Nach gut zwei Stunden hatte Marie ihre Frisur vollendet, ihr die unzähligen
Röcke zugehakt und geknöpft, sie ins Korsett geschnürt und ein dezentes Make-up aufgelegt.
Die Frau die ihr nun aus dem Spiegel entgegenblickte hätte ihr fremder nicht
sein können. Irgendwie kam sie sich verkleidet vor. So als wäre dies eine neue Rolle in einem Stück
dessen Text und Handlung sie nicht kannte. Selbst in ihrem zigeunerartigen Kostüm der Aminta hatte sie
sich nicht so fehl am Platze gefühlt wie in diesem Kleid.
Unzählige kostbare Spitzen und Schucksteine zierten ihre Röcke und die Corsage. Das Kleid war ärmellos,
aber für die kalten Witterungsverhältnisse hatte Raoul ihr ein Jäckchen aus weißem Nerz schneidern lassen.
Es mußte ein Vermögen gekostet haben.
Wie sie sich so da stehen sah durchfuhr sie eine Erinnerung und sie zuckte ungewollt zusammen.
Sie stand an einem anderen Ort in schummrigen Kerzenlicht und schaute auf ihr
Ebenbild in einem zerbrochenen Spiegel das ein Brautkleid trug, während sie
selbst nur den Morgenrock aus ihrer Garderobe über einem Bühnenkostüm trug.
Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen.
"Oh, Mademoiselle sind eine so schöne Braut. Aber sie dürfen nicht weinen
Mademoiselle, sonst sind ihre Augen rot und das wird ihrem zukünftigen Gatten gar nicht gefallen."
Vorsichtig tupfte Marie ihr die Tränen von den Wangen.
"Aber ich kann sie ja verstehen. Ich würde an einem so schönen Tag auch vor
Freude weinen. Es muß wunderbar sein ein Teil von jemandem zu sein und ich
wünsche Ihnen alles Glück dieser Welt."
-Ja, ich bin ein Teil von ihm, aber ist er auch eines von mir. Wohin gehöre ich wirklich?-
Sie konnte ihre kleine, etwas naive, Zofe ja verstehen. Wie sie so vor ihr
stand und ihr verklärt entgegen strahlte als wäre sie eine Märchenprinzessin.
Also riß sie sich zusammen und schenkte ihr ein kleines Lächeln obwohl sie ihr viel
lieber den Brautstrauß um die Ohren geschlagen hätte.
Alles in jetzigen Leben fühlte sich falsch an. Das Palais, dieses Zimmer, ihr Brautkleid... sogar Raoul.
Sie fühlte sich seit langem nicht mehr wohl in ihrer Haut und ärgerte sich
darüber wie oft sie Raoul absichtlich verletzt hatte nur um ihn zu provozieren.
Wenn er ihr dann immer wieder mit Verständnis begegnet war hatte sie das nur noch mehr aufgebracht.
Er hatte das einfach nicht verdient, aber so sehr sie es sich auch vorgenommen
hatte solche Situationen nicht mehr heraufzubeschwören, war es doch immer wieder passiert.
Trotzdem hielt er an seinen Heirats- und Fluchtplänen fest und sie hatte auch
nichts dagegen unternommen.
Schon nächste Woche würden sie aufbrechen nach Wien um Paris für immer den Rücken zu kehren.
"Mademoiselle?"
Marie schien sie schon mehrmals angesprochen zu haben denn nun hatte sie
begonnen vorsichtig an ihrem Ärmel zu zupfen.
"Die Kutsche steht bereit. Es wird Zeit zur Kirche zu fahren. Sie wollen den
Bräutigam doch sicher nicht warten lassen!"
"Nein Marie, natürlich nicht. Vielen Dank für alles!"
Sie atmete tief durch, hob den Kopf ein Stückchen höher und trat durch die Tür
ihres Schlafzimmers. Ihr war als würde sie mit königlicher Würde ihrer
eigenen Hinrichtung entgegenschreiten.
Was war bloß los mit ihr? Genau diese Hochzeit hatte sie sich doch einst gewünscht.
Wieder rangen die zwei Seelen in ihrer Brust miteinander.
Warum quälte sie sich absichtlich mit dem Wunsch in der Madeleine zu heiraten?
Zwar hatte sie diese Kirch ins Herz geschlossen, da sie nicht so überlaufen war
wie Notre Dame, und sie hatte manch schöne stille Stunde dort verbracht, doch
diese Kirche hatte auch noch eine zweite Bedeutung.
Hier hatte Erik sie heiraten wollen um dem Gefängnis seiner Einsamkeit zu entfliehen.
Und nun würde Raoul an ihrer Seite stehen, nicht Erik.
Wollte sie sich selbst prüfen oder einfach nur für den Verrat an ihrem Engel
büßen, in dem sie sich diesem weiteren Zwiespalt aussetzte?
Ihre Gedanken fanden einfach kein Ende und keinen geraden Pfad.
Der einzige Trost für sie war, das diese Hochzeit wirklich nur im
kleinsten Kreis stattfinden würde.
Sie hatte nur Mme Giry und ihre Tochter gebeten zu kommen und außer Raouls
älteren Schwestern würden nur vier seiner engsten Freunde anwesend sein.
Vielleicht würde es den einen oder anderen sensationslüsternen
Opern Angestellten geben, der es sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollte, doch viele würden es sicher nicht sein.
Raouls Schwestern hatten nach langem Protest eingesehen daß sie ihren Bruder
nicht von dieser unstandesgemäßen Hochzeit abbringen konnten. Sie hatten ihm
letztendlich ihren Segen gegeben und sich bereit erklärt bei der Trauung anwesend zu sein.
Die bevorstehende Hochzeit mit ihr hatte Raouls Ruf einigen Schaden zugefügt
und doch hielt er immer zu ihr, wie er es auch schon als kleiner Junge getan hatte.
Ein glückliches Bild von zwei spielenden Kinder am Strand erschien vor ihrem geistigen Auge.
Doch das alles schien eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen und nun stand sie
hier an ihrem Hochzeitstag und das Kind von einst war für immer verschwunden.
Und mit ihm der Glaube an den Engel der Musik und das glückliche Ende das alle
Kindheitsgeschichten zu nehmen schienen.
Es hatte wieder zu schneien begonnen und alles war noch immer herrlich friedlich.
Alles um sie herum glitzerte und funkelte im strahlenden Sonnenschein.
Die Alltagsgeräusche wurden durch die dichte Schneedecke gedämpft und Christine
blieb einen Moment vor der Tür des Palais stehen um den fallenden Flocken zuzusehen.
Tief sog sie die kalte Luft ein, raffte dann ihre Röcke damit sie auf dem Weg
zur wartenden Kutsche nicht vollkommen ruiniert wurden und lief los.
Der Kutscher war abgestiegen, hielt ihr die Tür auf und half ihr beim
Einsteigen. Als sie den Blick hob erlebte sie eine Überraschung.
Zwei vertraute Gesichter strahlten ihr herzlich entgegen und Christine
bemerkte wie ihr Herz einen freudigen Satz machte.
"Mme Giry! Meg! Wie schön es ist euch zu sehen."
Die zwei Frauen musterten sie beim Einsteigen von oben bis unten und schienen
sichtlich zufrieden mit dem was sie sahen.
Der Kutscher schloß die Tür hinter ihr, sorgfältig darauf bedacht den Stoff
ihres ausladenden Kleides nicht einzuklemmen.
Christine nahm gegenüber ihrer Ziehmutter und neben ihrer Freundin platz.
"Du siehst einfach wunderschön aus, Christine!" Ihre Freundin Meg ergriff
Christines Hände und drückte sie freundschaftlich.
"Wirklich Christine, ich habe selten eine schönere Braut gesehen." Meg
strahlte über das ganze Gesicht, wie kurz zuvor schon Marie und wieder löste dieses
freudige Strahlen Unmut in Christines Magengegend aus und ihre Miene verfinsterte sich ein wenig.
"Du siehst müde aus Kind," schaltete sich nun auch Mme Giry ein.
"Sicher hast du nicht gut geschlafen vor deinem großen Tag!"
Die dunklen Augen der älteren Frau ruhten auf Christine fühlte sich etwas
unwohl unter ihrem Blick.
"Aber da ist noch etwas anderes, meine Liebe, oder?" hakte Antoinette Giry nach.
Ihr Tonfall wurde zunehmend besorgter und auch Megs überschwängliches Lächeln verblasste langsam.
Mme Giry schien in den letzten Wochen um Jahre gealtert zu sein. Christine
entdeckte unzählige neue graue Haare die sich auf dem Pechschwarz deutlich abzeichneten.
Die Geschehnisse in der Oper waren auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen.
"Was lastet so schwer auf deiner Seele? Behandelt Raoul de Chagny dich etwa nicht gut?"
"Doch, das tut er!" Lenkte Christine schnell ein. Auf keinen Fall wollte sie daß
Raoul vor ihrer Ersatzfamilie in einem schlechten Licht da stand.
"Es ist nichts. Wirklich! Wahrscheinlich nur der fehlende Schlaf und die
Aufregung!" Sie konnte MmeGiry nicht länger in die Augen sehen und
wandte den Blick ab. Doch sie spürte ihren durchdringenden Blick noch immer
auf sich lasten. Sie hatte ihrer Ziehmutter noch nie etwas vormachen können.
Mit einem leichten Ruckeln setzte sich die Kutsche nun in Bewegung.
Es war ein gutes Stück Weg daß sie zurücklegen mußten und aufgrund des dichten
Schneetreibens kamen sie nur langsam voran.
Eine unangenehme Stille war entstanden bis Mme Giry erneut das Wort ergriff.
"Christine, du siehst aus als würdest du zu deiner eigenen Beerdigung anstatt
zu deiner Hochzeit fahren. Was hat dich in den letzten Wochen so sehr
verändert, dass ich dich dich kaum wiedererkenne? Die wenigen Male die du uns besucht hast,
waren deine Gedanken stets an einem anderen Ort."
Christine schloss die Augen.Wieder fühlte sie heiße Tränen hinter ihren
Augenlidern brennen und versuchte sie krampfhaft zu unterdrücken. Der dicke
Kloß der sich in ihrem Hals bildete, hinderte sie am Sprechen.
Sie kämpfte schwer um ihre Fassung als sie Mme Giry wieder in die Augen sah.
"Ich erkenne mich doch selbst kaum mehr!" Ihre Stimme zitterte.
Meg verfolgte die Situation als stumme Zuschauerin, denn sie verstand nicht ganz was hier vor sich ging.
Doch als ihre Freundin nun verzweifelt das Gesicht in den Händen vergrub legte
sie ihr einen Arm um die bebenden Schultern um sie zu trösten. Sie verstand nicht warum Christine so unglücklich war. Für sie gäbe es nichts schöneres als von einem wohlhabenden und dazu auch noch so gutaussehenden Mann zum Traualter geführt zu werden. Sie selbst würde sich vorkommen wie eine Märchenprinzessin und überglücklich sein.
Mme Giry lehnte sich nun zu Christine hinüber um ihr sanft die Hände vom
Gesicht zu ziehen und ihr übers Haar zu streichen. So wie sie es immer getan
hatte als sie noch ein kleines Kind gewesen war.
"Ist es wegen ihm?" Eindringlich sah sie sie an.
Damit sprach sie aus, was Christines Gedanken seit vielen Wochen bewegt hatte.
Kaum erkennbar nickte sie und hob scheu den Blick. Doch in den Augen von Mme
Giry erkannte sie weder Vorwürfe noch Mißfallen. Nur grenzenloses Verständnis
und das erste Mal, nach langer Zeit wurde ihr ein wenig leichter ums Herz.
Meg dagegen sah sie verständnislos und ein wenig schockiert an. Zwar hatte sie
den Arm weiterhin um sie gelegt, doch Christine spürte wie ihre Freundin sich versteifte.
"Ich weiß einfach nicht ob ich dem richtigen Weg gefolgt bin. Mein Herz weint
jeden Tag um den verlorenen Engel und Freund der mir Nacht für Nacht im Traum erscheint. Was sind das bloß für Gefühle?"
"Ich verstehe dich so gut, mein liebes Kind. Er hat dein Herz berührt, deiner
Seele Flügel verliehen und dich in eine Welt jenseits der Realität entführt.
Es ist nur natürlich daß du dich nicht mehr so leicht mit dem normalen Alltag
abfinden kannst. Doch auch wenn es dir das Herz brechen wird, ich befürchte,
deine Einsicht kommt ein wenig zu spät. Zwar ist dem dem wütenden Mob damals
nicht gelungen ins die Wohnung des Phantoms einzudringen und doch habe ich
seit diesem schicksalsschweren Abend kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten.
Ich habe selbst versucht in die Wohnung am See zu gelangen um mir Gewissheit
zu verschaffen. Aber all meine Bemühungen waren umsonst."
Sie schüttelte traurig den Kopf.
"Mit Sicherheit hat dir Raoul erzählt daß ich eine der wenigen Vertrauten von
Erik war. Niemand wußte davon, nicht einmal Meg und immer hielt er einen losen Kontakt zu mir.
Aber nun befürchte ich das Schlimmste."
Christine schlug sich entsetzt eine Hand vor den Mund und eine leise Hoffnung
die sie im Geheimen gehegt hatte, fiel in sich zusammen.
Die Bilder ihres letzten Traums kamen ihr ins Gedächtnis und nun konnte sie
die Tränen nicht länger zurückhalten.