Kapitel 7

Erik

Als ich auf das beharrliche Läuten der Glocke hin die Haustür öffnete, hatte ich eigentlich damit gerechnet, Serafina zu erblicken, die etwas Wichtiges vergessen hatte. Sie war vor wenigen Minuten zu Pater Scabrezza aufgebrochen.

Ich lächelte, als ich mir selbst die Frage stellte, ob ich sie nicht dazu überreden sollte, ihren Besuch auf ein wenig später zu verschieben. Doch als ich mich unerwartet einer anderen jungen Frau gegenüber sah, kühlte meine Stimmung sogleich ab.

Ein erschrockenes Paar großer brauner Augen starrte mich für einen Moment gebannt an, ehe ihre junge Besitzerin verlegen zu Boden blickte und einige Schritte vor mir zurückwich.

Ich erinnerte mich daran, diese junge Frau bereits einige Male zuvor gesehen zu haben. Ihr Name war Sophia und sie war Serafinas Cousine. Misstrauisch musterte ich ihre eingeschüchterte Gestalt. Es schien sie einiges an Überwindung gekostet zu haben, sich hierher zu wagen. Und augenscheinlich trug meine Erscheinung nicht dazu bei, dass sie sich wohler fühlte.

„Mademoiselle?" Himmel, musste das Mädchen so zusammenzucken, als ich sie ansprach?

„Ist Serafina da?", platzte es aus ihr heraus. Ein schneller, neugierig erschauernder Blick zu mir auf, dann hatte sie den Kopf auch schon wieder gesenkt, hielt beide Arme vor dem Oberkörper verschränkt, um eine weitere deutliche Schranke zwischen sich und diesen sonderbaren Mann ihr gegenüber zu bringen. „Ich muss dringend mit ihr sprechen."

„Es tut mir Leid, aber Mademoiselle Serafina ist momentan nicht hier ..."

„Oh", meinem Blick konsequent ausweichend, hob sie überraschte die Augenbrauen. „Wo kann ich sie dann finden? Oder kommt sie bald zurück?"

„Sie wollte nicht lange fort sein." Sollte ich das Mädchen hereinbitte? Ich war sicher, dass sie es abgelehnt hätte, der Einladung nachzukommen, und auch mir war nicht an Gesellschaft gelegen. „Aber wenn Sie es wünschen kann ich ihr auch etwas ausrichten."

Für einen kurzen Moment überwand sie sich, mich skeptisch zu abzuschätzen. Dann seufzte sie. „Wahrscheinlich will Serafina es gar nicht hören, aber ihr Vater ist sehr krank. Er hat mich gebeten, mit ihr zu sprechen."

„Tatsächlich", meine Gleichgültigkeit, war kaum zu überhören. Es berührte mich nicht im Geringsten, wie es diesem Menschen ging. Zu hören dass er krank war, gab mir nicht einmal die Befriedigung, die ich von einer solchen Nachricht hätten erwarten können. „Vermutlich haben Sie recht, Mademoiselle. Ihre Cousine wird es nicht hören wollen." Ich trat einen Schritt zurück und legte meine Hand auf die Türklinke. „Wenn Sie Ihr Anliegen hiermit vorgetragen haben, Mademoiselle ..."

„Bitte!" Plötzlich hatte sie flehentlich die Hände gefaltet und sah mir mit scheuer Tapferkeit in die Augen. „Sagen Sie es ihr, Signor. Ich weiß, wie sehr sie ihn noch immer liebt, selbst wenn sie es sich selbst nicht einmal eingestehen will. Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen allen vorgefallen ist. Darüber wollten weder Serafina noch mein Onkel mit mir sprechen. Aber seit ich mich erinnern kann, waren die beiden unzertrennlich. Der Tod meiner Tante hat sie eng zusammengeschweißt, und ihr Vater ist sehr stolz darauf, dass meine Cousine sich gegen alle Widrigkeiten zu der Person entwickelt hat, die sie heute ist ... Ich soll Serafina bestellen, dass es ihm leid tut."

Nachdenklich hatte ich inne gehalten, die Tür zu schließen. Sollte Ardendos Wohlergehen mich auch nicht im Geringsten scheren, das von Serafina lag mir mehr denn je am Herzen. Ja, sie hatte sich in einem kompromisslosen Akt der Loyalität mir gegenüber von ihrem Elternhaus losgemacht. Doch sollte ich mir selbst nicht eingestehen, dass die jahrelange Liebe zu ihrem Vater, nicht von einem Moment auf den anderen vergessen sein würde?

„Ich werde es ihr ausrichten, Mademoiselle", brachte ich schließlich hervor. „Guten Tag."

Ich hatte kaum die Tür geschlossen, als unvermittelt eine Woge von Zorn über mich rollte. Mit der linken Hand fegte ich eine Vase von der Anrichte, doch selbst ihr lautstarkes Splitter, mochte die Wut nicht zu besänftigen.

Womit hätte dieser Mann verdient, dass ich zwischen ihm und seiner Tochter vermittelte? Serafinas Liebe gehörte nun mir. Und ich musste mir eingestehen, dass ich nicht bereit war, sie zu teilen. Wie könnte ich zulassen, dass sie ihm verzieh, dass sie vielleicht sogar wieder zu ihm zurück wollte ...

Als meine Hände auf die Tasten der Orgel niedersausten und der dumpfe, dröhnende Klang mich erbeben ließ, war ich innerlich wie zerrissen. Ich wusste, dass Serafina ein Recht darauf hatte, die Nachricht ihres Vaters zu erhalten und frei darüber zu entscheiden, welche Konsequenzen sie daraus zog. Doch gleichzeitig konnte ich die den Hass nicht verleugnen, den ich noch immer gegen diesen Mann hegte. Womit hatte er verdient, Vergebung zu erfahren? Was es nicht besser, Serafina würde ihn vergessen?

Dieser Gedanke schien mir beruhigend und während ich mehr und mehr in die Klänge meines Spiels versank, wusste ich, dass wir noch in den nächsten Tagen Venedig verlassen würden. Wenn das ‚Phantom' Gandin und Carlotta erst einen letzten Besuch abgestattet hätte, um ihnen jenes frevelhafte Verhalten heimzuzahlen, gäbe es ohnehin nichts mehr, das in dieser Stadt für mich von Interesse war. Mit Ardendo konnte gesehen, was wollte. Die Zeit würde sich seiner annehmen, und der Verlust der geliebten Tochter, war eine angemessene Strafe für seine vergangenen Taten.

Ich würde Serafina Länder zeigen können, von denen sie bisher nicht einmal gehört hatte. Schon wenn ich mir ihr Erstaunen, das Wundern über all die Schönheit dieser Welt vorstellte, spürte ich ein ungewöhnliches Gefühl der Ruhe in mir wachsen. Ganz sicher hätte sie Freude an den malerischen Landschaften Südfrankreichs oder den prunkvollen Städten des Orients, die wie einem Märchen entsprungen zu sein schienen. Und ich würde ihr all das zeigen, konnte ihr ein Leben bieten, wie sie es sich schöner nicht erträumen konnte.

Ich hatte mich vollkommen verloren in den Bildern und Gefühlen, die im Geiste an mir vorüberzogen, so dass ich den Musikraum erst verließ, als der Himmel bereits schwach im Abendrot zu glühen begann.

Der Garten lag friedlich und leer, und auch im Salon oder jeder anderen Räumlichkeit, die ich betrat, fand ich kein Anzeichen für Serafinas Rückkehr. Stunden mussten vergangen sein, seit sie das Haus verlassen hatte.

Mit einem leisen Fluchen packte ich meinen Gehrock und warf ihn über, ehe ich hinter mir die Haustür ins Schloss schlug. Ich musste sie suchen.

Heute war ich sicher, dass Serafina nicht jeden Moment mit einer Überraschung wieder ins Haus platzen würde, wie es am gestrigen Tag geschehen war. Im schlimmsten Fall hing ihr Verschwinden sogar mit den beiden Herrschaften zusammen, denen sie gestern noch entkommen war. Ich hätte es kommen sehen müssen! Es war leichtsinnig gewesen, anzunehmen, dass ihr mitten in der Stadt am hellen Tag keine Gefahr von ihnen drohte. Ich hätte ihren Wunsch zu gehen unterbinden müssen, wenn es sein musste auch gegen jeden Widerstand!

Während ich mit sturen, zornigen Schritten die Gassen in Richtung der Basilika Pater Scabrezzas durchmaß, mahlten meine Kiefer unerbittlich aufeinander. Die war der Wohl denkbar schlechteste Zeitpunkt gewesen, um weich zu werden. Serafinas Gefühle mir gegenüber, ihre mutige aber leichtsinnige Hilfe, hatten Gandin und die Diva vielleicht doch auf sie und ihre Verbindung zum ‚Phantom' aufmerksam gemacht.

Ich versuchte mich auf die vage Hoffnung zu konzentrieren, dass ich meine kleine Gefährtin doch bei dem alten Pater antreffen würde, doch bereits als ich das Eingangstor der Kirche von Weitem erblickte, ahnte ich, dass dem nicht so war.

Einen Augenblick innehaltend fasste ich die kleine Menschenansammlung näher ins Auge, die dichtgedrängt von der Flügeltür stand, und von drei nervös wirkenden Carabinieri in Schach gehalten wurde. Im Inneren der Kirche musste etwas geschehen sein, das die Gemüter zutiefst bewegte. Ich sah einige Frauen weinen, und mehrer Männer, die wütend schimpfend die geballten Fäuste erhoben hatten.

Meinen Rücken rann ein unheilvoller Schauer herab. Welchen Grund auch immer dieser Tumult haben mochte, ich wusste, die Frau, die ich liebte, war irgendwie in ihn verwickelt.

Ein erster Impuls drängte mich, mir einen Weg durch die Versammelten zu bahnen und, ungeachtet der Schutzkräfte, so direkt wie möglich ins Innere des Gebäudes zu gelangen.

Doch Vernunft zwang mich zur Ruhe. Ich es wäre überaus lästig gewesen, ein solches Verhalten im nachhinein erklären zu müssen, und ganz sicher war niemandem geholfen, wenn ich mich mit derartigen Unwichtigkeiten aufhielt.

Entschlossen trat ich an der Menge vorbei, und während sich die Aufmerksamkeit aller auf die Haupttür jener kleinen Kirche konzentrierte, begab ich mich in die schmale dunkle Gasse nebenan. Vor Wochen war ich schon einmal hier gewesen, um unbeobachtet Serafina zur Rede zu stellen. Doch nun schob ich jeden hinderlichen Gedanken an all das, was inzwischen mit uns geschehen war, beiseite und sah mich um. Der Hinterhof war schmal dunkel und schmutzig. Offenbar nutzten ihn einige der angrenzenden Wohnungen, um ihren Müll einfach aus den Fenstern fallen zu lassen, und zu warten, bis er verrottet, oder von Ratten und streunenden Katzen und Hunden beseitigt wurde.

Angespannt schätzte ich die Möglichkeiten ab, in das Haus zu gelangen.

Die Räumlichkeiten Scabrezzas lagen im ersten Stock. Es wäre möglich, auf das Geländer der Hintertür zu steigen, und mich von dort aus an einem Fenstersims weiter hochzuziehen. Doch ehe ich mich auf eine solche Kletterpartie einließ. Wäre es empfehlenswert, das unkomplizierteste Methode zu versuchen.

Mit grimmiger Zufriedenheit spürte ich, dass die Klinke der Hoftür meinem Druck nachgab und betrat einen ein beklemmend enges Treppenhaus, in dem absolute Stille herrschte. Wahrscheinlich hatten alle Anwohner sich dem Geschehen vor der Kirche zugewandt und so hatte ich Gelegenheit, mich völlig unbeobachtet zu bewegen. Auf unterster Ebene führte eine einfache Gittertür zu dem Gang, von welchem ich wusste, dass er die angrenzende Kirche mit diesem Gebäude verband. Der Durchgang war nicht allzu lang, aber dunkel und er beschrieb etwa auf der Hälfte des Wege einen rechten Winkel, so dass ich kaum etwas von Nutzem erkennen konnte.

Ich legte eine Hand an das Gitter. Wie erwartet, hatte man es verschlossen, so dass niemand von dieser Seite Aus die polizeibewachten Räumlichkeiten betreten konnte.

Doch der Zufall war auf meiner Seite, und aus ich so leise wie möglich mit der linken Schulter gegen stieß, gaben die rostverkrusteten Scharniere unter einem leise protestierenden Aufschrei nach. Ich brauchten nicht lange, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und begab ich mich leise vorwärts, immer dicht an die Wand gehalten, sollte sich unerwartet einer der Wachposten entscheiden, auch diesem Eingang mit größerer Sorgfalt im Auge zu behalten.

Es herrschte Stille, kein Laut drang vom Inneren des Kirchenschiffes, oder der Menschenansammlung vor dem Gebäude herüber. Als ich an die Biegung gelangte, konnte ich einen schwachen Lichtschein erkenne, der verriet, dass ich meinem unbestimmten Ziel langsam näher kam.

In angespannter Wachsamkeit spähte ich um die Ecke. Und dieser Moment genügte, um mich von zwei Dingen zu überzeugen. Zum einen wurde tatsächlich nur der Haupteingang dieser Kirche bewacht, und zum anderen kam ich wohl zu spät, um Schlimmeres zu verhindert. Unweit von der Stelle, wo ich mich befand, sah ich undeutlich einen leblosen Körper am Boden liegen, und obwohl man dem alten Mann pietätsvoll ein Tuch über den Kopf gebreitet hatte, erkannte ich doch die Statur und Gewandung Pater Scabrezzas.

Betroffen schloss ich die Augen, atmet tief durch. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich abgeklärt genug fühlte, ehe ich tat, was ich tun musste, um zu erfahren, was hier vorgefallen war. Ich kniete neben dem Toten nieder. Auch ohne sein Gesicht zu enthüllen, erkannte ich, die Ursache seines Todes. Jemand hatte ihm ein Jagdmesser – oder eine ähnlich große Klinge - mehrmals in den Rücken gestoßen und schließlich wohl die Lunge getroffen. Der alte Mann hatte keine Chance gehabt.

Als meine Reisen mich nach Indien geführt hatten, war ich Bauherr über das Projekt eines ehrgeizigen englischen Diamantenhändlers geworden. Seinen Besitz hatte er mit Stolz vorgeführt und genussvoll Einsicht in jedes Detail seiner Arbeit gewährt. Die Minen jenes Landes waren menschenverachtend, schwere Unfälle an der Tagesordnung. Mehr als einmal hatte ich mein Wissen um die Heilkunde anwenden müssen, da die Arbeiter ihrem Herren keine andere medizinische Behandlung wert waren. Ich hatte Menschen unter meinen Händen sterben sehen. Oft - so oft, dass ich dem Tod gegenüber hart geworden war, hatte ich ihm in seinen erbarmungslosesten Formen ins Gesicht geblickt.

Mit der Zeit glaubte ich immun gegen ihn zu sein, doch in diesem Moment durchfuhr mich ein Gefühl, von Trauer und unbändiger Wut.

Bevor ich in diese Stadt kam war Antoinette Giry die einzige Person, mit der mich eine gewisse Art von Loyalität verband und um deren finanzielles Wohl ich mich von Zeit zu Zeit kümmerte. Ansonsten hatten mein Auftreten und der Wunsch nach Souveränität stets verhindert, dass ein anderer Mensch mir in irgendeiner Hinsicht näher kommen konnte. Mit Christines Fortgehen, hatte ich den Schmerz des Verlassenwerdens in seiner tiefsten und elementarsten Form erfahren. Etwas Derartiges wollte ich nie wieder ertragen müssen...

Nun musste ich erkennen, dass meine Bemühungen vergeblich gewesen waren. Unbemerkt hatte ich Vertrauen zu zwei Menschen gefasst, Serafina sogar mein Herz geöffnet, und das in einer Form, wie nie jemandem zuvor. Vielleicht waren Trauer und Schmerz der unausweichliche Preis, den jeder Funken Glück forderte.

Bitter schüttelte ich den Kopf.

Die Carabinieri hatten es bisher dabei belassen, diesen Tatort abzusperren, ohne dabei etwas zu verändern.

Ich brauchte nicht zu suchen, um die Hinweise zu erhalten, die Scabrezzas Mörder mir hinterlassen hatte. Direkt auf der Leiche des Paters fand ich, was man mich gerichtet war.

„Serafina ..."

Vorsichtig strichen meine Finger über das dünne Tuch aus schwarzer Spitze, ehe ich es gedankenverloren in die Tasche meines Gehrocks gleiten ließ.

Ich hatte verstanden. Gandins Botschaft war deutlich – er war bereit Blut zu vergießen.

Ohne ihn zu öffnen, war ich mir sicher, dass der ebenfalls auffällig platzierte Brief von Gandin stammte und gewisse Anweisungen an mich enthielt. Selbstverständlich würde ich Zeit und Ort entnehmen können, zu dem ich Gelegenheit hatte, mein Leben gegen das von Serafina einzutauschen.

Mit zitternd geballten Fäusten erhob ich mich. Es gab keine Worte für die brodelnde Hitze des Zornes, die durch meine Adern schoss. Ich ertrank in der Sucht nach Rache, wenn ich an den toten Mann zu meinen Füßen und meine sanfte Geliebte in Gandin Händen dachte.

„Au revoir Père ..", murmelte ich düster.

Mir war nicht bewusst, wann ich angefangen hatte, leise zu summen, doch als ich mich langsam von der Leiche des Paters abwandte und durch das Gittertor die Kirche in Richtung meiner Wohnung verließ, war es Cherubinis Dies Irae, das mich begleitete.

Gandin! Er war zu weit gegangen, viel zu weit. Nun war es an der Zeit, dass jener schwarze Engel sich seiner annahm, der seit fünf Jahren in tiefem Schlummer gelegen hatte. Dieser Mann wusste nicht, welches Unglück er heute heraufbeschworen hatte.

Serafina ...

Es galt eine ganze Welt zu retten - in Form einer einzigen Frau ...

Serafina

Mein Kopf fühlte sich schwammig und dumpf an, als ich den vorsichtigen Versuch unternahm, die Augen zu öffnen. Eigentlich hatte ich beabsichtigt, die Hand zu heben, um den stechenden Schmerz hinter meinen Schläfen fortzureiben, doch aus irgendeinem Grund war ich nicht in der Lage, meine Arme oder die Beine zu bewegen.

Panik erfasste mich, und mein Herz, das eben noch in betäubter Ruhe sanft geschlagen hatte, hämmerte mir derart wild in der Brust, dass ich fürchtete, von Angst und Ohnmacht zerrissen zu werden.

Ganz langsam träufelte die Erinnerung in mein Bewusstsein zurück, und sie bedeutete keinesfalls Beruhigung.

Gandin hatte mich in dieses schäbige Hotel geführt, mich gefesselt und dann dazu gebracht, ein seltsam schmeckendes Getränk herunterzuwürgen, in dem er meine Nase so lange zu gehalten hatte, bis er die Flüssigkeit in meinen nach Luft schnappenden Mund zwingen konnte. Mir war übel geworden, und während ich das Gefühl gehabt hatte, alles um mich herum würde sich drehen, musste ich bewusstlos geworden sein.

Ich versuchte, mich ein wenig zu beruhigen. Noch lebte ich, und bis auf die Tatsache, dass ich an Armen und Beinen gefesselt war, schien dieser Mann mir keine Gewalt angetan zu haben.

Im Flur hörte ich schleppende Schritte und lauschte voller Anspannung, bis sie sich wieder entfernten.

Tief durchatmend versuchte ich, mich zu beherrschen, um meine Umgebung genauer ins Auge zu fassen. Der Raum, in dem ich mich befand, war spärlichst eingerichtet. Dies war keine Unterkunft, in der Gäste lange blieben.

Es war bereits Nacht, und das einzige Licht stammte vom Vollmond, der durch ein kleines, mir gegenüberliegendes Fenster herein schien. Bis auf das schmale Bett, auf dem ich lag, gab es noch einen wackeligen Tisch mit Stuhl, rechts vom Fußende und daneben einen alten Kleiderschrank, dessen Tür widerspenstig einen Spalt breit offen stand. Zu meiner Linken befand sich lediglich die Zimmertür.

Ich war allein, und von Gandin fehlte jede Spur. Vielleicht war ich eher wieder zu mir gekommen, als er erwartet hatte. Wenn ja, bot sich mit jetzt wahrscheinlich die einzige Möglichkeit zur Flucht, mit der ich rechnen durfte!

Es kostete mich einiges an Mühe, den schmerzhaften Protest meiner auf dem Rücken zusammengebundenen Arme zu ignorieren, und mich leise stöhnend an der Wand aufzusetzen. Ohne die Fesseln loszuwerden, würde ich nicht weit kommen, und so blickte ich mich fieberhaft um.

Zwecklos! Dieses Zimmer war vollkommen leer. Es gab nicht einmal ein Glas, das ich hätte zerbrechen können, um mit den Scherben die dünnen Seile um meine Handgelenke zu durchtrennen. Gandin hatte an alles gedacht und ließ mir keine Möglichkeit, ein geeignetes Werkzeug zu finden.

Voller Wut biss ich die Zähne aufeinander.

Was konnte ich also tun?

Gerade als ich mich fragte, ob ich zur Tür hüpfen könnte, um jemanden durch Klopfzeichen auf mich aufmerksam zu machen, hörte ich draußen abermals deutliche Schritte, die sich meinem Gefängnis näherten.

Ich erstarrte. Gandin!

Mit einem leise schabenden Geräusch drehte sich ein Schlüssel im Türschloss und keine Sekunde später trat der junge Mann in formeller Garderobe und Umhang ein.

Vor dieser abgerissenen Kulisse wirkt sein Erscheinungsbild beinahe lächerlich, schoss es mir trotz unbeschreiblich großer Angst durch den Kopf, als sich unsere Blicke kurz trafen.

Ich wandte das Gesicht zur Seite, starrte den dunklen Schrank rechts neben mir an, um das belustigte Funkeln dieser kalten Augen nicht sehen zu müssen.

„Bonne nuit, Mademoiselle." Gandins lauernder Stimme folgte das Rascheln seines Umhangs, als er ihn von den Schultern streifte. „Sicher hast du gut geschlafen. Aber es scheint, dass ich keine Minute zu früh hierher zurückgekehrt bin."

Leise knarrten die Bodendielen, als er sich dem kleinen Tisch näherte und ich aus den Augenwinkeln beobachten konnte, wie er einen flachen, schwarzen Kasten darauf abstellte.

„Weißt du, welche Frage mir die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf gehen will, chérie?" Ich konnte seinen Blick auf mir lasten spüren, als er den Umhang über die Stuhllehne gleiten ließ.

Unbehaglich presse ich mich noch mehr gegen die Wand, als ich die Augen ein wenig hob und sah, dass Gandin näher trat. Unmittelbar vor mir blieb er stehen, musterte mich mit prüfendem Blick und verschränkte schließlich amüsiert die Arme vor der Brust.

„Ich frage mich, ob ‚das Phantom der Oper' überhaupt noch sein Unwesen treiben kann, nachdem ich es erschossen und in einem der Kanäle hinter dem Theater versenkt habe." Sein lachen klang unangenehm blechern. „Oder ob ich es nicht vielmehr mit dem plumpen Versuch seiner kleinen Gespielin zu tun habe, die sich geschworen hat, in seinem Namen Rache zu nehmen."

Blitzschnell zuckten seine Hände vor, und schon fühlte ich mich bei den Schultern gepackt und mit quälender Wucht so herumgerissen, dass ich seinen eisigen Augen nicht länger ausweichen konnte.

Gandin zeigte eine Reihe blitzend weißer Zähne, als sich die schmalen Lippen zu einem dämonischen Grinsen verzogen. „Ich hoffe geradezu darauf, dass wir vergeblich auf das Erscheinen deines Phantom-Liebhabers warten. Bisher habe ich nur weitaus gesprächigeren Subjekten als dir, wohlgehütete Informationen entlockt ..."

Ich schluckte trocken, als seine Hand plötzlich ein Jagdesser hielt – dieselbe Waffe, mit der er mich schon einmal bedroht und mir den einzigen Freund und Mentor genommen hatte, der seit Beginn meines Lebens an meiner Seite gewesen war.

Genüsslich führte Gandin die Klinge über meine bebenden Lippen und schließlich von der linken Wange entlang den Hals hinunter.

„Ich weiß, dass es sehr interessant werden wird, mit anzusehen, wie du am Ende darum kämpfen wirst, mir zu sagen, wo du ‚Don Juans Triumph' versteckt hältst, chérie. Oh ja, du musst dir etwas einfallen lassen, wenn du nicht willst, dass man dich schon bald tot und halb verfault aus einem der stinkenden Kanäle fischt ... Es wäre doch so schade um dich."

Ich zitterte immer noch am ganzen Körper, als Gandin mich eine Stunde später aus dem Zimmer, in die Hotelhalle hinunter dirigierte und dabei seinen Arm um mich legte, als hätte er jedes Recht, mich zu begleiten.

Der Blick des schmierigen Türstehers verriet, welchen Eindruck er von mir hatte. Man zählte mich ganz klar zu dem Schlag Frau, der es gewohnt war, in solch vertrauter Geste mit ihrer männlichen Begleitung in dieser Art von Hotels zu verkehren.

Ich spürte Tränen der Angst in mir aufsteigen und brachte nur fertig, sie herunterzuschlucken, da ich genau wusste, wie sehr es Gandin gefreut hätte, meine Schwäche zu sehen. Nach seiner furchteinflößenden Drohung von zuvor, hatte er sich zu meiner Erleichterung dem schwarzen Kasten auf dem Tisch gewidmet. Offenbar war dieser Mann noch immer der Ansicht, dass ein Revolver der geeigneteste Schutz war, um sich des möglicher Weise noch immer lebendigen ‚Phantoms' zu entledigen. Hingebungsvoll hatte er begonnen, die Waffe sorgsam zu polieren und mit genau sechs glänzenden Silberkugeln zu laden.

Ich hatte jede einzelne mit angehaltenem Atem verfolgt und darum gebetet, dass keine von ihnen Erik ein Leid antun würde. Ganz sicher war es für ihn von Vorteil, dass Gandin ganz offen den Zweifel hegte, dass sein Gegner überhaupt noch am Leben war. Vielleicht verschaffte diese unvorsichtige Annahme Erik, die Chance zu handeln.

Mir lief ein Schauer den Rücken herab, als ich neugierigen Augen begegnete, die Gandin und mir mit unverhohlenem Misstrauen folgte. Noch befanden wir uns in Cannaregio, einem der ärmsten und schmutzigsten Stadtteile Venedigs, dessen düstere Gassen und von Zwielichtigkeit durchsetzte Atmosphäre ich bisher stets gemieden hatte. Man konnte sich seiner Sicherheit nicht gewiss sein, in diesem Labyrinth aus Elend und Perspektivenlosigkeit, denn die meisten der hier lebenden Menschen hatte nichts mehr zu verlieren, als ein Leben, das ohnehin nicht sehr viel wert war.

Zielstrebig lenkte mein Entführer mich durch die verwinkelten, schmalen Straßen, und die ganze Zeit über erinnerte mich das Messer im Nacken daran, dass jeder Gedanke an Flucht vergeblich war. Halbdunkel umfing uns an diesem nebelschwangeren Morgen, und alles, was bisher den nahenden Tag erahnen ließ, war ein schwaches Glühen, das von Osten herauf stieg. Überall in diesem Teil der Stadt roch es nach den Feuern der Gondelwerkstädte, in deren beißendem Qualm das Holz für diese flachen, schwarzen Boote zur Bearbeitung vorbereitet wurde.

Ich zuckte zusammen, als Gandin plötzlich zu summen begann. „Was ist, ma petite? Jetzt sag nicht, dass dir der Triumphmarsch aus ‚Aida' nicht zusagt! Ich finde ihn herrlich passend angesichts dieses unterhaltsamen Anlasses." Unbeirrt fuhr er fort, und ich hoffte nur, dass sich Erik dieses sorglose Verhalten zu Nutze machen konnte.

Erik ...

Ich zweifelte nicht daran, dass er erscheinen würde, wie Gandin es wahrscheinlich in dem Schreiben gefordert hatte, als dessen stummer Überbringer mein toter Vertrauter hatte dienen müssen. Der Gedanke, dass es meinem Geliebten, der so viele Fähigkeiten, so leidenschaftliche Gefühle in sich vereinte, war es, der mir noch immer Mut gab, der mich mit Hoffnung erfüllte, obwohl Gandin nicht zögern würde, mich zu quälen, oder zu töten, wenn ihm danach der Sinn stand.

Nur wenige Minuten später erreichten wir eine enge Gasse am Rande der Stadt, an deren Ende ein kleiner Steg lag.

„Steig in das Boot, chérie, und rühre dich nicht vom Fleck, wenn dir etwas daran liegt, unsere Fahr lebend zu überstehen."

Auch wenn alles in mir sich dagegen wehrte, tat ich doch, was mir gesagt wurde und setzte ich auf die flache Bank am Kopfende der Ruderbarke. Gandin war nicht ungeschickt, legte sich tüchtig in die Riemen, als hätte er es bereits unzählige Male zuvor getan, und auch, wenn ich seinem Blick auswich, spürte ich ihn unentwegt auf mir lasten.

Langsam wurde mir auch klar, welches sein Ziel war. Nördlich von hier, direkt wo er das Boot langsam und ruhig hin lenkte, lag San Michele. Die Friedhofsinsel – hätte er sich einen passenderen Ort für ein Treffen mit dem ‚Phantom' aussuchen können? Niemand würde auf einen eventuellen Kampf aufmerksam werden. Die Toten störten sich nicht an unsere Belangen, und außer ihnen hielt sich niemand außer in dieser einsamen Abgeschiedenheit auf. Früher hatten Kamaldulenser Mönche ein kleines Kloster auf San Michele unterhalten, doch nach seiner Schließung war die Insel mit ihrer Nachbarin San Cristoforo verbunden und mit einer beinahe drei Meter hohen Terrakottamauer umgeben worden. Es war unter der Herrschaft Napoleons gewesen, dass man diesen Ort zu einem riesigen Friedhof gemacht hatte, um mögliche Seuchen von der Stadt fern zu halten. Die kleine Renaissancekirche am Nordende war alles, was davon zeugte, dass einmal tatsächlich Menschen auf diesem Eiland gelebt hatten. Außer ihr, gab es dort nur noch Gräber und hohe, alte Zypressenbäume.

Ängstlich biss ich mir auf die Unterlippe und blickte über meine Schulter hinter mich in den Nebel. Es dauerte nicht lange, schon zeichneten sich die Konturen im langsam aufsteigenden Morgenglühen ab. Es musste jetzt etwa fünf Uhr sein, auch wenn ich das Zeitgefühl durch meine vorherige Bewusstlosigkeit ein wenig verloren hatte.

Mich schauderte, als ich an unser Ziel dachte. Die wenigen Male, die ich hier gewesen war, um an Mutters Grab Blumen niederzulegen, im Gedenken an den Tag, da sie uns verlassen hatte, hatte stets eine beklemmende Schwere mein Herz umfangen. Doch der bleierne Schleier schicksalhafter Verheißung, welcher nun über diesem Ort zu hängen schien, nährte die Furch, ihn dieses Mal nicht lebend zu verlassen und lähmte meine Hoffnung.

Mit kraftvollen Zügen brachte Gandin das letzte Stück hinter sich und vertäute das Boot schließlich am Steg des Südeingangs.

Ich war unfähig, mich zu rühren, starrte auf die kleinen Wellen, die sacht gegen den runden Holzpfeiler neben mir schwappten, vor und zurück rollten, vor und zurück ...

„Vertrödeln wir nicht unsere Zeit, mon chérie." Schon hatte der Mann mich am rechten Oberarm gepackt und unsanft auf die Beine gezogen, so dass ich einen kurzen Moment um mein Gleichgewicht kämpfen musste.

Während er mich noch immer festhielt, wanderte Gandins Blick auf eine kleine Taschenuhr, die er eben hervorgeholt hatte. „Wenn er pünktlich ist, dürfte der Operngeist uns bald mit seiner Anwesenheit beehren. Und sollte er tatsächlich erscheinen, ziehe ich es vor, unseren Treffpunkt eher als er zu erreichen. Du entschuldigst ..."

Begleitet von einem anzüglichen Grinsen schlangen sich seine Arme um meinen Körper und trat mit mir an Land.

Angeekelt von dieser distanzlosen Berührung, wand ich mich in seinem Griff.

Ein tadelnder Blick, und Gandin entließ mich, schien jedoch mehr amüsiert, als über mein wehrhaftes Verhalten verstimmt zu sein.

„Du weckst immer größere Erwartungen in mir, chérie."

Bevor ich auch nur mit der Wimper zucken konnte, erinnerte mich sein Messer, jeden Widerstand einzustellen.

„Nach unserem kleinen Ausflug hier, werde ich mich mit Freunden dem vergnügen widmen, deinen wahren Kampfgeist zu ergründen."

Spielerisch stach seine Klinge durch den dünnen hellblauen Stoff meines Kleides.

„Und nun trete doch bitte durch das Tor, damit wir diese lästige Warterei endlich hinter uns bringen."

Zögerlich tat ich es.

„Bleib hier stehen und rühr dich nicht", wies Gandin mich an, nachdem wir den von Zypressenbäumen gesäumten Mittelgang bis zu der kleinen Kapelle im Norden der Insel gegangen waren.

Abermals hatte er mir die Handgelenke auf dem Rücken zusammengebunden, und so verharrte ich ruhig, während die blonde Mann im Frack sich an den grauen Marmorsockel einer Marienstatue lehnte und sowohl mich als auch das entfernte Eingangstor zum Friedhof wachsam im Auge behielt.

Unauffällig spähte ich um mich. Geradeaus lag der lange Kiesweg, den wir entlanggekommen waren. Wie reglose Wächter ragten die hohen Zypressen zwischen ihm und den dahinterliegenden Grabstätten auf, von denen ich aufgrund der noch immer umherziehenden Nebelfetzen nicht mehr als schemenhafte Umrisse erahnen konnte.

Mittlerweile war es zwar heller geworden, doch kein Licht der Welt hätte die gespenstische Atmosphäre dieses Ortes zu vertreiben vermocht. Die Gegenwart des Todes durchdrang alles, was auf dieser Insel lag, und mochten sich auch Lebende an Land begeben, so schienen sie der Ewigkeit hier doch näher zu sein, als irgendwo sonst.

Ich fröstelte und zog die Schultern ein wenig enger zusammen, als ein kühler Windhauch mich umspielte. Wenn Erik durch das Tor trat, würde er mich sogleich erblicken – den Köder, der ihn hierher geführt hatte, wo Gandin mit geladener Waffe auf seinen Gegner lauerte.

Etwa zehn Meter hinter mir lag die Eingangstür zur Inselkapelle, und ich war sicher, dass in der nächsten halben Stunde die Glocken des Turmes sechs Uhr schlagen würden ...

Plötzlich beschleunigte sich mein Herzschlag, als ich eine verschwommene Bewegung am Friedhofstor wahrnahm Täuschte ich mich, oder bewegte sich etwas in den Schatten am anderen Ende des Kiesweges?

Mit einem Satz war Gandin hinter mir. Über meine rechte Schulter hinweg zielte sein Revolver zum Tor, während die linke Hand des Mannes mir sein Jagdmesser unterhalb der Rippen in meine Seite presste.

Fieberhaft suchten meine Augen in den Schatten und den Nebelfeldern nach Eriks vertrauter Gestalt. Vielleicht gelänge es mir Gandins Schuss abzulenken, wenn ich mich gegen den Waffenarm warf. Doch zweifelsohne könnte dieses Wagnis mein Leben kosten. Ich hoffte nur, dass ich in dem Moment, wo es nötig wurde den nötigen Mut dazu aufbringen konnte.

Eine Minute verstrich, ohne dass etwas geschah. Weder konnte ich einen weiteren Anhaltspunkt für Eriks Anwesenheit erkennen, noch hörte man ein anderes Geräusch, außer des leisen Plätschern des Wassers, das ans Ufer der Insel spülte.

„Warten Sie auf einen besonders effektvollen Zeitpunkt für Ihren Auftritt, Monsieur le Fantome?" Gandins herausfordernder Spott schallte von den Mauern zurück und schien alles um uns herum zu erfüllen. „Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein!"

Bei diesen Worten spürte ich ein brennendes Stechen oberhalb des Bauchnabels und als ich vorne an mir herabblickte, stockte mir der Atem. Der helle Stoff hatte sich rot verfärbt und klaffte ein kleines Stück auseinander, wo Gandins Klinge ihn und sogar mein Korsett senkrecht um eine Handlänge durchtrennt hatte.

Ich keuchte erschrocken auf, konnte noch gar nicht glauben, was so schnell geschehen war. Zu meinem war dies nur ein Teil von Gandins Spiel mit Erik gewesen. Die Wunde konnte nicht tief sein, denn es blutete nur wenig und wenn ich die Zähne aufeinander biss, war der Schmerz zu ertragen.

„Das war ein Fehler!" Die Stimme war nicht mehr als ein drohendes Flüstern, doch sie schien von überall um uns herum zu kommen. „Lassen Sie die Mademoiselle gehen!" Es klang wie Erik und doch so fremd. In diesem Tonfall lag eine deutliche Warnung, und dadurch, dass man den Sprecher noch immer nicht ausmachen konnte, schien es, als streifte eine Geisterstimme meine Ohren.

Gandins Lachen war kalt und verächtlich. „Aber mitnichten, Monsieur le Fantome! Ich schlage vielmehr vor, dass Sie nun endlich vortreten und sich zu erkennen geben. Sie sind wohl in der schlechteren Verhandlungsposition, nicht wahr?" Mit Nachdruck fuhr sein Messer hinauf zu meiner Kehle und ich spürte, wie mir die Knie weich wurden.

„Wenn Sie wünschen, mich zu sehen, Monsieur ...", erklang sie mysteriöse Stimme abermals.

Mir stockte der Atem, als plötzlich wie von Geisterhand der Nebel zwischen den Zypressen am Kiesweg in Bewegung kam, und innerhalb einer kurzen Sekunde die Umrisse mehrerer dunkler Gestalten im Nebel erkennbar wurden. Es mussten etwas zehn Personen sein. Allem Anschein nach stand zwischen jedem der Bäume am hinteren Ende des Weges zu beiden Seiten ein hochgewachsener Mann in schwarzer Kleidung, nur schwer zu erkennen – doch zweifelsohne war es Erik.

„Was soll das?", presste Gandin zwischen den Zähnen hervor. „Merde!"

Der Anblick dieser geisterhaften Gestalten, nahm ihm offenbar einen Teil seiner überheblichen Selbstsicherheit und ich bemerkte ein kaum wahrnehmbares Zittern des Armes, der den Revolver hielt. Wohin sollte er auch zielen? Sicher war nur eine dieser Erscheinungen das wirkliche ‚Phantom'.

Als der erste Schuss fiel, setzte mein Herz einen Schlag aus. Gandin hatte auf die hinterste der Gestalten geschossen, doch zu meiner Erleichterung war alles was geschah, dass sein Ziel augenblicklich zu einem formlosen Haufen auf dem Boden zusammenzusinken schien.

„Stoffattrappen!", rief der Mann hinter mir den Gedanken aus, der mir gerade durch den Kopf zuckte. „Nun, Monsieur le Fantome, ich zähle noch neun weitere ‚Personen'! Es sieht so aus, als seinen meine Chancen gut, nicht nur Ihren Puppen, sondern auch Ihnen eine Kugel in den Leib zu jagen. Und sollte ich wider Erwarten doch nur Ihre Schattenfiguren erwischen, wird die Mademoiselle eben bluten müssen, bis Sie sich offenbaren!"

Ich ballte meine Hände zu zitternden Fäusten. Welch ein grausames Spiel! Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Gandin möglicherweise wirklich Erik traf, ihn abermals verwunden oder heute sogar töten würde. Hoffentlich ließ der Mann, den ich liebte, um dessen Leben ich stumm betete, sich auf keine Leichtsinnigkeit ein. Vielleicht hatte er noch einen Trumpf im Ärmel. Jene geheimnisvoll aufgetauchten Erscheinungen sprachen dafür, dass er nicht unvorbereitet war. Gebannt wartete ich auf seine Reaktion.

Das von überall her ertönende Lachen erfüllte mich mit Erleichterung, und gleichzeitig ließ der eisige Klang mich erschauern. „Nur zu, Monsieur, schießen Sie und versuchen Sie Ihr Glück."

„Mit größtem Vergnügen!"

Ein weiterer Schuss, eine weitere Gestalt, die in sich zusammensank, und noch eine und noch eine und noch eine. All das wurde begleitet von dem immer lauter werdenden Lachen des Phantoms.

Mir wurde klar, dass ich Erik bisher nur hatte lächeln sehen. Selbst in den Momenten, in denen er glücklich schien, wirkte er nicht völlig frei und gelöst. Ich hatte mir immer vorgestellt wie es wäre, wenn er von ganzem Herzen lachte. Seine Stimme, die schon beim Sprechen von außergewöhnlicher Schönheit war, musste klingen wie Samt, warm und gleichsam rau und weich – anders als die scharfe Verachtung, die jetzt aus allen Winkeln des Friedhofs drang. Das war wahrhaftig das Phantom, ein Gegner, den Gandin besser nicht unterschätzen sollte, und der deutlich machte, dass ihm nicht so einfach beizukommen sei, wie der junge Mann wohl annahm.

„Noch eine Kugeln, Monsieur le Fantome!" Seine Fröhlichkeit verstärkte meine Angst. „Wenn sie abgefeuert ist, wird die Mademoiselle an der Reihe sein!"

„Dann will ich es Ihnen leichter machen, Monsieur ..."

Nein, dachte ich. Nein! Doch wie Marionetten, deren Fäden man durchtrennt hatte sanken die letzten vom Nebel verschleierten Gestalten nieder ... alle, bis auf eine, die unweit von uns zwischen zwei Bäumen verharrte.

„Endlich", hörte ich Gandin flüstern, und als ich mich flüchtig zu ihm umblickte, nahm ich in den Augenwinkeln eine dunkle Bewegung hinter uns wahr. Erik!

Ich spürte, wie Gandins Körper sich anspannte. „Ich denke es ist an der Zeit, diese Farce zu beenden, mein Freund", murmelte er, und unvermittelt fühlte ich mich von ihm herumgerissen. Er zielte auf den Schatten hinter uns und drückte ab.

Mein Mund stand offen in tonlosem Grauen, als ich verfolgte, wie die dunkle Gestalt von der Wucht des Schusses einen Schritt zurückwich und sich zusammengekrümmt hatte. So verharrte sie einen Augenblick. Ich sah Eriks Cape, das die Schultern jenes Mannes umschloss, kein Gesicht, denn er blickte zu Boden, trug einen breitkrempigen schwarzen Hut.

Dann plötzlich wich jede Form aus dem ‚Mann', und leblos sank auch die letzte Attrappe nieder.

Gandin verlor für einen kurzen Moment seine Fassung, und ich nutzte diese einmalige Gelegenheit, mich seinem losen griff zu entwinden. Zwar fürchtete ich, jeden Augenblick den scharfen Stich eines Messerhiebes zu spüren, doch alles was geschah war, dass ich ein leises Keuchen vernahm, in meiner Flucht innehielt und einen Blick über die Schulter warf.

Und da war er, Erik! Unbemerkt hatte er sich mit katzenhafter Schnelligkeit aus den Schatten der Zypressen gelöst und war direkt hinter mich und Gandin getreten, als dieser seine letzte Kugel verschossen hatte.

Gandins Mine spiegelte Unglauben wider, als sein Blick den des mit weißer Halbmaske, Frack und schwarzem Umhang angetanen Mannes traf. Beide standen nur etwa einen Meter voneinander entfernt und maßen sich mit lauernder Wachsamkeit.

Mir wurde ganz schwindelig, wenn ich daran dachte, welch großes Risiko Erik bei diesem Täuschungsmanöver eingegangen war.

„Serafina, bitte sei so gut und lauf zum Steg zurück. Dort liegt mein Boot. Das hier wird nicht lange dauern, aber du solltest nicht dabei sein." Er sah mich nicht an, hielt die Augen starr auf seinen Gegner gerichtet, sein Körperhaltung schien vollkommen gelassen – soweit ich es aufgrund des Umhangs erkennen konnte, der Arme und Hände verborgen hielt.

Ich zögerte, entschloss mich dann aber, seiner Aufforderung nachzukommen. Ein Kampf zwischen den beiden Männern schien unausweichlich, und obwohl meine Sorge mich drängte zu bleiben, wusste ich doch dass ich nichts hätte ausrichten können, um zu helfen.

Ich hielt Abstand, um Gandin nicht zu nahe zu kommen. Als ich an Erik vorbei eilte, suchte ich den Blick der so vertrauten Augen, doch was ich im Geicht des maskierten Mannes sah, war mir geradezu unheimlich. Eine Härte lag in seinem Ausdruck, die kalt und jenseits aller Gefühle lag. Es schein beinahe so, als hätte er alles aus seinen Gedanken verbannt außer des Mannes vor ihm, des Mannes, den er töten wollte – daran zweifelte ich nicht.

„Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass Sie diese Insel lebend verlassen könnten, Monsieur le Fantome!"

Während ich einige weitete Schritte hinter mich brachte, hörte ich Gandin seine nutzlos gewordene Pistole davon werfen.

„Und das werde ich auch. Im Gegensatz zu Ihnen, Monsieur."

Ich hatte bereits die Hälfte der Strecke zum Tor zurückgelegt, als ein jammernder Schrei mich innehalten ließ. Die Mischung aus Schmerz und Schreck, die hinter ihm stand, machte es mir unmöglich weiterzulaufen, als habe ich nichts gehört. Ich fuhr herum.

Auch wenn die beiden Kontrahenten ein gutes Stück entfernt waren und ich Erik lediglich von hinten sehen konnte erkannte ich, dass er nun zum Gegenschlag ausgeholt hatte.

Mit wutverzerrtem Gesicht ließ Gandin das große Jagdmesser fallen und hielt sich das rechte Handgelenk.

„Was ist das wieder für ein übler Trick?", rief er empört.

„Soll ich es Ihnen noch einmal demonstrieren, Monsieur? Aber mit dem größten Vergnügen ..." Eine blitzschnelle Bewegung des eleganten Mannes, ein leichtes Schwingen seines Umhangs und schon stieß Gandin, der ihn abwartend angefunkelt hatte, abermals einen spitzen Schrei aus, taumelte einen Schritt zurück und starrte ungläubig auf seinen linken Oberschenkel.

Im rasender Schnelle wiederholte sich das Schauspiel zwei weitere Male, wobei Gandin Stück für Stück weiter zurückwich.

„Aufhören!", schrie er überschäumend vor Schmerz und Zorn. Offenbar trafen ihn messerscharfe kleine Wurfgeschosse, die Erik mit unsichtbarer Geschwindigkeit und Präzision auf ihn schleuderte. „Nennen Sie das einen fairen Kampf?", diese Frage brachte der junge Mann mit nahezu verzweifelter Entrüstung vor.

„Nein", schlug ihm die trockene Antwort entgegen. „Aber es ist wohl eine angemessene Strafe in Hinsicht auf Ihr anmaßendes und unverzeihliches Verhalten, Monsieur."

Ein weiterer Wurf und Gandins Kopf fuhr zur Seite. Eine schmale, blutende Spur zog sich waagerecht über seine rechte Wange. Erik spielte mit ihm, wie die Katze mit einer Maus.

Doch allem Anschein nacht hatte dieser letzte Angriff etwas in Carlottas Liebhaber entfesselt. Mit gefletschten Zähnen und einer Schnelligkeit, die ich dem jungen Mann nicht zugetraut hatte, riss er sich urplötzlich sein Cape von den Schultern und schleuderte es unter lautem Gebrüll seinem Kontrahenten entgegen.

Ich hielt die Luft an, als Erik sich duckte, um in einer geschmeidigen Bewegung zur Seite auszuweichen. Selbst diese blitzschnelle Reaktion konnte jedoch eines nicht verhindern: ein Teil des festen Stoffes schlug gegen die rechte Hälfte seines Gesichtes. An der Art, wie Eriks Hand instinktiv hinauffuhr und sich Gandins Miene in ungläubigem Grauen verzog, war mir sogleich bewusst das er seine Maske verloren hatte, noch ehe sie zu Boden fiel.

Für einen Augenblick wirkten die Männer wie erstarrt.

Schließlich war es Gandin, der sich sichtlich fasste und zwei Schritte zurückwich.

„Wie abscheulich!" Er starrte sein Gegenüber voll hasserfüllter Abfälligkeit an. „Nun wunderte es mich auch nicht länger, weshalb du dieses Herumschleichen und deine faulen Tricks einem ehrenhaften Kampf vorziehst! Ich habe ja schon viele Launen der Natur gesehen, aber du bist mit Abstand die hässlichste. Solch ein Ding sollte sich nicht hinter der Maske eines anständigen Menschen verbergen!" Boshafter Spott verlieh ihm ein Gefühl von Überlegenheit. Er schien nicht es nicht einmal für nötig zu halten, an seine Verteidigung zu denken, war viel zu sehr noch immer damit beschäftigt, Erik anzustarren, der den Kopf ein Stück von ihm abgewandt hatte. Eine Hand in schwarzem Handschuh bedeckte die entstellte Gesichtshälfte. Noch immer stand er mit dem Rücken zu mir.

Mein Herzschlag raste, und ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals zuvor so wütend gewesen zu sein. Welch eine Verachtung! Die Feindseeligkeit dieser Worte traf mich beinahe wie ein körperlicher Schmerz. Ich ertrug nicht, dass man einen Menschen, den ich liebte, in derart unwürdiger Weise angriff. Gandin hatte gut reden! Wer von den beiden Männern war es denn eigentlich, der sich scheinheilig hinter eine gesellschaftlich akzeptierten Maske verbarg?

Wenn dies die Art war, wie Menschen ihm auch zuvor in seinem Leben begegnet waren, dann verstand ich Eriks Wunsch, sich von der Welt zurückzuziehen, von ganzem Herzen. Mit Maske war er ein Außenseiter, den man mied, weil er offensichtlich etwas zu verbergen hatte, und ohne sie starrte man ihn an und so wurde er unter diesen gaffenden Augen zu einem Monster, das er nicht war.

Ein leises Lachen durchbrach meine Gedanken, heiser und langsam lauter werdend. Erik ließ die Hand sinken, richtete die Schultern auf und schien sich daran zu weiden, dass Gandin schließlich den Blick abwandte.

Majestätisch und stolz ragte seine dunkle Gestalt im dünnen Nebel auf, der sich allmählich völlig zu lichten begann.

Seine Stimme war bitter und kalt, sie schwang voll unheilvoller Vorankündigung. „Zu Ihrem großen Unglück, Monsieur, habe ich niemals behauptet anständig zu sein ..."

Ich schrak zusammen, als er urplötzlich eine Handbewegung ausführte und kurz darauf dichter schwarzer Rauch zwischen ihm und Gandin aufstieg. Erik schnellte vor, und für einen Augenblick entzogen sich die beiden Männer meinem Sichtfeld.

Ich vernahm einen kurzen Aufschrei Gandins, der mich dazu brachte, wie betäubt einige Schritte näher zu treten, bis ich aus vier oder fünf Metern Entfernung im sich langsam auflösenden Qualm erkennen konnte, was vor sich ging.

Erik hatte seinen Gegner zu Fall gebracht und nagelte ihn nun mit dem Gewicht seines eigenen Körpers am Boden fest. Seine linke Hand presste sich auf die Kehle des jüngeren Mannes, der mit suchend verdrehten Augen nach dem Messer tastete, dass er zuvor unweit des Kampfplatzes fallengelassen hatte.

„Aber, Monsieur", tadelte der Überlegene spöttisch, während seine rechte Hand den Griff der Waffe umschloss.

Erschrocken presste ich die Hände zusammen. Hätte ich nicht erleichtert sein soll? Erik war nun deutlich in einer besseren Position als Gandin, der sich kaum rühren konnte, geschwächt war von der Auseinandersetzung und unter dem festen Griff seines Gegners kaum Luft zu bekommen schien.

Ich stand nun seitlich zum Geschehen und war unfähig mich zu rühren. Der Kampf war noch nicht vorbei, obwohl es nun ein Leichtes gewesen wäre, Gandin den Carabinieri zu übergeben und seiner gerechten Strafe für Pater Giovannis Tod und meine Entführung zu überantworten.

Doch da lag etwas in der Art, wie Eriks Blick beinahe zärtlich auf der funkelnden Klinge ruhte, das ein so einfaches Davonkommen für Carlottas Liebhaber unmöglich machte.

Mein Magen zog sich protestierend zusammen, als ich erkannte was es war, das sich nun in dem vollständig entblößten Gesicht meines Geliebten widerspiegelte. Es war pures, sadistisches Vergnügen.

Die Morgensonne hatte nun jeden gnädigen Nebelschleier vertrieben, die mich davor hätte bewahren können Zeugin einer grausamen Verwandlung zu sein. Erik schien mir völlig fremd zu werden, und vor dem Mensch, der zum Vorschein kann schrak ich - aufgrund seines Verhaltens, nicht wegen des deformierten Gesichtes – zurück.

Gandin schnappte nach Luft, beide Hände um den Arm des Mannes über ihm geklammert, vergeblich bemüht, den unerbittlichen Griff zu lösen.

Gedankenverloren legte Erik seinen Kopf ein wenig schief und verfolgte den Kampf seines Gegners mit unverhohlener Zufriedenheit. Langsam begann der Widerstand schwächer zu werden.

„Ein Mensch, dem zu lange die nötige Atemluft vorenthalten wird, verliert das Bewusstsein, Monsieur", erklärte er nüchtern, wobei er die silberne Klinge langsam auf das Gesicht des jungen Mannes zu führte. „Ich werde mit Freuden die Maske bestaunen, hinter der Sie sich bald verbergen müssen, um weiterhin Ihrer Gesellschaftsschicht anzugehören ... Denn seien Sie versichert, Monsieur, wenn Sie wieder erwachen, wird der Anblick meines Gesicht im Gegensatz zu Ihrem wie eine Wohltat wirken ..."

Er setzte das Messer an Gandins rechter Wange an, und voller Entsetzen wurde mir bewusst, dass er keine leere Drohung ausgesprochen hatte, sondern entschlossen war, diese Ankündigung in die Tat umzusetzen.

Einen unwirklichen Moment lang stieg in mir das Bild eine Todesengels auf, das ich in einmal in einem der vielen Bildbände von Pater Giovanni entdeckt hatte, als ich noch sehr klein gewesen war. Damals hatte ich mich schrecklich vor der dunklen Gestalt gefürchtet, die sich unweigerlich über jeden Menschen beugen würde, wenn seine Lebenszeit sich dem Ende zu neigte. So schlimm das Gefühl auch war, und so sehr ich Erik auch liebte, als Gandin schließlich ohnmächtig wurde und er nur noch genüsslicher lächelnd die Klinge betrachtete, die jeden Augenblick unsagbare Dinge mit dem Gesicht des Wehrlosen anstellen würde, konnte ich es nicht länger ertragen. Tränen rangen mir die Wangen herab.

Ich dachte an den Mann, den ich vor wenigen Wochen kennengelernt hatte, an seine zurückhaltende Höflichkeit, die majestätische Selbstsicherheit seines Auftretens, die Zärtlichkeit seiner Musik, seiner Stimme, seiner Hände ... dieses Bild wollte ich in mir eingeschlossen behalten, nicht das des kaltblütigen Menschen, in den er sich verwandelt zu haben schien.

Erstickt keuchend wandte ich mich ab. Warum nur hatte ich seine Anweisung nicht befolgt und war gegangen, als er es verlangt hatte? Blind vor Schmerz und Tränen lief ich los, dem Ausgang des Friedhofs zu. Ich musste fort, nur fort von hier... und von Erik.

Erik

Ich hatte vergessen, wie einfach es war, die bohrenden Stimmen von Zorn und Rachsucht zum Schweigen zu bringen, die in mein Inneres erfüllten, all meine Sinne aufs Äußerste schärften.

Zu bedauerlich, dass mein Griff um Gandins Hals so fest gewesen war, und der junge Mann bereits sein Bewusstsein verloren hatte. Ich hätte gerne noch ein wenig länger die Entschädigung durch seine Furcht genossen, ehe ich das makellose Gesicht Stück für Stück zu einem Kunstwerk des Grauens modellierte. Eine noch gnädige Strafe, wie ich fand, in Anbetracht seiner unverzeihlichen Freveltaten. Nicht nur dass er den gutmütigen alten Priester ermordet hatte, nein, Serafina ... er hatte es gewagt, Hand an sie zu legen.

Die einzige Genugtuung war, ihn dafür leiden zu lassen und auf eine Weise zu demütigen, die der Schändlichkeit seines Handelns angemessen war.

Lächelnd fühlte ich die schlaffe blasse Haut unter dem Druck der Klinge nachgeben ...

Mein Kopf fuhr herum, als schnelle, knirschende Schritte den wohligen Schleier meiner Vergeltungssinfonie durchdrangen und ich verschwommen der hellen Gestalt gewahr wurde, die sich fliehend vom Schauplatz dieses Triumphaktes entfernte.

Sie? Was tat sie noch hier? In ihrer Unschuld, all dem grenzenlosen Mitgefühl würde sie vielleicht nicht verstehen, warum ich ein so deutliches Zeichen setzen musste, damit dieser Mann seine Fehler einsah ...

Serafina taumelte und Angst sprach aus ihrer Haltung, aus der Art, wie sie den Kopf schüttelte, als müsse sie sich eines Alptraumes erwehren, der zuviel war für diese geliebte, empfindsame Seele.

Meine Hand zitterte. Wie groß musste ihre Furcht sein! Ihre Furcht vor mir! Ihre Furcht vor mir...

„Serafina!"

Achtlos entglitt die Waffe meiner Hand als ich sah, dass sie stehen blieb. Mein Herz hämmerte in der Brust, während ich mich langsam erhob und den Drang niederkämpfte, an Gandin zu beenden, was ich vorgehabt hatte.

„Serafina!", rief ich noch einmal und hielt gebannt den Atem an.

Es ist nicht dein Gesicht, vor dem ich mich fürchte, Erik', hatte Christine damals gesagt, als ich sie vor die grausame Wahl gestellt hatte, zwischen einem gemeinsamen Leben mit mir, oder dem Tod Raoul de Chagnys zu wählen. ‚Sondern ich fürchte den Hass in deiner Seele.'

Was das wirklich mein Schicksal? Würde ich auch diese Frau, die erste, die es über sich brachte, mich als den Mann anzunehmen, der ich war, vertreiben? Und das, weil mein Leben mich längst doch zu einem Monster gemacht hatte?

Zögerlich wagte Serafina einen Blick über die Schulter. Ihre Augen suchten mich mit verzweifelter Traurigkeit. Tränen liefen ihre Wangen herab, und die bebenden Lippen kündeten von dem Tumult, der in ihrem Inneren herrschen musste. Es tat weh, sie so zu sehen, und noch mehr zu spüren, wie leicht das Glück mir zu entrinnen drohte.

„Ist ... er tot ...?", formten ihre Hände zaghaft.

„Nur bewusstlos", antwortete ich auf die gleiche Weise und entfernte mich langsam von Gandins Körper. Nein, diese Rache war es nicht wert, dafür das kostbare Gut zu opfern, das ich nun mit Serafinas vertrauensvoller Liebe besaß.

Sie zitterte. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten sichtbare Spuren hinterlassen. Ihr Kleid war schmutzig, das Gesicht wirkte fiebrig und abgekämpft. Ich versuchte die erneut aufwallende Wut gegen Gandin zu unterdrücken, als Serafina und mich nur noch wenige Schritte trennten und ich die Wunde sah, welche er ihr zugefügt hatte. Schwach drehte sie sich zu mir um und schließlich standen wir einander gegenüber.

„Lass uns gehen", murmelte ich leise und streckte ihr eine Hand entgegen, hoffend, dass sie nicht vor ihr zurückschrak.

Sie sah mir in die Augen, bewegte sich nicht, doch als die Wärme langsam in ihren Blick zurückkehrte, wusste ich, dass ich eine Entscheidung getroffen hatte, die richtiger nicht hätte sein können.

Zögerlich hob sie eine Hand meinen Fingern entgegen. Beinahe glaubte ich ein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen und erwiderte es zitternd, erleichtert.

Nur noch wenige Zentimeter trennten unsere Handflächen. Wir würden aus Venedig fortgehen und nie wieder einen Gedanken an die Geschehnisse verlieren, die unsere Schicksale auf so tragische Weise geprägt hatten. Wir würden neue Wege beschreiten - heller, als dass die Schatten der Vergangenheit uns folgen konnten.

Plötzlich änderte sich etwas in Serafinas Haltung – blankes Entsetzen sprach aus ihr. Mein Herz setzte einen Schlag aus, aus sie ruckhaft ein Stück vor mir zurückwich. Ich verstand nicht ... Ihr Blick schien durch mich hindurch zu gehen, oder mehr an mir vorbei?

Dann formten ihre Lippen tonlos einen Namen. Gandin!

Ich fuhr herum und erkannte, was sie so in Angst versetze. In etwa zehn Metern Entfernung hatte der junge Mann sich erhoben und war dabei, seine Schusswaffe nachzuladen. Schon sah ich wie er hektisch und mit wirrem Gesichtsausdruck die letzte Kugel ins Magazin zu schieben versuchte, wobei seine Hände aufgeregt zitterten. Mordlust stand in seinen Augen. Ihn zu erreichen, ehe er abdrücken konnte, war unmöglich.

Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat, reagierte nur noch und fühlte mich zu meiner eigenen Verwunderung vollkommen ruhig. Instinktiv spannten sich meine Muskeln, und mit einigen gewaltigen Schritten verkürzte ich den Abstand zwischen uns und Gandin, bis der Mann seine Waffe schließlich geladen hatte, und den Arm hob um zu zielen.

Nun war ich nahe genug, kam abrupt zum Stehen.

Was geschah war wohl am besten so.

Ich bereute nicht, diesen feigen Menschen eben noch verschont zu haben.

Ein leises Rascheln des Stoffes war zu vernehmen, als ich meinen Umhang aufschwang.

So wenig Reue ich für meine vorherige Entscheidung verspürte, so wenig Skrupel empfand ich nun, als meine Hand nach der tödlichsten aller Waffen griff, die ich ungesehen an meinem Gürtel trug.

Gandin lächelte süffisant, während sein viel zu tief gehaltener Revolver auf mich zielte, und er lächelte auch dann noch, als sich die dünne Schlinge aus Katzendarm um seinen ungeschützten Hals zog.

Erst mit dem Knacken des brechenden Genickwirbels, den ein einziger, gekonnt harter Ruck meiner Hand durch das Punjab-Lasso verursacht hatte, erstarrte dieser Ausdruck in ungläubiger Verwunderung.

Doch die altvertraute Welle der Euphorie, die mich angesichts seines leblos zusammensackenden Körpers hätte erfassen sollen, blieb aus. Leere, ich fühlte mich nur ausgebrannt.

Was war nur mit mir gesehen? Es schien als würde ich mich selbst nicht mehr kennen ...

Geradezu unbehaglich wandte ich mich nun ab von meinem Triumph, um die Maske aufzuheben, die ich nur einige Schritte weit entfernt verloren hatte. Ich kniete nieder und strick vorsichtig über das weiße Leder, das mich so lange begleitet hatte ...

Zum ersten Mal widerstrebte es mir, die Maske aufzusetzen, und als sich Serafinas Hand liebevoll auf meine Schulter legte, erstarrte ich. Der Grund für mein Zögern wurde mir mit so plötzlicher Klarheit bewusst, dass ich Flammen der Erleichterung in mir brennen fühlte, die einen Teil von mir verzehrten, der mich in all seiner Unseeligkeit ein Leben lang begleitet hatte. Hier gab es niemanden, vor dem ich mein Gesicht hätte verbergen müssen. Die Toten störten sich nicht an meinem Anblich ... und ebenso wenig meine lebendige Geliebte.

Sehr langsam erhob ich mich und sah Serafina vorsichtig an. Sie war so blass und vermied sichtlich, an mir vorbei auf Gandins Leiche zu schauen, so umso mehr suchte ihr Blick schüchtern lächelnd meine Augen und hielt sie voll Zärtlichkeit gefangen.

„Bringst du mich fort von hier, Erik? Bitte?" Sie trat näher heran, warf schließlich die Arme um mich und vergrub ihr Gesicht schutzsuchend an meiner Brust.

„Das verspreche ich, mon coeur." Andächtig senkte ich meine Wange nieder, um diese über Serafinas Haar zu streicheln. Ein kleines Seufzen war die bittersüße Belohnung für ein Privileg, dass doch sie mir gestattete. „Wenn du es zulässt, sogar sehr, sehr weit." Mit diesen Worten breitete ich meinen Umhang über sie und hüllte die Zitternde ein.

Eng angeschmiegt ließ sie sich von mir führen.

„Ich komme gerne mit dir, Erik ... überall hin", sah ich sie Antworten, als wird das Tor zum Steg bereits passiert hatten. „Doch", sie brach ab. Was sie sagen wollte, schien ihr nicht leicht zu fallen, und dennoch ahnte ich bereits den Grund.

„Du möchtest deiner Familie ‚Adieu' sagen, nicht wahr?" Wehmütig lächelnd nahm ich ihr Nicken entgegen. Wie hätte ich ihr einen Wunsch abschlagen können? Innerlich hatte ich mir schon lange zuvor geschworen, alles zu tun, um Serafina, meinen Schutzengel, glücklich zu machen. Vielleicht willigte sie sogar ein, meine Frau zu werden, wenn ich sie bald darum bitten würde ... vielleicht war der Asche des Phantoms schließlich ein neues Leben entstiegen.

„Endlich!"

Als Sophia die Tür geöffnet hatte auf die junge Frau davor zustürzte, und Serafina ihr mit erleichterter Freude zunickte, erkannte ich, wie sehr sie ihre Cousine vermisst haben musste. Tränen schimmerten in den Augen beider, als sie einander lächelnd und gleichzeitig weinend in den Armen lagen.

Wir hatten uns nicht lange in meinem Palazzo aufgehalten, gerade genug Zeit, um einige Reisevorbereitungen zu treffen, und Serafinas Wunde sorgfältig zu verpflegen. Während sie sich noch umzog hatte ich mich auf die Suche nach Kalesche und Pferd begeben, die nun vor dem Haus ihrer Eltern warteten, ehe wir Venedig verlassen würden.

„Komm rein", Sophia wollte sie mit sich ziehen, doch Serafina warf mir einen beinahe ängstlichen Blick zu und verharrte, wo sie stand.

Ihre Cousine glaubte zu verstehen. „Sie auch, Signor. Ich bin sicher Onkel Paolo wird es sehr zu schätzen wissen, dass Sie Serafina hergebracht haben."

„Das kann ich mir nicht vorstellen, Mademoiselle", gab ich trocken zurück.

Serafina wusste, dass ihr Vater krank war, ich hatte es ihr gesagt, noch ehe wir von der Friedhofsinsel aufgebrochen waren. Auch wenn sie vorgegeben hatte, nicht daran interessiert zu sein, lediglich von Tante und Cousine Abschied nehmen zu wollen, hatte ich offengestanden nicht damit gerechnet, dass sie derart hart in ihrem Vorhaben, ihn nicht sehen zu wollen, verbleiben würde.

„Wer ist dass, Sophia?" Ardendos Stimme ließ mich die Fäuste ballen, und als die unsichere Gestalt des alten Mannes neben seiner Nichte in der Tür auftauchte, hatte ich das Gefühl, meinen Blick abwenden zu müssen.

„Serafina ...", sein schmerzliches Seufzen ließ sie erblassen. Als er einen Schritt auf sie zu machen wollte, wich sie mit gesenktem Kopf zurück.

Einen Augenblick stand der alte Mann wie betäubt da, die Trauer über den Verlust seiner Tochter deutlich in sein Gesicht geschrieben. Dann ließ er die Schultern sinken und wandte sich an mich. „Ich bereue zu tiefst, dass ich damals nicht Mann genug war, mich gegen meinen Bruder aufzulehnen, Signor. Es ist ein Fehler, den ich nicht erst eingesehen habe ehe Sie abermals in mein Leben traten. Ich wollte mir lange nicht einsehen, zu was für einer Grausamkeit Stefano damals fähig gewesen war, doch langsam beginne ich die Augen davor zu öffnen." Ardendos Stimme bebte, und auch wenn ich mich dagegen wehrte, ließ der Anblick des gebrochenen alten Mannes mich nicht kalt. „Sie sagten durch meine Tochter wäre die Schuld beglichen, doch ich fürchte das ist ein Preis, den ich nicht erbringen kann. Hassen Sie mich, suchen Sie mich heim, so wie ich es verdiene. Aber nehmen Sie mir nicht die Liebe meines einzigen Kindes. Das ist mehr als jeder Mann ertragen könnte."

Noch während er hilflos eine Hand nach ihr streckte, wandte Serafina sich ab. Mit eiligen Schritten trat sie auf die Equipage zu, hielt inne und schüttelte kaum sehbar den Kopf.

Bedächtig folgte ich ihr.

„Mon coeur, was quält dich so?" Meine leise Frage ließ sie sich langsam herumdrehen.

„Aber ich muss mich nun einmal entscheiden!" Tränen entsprangen diesen große Augen und liefen Serafina die Wangen herab. Ein kaum merkliches Zittern hatte die Lippen erfasst, auch wenn sie es mühsam zu unterdrücken versuchte. Mit Entschlossenheit wandte sie sich zu mir, griff nach meiner Hand und hielt sie so fest, als wolle sie nie wieder von ihr lassen. Keinen Schritt ging meine Liebste auf ihren Vater zu, dessen Kopf verzweifelt herabsank. „Wie könnte ich zu ihm gehen nach allem, was er dir angetan hat ..."

Voll schmerzlicher Klarheit wurde ich der Fatalität dieser Situation gewahr.

Serafina musste hin und her gerissen sein, und zu welchem Mann sie sich auch wandte, sie fürchtete den tiefschürfende Verlust des anderen. Welch eine Entscheidung verlangte sich die Frau, die ich liebte, doch ab und das nur meinetwegen!

Oh Christine! Ich habe meine Lektion gelernt. Ich habe verstanden. Dieses Mal werde ich keinen Fehler begehen. Diesmal werde ich keinem Engel die Flügel brechen. Es liegt in meiner Hand, ihr den Schmerz zu nehmen.

„Monsieur", Ardendo zuckte sichtlich zusammen, als ich unvermittelt das Wort an ihn richtete. Wir wussten beide, dass ich es nicht für mich sagte, nicht für ihn. „Ich trage Ihnen Ihre Vergangenheit nicht länger nach." Es war ein Friede, den ich um Serafinas Willen schloss, und als ihr Vater mit einem dankbaren Nicken erst zu mir, dann zu ihr blickte, spürte ich, wie sich der Knoten in ihrer Brust löste. Als habe sie eine Ewigkeit auf diesen Moment gewartet, warf sie sich dem alten Mann in die Arme. Ihm schien eine unerträgliche Last abgenommen, als seine Hand sacht über ihr Haar strich.

Erstaunlicher Weise fühlte der Entschluss sich nicht wie eine Niederlage an, und als Serafina später neben mir in der Kalesche auf dem Weg nach Süden saß, wurde ich mir der Ruhe bewusst, die sich in meinem Inneren auszubreiten begann.

Schlafend lehnte ihr Kopf gegen meine Schulter und ich fühlte ein leises Lachen in mir aufsteigen.