Mit diesen neuen Gedanken konnte Harry seine düstere Vergangenheit wieder verdrängen und kam halbwegs gut gelaunt in der Bibliothek an. Hermine saß auf der Couch und hatte ihre Nase wieder in einem Buch vertieft und Ron saß daneben, eine Rolle Pergament vor sich ausgebreitet und schien über etwas nach zu denken.
„Hi, wie war's?" fragte Ron, kaum dass er Harry entdeckt hat. „Na ja... nicht so angenehm," gab Harry wahrheitsgemäß zu. „Konntest du Professor Snape aus deinen Kopf raushalten?" fragte nun auch Hermine interessiert. „Nein, er hat eine Meditation gemacht, um mir den Raum meiner Gedanken zu zeigen. Jetzt soll ich üben ihn zu versiegeln. Du kennst nicht zufällig gute Schutzzauber?" fragte Harry nun hoffnungsvoll. „Hmm... ich glaube..." nachdenklich stand Hermine auf und ging zu einem der Bücherregale, „ja... genau. Hier!" Das Mädchen kam mit einem Buch zurück und streckte es Harry hin. „Magisches Absichern von geistigen Räumen" Harry starrte zuerst auf den Buch dann auf Hermine.
„Kennst du etwa schon jedes Buch, das hier rum steht?" Hermine lachte amüsiert auf: „Nein, ich bin nur vorhin zufällig darüber gestolpert, als ich ein Buch über Geistmagie gesucht habe. Die Bücher hier sind allesamt sehr interessant. Was mich nur wundert... sie sind alle... nun sagen wir mal so... harmlos." – „Was für Bücher hast du denn erwartet?", fragte Ron verwundert. „Na ja, das ist das Haus der Snapes. Beinahe die ganze Familie waren Schwarzmagier, da würde man doch auch etwas hmm... gefährlichere Literatur erwarten," erklärte Hermine. „Du meinst, wie man seinen Zaubertränkelehrer verhext?" fragte Ron mit einem Grinsen. „Ach Ron, sei nicht so dumm," kam eine etwas gereizte Antwort zurück.
„So viel ich weiß," mischte sich Harry schnell ein um keinen Streit entstehen zu lassen, „gibt es einen eigenen Raum, wo die Snapes ihre gefährlichen Bücher verstecken." – „Ja, was meinst du warum wir nicht in den zweiten Stock dürfen! Die Räume da oben sind sicher voll mit gefährlichen Sachen!" sagte Ron und dann fügte er mit einem Glitzern in den Augen hinzu „Wir sollten vielleicht den Tarnumhang deines Dads auspacken, was meinst du Harry?" – „Ron!" fuhr Hermine empört ein, „Dumbeldore hat doch gesagt, dass es Professor Snape garantiert erfährt, wenn wir dort oben rum schleichen. Ich bin sicher er hat genug Schutzvorkehrungen getroffen." – „Aber er weiß nicht, dass wir einen Tarnumhang haben" konterte Ron. „Und was macht das für einen Unterschied, sollten wir in einer Falle feststecken?" schnappte Hermine zurück „Ach Mine, lass es uns doch mal probieren. Er wird uns schon nicht den Kopf abreißen, und Hauspunkte kann er auch nicht abziehen."
Harry sah nun überrascht zu Ron, war er es nicht, der vor Harrys Okklumentikstunde leichenblass geworden ist, weil Severus ihm einen giftigen Blick zu geworfen hat. „Ich will ja kein Spielverderber sein, aber wir sind noch fünf Tage hier bevor die Schule anfängt und ich bin sicher Se...Snape kann uns diese fünf Tage zur Hölle machen." gab Harry zu bedenken. „Na... dann machen wir es in der Nacht bevor wir nach Hogwarts fahren," schlug Ron nun vor, der sich nicht davon abbringen lassen wollte. Hermine sah skeptisch zwischen Ron und Harry hin und her. „Mal schauen..." meinte Harry ausweichend und damit war das Thema vorerst beendet.
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Bis zum Abend hatte Harry ein paar Schutzzauber aus dem Buch rausgesucht, die er probieren wollte. Jedoch war er sich sicher, dass Severus sie schnell durch brechen würde. Das Abendessen war ähnlich verlaufen, wie das Mittag essen. Dumbledore war jedoch inzwischen nach Hogwarts zurückgekehrt und so gab es nur mehr die Weasleys, Tonks, Severus, Harry und Hermine.
„Wo ist eigentlich Lupin?", fragte Harry, als er erneut feststellte, dass einer fehlte. „Unterwegs für den Orden", erklärte Tonks mit vollen Mund. Worauf hin Severus ihr einen verächtlichen Blick zuwarf. „Ist es etwas gefährliches?", fragte Harry besorgt weiter. „Nein, keine Sorge. Ich schätze, dass er in ein paar Tagen wieder da sein wird. Er sammelt nur..." – „Das reicht!", fuhrt nun Severus aufgebracht dazwischen, „Die Kinder wissen genug. Mehr brauchen sie nicht zu wissen. Solange sie nicht im Orden sind, gehen sie die Unternehmungen des Ordens nichts an."
Darauf hin war es eine Weile still. „Wann dürfen wir denn dem Orden beitreten?", fragte Harry nun an Severus gerichtet. Sein Adoptivvater kniff die Augen ein wenig zusammen und musterte Harry von oben bis unten. Harry kämpfte hart gegen ein Grinsen an. Schließlich meinte Severus: „Wenn Professor Dumbledore es für richtig hält." Danach verstummten die Gespräche wieder.
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Eine vernichtende Schachrunde später lag Harry in seinem Zimmer und versuchte sich den geistigen Raum seiner Gedanken wieder in Erinnerung zu rufen. Die hohen Regale und die Tür die dazu führte. Harry sah sich wieder in dem Raum stehen und grübelte, wozu die Tür denn eigentlich gut war. Was wenn er sie einfach wegzaubern würde, dann käme nie einer hier herein. Oder würde er sich dann selbst aussperren?
Er beschloss Severus am nächsten Tag diesbezüglich zu fragen und belegte dann die Tür mit ein paar Zaubern. Die Tür leuchtet in verschiedenen Farben auf, sobald ein Zauber erfolgreich angewandt wurde. Als er fertig war, tauchte er wieder aus seinen Gedanken auf und erschreckte gewaltig, als er plötzlich merkte, dass wer im Raum war.
„Sev!" rief der Junge empört, „Schon mal was von anklopfen gehört?" – „Ich habe geklopft!" rechtfertigte sich der Mann und sah dann mit leichten Schmunzeln zu Harry, „Und? Alles erledigt?" Harry zuckte nur mit den Schultern, „Weiß nicht. Das werden wir wohl morgen merken. Oder bist du gekommen um mich zu prüfen?" fragte der Junge mit leicht panischer Stimme. „Nein, nein", sagte Severus und stellte eine Keramikschale neben Harrys Bett ab.
Die Augen des Jungen leuchteten auf. Er erkannte die Schale und erinnert sich sofort an die Massage zurück. „Wir machen einen Deal," meinte Severus und musterte Harry nun ernst. „Was für ein Deal?" fragte Harry vorsichtig, als all seine Alarmglocken angingen und sich ein ungutes beklemmendes Gefühl in seinem Magen ausbreitete.
„Ich denke, du weißt was ich wissen will" sagte Severus und sah Harry forschend an. Das Leuchten in dessen Augen war wieder verschwunden. „Du hast doch gesagt du drängst mich nicht", erinnerte Harry. „Ich dränge dich auch nicht. Ich will nur einen Deal mit dir eingehen. Du musst nicht, wenn du nicht willst", gab Severus ziemlich ruhig von sich.
„Wa... warum musst du... ich mein... es ist vorbei, vergessen und begraben, wieso willst du..." stammelte Harry mit belegter Stimme. „Probleme kann man nicht verarbeiten in dem man sie verdrängt. Es wird immer wieder auftauchen, es könnte unsere Arbeit massiv erschweren," erklärte der Ältere. „Ich kann mir nicht vorstellen, was es da zu verarbeiten gibt. Darüber reden wird auch nichts ändern. Ich werde die Dursley sowie so nie wieder sehen." – „Ich glaube, du verstehst nicht. Jedes Problem mit dem du dich herum schlägst, beeinflusst dein magisches Potential." – „Aber ich schlag mich damit nicht rum. Es ist für mich vorbei."
Severus lächelte sanft, „Es ist nicht vorbei. Was denkst du, wie oft ich darauf stoßen werde, wenn wir Okklumentik üben. Erinnere dich nur an deine Reaktion, als ich dir die Fragen gestellt habe. Du hast dich zurück gezogen, dich eingerollt wie ein Igel. Doch wie bei jeden Igel ist es eine falsche Sicherheit sich einfach einzurollen. Denn damit verschließt er sich nur vor der Gefahr, erkennt sie nicht rechtzeitig und kann nicht rechtzeitig reagieren." – „Wusste ja gar nicht, dass du unter die Psychologen gegangen bist," meinte Harry sarkastisch. „Lass die Scherze, Potter!" antwortete Severus mit gespielt ernster Miene. Harry lächelte schwach.
Nach einer Weile der absoluten Stille, fragte Severus. „Was ist nun? Machen wir den Deal?" Harry seufzte und starrte die Keramikschale unschlüssig an. „Ich weiß gar nicht was ich erzählen soll. Das meiste weißt du eh schon. Ich hab dir ja gesagt, dass nachdem Alpträumen meine Hand immer gekrampft hat und mir Dinge runter gefallen sind. Na ja, da sind auch Sachen kaputt gegangen. Darüber haben sich die Dursley nicht gefreut."
Harrys Stimme war monoton geworden während er erzählte. Severus hielt es für das beste den Jungen nicht zu unterbrechen. „Eines Tages musste auch Tante Petunias Teeservice aus China daran glauben. Sie hat mich für den ganzen Tag unter der Treppe ein gesperrt, da wo ich früher mein Bett hatte. Als Onkel Vernon am Abend von der Arbeit heim kam. Hat er mich an den Haaren in den Keller gezogen und..." Harry Stimme stockte. Sein Körper begann zu zittern. Doch dann atmete er ein paar mal tief durch und erzählte weiter. Seine Stimme war wesentlich leiser geworden und wäre es nicht so totenstill in dem Raum gewesen, hätte man Harry kaum gehört.
Backflash ---
Onkel Vernon zerrte Harry an den Haaren hinter sich her, stieß wütend die Tür auf und schleuderte den Jungen unsanft von sich. Harry verlor das Gleichgewicht und fand sich auf dem Boden wieder. Er hatte das Gefühl, sein Onkel hätte ihm mehrere Haare ausgerissen. Dann nahm Vernon einen Sack und leerte diesen vor Harrys Füßen aus. Die Scherben des zerbrochenen Teeservice polterten heraus.
Harrys Onkel baute sich drohen vor den Jungen auf und meinte: „Du bringst das sofort wieder in Ordnung! Das war ein Hochzeitsgeschenk deiner Tante!" Harry blickte verzweifelt auf die Scherben, dann sah er wieder zu seinen Onkel hoch. „Ich kann nicht ohne Zauberstab zaubern. Außerdem darf ich nicht. Ich würde von der Schule fliegen."
„Blödsinn!" scharte der Vernon wütend. „Du hast Tante Magda ohne Zauberstab aufgeblasen. Du hast Dudley im Zoo in einem Terrarium eingesperrt OHNE ZAUBERSTAB. Also macht dich verdammt noch mal an die Arbeit! Und was deine Schule angeht, ich bezweifle, dass ich dich jemals wieder dort hin gehen lassen. Sie dich nur an? Diese verrückte Schule macht dich noch irrer als du je warst. Oh, nein. Auf diese Schule gehst du nicht mehr. Ich habe dich in St. Brutos angemeldet."
Nun war Harry wütend aufgestanden, „Du kannst mich nicht aufhalten, sie werden kommen und mich abholen!" rief Harry. Onkel Vernon schien beinahe zu platzen. Er kam die paar Schritte auf Harry zu und teilte zwei kräftige Ohrfeigen aus. Danach packte er den Jungen an der Kehle und drückte ihn gegen die Wand. „Ich sagte... du sollst... dieses Teeservice reparieren" quetschte er mühsam hervor. Harry bekam kaum Luft. „Oder muss ich noch deutlicher werden?" Vernon stieß erneut den Jungen zu Boden und starrte ihn hasserfüllt an.
Harry sah zu den Scherben. Er wusste, dass es seine einzige Chance wäre, halbwegs heil aus dem Keller zu kommen, aber wie sollte er es anstellen? Sein Zauberstab lag oben in seinem Zimmer. Während er panisch überlegte, merkte er nicht, was Vernon in der Zwischenzeit tat, um so überraschter war er, als plötzlich dessen Gürtel schmerzhaft auf seinen Rücken segelte. „Onkel Vernon... bitte, ich kann nicht!" jammerte Harry. Doch bei seinem Onkel schienen die Drähte durch geschmort zu sein. Wie ein Irrer schlug er auf Harry ein. Der Junge konnte gar nicht aufstehen, um den Schlägen auszuweichen. Die mit einer solchen Kraft auf ihn zukamen, dass der Schmerz beinahe einem Cruatiusfluch gleich kam.
Sein Onkel war eindeutig nicht mehr bei Sinnen. Harry lag schließlich völlig ausgeliefert vor ihm am Boden. Mit Mühe schaffte er es sich auf den Rücken zu drehen und mit beiden Füßen nach seinen Onkel zu treten, der gerade siegessicher zu seinem letzten Schlag ausholen wollte. Völlig überrascht von Harrys Tritt taumelte er nach hinten, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Ein wutverzerrter, unglaublich lauter Schrei war zu hören, als sein massiver Körper am Boden aufkam. Danach wurde es still.
Harry zitterte am ganzen Körper. Er war nicht fähig aufzustehen. Nur im Trance bekam er mit, wie Tante Petunia herein gestürzt kam. Die Szene die sich vor ihr bot, lies auch ihr einen Schrei entweichen. Harry lag zusammen gerollt und zitternd am Boden und ihr Mann circa einen Meter daneben, bewegungslos und starrte an die Decke. Blut quoll unter seinem massiven Körper hervor. Vernon war auf die Scherben des Teeservice gefallen.
Backflash Ende---
„Ich weiß kaum was dann geschah. Irgendwann kamen Rettungsleute und brachten Onkel Vernon ins Krankenhaus. Ich lag immer noch im Keller. Ich wurde da unten eingesperrt und vergessen. Ich weiß bis heute nicht wie, stand plötzlich Mark im Türrahmen zum Keller. Er hat mich fortgebracht, mir was zum Essen und Trinken gegeben. Mark hat gemeint ich wäre völlig verrückt, dass ich da nicht schon früher geflohen bin und er hatte Recht. Es war verrückt auf Dumbledore zu hören. Ich hätte früher dort abhauen sollen. Wem hat es denn genutzt? Ich hab gelitten und Tante Petunia hat gelitten und Onkel Vernon hat es den letzten Nerv geraubt. Und ... wo war Dumbledore als ich ihn gebraucht habe? Ich lag drei Tage im Keller und der einzige der mir half war ein Muggl. Ich ... ich hatte die Zauberwelt so satt. Ich habe mir geschworen nie wieder nach Hogwarts zu gehen. Nie wieder." Die letzten Worte waren nur mehr ein Flüstern.
Severus wusste nicht was er sagen sollte. Etwas benommen setzte er sich neben Harry auf das Bett. Dieser starrte emotionslos vor sich hin. Severus war geschockt. Geschockt von der Geschichte, geschockt von Harrys Höllenqualen, die er durchlebt haben musste. Wie konnte das passieren? Der Orden hatte doch die Aufgabe, zu Sorgen, dass Harry nichts passierte. Wer hätte auch gedacht, dass Harrys größte Gefahr direkt im Haus war. Niemand hatte je einen Gedanken daran verschwendet, wie das Verhältnis zwischen Harry und seinen Verwandten war. Niemand hatte sich darum gekümmert.
Wohl hat jeder gewusst, dass Harry seine Verwandten nicht mochte, aber das schien immer nebensächlich zu sein im Vergleich zu dem Blutschutz durch seine Tante. Es wurde als „kleineres Übel" eingestuft. Aber was der Junge eben erzählt hatte, war alles andere als ein kleines Übel. Kein Wunder, dass Harry anfangs gar niemanden an sich heran lassen wollte.
‚Wieso dann mich?' fragte sich Severus plötzlich. ‚Wie konnte der Jungen ausgerechnet zu mir Vertrauen fassen?' Und zum ersten Mal wurde Severus zur Gänze bewusst, was für ein außergewöhnliches Geschenk es war, dass Harry anfing ihm zu vertrauen. Ihm, den er jahrelang gehasst hatte. Eine Welle an Gefühlen packte ihn und er schloss seine Arme um den Jungen. Harry lehnte seinen Kopf dankbar gegen die Schulter des Älteren und begann zu weinen.
Nach mehreren schweigenden Minuten fragte Severus. „Ich will den Deal nicht brechen, aber ich habe das Gefühl, dass dir jetzt alles andere zu Mute ist, als nach einer Massage, oder?" Harry schniefte und schüttelte den Kopf. „Nein, aber ... ich weiß es ist kindisch... aber ... würdest du bleiben bis ich eingeschlafen bin?" fragte Harry vorsichtig. Severus sah Harry überrascht an. Dann lächelte er sanft. „Natürlich!"
Er strich Harry liebevoll durchs Haar. ‚Und das soll James Potters Sohn sein?' fragte er sich unwillkürlich. Und war von seinen eigenen Gedanken überrascht. ‚Nein. Das ist Lilys Sohn' besserte er sich selbst aus. ‚Lilys Sohn, der leider in einer vollkommen ungeeigneten Umgebung für einen Zauberer aufwachen musste. Und der alles andere als bereit war, die Aufgabe, die vor ihm stand, zu lösen.' Severus hoffte nur, dass Harry noch die nötige Zeit hatte, die er brauchte, um eins mit seinen neuen Kräften zu werden, die bereits in ihm schlummerten.
