rechten Hand. Meine Maske! Während ich schlief hatte sie meine Maske abgenommen!
„Wahnsinnige", keuchte ich heiser, setzte mich auf und wandte mich von ihr ab. Tränen des Verrats brannten mir in der Kehle, doch statt ihnen freien Lauf zu lassen, vernahm ich mein eigenes, raues Lachen. „Wenigstens besitzt du die Güte, deine Neugier erst zu befriedigen, nachdem du dich mit hingegeben hast. So war es mir also vergönnt, mein Glück zum Greifen nah zu spüren, ehe es mir durch die Finger rinnt."
Ich rechnete mit einer Feuersbrunst von Wut und Zorn, doch in mir blieb nichts übrig, als tote Asche – leere Ernüchterung, die schale Gewissheit, dass mein Leben immer eine Wendung bereithalten würde, die mich daran erinnerte, wer und was ich war.
„Dies ist wohl der Zeitpunkt, ma chére", schlussfolgerte ich bitter, „an dem du schreiend die Flucht ergreifen würdest, wenn du könntest. In deinem besonderen Fall steht es dir selbstverständlich frei, dich in alle Stille zurückzuziehen." Meine Worte mussten sie treffen, und ich hoffte voller Trotz nur darauf, ihr einen Teil des Schmerzes zurückzuzahlen, der mich durch und durch erfüllte.
Hinter mir vernahm ich das leise Rascheln der Laken, als Serafina sich erhob.
Kraftlos sackten meine Schultern zusammen und ich vergrub das Gesicht in den Händen. Wie dicht lagen Segen und Verderben in dieser Nacht doch beieinander, und alles geboren aus dem Herzen einer einzelnen Frau.
Warme Finger legten sich über die meinen, und für einen Moment schien die Zeit angehalten zu haben. Es gab nichts, das ich Serafinas sanfter Bestimmtheit entgegenzusetzen hatte, als sie behutsam ein zweites Mal mein Gesicht aus seiner sicheren Verborgenheit befreite. Erst als ich auch noch ihre zarte Berührung auf dem missgebildeten Fleisch von Stirn, Schläfe und Wange spürte, wagte ich dem mutigen Wesen meinen Blick entgegen zu heben.
Das zitternde Lächeln ihrer Lippen musste eine Täuschung sein, ebenso wie die überquellende Liebe, welche ihre Augen mit Tränen füllte.
„Sie ... te ... bei, mi... amore ..." Wie wunderschön du bist, flüsterte sie so leise und stockend, wie ich noch nie jemanden hatte sprechen hören. Und auch wenn ihre Stimme kaum mehr als ein beschämtes, kratzendes Flüstern war, für mich enthielt sie die wohlklingenste Musik, das betörendste Lied, welches ich je zuvor in meinem Leben vernommen hatte – alle Herrlichkeit der Welt, zusammengefügt in einer einzigen Frau.
Einen langen Moment war ich von der Tatsache, sie reden zu hören, viel zu gefangen, ehe der Inhalt ihrer Worte langsam in mein Bewusstsein sickerte.
Vorsichtig streckte ich eine Hand nach ihrer Wange aus und fühlte eine Welle von Erleichterung über mich spülen, als sie sich meiner Zärtlichkeit seufzend entgegenschmiegte. Sie hatte keine Furcht vor diesem Anblick, den ich selbst doch kaum ertragen konnte, sie schreckte nicht zurück vor der Gewissheit, von diesem Monster geküsst, geliebt worden zu sein. Was ich keiner Frau zuvor hatte zumuten können, nicht einmal der engelsgleichen Christine, Serafina forderte es geradezu mit ungetrübten Verlangen.
Mir fehlten die Worte um all das zu erfassen, was mir in diesem Moment durch den Kopf schoss. Es war ein wirres Durcheinander von Ängsten, Erinnerungen und Hoffnungen. Erst als ihr Gesicht dem meinem immer näher kam, und diese samtigen Lippen über Haut strichen, die niemals die Gnade einer liebevollen Berührung gekannt hatte, wurde mir klar, dass ich weinte.
Serafina
Leise war ich eingetreten, wagte mich zum ersten Mal in Eriks Musikzimmer vor, während er spielte.
Als ich die offenstehende Tür erblickt hatte, war ich nur zu gerne dieser stummen Einladung gefolgt. Es war ein ätherisch lockendes Stück gewesen, dass mich vorsichtig geweckt und hierher geführt hatte.
Die frühe Sonne schien warm auf meinen Rücken, und so fror ich nicht, obwohl ich nur ein dünnes Nachthemd trug.
Erik saß mit dem Rücken zu mir und während ich versonnen dem Klang seines Spiels lauschte, betrachtete ich seine eindrucksvolle Gestalt. Eine Aura von Macht schien ihn seit jeher umgeben zu haben. Schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich sie deutlich gespürt. Doch nun schien er wie von allen Ketten und Fesseln jener Zurückhaltung gelöst, die ihn Zeit seines Lebens gebunden hatten. Eine nahezu majestätische Überlegenheit durchdrang ihn, nicht auf überhebliche oder gar bedrohlich Art und Weise, sondern mit der Gewissheit eine Mannes, der sich seiner selbst endlich bewusst geworden war, und den von diesem Zeitpunkt an keine Schranke mehr zurückhalten könnte.
Als ich mich behutsam ein kleines Stück näher an Erik heranwagte, mich schließlich zaghaft an eine Wand gelehnt in den Taumel der Musik ergab, lächelte ich traurig. Es schmerzte mich zu sehen, dass er sein Gesicht nach den Geschehnissen der letzten Nacht noch immer hinter eine Maske verbarg. Wieviel Schmerz musste ihm zugefügt worden sein, dass er sich selbst jetzt nicht getraute, mir gänzlich ohne sie gegenüberzutreten? Ein Leben lang hatte er einen Teil von sich vor jedem Menschenauge verborgen, und ich ahnte, dass es lange, sehr lange dauern würde, ehe er wenigstens mir gegenüber genügend Vertrauen fasste. Ich liebte ihn – aufrichtig und rückhaltlos. Und sein Gesicht, welches ganz einfach ein Teil seines Wesens war, das liebte ich ebenso wie alles andere. An mir war es das Fehlen einer wirklichen Stimme, an ihm die verzerrte Besonderheit seiner linken Gesichtshälfte – wir trugen beide unsere Makel und schienen uns doch nicht an der Schwäche des anderen zu stören.
Es war eine Stunde später, als ich mich auf den Weg machte, um Pater Giovanni zu sehen. Am vergangenen Abend gab es nur wenig Gelegenheit, um miteinander zu sprechen, denn die Chorprobe für den kommenden Sonntag hatte den größten Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.
Während ich möglichst gleichgültig den Blicken zweier Matronen auswich, die mir mit Missbilligung folgten und mich deutlich spüren ließen, welch niedrigen Stellenwert ich nun in den Augen eines jeden angesehenen Venezianischen Bürgerhauses einnahm, spürte ich zum ersten Mal seit langem den Wunsch, meine Schritte in eine andere Richtung zu lenken. Wie lange hatte ich weder mit Vater, noch Sophia gesprochen? Die meiste Zeit über gelang es mir, sie aus meinen Gedanken zu verbannen, mich selbst davon zu überzeugen, dass es für beide Seiten besser war, so wenig Kontakt wie möglich miteinander zu haben. Doch konnte ich den Schmerz nicht verleugnen, den mir die entschlossene Trennung zugefügt hatte. Zweifelsohne war meine Entscheidung richtig gewesen, doch diese Gewissheit vermochte nicht, den Verlust aufzuwiegen.
Es war der Pater, der nun das einzige Bindungsglied zwischen uns bedeutete, wenn ich ihn in aller Verschwiegenheit nach dem Wohlergehen meiner Familie befragte. Vielleicht hatte er heute sogar Nachricht von Sophia, deren rührende Briefe mir mehrmals pro Woche einen kleinen Trost bedeuten. Obwohl uns nur so wenig trennte, weigerte ich mich standhaft, einem heimlichen Treffen zuzustimmen. Ihren Ruf auch noch zu gefährden, war ein Risiko, das ich nicht eingehen konnte.
Seufzend zog ich das schwarze Spitzentuch über mein Haar, ehe ich die Stufen der kleinen Kirche empor eilte und leise die schwere Tür öffnete. Hastig schloss ich sie wieder hinter mir und spürte, wie augenblicklich die Last der Blicke von mir abfiel, die mich soeben noch neugierig verfolgt hatten. Dieses Haus war mir seit jeher ein Zufluchtsort gewesen, ein Platz, an den ich gerne kam und mich angenommen fühlte, wie verschieden ich von den übrigen Leuten um mich herum auch sein mochte.
Leisen Schrittes trat ich tiefer in das steinerne Gebäude, sorgsam darauf bedacht, niemanden zu stören, der vielleicht ebenfalls in dieser Stille nach einem Ort der Ruhe und Kraft gesucht hatte. Doch es schien niemand außer mir hier zu sein. Auch Pater Giovanni konnte ich nirgends erblicken. Die Empore war ebenso leer, wie auch der Beichtstuhl.
Ich runzelte die Stirn, während ich ein wenig verloren näher an den Altar herantrat. Auf einmal erschien das Fehlen jedes Geräusches mir beinahe unheimlich. Für gewöhnlich hätte doch irgendwoher ein verräterischer Laut klingen müssen, der mir verriet, wo sich der Pater gerade aufhielt. Nichts.
Zaghaft näherte ich mich dem kleinen Durchgang, der direkt vom Kirchenraum zum Hinterhaus und somit zur Wohnung des alten Mannes führte. Es lag etwas Bedrohliches in der Atmosphäre, das mich beinahe davon abgehalten hätte, den Gang zu betreten, doch wider mein Gefühl tat ich es. Hier war es dunkler als im übrigen Gebäude, und scheinbar hatte Pater Giovanni versäumt, die Öllampe an der Wand zu entzünden, der wenigstens einen kleinen Lichtschein spenden könnte.
Um auf dem glatt gefliesten Boden nicht ins Rutschen zu geraten, wollte ich mich gerade an der Mauer entlang tasten, als mein Fuß plötzlich gegen etwas Unerwartetes stieß.
Merkwürdig ... jemand musste hier eine große Tasche, oder einen ähnlichen flachen Gegenstand mitten im Weg liegengelassen haben. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, mich ein wenig schneller an die schattigen Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Tatsächlich, dort auf dem Boden konnte ich undeutlich die Konturen dieses Hindernisses ausmachen, das mich beinahe zu Fall gebracht hätte.
Mir wurde übel, kaltes Entsetzen erfasste mich. Ein lebloser Körper versperrte mir den Durchgang, und leise keuchend erkannte ich an ihm die schwarze Robe Pater Giovannis. Sein Gesicht war dem Boden zugewandt, beide Arme in verdrehtem Winkel vom Leib gestreckt. Etwas in seiner Haltung verriet, dass er nicht einfach nur gestürzt war, oder einen Unfall gehabt hatte ...
Ich musste Hilfe holen ... so schnell wie möglich!
Voller Panik fuhr ich herum und wollte aus dem grauenerregenden Dunkel des Ganges ins Kirchenschiff eilen, doch ich war unfähig, auch nur einen Schritt zu tun.
Hinter mir war, ohne dass ich es bemerkt hatte, eine hochgewachsene Gestalt aufgetaucht, deren schemenhafte Präsenz mir jede Möglichkeit zur Flucht verstellte. Ich konnte sein Gesicht noch nicht erkennen, doch das war auch gar nicht nötig.
Das Herz raste mir wild in den Brust, und während der finstere Mann in aller Seelenruhe näher und näher auf mich zu trat, hatte ich das Gefühl, alles was gerade passierte sei ganz unwirklich, so völlig jeder vernünftigen Wahrnehmung entrückt, wie eigentlich nur ein Alptraum hätte sein können.
Gandin! Gandin!
„Bon jour, mon petite Mademoiselle la Fantome ..." Er deutete spöttisch eine kleine Verbeugung an. „Ich denke nun ist es an der Zeit, dass wir mit offenen Karten spielen." In einer blitzschnellen Bewegung stand er direkt vor mir, und nur einen Wimpernschlag später, spürte ich etwas Scharfkantiges, das gegen die Haut meines Halses gepresst wurde. „Ich brauche dich sicher nicht zu ermahnen, keinen Laut von dir zu geben, während du mich nun begleitest."
Ich schloss zitternd die Augen, als ich die kalte Klinge spielerisch über meine Haut gezogen fühlte. Was sollte ich tun? Körperlich war dieser Mann mir weit überlegen, erstrecht mit einer Waffe in der Hand. Um Hilfe rufen konnte ich nicht, aber vielleicht gelang mir die Flucht, während er mich dazu zwang, mit ihm zu kommen ...
„Ich sehe genau, was in deinem Köpfchen vor sich geht, chérie. Aber es ist ganz und gar ausgeschlossen, dass du mir entkommst, dazu bist du im Moment ganz einfach viel zu wertvoll für mich ..."
Als ich Gandin anblickte, war sein Gesicht so dicht an dem meinen, waren seine Augen von derart diabolischen Spott erfüllt, dass ich unwillkürlich zurückzuckte. Schneller, als dass ich reagieren konnte, hatte er einen Arm um meine Taille geschlungen und war hinter mich gewichen. Die Klinge hatte meinen Hals verlassen und bohrte sich nun schmerzhaft in meine Seite.
„Tztztz ... sei nicht so unüberlegt. Es wäre doch zu Schade, wenn Monsieur le Fantome sein Werk gegen eine Tote Komplizin eintauschen müsste." Sein Mund näherte sich meinem Ohr, und ich spürte die blasse Wange über mein Haar streichen. Die Stimme des Mannes war ein unheilvolles Flüstern. „Du willst mir doch nicht etwas den Spaß verderben? Auf derartige Störungen reagiere ich überaus empfindlich ..."
Eine Hand wanderte hinauf zu meinem Haartuch und zog es in nervenzerreißender Langsamkeit herab. Ich hörte, wie Gandin etwas aus seiner Tasche hervorholte und aus den Augenwinkeln sah ich einen Briefumschlag, den er zusammen mit meinem Tuch auf den reglosen Körper Pater Giovannis fallen ließ.
Erst jetzt stiegen mir Tränen in die Augen. Hatte ich vorher noch hoffen können, Hilfe für meinen väterlichen Freund zu holen, so wurde mir nun langsam klar, dass diese längst zu spät gekommen wäre. Ganz sicher hatte Gandin nicht gezögert, den alten Mann umzubringen, um seine perfiden Pläne auszuführen.
Wie betäubt nahm ich die Worte war, die der von Schlechtigkeit durchtriebene Mann nun leise in mein Ohr wisperte. „Im Übrigen danke ich dir dafür, mir geholfen zu haben, mon chérie. Erst hast du mich gestern Abend hierher geführt, und nun kommst du auch noch ganz von selbst in meine Arme gelaufen, so dass ich nicht einmal die Mühe habe, dich erst zu suchen. Aber das ist wohl nur gerecht, denn deiner ortskundiger Verfolgungsjagd am Tag zuvor war ich wirklich nicht gewachsen."
Wut, Trauer und Verzweiflung überfielen mich mit erbarmungsloser Härte. Ich hatte Gandin hierher geführt! Ich! Und nun wollte er Erik auch noch mit meiner Hilfe anlocken!
Oh, es hätte mir so viel besser zu Gesicht gestanden, mutiger zu sein und mein Leben zu riskieren, um den Mann zu retten, den ich liebte. Doch zu meiner großen Schade musste ich einsehen, wieviel Angst ich hatte. Ich wollte nicht sterben! Nicht nachdem ich das Gefühl hatte, endlich ein Stück Glück gefunden zu haben, auf dass ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
Vielleicht wusste Erik, was zu tun war. Vielleicht hatte er die Macht, unser Schicksal zum Guten zu wenden ...
Und so verharrte ich unbewegt und widerstandslos als Gandin mein Haar löste, das Messer mit unerbittlicher Bestimmtheit an meinen Nacken presste, so dass es niemand sehen konnte und mich leise lachend aus der Kirche führte.
