Sorry an alle, die lange auf eine Fortsetzung gewartet haben. Die Geschichte ist schon total lange fertig, aber über andere Projekte hab ich sie irgendwie total vernachlässigt und nicht ins Netz gestellt. Aber damit ist jetzt Schluss. Hier jetzt zur Entschädigung: Der letzte „Rest"… eigentlich ist es noch ganz schön viel. Würde mich über einige Reviews freuen ;-)

12. Schwestern

Ihre Augen glänzten wie zwei Sterne und ihr goldenes Haar umfloss ihr zartes weißes Gesicht. Sie lächelte, als Suriel die Augen aufschlug und für einen Moment erschien es der jungen Kriegerin, als sei alles gut und all das Grauen nur ein schlimmer Alptraum gewesen.

Doch dann spürte sie die Schwere und den Schmerz in ihrem Körper, das Reißen in ihren Muskeln und das Ziehen tief in ihrem Herzen. Und da wusste sie, dass alles wahr gewesen war. Kein Traum. Keine Lüge. Die triste und bittere Wahrheit.

„Ihr habt lange geschlafen, das Fest ist fast vorüber."

Suriel öffnete ihre Lippen, um zu sprechen, doch brachte sie keinen Ton heraus. Eowyn von Rohan reichte ihr einen Becher und sie trank, gierig, durstig… ihr Mund schien noch nie so ausgetrocknet gewesen zu sein, wie in diesem Augenblick.

„Was… warum seit Ihr hier… solltet Ihr nicht… feiern."

„Das habe ich bereits und das werde ich wieder tun, doch zuerst werde ich euch einige Kleider heraus suchen. Dann werdet Ihr mich begleiten, Suriel, als Frau. Nur diese eine Nacht. Lasst die Schlacht hinter euch."

Suriel lächelte gequält. Wusste sie wovon sie sprach? Sie hatte nicht all das Blu gesehen, nicht die schreie der Sterbenden gehört, sie hatte nicht in der Schlacht die letzten Menschen verloren, die ihr noch etwas bedeuteten.

„Ich kann nicht."

„Bitte." Die junge Frau schien Suriel plötzlich trauriger als je zu vor und ihre Bitte verzweifelter, als Suriel es je von einer so hohen Herrin erwartet hatte.

Zaghaft nickte sie.

Gequält stand sie auf, um sich in feine Kleider zu hüllen, ein dünner dunkelgrüner Wollstoff mit leichter ebenso dunkler Stickerei, und auf ein Fest zu gehen, das sie nicht feiern wollte. Es gab nichts zu feiern. Für andere mochte dieses ein Sieg sein, für sie nicht.

Sie tanzten, sie lachten, sie tranken. Nur eine unter ihnen schien unbeeindruckt von all dem. Wie ein Geist wandelte sie durch die Reihen, wehrte alle höflichen Gesten alle Anzüglichkeiten mit einem Blick aus ihren traurigen Augen ab. Suriel gehörte nicht hierher.

Gedankenverloren beobachtete sie Eowyn, die mal hier mal dort ein höfliches Wort mit einem der Krieger wechselte. Eowyn, die geschmeidig durch die Halle glitt, so als würden ihre Füße den Boden nicht berühren.

Dann erblickte sie jene drei seltsamen Gestalten, die ihr schon einmal auf den Wiesen von Rohan begegnet waren. Der Zwerg und der Elb tranken gemeinsam mit Eomer. Ein seltsamer Anblick, der sie sonst belustigt hätte. Doch nicht heute. Der Mensch war in ein Gespräch mit Gandalf vertieft. Gandalf. „Verflucht sollst du sein, Sturmkrähe", dachte Suriel. Eine Aufgabe, eine Aufgabe… hatte er danach gefragt, ob sie eine Aufgabe haben wollte. Er hatte sie in eine Rolle gedrängt, die sie nicht haben wollte. Sie wollte nicht die Kriegerinnen anführen. Sie wollte nicht leben… nicht so.

„Hast du eine Ahnung, wie schwer es für mich ist…" dachte Suriel und plötzlich fiel es ihr schwer die Tränen zurück zu halten.

„Nein, das habe ich nicht", eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter, „und ich habe auch nicht geahnt, dass es wirklich so weit kommen würde. Viele haben ihr Leben verloren, zu viele… und eines Tages wird Saruman dafür büßen… dein Herz ist so schwer…"

Suriel drehte sich nicht um, sie wusste auch so, wer hinter ihr stand. Gandalf, der Überbringer schlechter Nachrichten.

„Doch sieh, Suriel, du bist nicht die Einzige die viel verlor. Viele die hier sind, verloren in diesem Krieg ihre Familie und viele werden sie noch verlieren… und sieh die beiden kleinen Männer dort hinten an, sie sind Hobbits, Halblinge, nie für den Krieg geboren und doch mussten sie bereits mehr erleben, als alle Hobbits vor ihnen. Sie sahen einen Freund sterben und zwei weitere verloren sie auf dem langen Weg ins Dunkel…" Gandalf verstummte plötzlich. Die zwei Halblinge von denen er gesprochen hatte tanzten, sangen, tranken.

„Wie können sie das… wie können sie lachen, wenn es wirklich so ist wie du sagst?"

Gandalf lachte auf. „Das ist ihre Gabe… eine ganz besondere. Sie bewahren sich immer ein offenes und lichtes Herz, egal wie dunkel die Zeiten sind. Wir alle können viel von ihnen lernen. Noch einmal bitte ich dich: Verzweifle nicht, Tochter der Winde. Dein Weg liegt noch vor dir… Minas Tirith."

Die letzten beiden Worte hatte Gandalf so leise dahin gehaucht, dass Suriel sie kaum verstand.

„Was meint Ihr damit?"

Stille. Die Hand löste sich von ihrer Schulter.

„Gandalf?"

Doch als Suriel sich umdrehte, war der Zauberer bereits wieder gegangen.

Noch verwirrter als zuvor blieb Suriel zurück. Ihr blick wanderte durch die Halle, doch Gandalf entdeckte sie nicht mehr. Eowyn stand bei jenem Mann, den sie einst auf den Weiten Rohans getroffen hatte. Ihre Augen leuchteten und ihre Hände zitterten fast unmerklich, als sie dem Mann einen Becher mit süßem Wein reichte. Suriel kannte diesen Blick, auch sie hatte einmal einen Mann auf diese Art angesehen, doch das war lange her.

Traurig verließ die die goldene Halle. Sie hatte hier nichts verloren. Nicht als Krieger, nicht als Frau. Sie war ein Zwischenwesen, das nirgends mehr hin gehörte. Sie war ein Nichts.

Was geschah dann, Großmutter? War sie dann immer so traurig?" „Nein, Liebes, nicht immer… aber es dauerte eine lange Zeit, bis sie ihr Lächeln zurück gewann und zuvor war noch eine große Schlacht zu schlagen." „Die Pennelor-Felder", hauchte das kleine Mädchen aufgeregt. „Ja… doch es dauerte. Gandalf brach überhastet mit einem der Hobbits auf, dann hörten wir lange Zeit nichts, mehrer Tage, die Suriel vorkamen wie die Ewigkeit. Die ganze Stadt schien zu warten, doch keiner wusste so genau worauf. Und dann eines Tages wurde die Glocke geläutet, die Feuer waren entzündet worden und Gondor rief Rohan zur Hilfe. Und erneut nahm Suriel Rüstung und Schwert und erneut zog sie in ein Heerlager. Und tatsächlich kam der Moment in dem Suriel ihren Teil in der großen Geschichte erfüllte…"

Suriel starrte Eowyn an. Noch nie hatte sie die junge Frau so aufgelöst gesehen. „Er reitet einfach… davon… und… es ist so dunkel, Suriel, es ist so dunkel auf diesen Pfaden."

„Wovon sprecht ihr, Herrin?"

„Herr Aragorn, er… er verließ uns und ging durch die Pfade der Toten… er…" Ihre Stimme brach und sie barg ihr Gesicht in ihren Händen.

Suriel hatte von den Pfaden der Toten gehört, es waren finstere Wege, von denen nie ein Mensch zurückgekehrt war.

„Er bedeutet Euch sehr viel, nicht wahr?" Suriel legte das Schwert aus den Händen, das sie zuvor sorgfältig mit Stroh abgerieben hatte, so dass die Klinge im Sonnenlicht glänzte. In der Ferne übte sich der junge Hobbit im Schwertkampf.

Eowyn antwortete nicht, doch in ihren Augen konnte Suriel die Wahrheit lesen.

„Wenn sie mich wenigstens mit in die Schlacht reiten lassen würden, wenn… doch Eomer würde es nie erlauben, nicht einer Frau…" Gedankenverloren starrte Eowyn in den blauen Himmel. Federleichte weiße Wölkchen zogen vorrüber. Die Sonne schien sanft und warm, doch konnte sie dir Herzen der beiden jungen Frauen nicht wärmen, die dort oben an der Klippe saßen.

„Aber Ihr habt eine Aufgabe… hier."

Eowyn drehte sich mit einem Ruck um und funkelte Suriel böse an. „Ich will nicht hier warten müssen, während alle die ich liebe in finsteren Schluchten oder auf toten Feldern sterben, ich will nicht alleine zurück bleiben, ich will…"

Und plötzlich begriff Suriel. Eowyn war mehr als ihre Herrin, in ihr brannte das gleiche Feuer und der gleiche Schmerz, den Suriel so oft erfahren hatte. Sie war ihre Schwester, die Seelenverwandte nach der Suriel lange Zeit gesucht hatte.

„Dann reitet in die Schlacht. Reitet mit mir und kämpft an meiner Seite, als meine Schwester, als eine der letzten Kriegerinnen von Rohan."

Suriel stand auf und ergriff Eowyns Hand. „Reitet mit mir in die Schlacht, Herrin." Zum ersten Mal seit dem Vorabend der großen Schlacht von Helms Klamm verspürte Suriel wie neue Kraft und neuer Mut durch sie hindurch floss. Das war ihre Aufgabe. Minas Tirith.

Eowyn starrte sie an. „Wie?" fragte sie leise, „sie würden mich doch sofort erkennen…"

Ein Lächeln breitete sich auf Suriels Gesicht aus. „Nein… nein Herrin, das werden sie nicht. Wartet einen Augenblick."

Langsam ging Suriel zu der Stelle, wo sie ihr Gepäck abgelegt hatte. In einem braunen Ledersack war es, seit Helms Klamm trug sie es mit sich, frisch gereinigt und poliert. Vorsichtig zog sie das Leder Beiseite.

Eowyn war näher getreten. „Was habt ihr dort."

Suriel nahm die Rüstung aus dem Sack, es war die Rüstung eines Rohirrim. Vorsichtig strich sie mit einem Finger über das weiche Leder und das glänzende Metall. Dann drückte sie die Rüstung in Eowyns Hände, um anschließend den Helm aus ihrem Beutel zu ziehen. Er hatte einige Dellen, doch das ließ sich in Schlachten, wie denen von Helms Klamm nicht vermeiden. Es tat weh Rüstung und Helm zu betrachten.

„Woher habt Ihr dies, Suriel? Ist… ich meine… habt ihr sie… gestohlen?"

Suriel sah nicht zu Eowyn auf. „Die Rüstung gehört … ich meine gehörte einer Freundin. Sie… sie braucht sie nicht mehr.", dann blickte sie zu Eowyn auf. Suriels Herz war schwer und sie war sich nicht sicher, ob das, was sie tat, wirklich richtig war. „Aber ich denke, dass Morwen sehr stolz wäre, würdet Ihr ihre Rüstung tragen. Sie müsste Euch genau passen."

Eowyns Finger schlossen sich fester, um die Rüstung. „Danke", hauchte sie mit leisem Zweifel in der Stimme, „danke…"

Surianna hüpfte aufgeregt auf und ab. „Sie hat ihr eine Rüstung gegeben… und einen Helm… und…", dann hielt sie Inne und starrte ihre Großmutter an, „aber… aber… dann… nur deshalb konnte Eowyn den großen, bösen, hässlichen Matschgul besiegen." Die alte Frau musste lachen. „Nazgul, Surianna, nicht Matschgul… aber du hast Recht. Das war ihre Aufgabe, ihr Teil in der großen Geschichte." „Ohhh", hauchte Surianna und starrte ihre Großmutter dann mit großen Augen an. „Was, Surianna?" „Wie ging es weiter?" Aufgeregt kletterte Surianna wieder auf ihren Schoß. „Sie ritten sehr lange, mein Kind. Und sehr weit. Pause machten sie selten. Aber von einer will ich dir erzählen… bevor wir zu der großen Schlacht kommen."

Es war Abend geworden, als sie sich endlich aus den Satteln gleiten ließen. Eowyn stand als erste auf dem Boden und hob den kleinen Halbling aus dem Sattel, den sie mit sich genommen hatte. Suriel verstand nicht Recht warum. hatte Gandalf nicht gesagt, sie seien nicht geschaffen für den Krieg? Aber vielleicht war es, weil sein Freund fort war. Surial wusste, wie es war, wenn alle Freunde einen dorthin verließen, wohin man nicht folgen konnte. Ein schwer zu ertragender Gedanke. Und vielleicht war es richtig, dass der Halbling nicht aufgab und mit ihnen ritt, statt still zu verzweifeln.

Langsam ließ sich Suriel aus dem Sattel gleiten. Es war ein angenehmes Gefühl endlich wieder Bode unter den Füßen zu spüren, das weiche Graß unter den Sohlen der Stiefel. Sie hatten etwas abseits gehalten, dort wo die Männer sie nicht sehen konnten. Dort wo Theoden und Eomer nicht hinsahen.

Suriel warf eine Decke auf den Boden und ließ sich darauf fallen. Eowyn und der Halbling saßen schon auf der ihren. Müdigkeit zeichnete ihre Gesichter. Doch der Halbling lächelte… glücklich. Vielleicht war es das, was Gandalf meinte: Sie ließen sich nicht ihren Mut nehmen. Suriel lächelte. Vielleicht hatten diese kleinen Geschöpfe eine größere Stärke, als all die Männer hier, als all diejenigen, die sie um Köpfe überragten.

Eowyn hatte wie Suriel den Helm noch nicht abgenommen, sie warteten bis das Essen ausgeteilt war, dann endlich rissen sie ihn sich vom Gesicht, froh wieder frei atmen zu können. Sie würden nicht lange rasten, ein paar Stunden vielleicht. Sie hatten noch eine längere Strecke vor sich und zur Mittagszeit wollten sie Minas Tirith erreichen, immer noch voller Hoffnung der großen Finsternis entgehen zu können.

Sie aßen schweigend. Die meiste Zeit hatten sie nicht gesprochen, es war nicht nötig gewesen. Ein Blick und die andere verstand. Suriel wollte nicht reden. Sie fürchtete sich. Wie vor jeder Schlacht, war da der Schatten. Angst und kaltes Grauen, das die Seele beschlich und dem Herz den Platz zum schlagen nahm. Angst, die jeden Zentimeter des Körpers ausfüllte. Aber dieses Mal, war es schlimmer als jemals zuvor. Es war die Angst vor dem Sterben. Sie sehnte sich so danach Frieden zu finden, sehnte sich danach all ihren Freunden zu folgen, ihrer Liebe zu folgen. Doch jetzt… Es war der menschliche Instinkt, die Angst des Körpers, die den Geist übermannte. Sie fürchtete den Tod und ersehnte ihn doch.

Eowyn begann mit dem Hobbit zu reden, leise und bedächtig. Doch Suriel hörte nicht zu. Eomer ritt vorüber und Eowyn bedeckte ihr Gesicht. Doch Suriel sah nicht hin. Sie versuchte nicht einmal zu schlafen. Es hatte keinen Sinn. Schon bald würde sie viel Ruhe haben. Sie wusste es. Woher sie die Gewissheit nahm, konnte sie nicht sagen. Sie spürte den Wind auf ihrem Gesicht. So unendlich traurig. Und sie wusste es.

Sie ritten, als der Morgen dämmerte. Sie ritten als des Licht des Tages am höchsten stand. Sie ritten, als graue Schatten das Licht zu bedecken begann. Sie kamen als das Licht, das die Finsternis zerschlug.

Die Reiter von Rohan erreichten Minas Tirith, als die Verzweiflung am größten war.

13. Die Schlacht von Minas Tirith

Die schwarzen Massen waberten ihnen entgegen. Suriel presste sich fest in den Sattel. Eowyn ritt neben ihr. Theodred hatte gesprochen. Sie würden reiten. Sie würden kämpfen – jetzt.

„Wir werden uns dort unten verlieren, Eowyn. Reitet und haltet nicht an. Schwingt Euer Schwert und schlagt sie nieder. Gebt ihnen keine Chance euch zu nahe zu kommen. Gebt ihnen keine Chance Euch direkt anzugreifen." Suriel raunte ihr möglichst leise diese Worte zu.

„Erfüllt Euer Schicksal, so wie ich meines."

Dann fiel sie genauso wie Eowyn in das Geschrei ein. „TOD! TOOOOOOOOD!"

Die Pferde schnaubten Nervös. Und dann gaben sie ihnen dir Sporen, die Speere fest in der Hand, das Herz nervöse zitternd. Der Boden erbebte unter ihren Hufen, die Luft hallte wieder von ihren Kampfschreien.

„TOOOOOOOD!"

Mit dem Knall eines Donners stießen sie in das Heer der Orks, ritten sie nieder, schlugen sie nieder, traten sie nieder…

In der Ferne glänzten die weißen Mauern von Minas Tirith, das Blau des Flusses. In der Ferne glühten die Feuer des Todes.

Suriel sah nicht wohin sie schlug, sah nicht, wen sie traf. Sie achtete nicht auf das Blut, das sie besudelte, nicht auf den Schmerz ihrer Glieder, das Ächzen ihrer Knochen bei jedem Schlag, den sie austeilte.

Sie war müde, obwohl die Schlacht gerade erst begonnen hatte. Es war der lange Ritt und die Müdigkeit ihrer Seele, die ihre Bewegungen langsamer werden ließen. Sie hatte nicht mehr die Kraft noch eine Schlacht zu kämpfen, noch einmal dem Tod ins Auge zu sehen.

Suriel sah nicht, wie er anlegte und zielte, sah den Pfeil nicht, der durch die Luft zischte. Sie spürte ihn erst, als er in ihre Lunge eindrang und ihr die Luft zum Atmen nahm.

Mühsam klammerte sie sich an die Zügel ihres Pferdes, schlug wie im Traum einen weiteren Ork nieder. Blut lief an ihr herab. Ihr eigenes.

Der zweite Pfeil traf sie etwas tiefer. Suriel wollte sich an ihrem Pferd festklammern, doch ihr Arm gehorchte ihr nicht mehr, ihre Finger lösten sich von den Lederriemen. Das Pferd raste weiter, trat einen weiteren Ork nieder und verlor dabei seine Reiterin.

Ein Schwerthieb riss ihre rechte Seite auf, als Suriel dem Boden entgegen glitt.

Der Aufprall war nicht hart, nicht schmerzhaft. Das weiche, helle Gras umfing sie, als hätte nie eine Schlacht auf ihm getobt. Grün und voller Leben.

Keine Kraft zu atmen.

Graue Wolken glitten über den Himmel. Voran getrieben vom Wind.

Keine Kraft aufzustehen.

Grashalme kitzelten an ihrer Wange. Verweht vom Wind.

Keine Kraft hier zu bleiben.

Das Blut trocknete auf ihrer Rüstung. Angehaucht vom Wind.

Keine Kraft zu leben.

Ihre Augen schlossen sich. Sanft berührt vom Wind.

Keine Kraft.

Dar Kampf tobte über sie hinweg. Völlig unbewegt vom Wind.

14. Die Häuser der Heilung

Die Stimmen waren leise, kaum mehr als ein Flüstern drang an ihr Ohr. Wo war sie?

„Wer ist das Mädchen?"

„Ich weiß es nicht Galion. Man fand sie schwer verletzt auf dem Schlachtfeld. Ich glaube die Herrin Eowyn kennt sie… aber… es ist eine merkwürdige Geschichte. Ein Mädchen in der Rüstung der Rohirrim, halb tot, das Schwert in der Hand… sie ist seit dem Tag nicht erwacht."

„Vermögt Ihr sie nicht heilen, Herr?"

„Ihre Verletzungen sind zu schwer, wie die vieler Menschen. Ich hoffe, dass die Elben ihnen helfen können. Elrond wird bald hier eintreffen."

„Ich verstehe."

Dann war es still.

Alles war hell. Viel zu hell.

Kein Schmerz, es war, als wäre sie auf den Wolken zur Ruhe gelegt worden. War so der Tod?

Vorsichtig sog sie die Luft ein. Es roch nach Blumen, vermischt mit einem leichten Hauch von Kräutern. Sie atmete noch. Also musste sie leben. Aber wo war sie?

„Könnt ihr mich hören, Herrin?"

Die Stimme war freundlich. Gerne hätte sie geantwortet, aber ihre Lippen konnte sie nicht auseinander bewegen.

„Haltet noch ein wenig durch, bald wird Hilfe hier sein."

Hilfe? Sie war tatsächlich noch am Leben. Aber es fühlte sich anders an. So leicht, so frei. Hatten sie gesiegt, war die Finsternis vertrieben, der schwarze Schrecken, der über sie dahin geglitten war?

Wo war sie?

Der Mensch war noch immer da, sie konnte seine Anwesenheit spüren. Aber es wurde schwächer, verblasste.

Erneut verlor Suriel das Bewusstsein. Aber die Erinnerung an die Stimme blieb.

Schatten glitten vorüber. Hände griffen nach ihrer Kehle und ein stechender Schmerz breitete sich in ihr aus. Leise stöhnte sie auf.

Schreie hallten in ihren Ohren wieder, sie waren nicht menschlich, Kreaturen, grausam, kalt… Schatten, die an ihr vorüber glitten. Leise atmete sie ein.

Flügelschlagen, Wind, der durch ihr Haar brauste, kein freundlicher Wind. Stickig, modrig und voll von Verwesung. Schatten, die vorüber flogen…

Wo war sie? Wo? Wo?

Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter und eine Schale wurde an ihre Lippen gesetzt. „Trinkt", sagte eine heisere Frauenstimme.

Wieder wollte sie etwas sagen, doch ihre Lippen wollten ihr nicht gehorchen.

Flüssigkeit benetzte ihre Lippen, kühl und würzig, drang in ihren Mund. Mühsam schluckte sie es hinunter. Ihre Kehle brannte.

Schmerz. Alles war voller Schmerz. Und ihr Verstand gehorchte nicht, gehorchte genauso wenig wie ihr Körper.

„So ist gut", sagte die Stimme und begann sich von ihr entfernen.

Sterbe ich? Ist es vorbei?

Nebel umfing sie, dunkel, aber weich. Zärtlich. Nebel nahm den Schmerz.

Wo war sie? Sie kannte diesen Nebel, war schon einmal hier, aber damals hatte sie sich gefürchtet. Damals hatte sie jemanden gesucht am Ufer des Flusses… jemand den sie liebte, jemand…

Die Gestalt kam langsam durch den Nebel auf sie zu. Wer? Konnte es sein?

Ein leichter Windhauch ließ sein dunkles Haar aufwirbeln und der lange dunkelgrüne Umhang begann zu wehen.

Er lächelte sanft. „Was tust du hier, Suriel?"

„Ich… ich weiß nicht… Bist du es wirklich?" Tränen liefen über ihr Gesicht, über ihre lächelnden Lippen.

„Geh wieder, Tochter der Winde." Seine Augen blickten sie traurig an.

„Willst du mich wieder fort schicken? Theodred Geliebter?"

„Du musst gehen, Suriel. Weißt du nicht, dass dies die Pforte zum Land der Toten ist?"

„Land der Toten? So bin ich endlich dort angekommen, endlich bin ich am Ende der Reise… endlich bei dir."

Er strich ihr sanft durch das Gesicht.

„Du musst gehen. Das ist noch nicht das Ende, das Leben wartet auf dich Suriel. Die Valar haben dich beschützt und sie werden dir dein Glück schenken."

„Ich bin glücklich… hier."

Er lächelte traurig.

„Jemand wartet auf dich Suriel, auch wenn du es noch nicht weißt. Jemand der dich glücklicher machen wird, als ich es konnte. Suche nicht nach mir. Warte nicht auf das Ende. Es wird kommen und dann werde ich da sein… aber bis dahin: Lebe."

„Nein!"

Er entfernte sich langsam von ihr, wandte den Blick nicht ab, ging nicht. Er verblasste einfach, verschwamm mit dem grauen Nebel.

„Nein, Theodred. Geh nicht!

„Ich liebe dich, Tochter der Winde!"

Sein Gesicht war nur noch ein Abbild des Nebels.

„NEIN! THEODRED! GEH NICHT!"

Der Schmerz zerriss ihr fast die Brust, als er endgültig verschwand und mit ihm der Nebel.

Suriel schrie auf. Dann versuchte sie nach Luft zu schnappen, doch der Schmerz hinderte sie am Atmen. Jemand hielt sie fest, sie versuchte sich zu wehren, doch die Hände drückten sie noch fester in die Kissen.

Ein Reißen in ihrer Brust.

Suriel wollte die Augen öffnen, wollte sehen, was geschah, doch nicht einmal dazu hatte sie die Kraft.

Stimmen drangen zu ihr, wie vom Wind aus großer Ferne herbei geweht.

„Sie hat Schmerzen, Mam." Dunkel erinnerte sich Suriel schon einmal seine Stimme gehört zu haben.

„Ja, Herr. Das sehe ich. Kann es aber nicht ändern. Sie haben gesagt die Verbände müssen runter… wer weiß warum… meine Schuld ist es nicht, wenn sie verblutet… bei den Valar… ich kann nichts dafür…"

Wieder ein Blitz der durch ihren Körper schoss und eine Spur des Feuers in ihrer Brust zurück ließ.

„Armes Ding…", die Frau mit der kratzig rauen Stimme, „ganz verkrustet die Verbände… so was sollte nicht sein."

Ich will hier weg. Lasst mich fort. Bitte.

Suriel flehte den Nebel herbei. Flehte den Wind an ihre Gedanken wieder an einen anderen Ort zu tragen.

Aber der Schmerz blieb.

Und dann rief jemand ihren Namen. Nicht von dort draußen, dort wo der Schmerz war. Rief ihren Namen direkt in ihrem Herzen. Worte in jener fremden Sprache, die so liebte.

„Suriel."

Licht. Es schien direkt aus ihr selbst zu kommen. Licht und Wind. Wind der sie nach oben trug, sie tanzen ließ. Ein Lachen in ihrer Brust, wo zuvor der Schmerz saß. Und Worte in der fremden Sprache, die noch mehr Wind beschwor. Wind, der die Wunden aus ihrer Brust blies. Licht. Licht und Wind.

„Suriel."

Langsam öffnete sie die Augen. Der Raum, in dem sie sich befand, lag in Dämmerlicht. Der Schein eines Feuers flackerte und zeichnete Schatten an die hellen Wände und auf ihre weißen Bettlaken. Sie erwartete, die Frau zu sehen und den Menschen, den sie hatte sprechen hören. Doch sie waren nicht da.

Vorsichtig drehte sie den Kopf und sah sich im Raum um. Niemand war dort, außer einer einzigen Gestalt am Fenster. Sie war in eine lange, weit ausfallende Robe gekleidet, langes dunkles Haar fiel in leichten Wellen seinen Rücken herab. Langsam wandte er sich zu ihr und sah sie aus seinen unergründlich tiefen Augen an. Augen in denen sich die Weisheit von Jahrhunderten spiegelten. Seine Gesichtszüge verrieten kein Alter, aber Suriel wusste intuitiv, dass er schon länger auf dieser Erde weilte, als sie denken konnte. Und auch seinen Namen kannte sie, obwohl er noch nicht ein Wort gesprochen hatte.

„Elrond, Herr von Bruchtal?" Ihre Stimme war nur ein heisernes Kratzen.

Er lächelte flüchtig, doch sagte er kein Wort.

Suriel wusste, dass er es war, der sie geheilt hatte. Dass er es war, der ihren Namen gerufen hatte. Er hatte auch seinen Namen genannt, doch war ihr dies erst bewusst geworden, als sie ihn vor sich sah.

Was sollte sie sagen? Was sagte man einem vom hohen Volk? Wie sprach man mit Ihnen?

„Ihr habt…?"

„Euch geheilt. Auf Bitten Lady Eowyns und des Königs von Gondor."

„König… Eowyn…" Sie lebte. Sie lebte! Zum ersten Mal verspürte sie so etwas, wie Erleichterung und Freude. Theodred hatte es gesagt. Sie sollte leben!

„Ruht euch etwas aus. Schon wenn die Sonne aufgeht, werdet ihr Euch besser fühlen, auch wenn Ihr noch etwas brauchen werdet, bis ihr wieder ganz bei Kräften seid." Mit diesen Worten ging Elrond, Herr von Bruchtal zur Tür.

„Herr… ich…", so angesprochen hielt er noch einmal Inne und drehte sich zu Suriel herum.

„Herr… ich müsste euch… euch danken… aber…"

„Ihr müsst mir nichts erklären. Ich habe euer Herz wohl gesehen und euren Schmerz… Manche Wunden brauchen lange, um zu heilen… und manche heilen nie."

Und damit verließ Elrond sie. Suriel blieb mit dem Gefühl zurück, zu wissen, was er am Ende noch hatte sagen wollen: so wie der meinige.

15. Am Ende das Licht ?

Langsam streifte sie sich das dünne Leinenkleid über. Sie war allein. Seit der Elb letzte Nacht bei ihr gewesen war, war niemand mehr zu ihr gekommen. Sie hatte geschlafen, aber nur kurz. Mit den ersten Sonnenstrahlen hatte sie sich von ihrem Lager erhoben. Auf einem Stuhl lagen frische Kleider, so als warteten sie schon lange auf eine Besitzerin.

Suriel hatte sich mit kaltem Wasser gewaschen und einen Becher von dem würzigen Getränk geleert, während die Sonne des Morgens die Wände ihres Zimmers in leuchtendes Rot tauchten.

Das Fenster wirkte verlassen ohne die Gestalt, die die letzte Nacht dort gestanden hatte.

Suriel schnürte sich das Kleid. Wie lange hatte sie keines mehr getragen? Seit dem großen Fest in Edoras. Wie hatte sie es gehasst… Dann trat sie ans Fenster, um einen Blick hinaus zu werfen.

Weit ging ihr Blick über die grünen Ebenen, hinunter bis zum Fluss. Dahinter noch grau, doch bereits von einem Hauch Grün durchzogen, das Land, das einst den Feinden gehörte.

Einst?

Sie hatten den Krieg gewonnen. Die Gewissheit ergriff sie, als der erste Hauch des Windes ihr Gesicht streichelte. Er war warm, wie der Sommer.

Es war vorbei. Das Morden. Das Blut der Gefallenen versickerte langsam in der Erde und überall schien neues Leben zu entstehen.

Suriel sah an sich herab. Das Kleid, das sie trug, war weiß, wie die Unschuld. Doch das war sie nicht. Sie hatte die Schuld des Zornes und des Hasses auf sich geladen. Sie hatte sich den Tod gewünscht und das Leben verflucht, statt dafür zu danken, dass sie das besaß, was so viele verloren hatten. Sie war schuldig geworden an ihren Freunden, weil sie sich in ihrem Schmerz gebadet hatte, statt neue Hoffnung zu finden, wie sie es sich von ihr gewünscht hatten. Sie hatte Theoden verraten indem sie sich ihren Tod wünschte und ihm damit seine Ruhe nahm. Sie hatte das Leben gehasst und sich selbst. Und nun wusste sie, dass es falsch war. Ein Moment am Rande des Todes war nötig gewesen, doch langsam begann sie es zu begreifen. Ihr Leben war noch nicht zu Ende. Die Finsternis würde weichen. Sie würde lernen.

Es war dort draußen, so hell, dass es sie fast blendete. So schön. Wann hatte sie zum letzten Mal darauf geachtet? Auf das Grün der Wiesen, das klare Blau des Himmels, die Sonne… Wann hatte sie zum letzten Mal das Rauschen des Windes in den Blättern gehört? Wann hatte sie es zum letzten Mal geliebt?

„Geht es Euch besser, Herrin", fragte plötzlich eine bekannte Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um. In der Tür stand ein junger Mann, gekleidet in die leichten Kleider Gondors. Sie hatten die Farbe von Blättern, kurz bevor der Herbst ihnen eine neue Farbe verlieh. Sein dunkelblondes langes Haar war zu einem Zopf zusammen gebunden, seine Gesichtszüge waren kantig und zugleich ausgesprochen sanft. Vielleicht lag es an seinen Augen, die die gleiche Farbe hatten, wie die Kleider die er trug. Es war, als würden sie die menschliche Seele in sich aufnehmen und sanft mit ihrem ewigen Grün bedecken. Suriel kannte ihn nicht.

„Wer seid Ihr?" fragte sie leise und mit einem Hauch von Zweifel in der Stimme.

„Ich bitte Euch erschreckt nicht, Herrin, wenn ich euch einfach anspreche. Ihr kennt mich nicht, ich weiß. Auch wenn ich Euch schon zu kennen glaube, so oft, wie ich euch in Eurem Schlaf beobachtete. Mein Name ist Galion." Seine Stimme war wie das leise Rauschen des Windes im Gras.

„Ich kenne Euer Antlitz nicht, doch kenne ich Eure Stimme, Herr. Ich hörte Euch sprechen."

Galion lächelte und ein Hauch von Röte überflog seine Wangen. Dann blickte er wieder ernst.

„Ich… Suriel…ich werde dann wieder gehen. Ihr braucht sicher Ruhe…" er wollte sich zum gehen wenden, doch Suriel hielt ihn zurück.

„Wollt ihr mir nicht wenigstens sagen, wer ihr seid. Jetzt wo ich schon Euren Namen kenne?" Und zum ersten Mal seit langem lächelte Suriel wieder ein ehrliches Lächeln.

Er näherte sich ihr langsam, um sie nicht zu erschrecken. Er hatte gewusst, dass er sie hier finden würde. Wie jeden Tag zur Mittagszeit saß sie auf der großen Terrasse und blickte die Mauer herab auf die Stadt. Der Wind wirbelte ihr langes Haar auf.

Ein halbes Jahr war vergangen, seit ihr Leid geendet hatte. Ein halbes Jahr in dem er sie an jedem einzelnen Tag gesehen hatte, an dem er jeden Tag ihre Hand gehalten hatten. Und an manchem Tag ihre zarten Lippen geküsst hatte.

Ihre Wunden begannen zu heilen, wie all jene, die das Dunkel in der Welt aufgerissen hatte. Von Tag zu Tag wuchs ihre Schönheit, ihr Lächeln vertrieb die Schatten, die so lange ihr schönes Gesicht verborgen hatten.

Und mit jedem Tag liebte er sie mehr. Mit jedem Tag wuchs sein Verlangen nach ihr.

Langsam legte er eine Hand auf ihre Schulter. „So alleine?"

Lachend drehte sie sich zu ihm um. „Allein, Galion? Nein, so eben stehst du neben mir. Wie könnte ich da allein sein."

Er strich ihr blondes Haar aus ihrem Nacken und küsste ihr dann sanft den Hals.

Sie lachte leise.

Dann setzte er sich zu ihr auf die Steinbegrenzung der Terrasse. „Kann ich mit dir sprechen?"

„Du siehst sehr ernst aus. Ist etwas geschehen."

„Ich muss fort."

„Fort? Aber wohin."

„Nach Ithilien."

Sie starrte ihn einen Augenblick an, bevor sie wieder sprach. „Aber du kommst doch bald zurück?"

„Nein, Suriel. Man hat mich zum Herrn der Wälder ernannt. Ich bin jetzt für den Schutz der Ländereien Gondors verantwortlich. Für die Sicherung der Straßen. Für die Vertreibung der letzten Orks. Ich werde ein Haus in Ithilien beziehen."

Er sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Dann endet es also schon so bald", sagte sie leise.

„Nicht wenn du nicht willst, Suriel. Komm mit mir, werde die Herrin der Wälder. Lege endlich alle Schatten ab und komm mit mir."

„Nach Ithilien?"

Er streichelte ihre Wange, fuhr mit seiner Hand ihren Hals herab.

„Ich war glücklich hier, Galion. Ich… lass mir Zeit für die Entscheidung… es… ich weiß nicht, ob ich schon wieder fort will. Dort… in Ithilien sind die Schatten noch so nah. Ich fürchte sie. Ich fürchte die Dunkelheit, Galion…." Er fühlte, wie ihr Körper leicht erzitterte und es schmerzte ihn ihre Angst zu sehen.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann Suriel. Ich muss aufbrechen, schon in zwei Tagen. Komm mit mir."

Sie starrte hinunter auf die Stadt. „So schnell schon? So bald…"

„Suriel, bitte komm mit mir. Du hast nichts zu fürchten."

„Wieder wird getötet werden, wieder wird… Galion…" Er sah die winzige Träne, die ihre Wange hinab lief und ergriff ihre Hand.

„Fürchte nicht um mich, Tochter der Winde. Fürchte dich nicht und komm mit mir."

Schweigend starrte sie auf die Stadt hinunter, Galion spürte, wie sie mit sich selbst rang. Feine weiße Wölkchen zogen über den hellblauen Himmel und warfen winzige graue Schatten auf die weiße Stadt. An manchen Stellen waren die Mauern noch immer nicht wieder errichte worden und in der Ferne sah man die Berge hinter denen die Schatten lagen. Galion verfolgte Suriels Blick und verstand plötzlich ihre Furcht. Es war die Finsternis, die hinter diesen Bergen lauerte. Suriel spürte solche Dinge stärker, als viele andere Menschen. Vielleicht konnte Eowyn ihre Gefühle verstehen. Suriel und Eowyn waren Schwester im Geiste. Doch auch Eowyn würde nach Ithilien gehen, zusammen mit Faramir. Was fürchtete Suriel noch? Sie würde Galion nicht verlieren, wie den anderen Mann, den sie einst geliebt hatte. Und er würde sie nicht so verletzen, wie der Mann, den ihr Vater für sie ausgewählt hatte. Suriel hatte ihm alles anvertraut, was geschehen was. Was fürchtete sie noch?

„Ich kann nicht", sagte sie leise.

„Suriel… bitte…", flehend sah er sie an.

„Verzeih mir Sohn des Glanzes, verzeih mir Galion…" Er sah, dass sie weinte.

„Ist das dein letztes Wort?" Er umfasste ihre Hand noch fester.

Sie nickte, sagte aber kein Wort mehr.

Galion ließ ihre Hand los und wandte sich von ihr ab. Er verstand nicht, er sah nicht. Sie verließ ihn. So einfach.

Er stand auf ohne sie noch einmal anzusehen. „ Dann werden wir wohl beide einsam sein… Lebewohl." Dann ging er.

Galion verließ die Stadt noch am nächsten Tag gemeinsam mit einem Tross Reiter. Er sah Suriel nicht, die weinend auf der großen Terrasse stand und ihm nach sah. Solange bis er im Dunst verschwand, der den Fluss umgab.

16. Die Herrin der Wälder

Leise saß er da, sprach zunächst kein Wort. Trauer zeichneten seine Gesichtszüge. Anfangs hatte er die Schuld bei ihr gesucht, doch nun. Nun zweifelte er. Er hatte sie verlassen, als sie ihn am meisten brauchte.

Er hatte eine Aufgabe erhalten, den Schutz der Wälder. Doch war es das wert? Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches empfunden, wie in dem Augenblick, als er Suriel zum ersten Mal erblickte. Und nie war der Schmerz größer, als in dem Augenblick, als er sie verließ.

Es war nicht so, dass sie ihm nicht hatte folgen wollen, das hatte er inzwischen begriffen. Sie konnte es nicht… noch nicht. Er war starrsinnig gewesen und das obwohl er ihr Schicksal kannte. Er hatte zuviel verlangt und alles zerstört.

Traurig schloss Galion die Augen, nur um noch einmal ihr Gesicht vor sich zu sehen.

Einst träumt ich von ihr

Die im Schatten lag

So schön schien sie mir

So traurig die Klag´.

Einst eilt ich zu ihr

Die in Finsternis starb

So trostlos schien es mir

Der im Stillen warb

Einst sprach ich mit ihr

Die zum Leben erwacht

So kühl schien sie mir

Als bliebe es Nacht

Nun warte ich hier

Ihr Antlitz zu sehen

So grausam schien es mir

Ohne sie fort zu gehen.

„So allein, mein Herr?" Erschrocken drehte sich Galion um. Seine Hände begannen zu zittern, als er die Gestalt erblickte. In dem weißen Kleid, das blonde Haar über die Schultern herabfallend glich sie fast einer Elbe.

„Suriel", flüsterte er leise.

„Lange Zeit ist vergangen, seit du gegangen bist, Galion. Und du hattest Recht, als du sagtest wir würden beide einsam sein. Du hattest so Recht… verzeih mir, dass ich so zögerte."

„Suriel."

Langsam trat sie näher.

„Wenn du mich noch immer an deiner Seite willst, Herr der Wälder, Hüter und Bewahrer der Länder Gondors, so will ich nicht mehr von dir weichen."

Er stand auf und starrte sie an. „Ich… dass du gekommen bist…"

Zögernd griff sie seine Hand. „Verzeih mir, dass ich so töricht war, so dumm…"

„Nein, Suriel… nein…"

Suriel biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick. „Wie hätte ich auch erwarten können, dass…"

Er berührte sie zärtlich an der Wange. „So meinte ich das nicht, Suriel. Ich meinte nur, dass du dich für nichts entschuldigen musst. Ich hätte begreifen müssen, dass du nach allem noch etwas Zeit brauchst. Ich weiß, dass du einst den Mann verloren hast, den du liebtest. Ich weiß, was ein Mann dir antat… nein Suriel, ich hätte dich nicht einfach so verlassen dürfen."

Tränen traten Suriel in die Augen. „Können wir es nicht einfach vergessen? Die Zeit des Schmerzes, die Zeit der Trennung?"

Sanft küsste er ihre Lippen. „Alles, was du willst." Vorsichtig zog er sie in seinen Arm. „Willst du nun die Herrin der Wälder werden, Suriel."

Sie sah ihn an und lächelte, seine dunkelgrünen Augen funkelten, und es war als blickte sie in einen regennassen tiefen Wald. „Alles, was du willst", sagte sie leise und erwiderte seinen Kuss.

Die Zweige peitschten ihr in das Gesicht, doch hielt sie das Pferd dazu an noch schneller zu laufen. Die Bäume des Waldes glitten an ihr vorbei. Erde spritze vom Boden auf. Laut jubelnd brach sie aus dem Wald hervor auf die Lichtung. Dann zügelte sie ihr Pferd, um langsam in den Kreis der Versammelten zu reiten.

„Seid gegrüßt, Herrin der Wälder." Sie war die Frau jenes Mannes, der die Wälder und Wiesen Ithiliens und Gondors überwachte, jenes Mannes, der zu den engsten Vertrauten König Aragorns gehörte.

„So seid auch ihr gegrüßt, Faramir, Herr. Wo ist Eowyn? Und wo mein Gemahl?"

Faramir trat Suriel entgegen und half ihr aus dem Sattel. „Eowyn fühlte sich heute nicht wohl, deshalb ist sie nicht mit uns in die Wälder geritten. Sie war sehr müde, aber es ist nichts Ernstes. Und Galion ist den Elbenherren entgegen geritten, um sie willkommen zu heißen. Euer Ritt war wie immer tollkühn, Herrin."

Suriel lachte und streichelte ihrem Pferd den Hals. „Nicht tollkühn, nur schnell. Es ist der Wind, der uns antreibt." Dann sprang sie aus dem Sattel löste das Zaumzeug und nahm den Sattel vom Rücken des Pferdes. „Lauf", flüsterte sie dem Pferd zu und dieses Sprang mit einigen wilden Sätzen davon.

„Ihr lasst Euer Pferd einfach laufen?"

„Es kommt zurück, mein Herr. Es ist nicht mein Diener, sondern mein Freund." Lächelnd trat sie gemeinsam mit Faramir in den Kreis der Männer, die auf der Wiese warteten.

„Galion wird sicher gleich hier sein."

„Er ist bereits da", Suriel deutete auf die andere Seite der Lichtung. Galion betrat mit einer Gruppe des hohen Volkes die Wiese. Suriel starrte sie wie gebannt an. Oft hatte sie den Herren Legolas und seine Begleiter bereits gesehen. Jene Elben, die Ithiliens Wälder zum Wachsen brachten, aber immer wieder war ihr Anblick so schön, so erhaben, dass es Suriel für einen Augenblick den Atem nahm. Ihre Bewegungen so zart, ihre Füße, die den Boden fast nicht berührten, ihre Körper, die wie Federn zu schweben schienen.

Suriel liebte die Wälder, sie liebte jene Augenblicke in denen das Licht durch das dichte Blattwerk brach. Oft war sie alleine in den Wäldern, ohne Furcht vor dem Bösen, das in manchen Winkeln noch immer lauerte. Sie war ein Gast der Elben, die sie mit Geschenken bedachten. Und die Elben kamen in Suriels Haus, sangen und tanzten so voll Schönheit, dass es ein menschliches Herz schmerzte.

Suriel war die Herrin der Wälder, die Dienerin von Königen. Suriel war die Tochter der Winde, die Geliebte des Blätterrauschens, des plätschernden Wassers. Sie war ein Teil dessen geworden, was selbst einst von Wunden zerrissen war. Tief in den Wäldern Ithiliens hatte sie Frieden gefunden. Frieden und Liebe.

17. Heimkehr

Der Tross näherte sich langsam jenem Hügel auf dessen Spitze die Hauptstadt Rohans errichtet war. Das Gold der Halle Meduseld glänzte im Sonnenlicht. Eng pressten sich die kleinen Hütten und etwas größeren Holzhäuser an den Hang.

Viel Zeit war vergangen, seit Suriel zum letzten Mal die Wiesen Rohans betreten hatte. Es waren viele Tage vergangen, seit die Dunkelheit verlassen hatte. Die Wälder Ithiliens waren ihr Zuhause geworden, in Eowyns Haus war sie genauso willkommen, wie in den Hallen des Königs von Gondor. Sie war eine Freundin der Elben, die sich in Ithilien nieder gelassen hatten. Viel hatte sich verändert, seit sie zum letzten Mal die Wiesen Rohans durchquert hatte.

Einst waren dunkle Erinnerungen mit Edoras verbunden gewesen, doch die Schatten waren von ihr gewichen und das Licht war Teil ihrer Seele geworden. Sie trauerte nicht mehr um das, was sie verloren hatte, sondern erwartete jeden neuen Tag mit größter Zuversicht.

Sie ritt im Tross der Herrin Eowyn, ihrer engsten Vertrauen, ihrer Seelenschwester. Auch sie kehrte zum ersten Mal seit langem zurück in ihre alte Heimat. Eomers junge Frau hatte ein Kind zur Welt gebracht und dies sollte nun gefeiert werden. Selbst der König von Gondor und seine Elbengemahlin waren aufgebrochen, um dem Kind ihre Ehre zu erweisen.

Surion trieb sein kleines Ponny an. „Snella, Snella… Mama!" quietschte er aufgeregt und winkte Suriel zu. „Tomm, Mama. Snella. Papa tucken!" Suriel musste lächeln über ihren kleinen Sohn, der es nicht erwarten konnte seinem Vater endlich zu zeigen, dass er nun ganz alleine reiten konnte.

Galion war nicht an Suriels Seite, er war mit Aragorn geritten, seinem Freund und Herrn. Doch in Edoras würde er auf sie warten. Suriel war glücklich.

Die Wachen auf den Zäunen bliesen ihre Trompeten, als sich die Reiter dem Tor näherte. Es stand weit offen und kündete von dem Frieden, der sich über das Land gelegt hatte. Bunte Fahnen wehten im Wind, als Zeichen des Festes und der Freude. Nie hatte Suriel Rohan in solchem Schmuck gesehen.

Der König von Rohan erwartete seine Gäste.

Suriel sprach nicht viel und obwohl das Fest bereits im vollen Gange war, tanzte sie nicht. Galion stand an der Seite Aragorns und Faramirs. Suriel wusste, dass sie über die Erfolge sprachen, die sie in Ithilien erreicht hatten, dass sie über die Wälder sprachen und das Grün, das dank der Elben zurückgekehrt war.

Suriels Auge ruhte auf einer Gestalt, die in einer Ecke zusammen gesunken saß. Sie verschmolz fast mit den Schatten, war unerreicht vom Licht der vielen Fackeln, die die goldene Halle erhellten.

„Wer ist dieser Mann?" fragte sie leise Eowyn, die neben sie getreten war, um ihr einen Becher Wein zu reichen.

Suriel wandte den Blick nicht ab von der Gestalt, die dort in einfache Leinenkleider gehüllt saß und eine wollene Decke eng um die Schultern zog. Das graue Haar stand zu allen Seiten, sein Bart war unfrisiert und seine Augen blickten wirr.

„Ein alter Mann, dem Eomer eine letzte Gnade erwies. Er soll fern mit unserer Familie verwandt sein und besaß einmal viel Land und eine glückliche Familie. Aber er hat alles verloren… er erhält hier ein Gnadenbrot." Eown nippte an ihrem Pokal. „Warum fragst du, Suriel?"

Suriel lächelte gequält. So jämmerlich. So trostlos. Und all ihren Hass hatte sie darauf verschwendet?

„Kennst du ihn?"

„Er ähnelt jemandem, den ich kannte. Einst!"

Am anderen Ende der Halle kämpfte Surion gerade tapfer gegen einen Ork. Solange bis das Kind mit der grünen Maske kreischend zu seiner Mutter rannte und Surion triumphierend das Schwert in die Höhe riss.

„Eowyn, würdest du kurz nach Surion schauen… ich würde gerne mit diesem Mann sprechen. Es ist mir sehr wichtig."

Eowyn stellte keine Frage und ließ Suriel allein. Langsam durchschritt die junge Frau die Halle. Suriel stand Eowyn an Schönheit fast in Nichts nach. Ihr Haar war wieder lang gewachsen und viel ihr in einem dunklen Goldton bis zu den Hüften herab. An diesem Abend hatte sie einige helle Blumen darin befestigt, die bei jeder ihrer Bewegungen leicht wogten. Viele Männer drehten sich zu ihr herum, als sie in ihrem Kleid aus feinem weißen Elbengewebe auf den Mann zutrat.

Verwirrt blickte er zu ihr auf, dann verneigte er erschrocken den Kopf. „Herrin", flüsterte er mit rauer Stimme.

Suriel beugte sich vorsichtig zu ihm herab und berührte ihn an der Schulter. „Seht mich an, mein Herr."

Ruckartig hob er den Kopf und starrte sie an. In seinen Augen stand Angst. „Kein Herr… ein Niemand… Niemand…", stotterte er, „nicht würdig, Herrin."

„So tragt Ihr keinen Namen?"

„Nicht mehr."

„Man sagte mir, ihr hättet alles verloren?"

Er antwortete nicht, seine Lippen zitterten bloß.

„All euren Besitz, Herr?"

„Kein Herr, holde Frau. Mein Besitz war mir nichts wert… nein… er war viel wert… bis ich… nein… ein Niemand… habe alles selbst zerstört. Meinen Besitz vermochte ich nicht zu halten… doch nicht das Wertvollste… war nicht das Wertvollste, mein Besitz." Tränen traten dem Mann in die Augen.

Suriel verspürte den Kloß in ihrem Hals, der sie fast am Sprechen hinderte und doch konnte sie nicht aufhören zu fragen. „So… was war das Wertvollste?"

Der Mann verbarg sein Gesicht unter der Decke. „Mein Kind… meine Tochter", seine Worte wurden von leisem Stöhnen unterbrochen, „sie war noch so jung… müsste euer Alter sein, aber… sie ist tot, Herrin. Wegen meiner Torheit… meiner Dummheit." Der Mann blickte wieder zu ihr auf, seine Augen waren rot und angeschwollen. „Ihr seid so schön… meine Tochter war auch schön… ihr Name… ihr Name war Niniel."

Es war ein Gefühl, als würde jemand ein Schwert durch ihre Brust stoßen. Für einen Moment nahm es ihr die Luft zum Atmen, ihr Herz schien auszusetzen und sie wich vor ihm zurück.

Doch der Mann ergriff ihre Hand. „Trauriger Name… trauriges Schicksal", stöhnte er hilflos.

Suriels Lippen zitterten, als sie zum sprechen ansetzte. Konnte sie jetzt noch hassen? Nach dem Glück, das sie erfahren hatte und dem Unglück, das diesem Mann widerfuhr?

„Wie habt ihr euren Besitz verloren und wie eure Tochter?" fragte sie so kühl, wie es ihr möglich war.

„Meinen Besitz verlor ich an den Mann, den meine Tochter heiraten sollte. Ich hatte ihn bereits verpfändet, bevor… er verlangte meine Tochter als Preis, dafür, dass ich auf meinem Land bleiben konnte. Und ich willigte ein. Dumm wie ich war. Er war ein Scheusal und ich wusste es. Er bedrängte das arme Mädchen, doch ich blieb kühl. Und am nächsten Morgen war sie verschwunden… in der Wildnis… im Krieg… allein. Man verjagte mich von meinem Land… und nun… zu spät… es ist zu spät."

Für all dies hatte Suriel ihn einst gehasst, wegen all dem hatte sie sich einst gefürchtet. Doch davon war nichts geblieben. Alles, was sie nun empfand war Mitleid mit diesem alten Mann.

„Ich will euch eine Geschichte erzählen, Herr. Eine traurige. Von einem Mädchen, deren Namen ich Euch nennen will, denn es ist meine Geschichte. Die Geschichte von Suriel."

„Suriel… sanfter Name…" Der Alte starrte sie weiter an. Sein ganzer Körper bebte vor Anstrengung und Ehrfurcht. Lange hatte keine so hohe Frau mehr mit ihr gesprochen. Eine aus dem Gefolge von Königen.

„Hört mir zu. Einst verließ dieses Mädchen im Streit ihren Vater und floh in die Wälder…"

„Wie Niniel…"

„Es war dunkel und kalt und der Tod schien nahezu gewiss. Doch nichts erschien dem Mädchen finsterer, als die Rückkehr zu ihrem Vater. Sie floh und traf auf eine Horde Orks, ein Pfeil zerriss ihre Brust. Doch sie wurde gefunden, von Kriegrinnen, die in Rohans Heer ritten. Frauen in Männerkleidung. Und als sie genesen war, wurde sie eine von ihnen. Sie kämpfte, war tapfer. Doch dann wurde sie wieder verwundet und es war der Sohn des Königs. Theodred erkannte, dass sie eine Frau war. Er gewährte ihr weiter im Heer zu reiten, wenn sie als Frau mit ihm auf einem Fest tanzen würde. Sie tat dies. Dieses Mädchen, Herr, war von keinem hohen Stand, doch sie gewann das Herz des Königs, seine Liebe und verlor ihn an den Tod. Verzweiflung und Trauer bestimmten ihr Leben. Und noch weniger war sie gewillt zu ihrem Vater zurück zu kehren. Sie suchte den Tod. Doch in Helms Klamm fanden den nur ihre Freunde. Dieses Mädchen war es, Herr, die Eowyn die Rüstung gab, in der sie gegen den Hexenkönig ritt. Dieses Mädchen ritt an ihrer Seite, bis es von Pfeilen getroffen zu Boden sank. Nur die Heilkunst der Elben rettete ihr Leben…"

„Elben…", hauchte der Mann voller Ehrfurcht.

„Von diesem Tag änderte sich ihr Leben, Herr. Sie fand einen Mann, den sie liebt, ein enger Vertrauter des Königs von Gondor, sein Botschafter. Sie ging im Haus des Königs von Ithilien ein und aus, war in Gondor willkommen. Ihr Sohn ist der Weggefährte des künftigen Königs von Gondor, Aragorns Sohn. Sie hatte alles, was man sich wünschen kann, alles außer einem Vater…"

„Es…", der Alte wusste nicht, was er sagen wollte, „es… ich wünschte meine Tochter könnte so reden. Ich wünschte es wäre Niniel, die so spräche und nicht ihr Herrin Suriel, verzeiht wenn ich dies sage… aber… ich verlor meine Tochter."

Suriel spürte wie ihr langsam die Kontrolle entglitt. Tränen traten ihr in die Augen und begannen ihr Gesicht hinunter zu laufen.

„Seht ihr den Jungen dort hinter… er wünscht sich sehr einen Großvater. Er ist mein Sohn, Surion." Suriel deutete auf den lachenden Jungen am anderen Ende der Halle, der gerade seinen Vater zu einem Schwertduell aufzufordern schien.

„Ein schönes Kind… doch…", der Mann verstummte traurig.

„Ihr kennt noch nicht die ganze Geschichte, Herr. Als jenes Mädchen ihr Heim verließ, änderte es seinen Namen. Die, die ihr Suriel nennt, trug einst den Namen Niniel. Meine Mutter war eine Numenor, doch mein Vater war ein Mann der Riddermark. Aus einer Linie, die sich auf einen der alten Könige zurückführen lässt…"

Das Gesicht des Mannes wurde bleich, hilflos streckte er ihr seine zitternden Hände entgegen. Doch er sagte nichts.

„Deor", flüsterte Suriel leise, „erkennst du deine Tochter nicht?" Vorsichtig strich sie ihm eine seiner grauen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann lächelte sie und küsste ihn auf die Stirn.

„Niniel, Niniel", immer wieder flüsterte er ihren Namen, immer wieder berührte er sie vorsichtig, als wollte er sich versichern, dass sie wirklich vor ihm saß. „Niniel, Niniel, verzeih mir, bitte verzeih mir."

„Es gibt nichts mehr zu verzeihen, Vater. Wir beide hatten eine schwere Prüfung, wir haben sie beide bestanden. Und nun komm… du sollst meine Familie kennen lernen." Vorsichtig zog sie ihn an den Schultern hoch. Sie war noch immer kräftig, wenn auch nicht mehr so, wie in den Tagen, als sie sich täglich im Schwertkampf übte. „Stütz dich auf mich", sagte Suriel, als sie merkte, dass er zu schwanken begann. Dann führte sie ihn zu Galion.

„Ich… ich kann dort nicht hin, Niniel. König Eomer, König Faramir und der große König von Gondor…"

„… werden sich freuen meinen Vater kennen zu lernen."

Deor zitterte, als Suriel völlig unbefangen in den Kreis der Großen von Gondor und Rohan trat.

„Suriel, wen bringst du mit dir, Gefährtin. Schwester, wer ist dieser alte Mann, der in meines Bruders Halle weilt?" Eowyn war die erste, die sprach.

„Wer ist dies, Suriel? So in Lumpen und so hilflos…" Galion war an sie heran getreten und legte ihr zärtlich die Hand auf die Schulter.

Suriel sah zu ihm auf, dann blickte sie in die Runde. „Einst nannte man mich nicht Suriel. Einst war ich Niniel, die Tränenmaid. Einst lebte ich an der Grenze zu Rohan, allein mit meinem Vater, den ich im Streit verließ. Doch das ist vergessen. Einst verlor ich einen Vater, doch heute fand ich ihn wieder. Dies, meine Herren, ist Deor, mein Vater."

Galion legte Suriel ihren Mantel um die Schulter. „Kommst du, Suriel? Die Pferde sind beladen, wir können nun aufbrechen."

„Mein Vater?"

„Er ist in dicke Decken gehüllt und sitzt bereits im Sattel. Er glüht förmlich vor Verlangen dein neues Zuhause kenne zu lernen."

Suriel lächelte sanft. „Gebt ihr mir noch einen Augenblick, bitte. Ich… ich möchte mich noch von jemandem verabschieden."

„Von ihm?"

Sie nickte ohne ihn anzusehen. Was würde Galion nur von ihr denken? Nach all der Zeit…

„Wir warten hier auf dich Suriel. Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst, Liebes. Ich werde Surion so lange beschäftigen, ja?"

Dankbar griff sie seine Hand und drückte sie kurz aber sehr fest. Dann ging sie zu jenem Hügel, vor dem sie vor langer Zeit schon einmal gestanden hatte.

„Meine Tränen werden wieder trocknen,

irgendwann!

Mein Herz wird wieder schlagen,

irgendwann!

Meine Stimme wird wieder lachen,

irgendwann…

Ich hatte Recht, als ich dir dies sagte, Theodred. Doch mit allem anderen lag ich falsch, ich werde dir nicht auf deinem Weg folgen. Und du… alles, was du mir in der Nacht sagtest, als ich fast starb. Alles, Theodred, alles ist eingetroffen. Ich würde dir gerne noch etwas sagen, sagen, dass ich dich nicht vergessen habe, aber mir fehlen die Worte… ich bin nicht mehr traurig Theodred… ich weiß, dass wir uns eines Tages wieder sehen in den Hallen der Krieger. Alle werden dort versammelt sein. Bis dahin: Lebewohl. Lebewohl König!"

Suriel berührte mit ihrer Handinnenfläche den Boden. „Lebewohl", flüsterte sie zum letzten Mal, dann drehte sie Theodreds Grab den Rücken zu und kehrte zu ihren Begleitern zurück.

Dies Surianna, war die Geschichte. Suriel lebte noch lange Jahre in Ithilien und war sehr glücklich… unendlich glücklich…" Surianna kuschelte sich enger an ihre Großmutter. „Es war deine Geschichte, oder?" nuschelte sie leise im Halbschlaf. „Ja, meine Kleine. Das war meine Geschichte. Und eines Tages wirst du sie vielleicht deinen Enkelkindern erzählen, so wie ich dir in dieser Nacht. Und nun Schlaf, meine Kleine." „Gute Nacht", wisperte Surianna und Suriel hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht." Es dauerte nicht lange, bis die Atemzüge des Kindes leicht und regelmäßig gingen, dann nahm Suriel es hoch und trug es in sein Bett. „Lebewohl, meine Kleine", flüsterte sie, während sie die weiche Wolldecke über das Kind breitete, „Lebewohl."

18. Epilog

Suremerel liefen die Tränen herab, als die ihrer Mutter die Hand drückte. Galion stand schweigend daneben, als Suriel sich von ihren Kindern verabschiedete.

„Surianna schläft… sie wird von all dem nichts bemerken", Suriel wandte sich ihrem Sohn Surion und ihrer Schwiegertochter zu. Ihr Sohn nickte stumm, dann zog er seine Mutter an sich und umarmte sie, drückte dann seinem Vater Galion zum letzten Mal die Hand.

Es war eine stille, traurige Szene.

Suriel wickelte sich in ihren Mantel und ergriff Galion bei der Hand. Schweigend gingen sie zur Tür.

Suremerel schluchzte auf und warf sich ihren Eltern vor die Füße. Verzweifelt und unter Tränen klammerte sie sich an ihre Mutter.

„Müsst ihr gehen? Müsst ihr jetzt schon fort?"

Suremerel war schon Mitte dreißig, doch wie alle der Numenor wirkte sie jünger. Sie war noch nicht verheiratet und hatte die meiste Zeit an der Seite ihrer Mutter verbracht, obwohl sie ihr in ihrer Art kaum ähnelte. Suriel hatte auch in ihrem Alter noch das unbeständige und wilde Verlangen nach Freiheit und ritt, so oft es ihre Kraft zuließ, durch die Wälder. Sie war voller Lebensmut und manchmal doch so unendlich traurig. Es gab Tage, da war sie von zu Hause geflohen, nicht für lange, aber sie brauchte die Einsamkeit und den Wind, der ihr durch das Haar strich, und das innere Feuer kühlte, die Erinnerungen an Grausamkeit und Mord auslöschte. In solchen Situationen ertrug sie nur Galion an ihrer Seite. Suremerel war anders, ruhig und ausgeglichen, weniger voll Tatendrang, häuslich, still, immer erfreut Gesellschaft um sich zu haben.

„Ich habe es dir vor langer Zeit erklärt", Suriel lächelte, „ich werde alt und spüre, wie mich meine Kräfte verlassen. Galion und ich werden gemeinsam gehen. Eines Tages wirst auch du von der Gabe der Numenor Gebrauch machen und selbst entscheiden, wann es zeit ist diese Welt zu verlassen… dann wirst du es vielleicht besser verstehen."

„Lasst mich nicht allein."

„Du bist nicht allein", Suriel beugte sich herab und küsste sie auf die Stirn, „lass mich ohne Last gehen, Suremerel, weine nicht mehr, denn das ertrage ich nicht."

Suremerel schluchzte auf.

„Versprich mir, dass du nicht mehr weinen wirst. Wir gehen glücklich und voll Liebe. Das ist alles, was zählt. Versprich, dass du dich nicht in der Trauer vergraben wirst."

Suremerel nickte traurig.

Suriel strich ihrer Tochter durchs Haar, es war das gleiche hellblonde Haar, das sie in ihrer Jugend gehabt hatte. „Steh auf", vorsichtig zog sie Suremerel hoch, „und nun leb wohl, meine Tochter."

Surion nahm seine jüngere Schwester in den Arm und wischte ihr mit einer zärtlichen Handbewegung die Tränen beiseite. „Ich werde stets bei dir sein, Schwester", flüsterte er leise und blickte seine Eltern an. Suriel sah eine Träne in seinen Augen blitzen.

Es schmerzte sie ihre Kinder so traurig zu sehen, aber so hatten sie wenigstens Zeit sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Sie würden es ertragen, eines Tages würden sie es sogar begreifen.

Galion legte seinen Arm um Suriel und sie lehnte sich bei ihm an. „Lebt wohl", sprach er mit einem Lächeln und hob noch einmal seinen Arm zum Gruß, dann verließen er und Suriel das Haus und schlossen die Tür hinter sich.

Kaum hatten sie sich von ihrem Heim entfernt, da brach Suriel in Tränen aus. Galion strich ihr durch das inzwischen fast weiße Haar in dem nur noch einige goldene Strähnen aufblitzten.

„Wir können noch zurück", flüsterte er sanft.

Suriel schüttelte den Kopf. „Du kannst gehen, Galion. Du hast noch die Kraft, aber ich nicht mehr. Ich bin nur eine halbe Numenor, meine Lebenszeit ist abgelaufen. Ich werde sterben, schon bald. Für mich gibt es keinen Weg mehr zurück."

Galion küsste ihre Stirn. „Dann lass uns gehen, Liebste."

„Du musst nicht mit mir kommen…" Mit Tränen in den Augen blickte Suriel zu ihm auf, aber er schüttelte bloß den Kopf.

„Du hast einmal gesagt, du könntest es nicht ertragen mich zu verlieren und würdest mir selbst in den Tod folgen… verlange du jetzt nicht von mir, dass ich darauf verzichte dich zu begleiten, Suriel."

Langsam schritten sie voran. Es war finster, doch nicht mehr lange und der Morgen würde anbrechen. Plötzlich blieb Suriel erneut stehen. „Glaubst du, sie werden… ich meine… wir verlassen unsere Kinder."

„Suriel, sie wissen es seit langem, dass dieser Tag kommen würde. Surion lebt sein eigenes Leben und auch Suremerel wird ihren eigenen Weg gehen. Aragorns Sohn wird sie an den Hof rufen, ich habe mit ihm gesprochen. Die Gesellschaft und die Stadt werden ihr gut tun."

Suriel nickte, sagte aber kein Wort.

„Hast du Angst, Liebste?"

Suriel biss sich auf die Lippe und nickte.

Galion zog seine Frau an sich und küsste sie. Seine Lippen waren weich und zärtlich und seine Nähe vertrieb die Angst in ihr.

Schweigend schritten sie voran.

Es war noch immer dunkel, als sie die Anhöhe erreicht hatten, doch in der Ferne konnte man den ersten Lichtstreifen des Morgens sehen. Von hier konnte man über die weiten Länder Ithiliens blicken. Wie sich im Morgengrauen, die Wälder zunächst rot, dann golden färbten. Ihre Wälder, ihre Heimat. Leise ließen sich Galion und Suriel ins Gras gleiten, schweigend saßen sie da und erwarteten das erste Licht des Tages. Oft hatten sie hier gesessen und die Wälder betrachtet, oft hatten sie hier dem Morgen entgegen gefiebert. Heute würden sie es zum letzten Mal tun.

Rot erhob sich die Sonne, eine leichte kühle Brise wehte über sie hinweg. Aber es war nicht mehr so kalt, dass sie fröstelten.

Suriel wurde ruhig. In sich spürte sie eine Stille, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gespürt hatte. Die Lasten der Jahre und die traurigen Erinnerungen fielen endlich von ihr ab. War es so? Der Moment vor dem Sterben?

Galion blickte sie aus seinen strahlenden Augen an, das Licht der Sonne spiegelte sich in seinen Tränen. „Ich liebe dich, Suriel, wie in dem Moment, als ich dich zum ersten Mal erblickte."

Suriel lächelte. Sie wusste er erwartete keine Antwort, ihr Lächeln war genug. „Leb wohl", flüsterte sie.

Galion berührte ihre Wange mit seiner Hand, dann zog er sie zu sich heran. Der Wind glitt sanft durch Suriels Haar, als sie Galion zum letzten Mal küsste. Es war als nehme dieser Lufthauch Abschied, als nehme er Abschied von seiner Tochter, der Tochter der Winde. Gemeinsam beschritten sie den letzten Pfad, gemeinsam sanken ihre Körper leblos in das weiche morgenfeuchte Gras. Und zum ersten Mal bedeutete der Tod keinen Schmerz für Suriel.

Leise und traurig glitt der Wind über den Hügel, vorsichtig strich er durchs Gras, sanft streichelte er ihre toten Gesichter. Leise wehte er davon. Leise sang er sein Trauerlied. Leise sagte er Lebewohl, leise flüsterte er ihren Namen: Suriel, Tochter der Winde.

Ende