Christine

Als die Kutsche vor der Madeleine vorfuhr hatte Christine sich soweit wieder
gefangen dass sie aussteigen konnte. Den Rest der Fahrt waren sie in tiefes Schweigen
versunken gewesen doch innerlich machte Christine sich schwere Vorwürfe. Die Nachricht daß Erik wahrscheinlich nicht mehr lebte hatte sie vollkommen aus der Fassung gebracht. Allerdings fragte sie sich auch was sie sich denn erhofft hatte, ohne eine Antwort darauf zu finden.
Mühsam drängte sie all ihre Gedanken in den Hintergrund als Mme Giry ihr den
Schleier über das Gesicht breitete und ihr noch einmal aufmunternd die Hand
drückte. Sie würde Raoul heiraten und tun was für sie das Beste war.
Schließlich wäre sie als Vicomtesse de Chagny für den Rest ihres Lebens
abgesichert und konnte in eine ruhige und sonnige Zukunft blicken.
Würde sie diese Aussicht wirklich gegen ein Leben an der Seite von Erik
eintauschen wollen.
Eintauschen gegen ein Leben bei dem sie niemals wußte was der nächste Tag ihr bringen würde.
Eine leise Stimme in ihrem Kopf flüsterte: "Ja, das würdest du!"
Die Kutschentür wurde geöffnet und Christine stieg aus.
Raoul, der am oberen Ende der Treppe, die zur Kirche führte, auf sie gewartete
hatte unterbrach sein Gespräch aprubt und kam freudestrahlend auf sie zu.
Als er sie erreicht hatte hauchte er einen zärtlichen Kuss auf ihre Hand und
verbeugte sich dann galant vor Mme Giry und ihrer Tochter.
"Ich habe nie etwas Schöneres gesehen als dich, mein Engel!"
Der Kosename den er ihr seit einigen Wochen gab, versetzte ihr jedesmal einen
schmerzhaften Stich ins Herz, doch sie hatte nicht gewagt es ihm zu sagen.
Nun rang sie sich ein Lächeln ab und hoffte daß er ihre verräterisch geröteten
Augen hinter dem Schleier nicht erkennen konnte.
Meg machte sich an ihrer Schleppe zu schaffen und nickte ihr bestätigend zu als
sie sich zur ihr herumdrehte.
Wie sie es vermutet und gehofft hatte waren nicht all zu viele Gäste zur
Trauung erschienen. Sie konnte einige der Mädchen aus dem Corps de Ballett sehen, eine der Garderobieren und ein paar der Sänger, sowie Raouls Freunde und seine Schwestern.
Raoul führte sie die Stufen hinauf und Christine ertappte sich dabei wie ihr
Blick die Umgebung der Kirche abtastete als würde sie unbewußt etwas suchen.
Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann zu richten der an ihrer Seite ging.
Eine angenehme Dunkelheit empfing sie im Innern der Kirche und auch hier war
die Luft kühl und roch angenehm nach Weihrauch und Kerzenwachs.
Da die Kirche keine Fenster besaß waren unzählige Kerzen entzündet worden und
orange Schatten tanzten über die Starren Gesichter der geschnitzten Heiligen
und steinernen Engel. Ihr schien es als wären ihre Blicke traurig auf sie gerichtet.
Raoul blieb stehen und wartete auf den Pfarrer den nun von Links auf ihn zukam
um ihm die Hand zu geben. Pater Bruno war seit Jahren der Geistliche des Hauses de Chagny und auch er hatte
Zweifel an dieser Verbindung bekundet. Trotzdem nickte er Christine freundlich zu.
Sie wechselten ein paar Worte und warteten bis alle Gäste in den enggestellten
Stuhlreihen ihre Plätze eingenommen hatten. Raouls Schwestern liefen an
Christine vorbei, allerdings nicht ohne ihr einen abwertenden Blick zuzuwerfen.
Dann erklangen die ersten Töne der Orgel und sie beschritten, dem Pfarrer
hinterher, den langen Mittelgang.
Der Organist machte seine Sache gut und Christine war überrascht wie sauber er
spielte. Sie kannte den kleinen alten Mann vom sehen und hätte ihm eine
derartige Leistung nicht zugetraut.
Oft hatte er geübt wenn sie eine Kerze für ihren Vater angezündet und für ihn
gebetet hatte und niemals hatten die Akkorde so sauber geklungen.
Für das Brautpaar waren zwei Stühle vor dem Altar aufgestellt worden. Raoul half Christine, ein wenig unbeholfen, platz zu nehmen und setzte sich dann neben sie.
Auch die Hochzeitsgäste nahmen geräuschvoll platz während die letzten Töne der Orgel verklangen.
Pater Bruno begrüßte nun alle Anwesenden und begann dann mit seiner Predigt,
in der er Zitate aus der Bibel vorlas und mit der Geschichte des Kennenlernens
von Raoul und Christine verknüpfte. Seine gesamte Rede bezog sich auf ihre
vergangene Kindheit. Ihr Wiedersehen in der Oper fand sich nur als kleine Fußnote am Rande.
Die Predigt war ausgesprochen schön und Christine bewunderte die
Wortgewandheit des Paters, jedoch berührten sie seine Worte kaum.
Nichts in ihrer momentanen Gefühlswelt verband sie mehr mit dem Kind daß sie einst gewesen war.
"So laßet uns nun gemeinsam singen. Lied 453 Strophe drei und vier: -Großer Gott wir loben dich!"-
Christine hörte wie verschiedene Gesangbücher aufgeschlagen und Seiten
umgeblättert wurden. Der Organist wartete wohl darauf daß alle die richtige Stelle gefunden hatten.
Doch auf das, was nun folgte hätte sie nichts in der Welt vorbereiten können.
Ein Akkord erklang langgezogen, wie ein herzzereissender Seufzer und wenn er auch noch so leise angespielt wurde, konnte
Christine bereits erkennen daß es sich nicht um das eben angekündigte Lied handelte.
Die nachfolgenden Akkorde entzündeten ein Feuer in ihrem Herzen von dem sie
geglaubt hatte dass es für immer verloschen sei.
Sie kannte diese Melodie.. .. aus ihrem Traum der letzten Nacht!