Nach längerem Überlegen, entschloss sich Harry dazu, das Haus ein wenig zu erforschen. Er hatte doch gerade mal ein drittel dieses riesigen Hauses gesehen. Es gab sehr viele Räume, die einfach nicht von Severus oder den Ordensmitglieder benutzt wurden. Mit entflammtem Forscherdrang sprang Harry auf und verließ sein Zimmer wieder. Schon nach wenigen Metern hatte Harry etwas gefunden, dass sein Interesse weckte. Eine Treppe in einen höheren Stock. Was da wohl sein mochte?
Langsamen Schrittes nahm Harry eine Stufe nach der anderen. Eine Unmenge an Gemälden hing an der Wand. Die meisten zeigten Portraits der Snape Familie. Allesamt keine Personen, die Harry gerne kennen lernen möchte. Einer sah gruseliger aus als der andere. Harry war froh, dass die meisten vor sich hin schlummerten und keine Notiz von ihm nahmen. Als er das obere Stockwerk erklommen hatte, stand er Aug in Aug mit einem lebensgroßen Portrait einer Frau. Silfonia Severe Snape stand in goldenen Lettern am unteren Rand des Rahmens.
„Na nu? Wer bist du denn?" fragte sie mit einer überraschend weichen Stimme. „Ähh… Harry. Harry Potter", stotterte Harry nun unsicher. „So so ein Potter? Wie kommt denn ein Potter ins Hause Snape?" die Frau war nun ihrerseits überrascht. Aber sie war immer noch freundlich und lächelte Harry an. „Na ja… Sev hat … ich meine Severus hat mich her gebracht. Eigentlich gegen meinen Willen. Aber jetzt bin ich doch ganz dankbar, dass er mir … geholfen … hat." Es war eigenartig diesen Satz zu sagen. Aber Harry wurde eben bewusst, dass er Severus eine Menge zu verdanken hatte. „Ja ja, Severus mein Junge. Er war immer schon ein wenig sensible. Leider hatte er kaum Freunde in der Schule gehabt. Du musst wissen James Potter war Severus Erzfeind. Aber das ist in unserer Familie nichts Neues. Potters und Snapes vertragen sich einfach nicht." Die Frau senkte die Stimme und trat näher an den Bildrahmen. „Aber unter uns gesagt. Ich hab das immer schon für Humbug gehalten. Solche Familien-Feindseeligkeiten über Generationen hinweg… das ist einfach nur lächerlich. Aber auf mich hört ja keiner."
Harry musste Schmunzeln. Diese Frau passte so überhaupt nicht zu dem Bild das Harry sich über Snapes Familie je gemacht hatte. Und sie passte auch nicht zu den Bildern entlang der Treppe. „Freut mich sie kennen zu lernen Mrs. Snape!" meinte Harry schließlich höflich. „Oh… nein. Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wann trifft man denn schon mal so einen netten jungen Potter, wie dich? Außerdem ist hier schon lange keiner mehr oben gewesen. Als ob man mich einfach vergessen hätte." – „Hmm… vielleicht liegt es daran, dass im Moment alle sehr beschäftigt sind." – „Beschäftigt? Du meinst die ständigen Diskussionen in der Bibliothek?" – „Ja. Man versucht heraus zu bekommen, was Voldemort…" Harry sah verwundert drein, als Mrs. Snape beim Namen ihre Hände vor den Mund schlug. Sie war doch nur ein Gemälde. Da brauchte sich doch nichts befürchten.
„Du-weißt-schon-wer? Er ist noch immer aktiv?" fragte sie schließlich erschüttert. „Er… ist schon wieder aktiv", sagte Harry mit runzelnder Stirn. Und mit einem Blick auf das kleine Schild am unteren Bildrand, stellte Harry fest, dass Mrs. Snape gestorben ist, bevor Harry geboren war. Womöglich wusste sie von den Geschehnissen der letzten Jahre nichts. Wie zur Bestätigung fragte Mrs. Snape: „Wieso schon wieder? Wurde er etwa gefangen genommen?" Harry schüttelte den Kopf. „Nein… er hat versucht meine Eltern und mich zutöten. Aber bei mir ist der Kedavra-Fluch abgeprallt und auf Voldemort zurückgegangen. Damals hatte er seine ganze Macht und seinen Körper verloren. 13 Jahre lang hat er sich bemüht wieder ins Leben zurück zu kommen. Und vor 2 Jahren, in meinem vierten Schuljahr ist es ihm endlich gelungen." Es war pure Bitterkeit aus Harrys Stimme zu hören. Immerhin war er mit daran beteiligt, dass Voldemort wieder zu seinen Kräften kam.
„Das ist ja schrecklich, mein Junge. Du sagst er hat deine Eltern ermordet? Schrecklich. Wirklich schrecklich. Aber wie konnte er wieder zurück ins Leben kommen?" Harry warf ihr einen traurigen Blick zu. „Doch nicht etwa…? Nein… das kann nicht sein, oder doch?" fragte Mrs. Snape. Es war ganz offensichtlich, dass ihr durchaus ein Ritual bekannt war, welches so eine Rückkehr ermöglichen könnte. „Er hat die Knochen seines Vaters, das Fleisch seines Dieners und das Blut seines Feindes in sich vereint", bemerkte Harry mit trockener Stimme. „Also doch. Schrecklich, schrecklich. Einfach nur schrecklich. Und wer ist sein Feind?" fragte Mrs. Snape gebannt. Harry hob seine Hand und schob die Haare aus seiner Stirn. Mrs. Snape fehlten die Worte. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid blickte sie auf die Narbe, die Harrys Stirn zierte. „Er ist seit meinem 1. Schuljahr hinter mir her. Damals versuchte er im Körper eines Lehrers steckend an den Stein der Weisen heran zu kommen. Meine Freunde und ich konnten das zum Glück verhindern. ..."
Wie gebannt lauschte Mrs. Snape Harrys Erzählungen von den Begegnungen mit Lord Voldemort. Immer wieder schlug sie ihre Arme vor Entsetzen vor dem Mund. Wenn sie gekonnt hätte, sie wäre am liebsten aus dem Bilderrahmen gesprungen und hätte Harry getröstet. Harry hatte sich auf den Boden gesetzt und gegen die oberste Säule des Treppenendes gelehnt. Er empfand es angenehm, all seine Geschichten zu erzählen. Er wusste nicht, wieso er sie ausgerechnet diesem Portrait erzählte. Er kannte Mrs. Snape doch nicht einmal. Aber vielleicht war es gerade das. Es fiel ihm viel leichter mit jemand zu reden, den er nicht kannte. Als Harry jedoch zu dem Teil kam, an dem Sirius durch den Torbogen fiel, stockte seine Stimme. Der Schmerz war immer noch da. Obwohl Harry inzwischen mit Sirius sprechen konnte. Er fühlte sich immer noch schuldig.
„Du brauchst dir keinen Vorwurf machen", versuchte Mrs. Snape Harry zu trösten. „Du hast sehr viel Mut in dir und dein Herz am rechten Fleck. Du bist sehr stark und ich hoffe, du-weißt-schon-wer wird sich die Zähne an dir ausbeißen!" Harry lächelte schwach. „Wenn sie nur Recht behalten. Ich würde am liebsten alles liegen und stehen lassen. Einfach nur leben… ohne ständig auf der Hut sein zu müssen." – „Das glaube ich dir gerne. Aber seinem Schicksal kann man nicht entfliehen. Man kann nur versuchen das Beste daraus zu machen. Das Letzte, dass du aufgeben darfst, ist die Hoffnung!" Harry nickte. Sein Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Als wenn er all seinen Frust, der sich in Laufe der Zeit angesammelt hatte, plötzlich verschwunden wäre. Er dachte über das eine oder andere in seiner Erzählung nach wurde langsam immer müder.
„Harry? HARRY WO STECKST DU?" hallte Severus halb besorgte, halb wütende Stimme durch das Haus. „He, mach nicht so einen Krach!" meckerte eines der Bilder entlang der Treppe. Doch Severus ignorierte es. „HARRY!" rief er erneut und sprang gleich zwei Stufen auf einmal nehmend nun in den 2. Stock, nachdem er die unteren Geschoße bereits erfolglos durchsucht hatte. Doch als ihm am Ende der Treppe das Portrait seiner Mutter anwies leise zu sein, blieb Severus wie angewurzelt stehen. Severus war selber schon lange nicht mehr hier oben gewesen. Und das Portrait seiner Mutter hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
„Schschsch…" zischte Mrs. Snape und deutete mit dem Kopf in Richtung Säule, an der Harry angelehnt schlief. Seine Knie waren angezogen, seine Arme darüber verschränkt und auf denen war der Kopf gebettet. Severus stieß erleichtert die Luft aus und wollte auf den Jungen zu gehen um ihn zu wecken. „Lass ihn doch!" flüsterte Mrs. Snape. Severus drehte sich ihr erneut zu „Er sollte nicht hier oben sein. Wie du weißt…" - „Ja ja… aber wir haben nur geredet. Er ist in keines der Zimmer gegangen. In Übrigen könntest du mich ruhig öfter besuchen, wenn du schon wieder in unserem Haus bist." – „Ich hatte nicht vor hier zu bleiben. Ich hab es meinen Freunden zur Verfügung gestellt!" meinte Severus gereizt. „Freunde?", fragte Mrs. Snape und zog eine Augenbraue hoch.
„Ich arbeite in einer Widerstandsbewegung gegen den dunkeln Lord." – „Dann sind es wohl eher Arbeitskollegen. Aber was ist mit dem Jungen? Willst du ihn denn etwa mit in dein Loch nehmen?" – „Dieses ‚Loch' ist mein Heim", meinte Severus trotzig. Mrs. Snape war ein wenig beleidigt „Das hier ist auch dein Heim. Und es bietet genug Platz für dich und den Jungen." – „Woher weißt du eigentlich…" – „Er hat es mir erzählt. Ich sagte doch schon wir haben mit einander geredet. Viel geredet." Severus war überrascht. „Dann redet er also lieber mit Toten, als mit Lebenden." – „Nun… Tote haben eben genug Zeit um zuzuhören." Severus warf seiner Mutter einen giftigen Blick zu. Mrs. Snape jedoch grinste vergnügt.
Schließlich wandte sich Severus erneut ab und ging auf Harry zu. Er ging vor dem Jungen in die Hocke und sagte mit viel sanfterer Stimme als zuvor „Harry!" gleichzeitig rüttelte er an Harrys Ellenbogen. „hmm…?" kam es etwas benommen von dem Jungen. „Harry wach auf." Langsam kam der Junge zu sich. „Sev? Was machst du hier?" fragte Harry verwirrt. „Du bist gut. Dasselbe könnte ich dich fragen. Du hast im 2. Stock nichts verloren." Verwundert sah sich Harry um und langsam kam ihm die Erinnerung zurück. Er wollte eigentlich den 2. Stock erforschen. War aber dann in ein Gespräch mit dem Portrait verstrickt worden. „Oh!" sagte er schließlich. „Komm schon!" meinte Severus ungeduldig und half Harry auf die Füße. „Schau mal wieder vorbei!" sagte Mrs. Snape zum Abschied. „Das wird er nicht!" antwortete Severus entschieden und schob Harry hastig die Treppe zurück in den ersten Stock.
„Warum soll ich nicht in den 2. Stock? Mrs. Snape ist doch sehr freundlich", fragte Harry verwundert. Severus bedachte Harry darauf hin mit einem ernsten Blick. „Du und ich wissen, dass du nicht für einen Plausch mit meiner Mum da rauf gegangen bist." – „Mir war langweilig!" rechtfertigte sich Harry. Severus brummte nur. Er ging mit Harry wieder in die Küche. „Ich kann nicht ständig dein Unterhalter sein," begann Severus nun von neuem. „Ich habe eine Menge noch für das nächste Schuljahr vorzubereiten. Du musst dich schon selber beschäftigen." – „Und warum darf ich mich dann nicht im 2. Stock umsehen. Ich kenne nicht mal die Hälfte des Hauses!" fragte Harry vorwurfsvoll. „Der 2. Stock ist tabu und damit pasta!" entschied Severus. „Ich habe nicht vor hier häuslich zu werden. Ich habe mein eigenes Heim, das weitaus übersichtlicher ist." – „Warum sind wir dann hier und nicht bei dir?" fragte Harry nun neugierig. „Weil ich dieses Haus dem Orden zur Verfügung gestellt habe. Nachdem Grimmault Platz kein sicherer Ort mehr ist, seit Black tot ist."
Mit einem Schlag war Harrys Interesse verschwunden. Mit traurigem Blick starrte er vor sich her. „Harry, du solltest dich endlich daran gewöhnen", sagte Severus nun mit wesentlich sanfteren Stimme. „Es ist nur so schwer", flüsterte Harry kaum hörbar. „Das ist es immer. Aber je schneller du dich damit abfindest, umso schneller kannst du dich auf neue Ziele konzentrieren." – „Du meinst ich soll ihn einfach vergessen?", fragte Harry nun aufgebracht. Severus hob verwundert eine Augenbraue und wartete, ob Harry erneut einen Gefühlsausbruch haben würde. Doch Harrys Gemüt schlug sofort wieder in Traurigkeit um. „Entschuldigung!" nuschelte er schuldbewusst. Severus fuhr Harry durch sein strubbeliges Haar und ging zum Kühlschrank.
Harry ließ sich müde in einen Sessel fallen, legte seinen Kopf auf die Arme und schloss die Augen. Tausenden Gedanken kreisten in seinem Kopf, aber er wollte keinen von ihnen nachgehen, also lauschte er einfach den Geräuschen, die Severus verursachte. Schließlich hörte er, wie etwas direkt vor seiner Nase abgestellt wurde. Er hob den Kopf ein wenig und sah ein Häferl vor sich stehen, aus dem es leicht dampfte. „Was ist das?" fragte Harry und richtete sich nun ganz auf. Severus hatte neben ihm Platz genommen. „Heiße Milch mit Honig!" antwortete er mit einen selten weichem Lächeln. Harry sah zuerst verwundert zu seinem Adoptivvater auf und blickte dann in sein Häferl. Es war tatsächlich Milch.
Vorsichtig hob er das Glas an und nahm einen Schluck. Die heiße süße Flüssigkeit suchte sich langsam den Weg durch Harrys Körper und hinterließ ein angenehmes Gefühl der Wärme. Harry wusste nicht warum, aber er fing schwach zu lächeln. „Danke, Sev!" Severus nickte nur stumm. „Möchtest du vielleicht den Rest der Ferien bei deinen Freunden verbringen? Mr. Weasley und Miss Granger platzen wahrscheinlich schon vor Sorge, was mit dir geschehen ist", Severus beobachtete Harrys Reaktion. Gegen seine Erwartungen schien der Junge jedoch nicht so begeistert von dem Vorschlag zu sein.
„Eigentlich würde ich lieber hier bleiben", meinte Harry kleinlaut. „Das verstehe ich nicht. Habt ihr euch zerstritten?" Harry schüttelte verneinend den Kopf. „Worin liegt dann das Problem?" Harry seufzte gequält auf. „Weiß nicht." Severus schüttelte verständnislos den Kopf. „So Menschenscheu kenne ich dich ja gar nicht", bemerkte er. „Was ist los?" Harry fixierte sein Häferl und drehte dieses gedankenverloren zwischen seinen Händen.
Eine lange Pause entstand, eher der Junge seine Stimme wieder fand. „Ich glaube, ich hab Angst, dass sie es mir übel nehmen, dass ich mich die ganzen Ferien lang nicht bei ihnen gemeldet habe." – „Ein Grund mehr dich mit ihnen zu treffen! Sonst fällt alles auf den 1. September. Ich fürchte es würde dir dann zuviel werden. Und wahrscheinlich wissen Miss Granger und Mr. Weasley eher was dich aufheitern kann." – „Ich will nicht aufgeheitert werden", meinte Harry trotzig. „Jetzt hör mir mal zu. Mit Trübsalblasen ist keinem geholfen. Weder dir, noch mir, noch deinen Freunden. ...Und auch Black würde es nicht wollen!" fügte Severus noch vorsichtig hinzu. Eine Weile starrte Harry noch vor sich her, eher er Severus wieder ansah und meinte „Na gut. Ich werde Ron fragten, ob ich kommen darf." Mit diesen Worten stand Harry auf und verließ die Küche.
Lieber Ron,
ich hoffe, du vergibst mir, dass ich deine Briefe nicht beantwortet habe. Bei mir ist es nur drunter und drüber gegangen. Es ist viel passiert und ich hab einfach nicht gewusst, wie ich mit allem fertig werden soll. Ich würde dir gerne alles erzählen, zumindest soweit ich darf. Meinst du, ich darf die restlichen Tage zu dir kommen?
Harry
Mehrmals las sich Harry den Brief durch, ehe er ihn zusammen faltete und in ein Kuvert steckte. Hedwig war schon die ganze Zeit über aufgeregt neben Harry gesessen. Als Harry das Kuvert hoch nahm, streckte sich schnell ihren Fuß hin. „Na... du freust dich ja richtig, wieder was für mich tun zu können!" stellte Harry erfreut fest. Die Eule schuhute zustimmend.
