Kapitel 9.2
Frederica kam wieder zur Besinnung, die letzte Erfahrung war so intensiv gewesen, daß sie ohne besondere Führung des Zaubers in die Dunkelheit geglitten war. Wie viele solche Erlebnisse mußte sie noch durchstehen?
Sie sah sich mit Roses Augen um, diesmal war die Umgebung nicht mehr das elegante Anwesen eines Großgrundbesitzers. Sie befand sich in einer kargen Holzhütte, die nur mit dem nötigsten Zubehör ausgestattet war. Rose fegte die Hütte gerade aus und trat dann vor die Tür, wo sie von einem dunklen Wald umgeben war. Das kleine Holzhäuschen schmiegte sich an die riesigen Tannen.
Sie blickte, ohne ein bestimmtes Ziel anzuvisieren, in die Ferne, von wo das Heulen von Wölfen zu ihr herüberwehte. Jemand rannte zwischen den Bäumen auf das Haus zu, man konnte immer wieder einen helleren Farbklecks zwischen den Bäumen hervorblitzen sehen. Dann trat Logan auf die kleine Lichtung, auf der das Haus stand. Er sah aus wie ein Trapper mit den selbst genähten ockerfarbenen Ledersachen, die er trug. Seine Haare waren fast taillenlang und im Nacken mit einem Band zusammen gefaßt.
Frederica konnte nicht unterscheiden, ob sie selbst oder Rose ein überwältigendes Verlangen nach ihm verspürten. Er war älter, als beim letzten Mal, fast ein ausgewachsener Mann mit breiten Schultern und stärkerem Bartwuchs.
„Logan! Du sollst doch nicht immer zu den Wölfen gehen! Ich habe Angst, daß sie dir etwas antun!"
Er tippte ihr Gesicht am Kinn zu sich hoch und lächelte sie wölfisch an: „Du weißt doch, daß sie mir nichts tun! Wir sind Brüder, ich bin ein wildes Tier wie sie!"
In Roses Augen sammelten sich Tränen.
„Sag so etwas nicht! Du bist ein wunderbarer Mann, Du verdienst nicht, hier in dieser Einöde zu Grunde zu gehen!"
Logans starke, schwielige Hände umfaßten sehr sanft ihr Gesicht.
„War es nicht dein Einfall, hierher zu kommen und in den Mienen zu arbeiten? Ich bin hier glücklich, weil Du bei mir bist!"
Der Kuß, den die beiden nun tauschten, erinnert Frederica mehr an den Logan, den sie kannte. In ihm schwang jedoch eine Note von Verzweiflung mit, die sie bei ihm noch nie gefühlt hatte.
„Endlich habe ich euch gefunden! Logan! Wie konntest Du den Namen des Mannes annehmen, den Du kaltblütig getötet hat, Du elendes Schwein!"
Hinter ihnen hatte sich ein großer Mann in einem weiten, bodenlangen Mantel aufgebaut, dessen Gesicht durch drei tiefe Narben furchtbar entstellt war. Sein rechtes Auge war rot und das untere Lid hing herunter, so daß man den Eindruck hatte, sein Augapfel würde bei der geringsten Bewegung aus der Höhle fallen.
„Dog!"
Rose Hand fuhr zitternd an ihren Busen, als sie den Sohn des früheren Verwalters des Howlettschen Anwesens erkannte.
Logans Augen umwölkten sich und sie konnte sehen, daß er sich wieder an alles erinnern konnte. Roses Gedanken überschlugen sich und Frederica erfuhr durch ihre sich jagenden Gedankenfetzen, daß James und sie des Mordes verdächtigt worden waren. Niemand hatte glauben wollen, daß der Verwalter Thomas Logan noch einmal zum Haus zurückgekommen war, um Logans Mutter abzuholen, die augenscheinlich seine Geliebte gewesen war. Rose hatte James angefleht mit ihr zu fliehen, er war durch die Vorfälle in jener Nacht vollkommen erschüttert, hatte beinahe den Verstand verloren und Rose befürchtete, daß sie ihn einsperren könnten, wenn jemand erfuhr, daß Klauen aus seinen Händen schossen.
Sie hatten ihre Bündel gepackt und waren zu einer Mienen-Kolonie aufgebrochen, wo die Leute keine Fragen stellten. Zu seinem Schutz hatte sie James in Logan umbenannt, weil das ein Name war, auf den er in seinem verwirrten Geisteszustand hörte. Als er wieder klarer bei Verstand war, konnte er sich an gar nichts mehr erinnern und Rose behielt den Namen bei.
„Geh ins Haus Rose, verschließ die Tür und komm auf keinen Fall heraus!"
Logan schubste sie unsanft durch die Öffnung in die Hütte hinein und drehte sich dann zu seinem Widersacher um.
„Du wagst es, mich einen Mörder zu nennen?!"
Logans Stimmer war nur noch ein heiseres Flüstern und Rose wagte nicht die Tür zu schließen, sie preßte ihr Gesicht in den schmalen Spalt der angelehnten Tür und beobachtete die beiden Männer voller Furcht.
Dog hatte sich auf den Kampf gut vorbereitet. Er war mit zwei Pistolen bewaffnet und hatte eine kräftige Lederpeitsche in der Hand, mit der er sehr geschickt James' Gesicht blutige Striemen zufügte.
Rose preßte ihre Faust gegen ihren Mund, damit sie nicht jedes Mal aufschrie, wenn Logan schmerzhaft von der Peitsche getroffen wurde. Sie bohrte sich dabei die Zähne ins Fleisch und schmeckte bald Blut auf ihrer Zunge, doch das ignorierte sie einfach.
Frederica wand sich, sie hatte ganz vergessen, daß sie auch die körperlichen Empfindungen mit ihrem Gast teilte und unterdrückte ein Aufstöhnen.
Sie verstand nicht, warum sich Logan nicht wehrte, er war doch so stark und bisher noch aus jedem Zweikampf als Sieger hervorgegangen.
Nach einem besonders harten Hieb, packte Logan die Peitsche mit einer Hand und wickelte sie sich um sein Handgelenk, wobei er Dog erbarmungslos zu sich heranzog.
Dieser zögerte nicht lange und zog eine der Pistolen aus dem Halfter und schoß Logan in die Brust.
Rose schrie entsetzt auf und riß die Tür weiter auf, als Logan auf den Rücken fiel und sich unter ihm eine Blutlache ausbreitete.
Dog versetzte ihm mit einem hämischen Grinsen auf dem häßlichen Gesicht einen Fußtritt in die Seite.
Dann ging alles blitzschnell.
Rose stürzte aus dem Haus, trat neben Dog, versuchte ihn zur Seite zu schieben und wollte Logans Wunde versorgen.
Der vermeintlich Schwerverletzte schoß plötzlich in die Höhe und holte mit seinen ausgefahrenen Klauen aus, die Dog praktisch in zwei Hälften schnitten, dessen Blut ergoß sich in einem ekelerregenden Strom über den knienden Logan. Zu spät bemerkte er, daß Rose neben seinem Widersacher stand und er konnte den Schwung seines Hiebes nicht mehr aufhalten. Er durchbohrte sie, dabei spürte er wie seine Klauen sie regelrecht aufspießten und mühelos durch ihr Fleisch glitten. Rose glitt mit einem leisen Seufzen auf den Lippen auf den blutigen Waldboden.
„NEEEEEIIIIIIN!"
Logan robbte auf Knien zu ihr hin und legte einen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen und ihren Kopf anzuheben.
„Rose! Rose! Warum bist Du nicht im Haus geblieben, wie ich es dir gesagt habe?"
Er wiederholte immer wieder ihren Namen, als würde sie das am Leben halten können. Logan schluchzte auf und umfaßte das blasse Gesicht seiner Geliebten mit zitternden Händen.
„Logan? Es, es tut mir leid! Ich liebe dich über alles! Bitte verzeih mir..."
Rose Atem kam nur mehr stoßweise, weil die Schmerzen in ihrer Brust einfach unerträglich waren, sie schmeckte ihr eigenes Blut auf den Lippen, wo es an ihrem Kinn entlanglief und auf ihr Kleid tropfte.
Frederica wurde ebenfalls von den Schmerzen überflutet und weinte still mit Logan, den sie noch nie so verzweifelt gesehen hatte.
„Rose! Bitte verlaß mich nicht! Bitte Rose! Bitte!"
Die grünen Augen der jungen Frau brachen und blickten ins Leere. Ihr Kopf mit den langen roten Haaren fiel kraftlos zur Seite, während sie von dem weinenden Logan festgehalten wurde.
Nach endlosen Stunden glitt der tote Körper von seinen Händen, er ließ sich auf die Fersen fallen, warf seinen Kopf zurück und stieß ein herzerweichendes Geheul aus, das seine Antwort bei seinen tierischen Brüdern irgendwo hinter den Bäumen fand. Er schrie wie von Sinnen und riß sich das blutbefleckte Hemd vom Körper, als würde so die alles verzehrende Qual besser aus ihm entweichen können.
Dann sprang er auf die Füße und lief blindlings in den dunklen Wald hinein.
Frederica, die vollkommen von der stundenlangen Starre, gefangen in Roses leblosen Körper, erschöpft war, wollte ihn rufen, doch der Zauber ließ es nicht zu, die Dunkelheit verschlang sie von neuem.
Auf der Lichtung des Xavier Waldes brannten die Flammen lichterloh und waren röter denn je. In der Mitte des magischen Kreises lagen zwei leblose Körper auf dem Boden ausgestreckt, die ab und an von krampfartigen Anfällen durchgeschüttelt wurden.
Etwa eine Stunde nachdem sie die Flammengrenze überquert hatten, entfuhr dem auf den Boden liegenden Mann ein Schrei, der die Tiere des Waldes in helle Panik versetzte, da er sich anhörte wie der Klagelaut eines Wolfes, der den Mond anheult.
Beide atmeten heftig und ihre Gesichter waren naß von vielen Tränen, die in einem steten Strom geflossen waren, seitdem sie ohne Bewußtsein am Boden lagen.
Kaum war der Schrei verklungen, krampften sich die Körper erneut zusammen und dann setzte ein entsetzliches Husten ein.
Frederica wollte die Augen öffnen, um sich zu orientieren, doch ihr Gastgeber hielt sie fest geschlossen. Sie fühlte sich, als ob sie keine Luft bekam und jemand oder etwas preßte ihre Brust so stark zusammen, daß sie nicht richtig Luft holen konnte.
Wo war sie, wer war sie? Rose war gestorben, sie mußte einen anderen Körper als Hülle benutzen, war es der von Logan?
Sie empfand wie eine Panikwelle durch sie hindurch brandete und dann riß sie den Mund auf, nur um Staub und Dreck zu schlucken, der sie heftig husten ließ. Sie konnte sich nicht bewegen und die Luft wurde immer knapper, sie sah helle Punkte vor ihren Augen tanzen und ihre Lunge verlangte so sehr nach Luft, daß sie unerträglich schmerzte.
Bitte nicht! Bitte, ich will nicht wieder sterben!
Das drückende Gewicht auf ihrer Brust schien weniger zu werden, doch das konnte auch Einbildung sein. Sie war verwirrt und ihre Lebenskräfte neigten sich dem Ende zu. Bevor sie vollkommen das Bewußtsein verlor, fühlte sie, wie sie von zwei starken Händen an den Handgelenken gepackt wurde und in eine düstere Finsternis gezogen wurde.
Egal, sie konnte endlich wieder frei atmen!
„Er lebt noch!"
Man entfernte nicht besonders sanft den ekelhaften Dreck aus ihrem Mund und drehte sie dann auf die Seite, wo sie heftig hustend nach Atem rang.
„Der Bengel hat ein Glück, daß er mit dir verschüttet wurde, Logan! Du bist mal wieder dem Tod von der Schippe gesprungen!"
Logan?
Der Junge blinzelte und sah sich zwei Soldaten gegenüber, die dreckige Uniformen trugen.
„Du lebst? Das kann nicht sein! Die Granate hat dich getroffen, ich habe es genau gesehen!"
Die Stimme des Jungen klang angsterfüllt und sein Herz raste vor Entsetzen.
Frederica konnte ihn kaum erkennen, er trug einen Helm, der sein schmutziges Gesicht halb verdeckte, doch das Grummeln, das er ausstieß, war eindeutig Logan!
„Red keinen Unsinn, Junge! Du phantasierst! Was hast Du überhaupt hier zu suchen? Das ist kein Spielplatz für Kinder!"
Der Junge hustete wieder: „Ich bin kein Junge! Ich bin schon ein Mann, auch ich kann kämpfen! Ich will nicht, daß meine Heimat von den Deutschen überrannt wird!"
„Alle runter!"
Der Ruf, den der zweite Soldat ausgestoßen hatte, veranlaßte Logan sich auf den Boden zu werfen und den Jungen mit seinem Körper zu schützen.
Erst jetzt wurde Frederica des Lärms gewahr, der um sie herum tobte. Ohrenbetäubendes Maschinengewehrgeratter, laute Explosionen von Granaten und das Brüllen von Befehlen erfüllte die vom Pulverrauch schwere Luft um sie herum.
„Bleib ja unten mit deinem Kopf, Junge oder Du wirst nicht mehr deinen nächsten Geburtstag erleben! Wie heißt Du?"
„Je m'appelle Louis!"
(Ich heiße Louis)
„Tu es français? Wie kommst Du hierher? Die Kampfzone gehört den Kanadiern!"
(Du bist Franzose?)
Logan hatte mit Leichtigkeit die Sprache gewechselt und hielt den Jungen an der Schulter fest auf den schlammigen Boden gedrückt.
„Die Franzosen wollten mich nicht! Aber ich habe auch das Recht, mein Land zu verteidigen!"
Louis sah Logan trotzig in die Augen und Frederica schüttelte über die Naivität des Jungen den Kopf.
„Wie alt bist Du?"
„Ich werde im Sommer vierzehn! Ich bin alt genug, egal was Du oder Großmutter sagen!"
„Sacrebleu! Tu est complètement imbécile! La guerre n'est pas un jeu d'enfants! Sieh dich um, hier sterben gute Männer! Hier weht nur der Hauch des Todes, Du wirst hier keinen Ruhm finden!"
(Verdammt! Du bist total bescheuert! Der Krieg ist doch kein Kinderspiel!)
Louis zitterte auf einmal, weil ihm tatsächlich ein widerwärtiger Gestank in die Nase stieg, den er zuvor ignoriert hatte. Er blickte sich in dem Schützengraben um, in den er sich geschlichen hatte, als gerade für einige Stunden Waffenruhe herrschte.
Doch jetzt nach einem Angriff der Deutschen bot sich ein ganz anderes Bild, der Graben quoll von Soldaten über, doch nicht alle waren am Leben. Louis riß die dunklen Augen auf, als ihm klar wurde, daß sie von Leichen und Sterbenden umgeben waren. Die Uniformen der Soldaten waren zerrissen und blutbefleckt, wo Artilleriefeuer sie getroffen hatte und einigen fehlten Gliedmaßen. Der Junge kniff die Augen zusammen und unterdrückte den überwältigenden Reiz zu würgen mit aller Macht.
„Tu restes avec moi! Et bouge pas! Egal, was passiert, bleib in meiner Nähe! Bei der nächsten Gelegenheit schaffe ich dich nach Hause!"
(Bleib bei mir! Und beweg dich nicht!)
Louis nickte stumm und robbte näher an seinen Retter heran, obwohl er immer noch etwas Angst vor dem großen Kerl hatte, der ihn aus dem Loch gerettet hatte, das eine detonierende Granate ausgehoben und sie beide dann verschüttet hatte.
Es war Mittag und obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, konnte man sie durch die Rauchwolken nicht sehen. Es sah aus, als sei ein Vulkan ausgebrochen und hätte den Himmel mit seinem Aschenregen verdunkelt.
An diesem dritten Mai beschossen 80 deutsche Batterien die Kampfzone 304, die Höhe Toter Mann, so stark, daß sich der Himmel verdunkelte und man glauben konnte, daß die Sonne nie wieder aufgehen würde. Unzählige französische Soldaten wurden verschüttet, wenige überlebten, viele wurden verrückt.
Inmitten dieser Hölle versuchte Logan einen Jungen zu beschützen, der in seinem jugendlichen Überschwang nicht verstanden hatte, daß er in einer Knochenmühle gelandet war. Louis sah Dinge, die er nie im Leben vergessen sollte und mit ihm Frederica, die die Beschreibung des Kampfgeschehens im Ersten Weltkrieg bisher nur aus Geschichtsbüchern kannte. Doch das Studium der Bücher konnte einen nicht auf das wahre Grauen auf dem Feld vorbereiten.
Die Soldaten, die im Kampf um den Hügel fielen, wurden nach kurzer Zeit durch das äußerst schwere Geschützfeuer pulverisiert. Man würde keine Überreste von ihnen finden, die man später beerdigen konnte.
Das Niemandsland, so hieß das Gelände zwischen den feindlichen Gräben, war von Leichen und ihren Resten übersäht, deren Gestank selbst den beißenden Geruch nach verbranntem Pulver zu übertönen vermochte.
Es dauerte einen Tag, bis der Feind mit seinem Dauerbeschuß aufhörte. Es war beängstigend auf einmal von der atemlosen Stille nach dem schrecklichen Angriff umgeben zu sein.
Logan hatte das Gefühl, daß es eine trügerische Ruhe war, sie befanden sich nicht in Sicherheit sondern im Auge des Sturms, wo sie nur für kurze Zeit Frieden finden würden, bis der Sturmangriff mit mehr Gewalt denn je zuvor über sie herein brechen würde.
„Pratt, warum haben die aufgehört? Da stimmt etwas nicht!"
Der zweite Soldat, der Louis ausgegraben hatte, zuckte müde mit den Schultern. Er empfand die Stille als Erleichterung, er wollte die Ruhe nutzen, um an seine Liebste zu denken, die in der fernen Heimat auf ihn wartete.
Logan kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf sein scharfes Gehör und seinen Geruchssinn, der seit der Zeit mit den Wölfen eine außerordentliche Weiterentwicklung erfahren hatte. Neben dem Geruch nach Pulver, menschlichen Exkrementen und dem Leichengestank konnte Logan noch etwas anderes wahrnehmen.
Etwas Ätzendes! Etwas Gefährliches, das nach fauligem Heu roch!
„Alle Mann die Gasmasken an! Sofort! Gasangriff!"
Logans Gebrüll hallte in dem engen Schützengraben wider und die noch lebenden Soldaten griffen nach ihren Gasmasken, um sie überzustreifen, wie sie es bei den Übungen gelernt hatten.
Louis' Herz klopfte wie verrückt, als ihm klar wurde, daß er gar keine Ausrüstung besaß, die die wertvolle Gasmaske enthielt.
„Los, Junge! Nimm meine! Ich helfe dir!"
Logan stülpte dem Jungen die Maske über und kontrollierte den Sitz, um sie wirklich undurchlässig für den drohenden Blasangriff mit dem gefährlichen Gas zu machen. Die Deutschen würden wohl das neuartige Phosgen benutzen, das ein Engländer erst vor kurzem entdeckt hatte. Es war billig in der Produktion, was aber seinen durchschlagenden Erfolg in der Wirkung nicht mindern konnte. Er hatte genug Kameraden elendig daran zugrunde gehen sehen.
„Logan, was ist mit dir? Du wirst ohne deine Gasmaske auf jeden Fall sterben!"
Pratt warf ihm einen besorgten Blick, während er seine Gasmaske aus dem Tornister zog.
„Mach dir keine Sorgen um mich, Pratt! Ich nehme die Maske eines Gefallenen! Die wird dicht genug sein!"
Logan mußte nicht weit gehen, um einen Toten zu finden, der seine Gasmaske nicht mehr brauchen würde. Er hatte keine Zeit mehr, ihre Dichtigkeit zu prüfen, doch seine besonderen Anlagen würden ihn ja zusätzlich schützen.
„Pratt! Sobald der Angriff losgeht, werde ich den Jungen hier wegschaffen! Er sollte nicht länger hier sein! Wirst Du alleine zurechtkommen?"
Pratt schluckte schwer, Logan würde desertieren, auch wenn der Grund nicht Feigheit war, war das doch das schlimmste Verbrechen, das ein Soldat begehen konnte!
„Du hast recht! Geht nur! Wenn der Angriff tatsächlich stattfindet, dann gnade uns Gott!"
Pratt hockte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Grabens und zog seine Maske über. Ein kurzes Heben seiner Hand, war das letzte, was Logan von ihm sehen sollte.
Louis keuchte in seiner Maske, er hatte sich nicht vorstellen können, daß es so unangenehm sein konnte, diesen Schutz zu tragen. Aber die Gasmasken verlangten kräftige Atemzüge und ein gut trainiertes Zwerchfell. Dinge, die die Fähigkeiten eines Dreizehnjährigen leicht überstiegen. Louis brach der Schweiß aus, weil er immer wieder zu wenig Luft bekam, seine Hand fuhr instinktiv zur Maske, um sie sich abzuziehen, doch Logan hielt ihn mit einem stahlharten Griff um sein Handgelenk davon ab.
„Ne touche pas la masque, blanc-bec! C'est dangereux! Versuch einfach kräftig weiterzuatmen!"
(Faß die Maske nicht an, Du dummer Junge! Das ist gefährlich!)
Logans feines Gehör registrierte das Abfeuern der Gaswerfer, und er zog Louis durch die Gänge des Schützengrabens an der Hand hinter sich her.
Louis stolperte über verletzte und tote Soldaten, doch Logan zeigte kein Erbarmen, er zog ihn unerbittlich weiter durch das Labyrinth der grausigen Gräben, die bald zu Massengräbern für Tausende von Leichen werden würden.
Niemand beachtete die beiden, weil viele der Soldaten, vom Gasangriff überrascht, damit beschäftigt waren, fieberhaft in ihrer Ausrüstung nach den lebenswichtigen Masken zu suchen.
Logan kannte glücklicherweise Schleichwege, die die beiden von den gefährlichen Gaswolken in Sicherheit brachten. Er konnte schon das Keuchen der Vergifteten hören.
Der menschliche Körper besteht zu fast 90 aus Wasser, da konnte Phosgen richtig wüten, denn in Verbindung mit Wasser zerfiel es zu Salzsäure und Kohlendioxid. Eine tödliche Mischung für die menschliche Lunge.
Louis hatte den Eindruck, daß er über Leichen ging, im wahrsten Sinne des Wortes... Hände, Beine, Köpfe und Oberschenkel, die aus dem dreckigen Schlamm lugten. Die Erde war ein homogenes, schleimiges Gebilde der kaum noch Lebenden und der Toten. Sie waren vom Gestank verfaulender Menschheit eingehüllt.
Louis wußte nicht, ob seine Augen tränten, weil das Gas durch die Maske gedrungen war, oder weil ihn der Anblick des Schlachtfeldes so mitnahm, daß er weinen mußte.
Logan zog ihn fort von all diesem Tod.
Sie flüchteten in den nächsten Wald und Logan zog seine undichte Gasmaske ab. Seine Augen tränten bereits stark, er mußte heftig husten und er spürte wie das Gas in seiner Lunge rumorte. Er zwang den Jungen, die Maske länger aufzubehalten, er wollte sicher sein, daß er nichts von der gefährlichen Substanz abbekam.
Sie hielten am Rand eines Waldweges und Logan zog seine Jacke aus, die er in die Büsche warf. Es war nicht ratsam, gleich als Soldat erkannt zu werden. Aus seinem Rucksack zog er eine einfache handgenähte, braune Wildlederjacke, die er von Zuhause mitgebracht hatte, die zog er über die Uniformhosen, die so dreckig waren, daß man ihre Farbe nicht mehr erkennen konnte.
Louis zog sich die Maske vom Gesicht und atmete heftig, sog die frische Waldluft in gierigen Atmzügen in seine gequälte Lunge ein. Er beobachtete besorgt, wie Logans Augen tränten und der Mann heftige Krämpfe durchlitt, während er versuchte, ruhig zu atmen.
„Monsieur Logan?"
Die zitternde Stimme des Jungen veranlaßte Logan, ihn anzusehen, wo er in den dunklen Augen Besorgnis entdeckte.
„Es ist alles gut! Wir gehen gleich weiter!"
Logan hustete heftig und mußte Blut spucken, das Gas war doch tiefer eingedrungen, als er gedacht hatte. Er setzte sich hin und lehnte den Kopf auf seine angezogenen Knie. Einen Moment Ruhe war alles, was er jetzt brauchte.
Louis stand wortlos daneben und bangte um das Leben eines Retters. Er fühlte sich total hilflos und ging neben Logan in die Hocke, wo er dann reglos neben ihm verharrte.
Eine kleine Ewigkeit später hob Logan den Kopf und tat einen tiefen Atemzug, den er sichtlich genoß.
„Wir können weiter! Wo wohnt deine Großmutter?"
Louis riß seine Augen weit auf, als Logan agil auf die Füße sprang und seinen Rucksack auf den Rücken zog.
Wie konnte der Mann das giftige Gas überleben? Er hatte doch schon Blut gespuckt!
Louis nannte ihm den Namen eines kleinen Dorfes, an dessen Grenze seine Großmutter wohnte, weil sie die Nähe des Waldes vorzog. Sie mußten einfach den riesigen Wald durchqueren und nach etwa zwanzig Meilen würden sie ihr Ziel erreichen.
Er wollte nur noch nach Hause zu seiner Großmutter, sie würde ihm helfen können. Er mußte nur lange genug den Mund halten und seine Angst vor dem unheimlichen Mann verbergen, der schon zwei Mal schwer verwundet worden und dennoch nicht gestorben war.
Fortsetzung folgt
Anmerkung des Autors:
Der Angriff am 3. Mai 1916 auf den 'Toten Mann' (Mort Homme, Dead man's Hill) bei Verdun fand tatsächlich statt.
Auch waren Kanadische Batterien in Frankreich stationiert, da Großbritannien ihr Mutterland war (Commonwealth!)!
Ich habe mir die Freiheit genommen, eines dieser Bataillone nach Verdun zu verfrachten (nach meinen Recherchen hielten sie sich mehr an der Somme, in Arras od. Vimy auf).
Phosgen ist tatsächlich im Krieg eingesetzt worden, es ist eine Chlorgasverbindung, die Schreckliches im menschlichen Körper anrichtet.
Die beschriebenen Umstände des sogenannten Stellungskrieges sind eher noch untertrieben.
