Erik
In den letzten drei Wochen hatte er alleine auf diesen Tag hingearbeitet.
Nachdem er bei einem seiner Rundgänge durch Zufall erfahren hatte, daß
Christine und Raoul Paris noch nicht verlassen hatten und Christine darauf bestanden
hatte in der Madeleine zu heiraten, wußte er warum er noch so lange durchgehalten hatte.
Er hatte nun die Chance sich entgültig von ihr zu verabschieden. Sie frei zu
geben und in ihr neues glückliches Leben zu entlassen.
Es würde das Letzte sein was er tat.
Sein Wille zu Leben war in dem Moment erloschen als sie ihm seinen Ring
zurückgegeben hatte und mit dem jungen Mann an die Oberwelt zurückgekehrt war.
Doch heute und hier konnte seine Musik sie begleiten und ihr das Glück
schenken daß sie mehr als jede Andere verdient hatte.
Hier und heute würde für ihn alles Enden und indem er ein letztes Mal für sie
spielte und sang würde ein Stück seiner Seele in ihr weiterleben. Der schöne Teil seiner Seele!
Er war es entgültig Leid seinen verborgenen Träumen hinterherzujagen, die sich
manchmal mit aller Kraft an die Oberfläche kämpften, nur um am Schluß wieder
vor den Scherben seiner Gefühle zu stehen.
Mit Christine war jeder Grund weiterzuleben verschwunden, aber was hatte er
denn erwartet. Daß sich der schöne Engel am Schluß doch dazu durchringen konnte den Dämon zu wählen und bei ihm zu bleiben? Sie war ein Kind des Lichts und
gehörte in eine Welt in der die Sonne regierte. Es war lächerlich gewesen im
geheimen auf etwas anderes zu hoffen.
Ein bitteres Lachen entrang sich seiner Kehle.
Er war schon sehr früh an diesem Tag in die Kirche gekommen um sich mit der Orgel vertraut zu machen.
Es war nicht schwer gewesen, den eigentlichen Organisten durch eine
entsprechend großzügige Entlohnung zu überzeugen ihm seinen Platz zu räumen.
Der schwierigste Teil würde sein, den Eröffnungsmarsch so mittelmäßig zu
spielen daß sein Engel keinen zu frühen Verdacht schöpfte.
Das Geländer der Empore war glücklicherweise so hoch, daß man den Organisten
selbst von unten nicht sehen konnte.
Aus seinem Versteck heraus konnte er nun sehen wie vereinzelte Menschen in
die Kirche traten. Christine und Raoul vorneweg. Sein Herz krampfte sich zusammen
als er sah wie schön sie war, auch wenn das Kleid und die ungewohnte
Hochsteckfrisur so gar nicht zu ihrem eigentlichen Wesen passen wollten.
Er hätte etwas anderes für sie ausgesucht.
Sein Unmut wuchs, als er sah wie unglücklich sie wirkte. Es konnte nicht
daran liegen daß der Vicomte de Chagny sie schlecht behandelte. Er hatte sich selbst ein
Bild davon gemacht daß dem nicht so war.
Wie oft er morgens auf dem Anwesen der de Chagnys gewesen war konnte er nicht
mehr sagen. Er hatte einmal gesehen daß Christine vor Sonnenaufgang auf ihren Balkon hinausgetreten war um einen zerrissenen Brief in alle Winde zu verstreuen. Seit diesem Tag war er jeden Morgen dort gewesen um sorgfältig die
Schnipsel ihrer Briefe einzusammeln.
Zurück in der Wohnung am See hatte er sie akribisch wieder zusammengefügt um
zu lesen was Christine jeden Morgen in die Freiheit entließ.
Es hatte ihn erschüttert zu lesen, dass jeder einzelne dieser Briefe an ihn
gerichtet war.
Sie schrieb darin von ihren bedrückenden Träumen, von ihren verwirrten Gefühlen und davon dass sie ihn vermisste. Und das immer und immer wieder.
Sie würde niemals frei sein wenn er sie nicht von der Last seines Schattens erlöste.
Zuerst hatte er überlegt sich ihr erneut zu zeigen, da ihre Brief ihn ja so
offen ansprachen, doch dann war ihm klar geworden dass sie nur so freimütig
schreiben konnte, weil sie damit rechnete dass er diese Briefe niemals zu Gesicht bekommen würde.
Also hatte er weiter komponiert. Stunde um Stunde. Er hatte sich kaum Schlaf
gegönnt, so lange bis sein Werk vollendet und perfekt gewesen war.
Und das war es jetzt und nun wartete es nur darauf Christine und auch ihn
entgültig von allen Qualen zu erlösen. Bald, ja bald würde alles vorbei sein.
Die letzten eintretenden Personen verhielten sich sonderbar distanziert und
Christine konnte nicht sehen wie sie sich an der rechten und linken Seite der
Kirche postierten. Es waren Männer der Sûreté, bewaffnet und hochkonzentriert.
Der Vicomte de Chagny schien also doch nicht so ruhig zu sein wie er vorgab.
Was für ein schlauer Junge, daß mußte er ihm lassen. Unterschätze niemals ein Phantom, auch wenn es sich in der Gestalt eines missgestalteten Mannes versteckt!
Als sich die kleine Prozession, mit dem Pfarrer an ihrer Spitze, in Bewegung setzte begann er zu spielen.
Er hasste es so unsauber und zurückhaltend zu spielen wie er es nun tat, aber er musste um alles in der Welt den Schein wahren.
Die nachfolgende Predigt ließ ihn vieles über Christine erfahren was er bisher
noch nicht gewusst hatte. Insbesondere über ihre Kindheit von der sie einen
Teil mit dem kleinen Jungen Raoul verbracht hatte.
Als Pater Bruno schließlich "Großer Gott wir loben dich" ankündigte war es endlich so weit.
Seine Finger ruhten ruhig auf den Tasten und warteten nur darauf seine Seele bloß zu legen.
Er schloß die Augen und die Musik floß direkt aus seinen Fingerspitzen in die
Tasten. Er wurde eins mit dem großartigen Instrument vor dem er saß.
Musik flutete seinen Geist, sein Blut und seine Seele. Christine tauchte vor seinem inneren Auge auf.
Oh Gott wie er sie liebte. Jeder Ton schrie seine grenzenlose Liebe hinaus in die Welt. Nun vereinigte er seine Stimme mit seiner Musik. Ein Text war nicht von Nöten, seine Stimme bildete eine zweite Melodie zu der von ihm gespielten und
verschmolz mit ihr als wären sie eins. Und dann geschah etwas mit dem er nicht gerechnet hatte. Eine weitere Stimme mischte sich in seine Musik. Eine Stimme die er besser kannte als alles andere auf der Welt.
Christine! Doch woher kannte sie die Melodie. Sie sang seine Musik so als wäre sie diejenige gewesen die sie im eingegeben hatte. Und in gewisser Weise war es ja auch genau so. Sich nun ganz verlierend hielt er nicht inne in seinem Spiel. Unablässig rannen Tränen über seine Wangen und brannten heiß unter seiner Maske.
Nach einer kleinen Ewigkeit klang seine Melodie aus indem sie noch einmal die
Seele eines jeden streichelte der sie hörte. Die Musik und ihre Stimmen waren
nun eins und niemand vermochte sie mehr zu unterscheiden. Als der letzte Ton
noch in der Luft nachklang schnappte er verzweifelt nach Luft. Er konnte kaum
mehr atmen und war nur noch ein leeres Gefäß dem keine Seele mehr innewohnte.
Sie schien sich von ihm gelöst zu haben um in der Musik und Christines Gesang aufzugehen.
Nun würde er ungesehen verschwinden so wie er auch gekommen war.
Nur kurz erlag er der Versuchung hinabzublicken, doch dieser kurze Moment
reichte aus um sein Vorhaben, die Kirche ungesehen zu verlassen, zunichte zu machen.
Christine stand in der Mitte der Kirche, ihren Arm flehentlich in seine Richtung ausgestreckt.
Sie hatte den Schleier von ihrem Gesicht gehoben und ihre Augen und Wangen
glänzten Tränennass. Alle um sie herum waren ebenfalls aufgestanden und auch sie weinten. Antoinette Giry presste ihren rechten Arm auf ihr Herz als müsste sie es daran hindern aus der Brust zu springen.
Im anderen Arm hielt sie ihre Tochter die vor Rührung ganz bleich war.
Doch sofort glitt sein Blick wieder zurück zu Christine. Ihre Schultern bebten
und sie konnte ihr Schluchzen nun nicht mehr unterdrücken. Raoul der hinter
ihr stand war nicht in der Lage sich zu rühren. Er bemühte sichtlich sich zu
fangen doch es gelang ihm nicht.
Sie alle waren noch immer gefangen im Netz seiner Musik und keiner wagte
sich zu rühren. Christine war die Erste die einen Laut von sich gab.
"Engel!" Dieses Wort drohte in ihrem Schluchzen unterzugehen und doch drang es so
klar und deutlich an ihr Ohr als würde sie direkt neben ihm stehen.
Er schaffte es nicht den Blick von ihr abzuwenden. Wir gerne würde er jetzt
sterben, mit ihrem lebendigen Bild vor Augen. Genau in diesem Moment!
Also trat er an die Brüstung um ihr in die Augen sehen zu können. Er rechnete damit das die beiden Männer
der Sûreté nicht zögern würden.
Sie keuchte leise als er an die Brüstung trat und neue Tränen traten in ihre
Augen. Doch er konnte nicht fassen was er noch in ihrem Gesicht lesen konnte: Erleichterung und Freude.
Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen und in diesem Moment hätte keiner
von Gottes Engeln schöner für ihn sein können.