Christine

Schon nach den ersten Tönen des Liedes hatte sie sich von Raoul entfernt.
Dessen Verwunderung und seinen Protest ignorierend.
Zuerst hatte sie gedacht ihr verwirrter Verstand spiele ihr einen Streich,
doch als die Musik sie immer drängender durchfuhr wusste sie dass dies hier kein Traum und keine Illusion war.
Dort, hoch oben an der Orgel, saß ihr Engel der Musik um sich entgültig von ihr zu verabschieden.
Er lebte und grenzenlose Erleichterung durchfuhr sie zusammen mit den süßen Klängen die nur an sie gerichtet waren.
Und ohne genau zu wissen was sie tat, ihre Stimme schien ein Eigenleben entwickelt zu haben, stimmte sie ein.
Jede Note stand so klar und deutlich in ihrem Kopf geschrieben als schaue sie auf ein Notenblatt in ihren Händen.
Nur am Rande nahm sie war, dass allen um sie herum die Tränen in die Augen traten und Mme Giry aufstand
und sich zusammen mit Meg an Raouls Seite stellte.
Ihre Schritte jedoch trugen immer weiter fort von ihm.
Näher zu ihrem Engel, in die Mitte der Kirche.
Wie hatte sie nur so lange ohne seine Musik leben können? Und ohne ihn?
Er hatte etwas in ihr erweckt dass ohne ihn nie mehr zu Ruhe kommen würde.
Als der letzte Ton in der Luft nachklang bemerkte sie wie sie am ganzen Leib zitterte.
Es gab so vieles das sie ihm sagen wollte, genau wie in ihren Briefen und doch
schien ihre Stimme ihr nun nicht mehr zu gehorchen.
Sie klang rau und belegt als sie sie dazu zwang "Engel!" auszurufen.
Zuerst geschah nichts, doch dann erfassten ihre Augen erst das Schwingen von
schwarzem Stoff, dann trat Erik an die Brüstung.
Seine Gestalt war noch immer gebieterisch und doch erschrak Christine bei seinem
Anblick. Er hatte beträchtlich an Gewicht verloren und die Seite seines Gesichts die ihr nicht
verborgen blieb wirkte müde, traurig und aschfahl.
Sie musste zu ihm, ganz gleich was alle Anwesenden von ihr dachten. Sie würde
Raoul das Herz brechen doch auch dieser schmerzliche Gedanke hielt sie nicht
davon ab einen weiteren Schritt in Eriks Richtung zu tun.
Doch noch bevor sie sich ihm weiter nähern konnte hallte ein Schuss durch die
Kirche der alle aus ihrer Trance riss.
Manche schrieen auf und duckten sich instinktiv auf den Boden.
Christine konnte ein schmerzverzerrtes Zischen hören dessen Ursprung sie auf
der Empore ausmachte. Erik verschwand zurück in die Schatten und doch konnte sie sehen wie
er seinen linken Arm umklammerte. Jetzt konnte sie nichts mehr halten.
Sie raffte die Röcke und ihre Füße flogen über den marmornen Boden.
"Christine! Nicht!" Sie hörte Raoul Stimme weit hinter sich. Er schien ihr nicht zu
folgen um sie aufzuhalten. Als sie einen kurzen Blick zurück warf konnte sie sehen warum.
Mme Giry hielt ihn am Arm fest und redete eindringlich auf ihn ein.
Nun konnte Christine am Ende des Ganges zwei Männer entdecken die nicht zu
ihrer Hochzeitsgesellschaft gehörten.
Jeder von Ihnen hatte eine Waffe gezogen und sie zielten auf die Treppe die zur Orgel hinaufführte.
Sie traute ihren Augen kaum, als genau dort oben nun eine Gestalt erschien.
Langsam und mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht schmerzverzerrt betrat Erik die Treppe.
Das durfte er nicht. Es wäre sein sicherer Tod. Die Herren der Sûreté, als die
Christine die beiden Männer nun erkannte, hatten bestimmt nicht den Auftrag erhalten,
das Phantom der Oper lebend zu stellen. Dann begriff sie, dass Erik genau damit rechnete.
Nein, das durfte nicht sein. Jetzt wo sie endlich wieder vereint waren.
Es war nur noch ein kleines Stück.
Mit schnellen Schritten stürmte sie an einem der Inspektoren vorbei und stieß diesen dabei zur Seite.
Dies hatte zu folge dass seine schussbereite Waffe nicht länger auf Erik
zielte. Sie hastete die Stufen hinauf um sich schützend vor Erik zu stellen.
Dieser hatte in seinem Abstieg innegehalten und sah sie ungläubig an. Und doch erkannte sie in seinen
Augen Resignation. Er hatte sein Leben aufgegeben und es war ihm egal ob er nun hier starb oder ob er seinem Leben
später an diesem Tag selbst ein Ende setzte.
Diese Erkenntnis erschreckte sie. Nachdem sie sich einen Überblick über die neue
Situation verschafft hatte und sich sicher sein konnte dass niemand mehr auf
Erik zielte drehte sie sich zu ihm herum. Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände
und zwang ihn ihr in die Augen zu sehen.
"Christine? ich?wollte.." stammelte er entschuldigend, nicht im Stande in ihrer unmittelbaren Nähe
und durch ihre Berührung auch nur einen vernünftigen Satz zu formulieren. Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen.
"Schscht!"
Eindringlich sah sie ihm in die Augen, diese sturmgrauen Tiefen an die sie
sich so gut erinnerte, und sagte: "Wag es nicht, auch nur daran zu denken!"
Er verstand.
Ohne sich zu wehren ließ er zu, dass sie ihn bei der Hand nahm und die Stufen hinab führte.
Eine innere Stimme sagte ihr dass sie ihn schnellstens hier herausbringen musste. Ganz
gleich was mit ihr geschah. Denn alles würde besser sein, als das Leben dass
sie in den letzten Wochen geführt hatte. Voller Zweifel und innerer Zerrissenheit.
Die Inspektoren waren inzwischen langsam näher gekommen und Christine blieb in einiger Entfernung
am Fuß der Treppe stehen.
Noch immer schirmte sie Erik mit ihrem eigenen Körper ab.
Die Entschlossenheit ihn ihrem Blick schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen,
denn die beiden Männer wichen zurück.
"Lassen sie sie gehen!"
Das war Raouls Stimme und Christine drehte ihren Kopf kurz in seine Richtung.
Seine Enttäuschung schlug ihr entgegen wie eine Welle und doch erkannte sie in seinem Blick auch große Sorge um sie.
Nun stand ihnen der Weg offen und doch war dieses Stück des Weges das Gefährlichste.
Denn wäre sie mit Erik erst durch das Eingangsportal nach draußen gelangt
wären sie praktisch ungeschützt auf dem Präsentierteller.
Sie mussten so schnell wie möglich eine der Kutschen erreichen.
"Wir müssen uns auf dem letzten Stück, die Treppen hinunter zu den Kutschen ,
ein wenig beeilen. Denkst du du wirst das schaffen?" flüsterte sie Erik über ihre Schulter zu. Er versuchte
sich keine Gedanken über das zu machen was Christine hier tat, zumindest vorerst nicht, und nickte nur knapp.
Was kümmerte es ihn schon wenn ihn eine Kugel in den Rücken traf. Wenigstens
durfte er dann sein Leben in ihrer direkten Nähe aushauchen.
Gäbe es eine schönere Möglichkeit zu sterben.
Sich so drehend, dass sie immer noch vor ihm Stand, stieß sie die Tür des Eingangsportal auf und schob in hinaus.
Sie formte ein lautloses: "Es tut mir so unendlich leid, Raoul." mit den
Lippen in dessen Richtung, dann trat auch sie hinaus in das dichte Schneetreiben und schloss die Tür hinter sich.
Sofort nachdem das Schloss eingerastet war rannten sie los.
Der Untergrund unter dem Schnee war glatt und mehr als einmal drohte sie zu
stürzen, doch sie fing sich immer noch rechtzeitig ab.
Ihre Schleppe und ihr Schleier wehten hinter ihr her und verschmolzen mit dem weißen Schnee.
Erik lief eine Länge vor ihr und sie erreichten die Kutschen bevor sich die
Tür zur Kirche wieder öffnete.
Das Schneetreiben war nun so dicht, dass die Inspektoren unmöglich treffsicher
zielen konnten und Christine dankte Gott für diesen Umstand.
Mit einem ungeduldigen Kopfnicken wies sie Erik an in die erstbeste Kutsche zu
steigen und keine Rücksicht darauf zu nehmen ihr beim Einsteigen zu helfen.
Doch dies ließ er sich nicht nehmen und stieg dann selbst hastig zu während er die Tür hinter sich schloss."
"Zur Oper!" lautete sein knapper Befehl an den Kutscher der keinen Widerspruch duldete.
Dieser gehorchte sofort und trieb die Pferde zur Eile an.
Christine erhob keinen Einspruch. Wenn nicht einmal der wütende Mob es
geschafft hatte in Eriks Behausung einzudringen, war diese immer noch der
sicherste Zufluchtsort für sie beide.
Vollkommen erschöpft und außer Atem sank er zurück in die dicken Felle die auf
den Sitzen ausgebreitet worden waren um die Kälte so gut es ging fernzuhalten.
Das dumpfe Pochen in seiner linken Schulter zeugte davon dass er stark blutete
und doch hatte er erkannt dass es sich nur um einen Streifschuss handelte.
Christine saß zu seiner Linken und sah ihn mit großen Augen an, wartete dass er sich ihr zuwenden würde.
Als er dies tat langen plötzlich ihre warmen Arme um seinen Hals und sie
schmiegte ihren Kopf in die Beuge seines Halses.
Ihre stürmische Umarmung ließ ihn nach Luft schnappen und nur langsam legte er die Arme ebenfalls um sie.
Er spürte ihre Tränen an seinem Hals, ihr Haar das weich auf seinen Händen ruhte.
Ihre Hochsteckfrisur hatte diese wilde Flucht nicht verkraftet und die meisten
Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr nun offen und glänzend über den Rücken.
"Ich werde dein schönes Kleid ruinieren, ma vie!" flüsterte er zärtlich in ihr Haar.
Sie löste sich ein Stück von ihm.
"Oh, Erik ? Dein Arm!"
Seinen Namen aus ihrem Mund zu hören jagte ihm einen wohligen Schauer durch den Körper.
Sie versuchte ein Stück seines Umhangs zu lüften um einen Blick auf seine
Verletzung werfen zu können. Doch er ließ es nicht zu und fing ihre Hand bestimmt ab.
"Es ist nichts Ernstes glaub mir!"
"Das hätte ich mir nie verzeihen können." Flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.
Dann wieder an ihn gewandt: "Tut es sehr weh?"
"Nein, jetzt nicht mehr!"
Sie schmiegte sich erneut an ihn und wußte dass er damit nicht nur seinen Arm gemeint hatte.
"Dann vergiss das Kleid und halt mich einfach nur fest, Erik!"
Ihre offene Zuneigung gab ihm den Mut ihr einen leichten Kuss aufs Haar zu hauchen.
Da war er wieder, ihr unvergleichlicher Duft, den er niemals in seinem Leben vergessen würde.
Eine Mischung aus Seife, Lavendel und der Ei-Cognac Mischung mit der sie ihr Haar wusch.
Eine ganze Weile saßen sie so schweigend da, versunken in die Nähe des jeweils Anderen
und Erik genoß das süße Gewicht ihres Körpers der so vertrauensvoll an ihn
lehnte. Christine hatte die Augen geschlossen und ihr Daumen zog sanfte Kreise auf dem Handrücken seiner rechten Hand.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie stundenlang so weiterfahren können,
so sehr genoss sie seine Nähe und dass sie ihn dermaßen überrumpelt hatte,
dass er all seine Distanziertheit vergessen zu haben schien.
Endlich fühlte sie sich wieder eins mit sich selbst und erkannte was ihr all die Zeit über gefehlt hatte.
Hätte Don Juan sie jemals so im Arm gehalten hätte Aminta ihn sicherlich niemals verlassen.