- Kapitel 3 -
Scherben
Für Toireasa war das Betreten des Gleises 9 ¾ ein eher ängstlicher Moment. Links und rechts hielt sie sich, wie eine verängstigte Erstklässlerin, an ihren beiden Großmüttern fest. Hinter ihr gaben Großvater Samuel und Großvater Holt die Rückendeckung, während vor ihnen die McNamaras und Darkclouds durch die geheime Mauer schlenderten.
Nach ihnen war dann Toireasa an der Reihe und sie marschierte mit einem mulmigen Gefühl durch die Absperrung. Sie konnte nur hoffen…
…aber das war vergeblich.
Kaum durch die Absperrung hindurch sah sie, was sie so fürchtete – ihre Ex-Stiefeltern. Ihre Gesichter schienen wie aus Stein und sie fixierten Toireasa kalt. Beinahe wäre sie wieder durch die Absperrung zurückgewichen, aber ihre Großeltern kamen hindurch und so gestärkt wagte sie sich dann doch weiter. Hilfreich war auch, dass die Darkclouds und McNamaras sich zwischen Toireasa und den Davian hielten. Wenigstens beschränkten sich ihre Ex-Stiefeltern auf böse schauen, kein Wort fiel zwischen den Fronten.
„Oh Mist! Ich wusste es!", brach Winona die unangenehme Stille mit übertrieben frustrierter Stimme.
„Was?", lachte Tarsuinn angesichts ihres Tones. Tikki auf seiner Schulter tat es ihm nach.
„Es ist zum Heulen. Die ganzen Erstklässler sind größer als ich", beschwerte sich Winona daraufhin empört.
„Was weiterhin bedeutet, dass sie auch größer als wir zwei sind", erklärte Toireasa dem blinden Jungen.
„Fallen wir weniger auf beim Unsinn machen", nahm Tarsuinn es gelassen.
„Untersteh dich!", mischte sich Rica sofort ein und fügte an Toireasa und Winona gewandt hinzu. „Und ich denke, dass gilt für euch beide genauso."
Das wurde mit einem einstimmigen Nicken aller Erwachsenen bestätigt.
„Nicht mal den kleinsten…?", maulte Tarsuinn leise, woraufhin seine Schwester ihm irgendetwas ins Ohr flüsterte, was ihn begeistert kurz auflachen ließ. Die amüsierten Augen von Rica versprachen nichts Gutes.
„Zeit zum Abschied!", verkündete Großmutter Caitlin ein wenig traurig. „Der Express fährt bald. Die Herren könnten sich schon mal vielleicht etwas nützlich machen und schon mal das Gepäck verladen."
Ein wenig ähnelte Toireasa's Großmutter Professor McGonagall wenn sie so sprach und genau wie bei der Lehrerin gehorchten auch alle. Wie bekam man nur eine solche spezielle Aura?
Ihre Großväter halfen daraufhin Mr Darkcloud das Gepäck von Tarsuinn, Winona und ihr zu verladen, während die Frauen sich von ihren Kindern verabschiedeten. Aus dem Augenwinkel konnte Toireasa sehen, wie Tarsuinn sich weigerte einen kleinen Rucksack von seinem Rücken zu nehmen, als Mr Darkcloud ihn darum bat.
„Also", flüsterte Großmutter Caitlin. „Lass dich nicht unterkriegen, Toireasa und schreib recht oft. Lass dich nicht von deinen Brüdern provozieren und pass ein wenig auf deinen kleinen Freund da auf."
„Tarsuinn kann uns hören Großmutter", entgegnete Toireasa vorwurfsvoll.
„Na und? Filius meint er zieht Probleme an und ich denke dem wirst du zustimmen, oder? Er braucht Hilfe, genau wie du die seine und die von Winona brauchen wirst."
„Du machst dem Mädchen aber Mut", tadelte Großmutter Katrin und schob die deutlich kleinere Frau beiseite.
„Denk nicht immer nur an das Schlimmste", fuhr die sanfte Frau an Toireasa gewandt dann fort. „Die Zeit in Hogwarts sollte mit zur schönsten deines Lebens zählen. Lass sie dir nicht vermiesen. Versuch sie zu genießen. Der Ernst des Lebens kommt noch früh genug."
„Ja, Großmutter", versprach Toireasa und umarmte die große Frau. Danach tat sie das auch mit ihrer anderen Großmutter.
„Ich pass auf meine Freunde und mich auf", flüsterte Toireasa der deutlich kleineren Frau ins Ohr. Was ihr ein gemurmeltes – Gut – einbrachte.
Danach löste sie sich von ihrer Großmutter und schaute über den Bahnsteig. Ihre Großväter reichten gerade ihren Koffer – nicht mehr den besonders leichten, denn den hatte sie am Ende des letzten Schuljahres mit dem Express zurückgeschickt und ihre Stiefeltern hatten ihn einkassiert – in ein Zugabteil, aus dem sich mehrere hilfreiche Hände dem Gepäck entgegen streckten. Sie erkannte den weißblonden Schopf von Cassandra und die braunen Locken von Ian. Eindeutig das richtige Abteil, freute sie sich.
Tarsuinn drückte noch immer seine Schwester etwas unjungenhaft an sich. Wenigsten weinte er nicht. Man sah einfach wie gern sich die beiden hatten. Ein Gefühl, welches Toireasa inzwischen auch gut kannte. Tikki schien sich nicht entscheiden zu können auf welcher der vier Schultern sie sitzen sollte.
Winona hingegen versuchte gerade ärgerlich ihren Vater zu knuffen, der sie jedoch einfach am ausgestreckten Arm zappeln ließ. Nicht gerade mädchenhaft. Aber das hatte eh noch nie jemand Winona unterstellt.
Fast zwanghaft strich Toireasa's Blick auch über ihre Stiefeltern. Sie herzten gerade Aidan ab, dem das offensichtlich unangenehm war. Kein Wunder, wenn man die amüsierten Blicke einiger älterer und gleichaltriger Jungen bedachte.
Schnell schaute Toireasa woanders hin. Sie wollte sich nicht dabei erwischen lassen, sonst dachte man noch sie hätte Interesse an diesen Personen dort.
Doch dann war es auch schon soweit. Sie verabschiedete sich noch von ihren Großvätern – dabei steckte ihr Großvater Samuel noch diverse leere Wasser- und Farbbomben zu – und dann drückte sie auch noch Mr und Mrs Darkcloud, sowie Rica. Es erschien ihr richtig so. Sie hatten fast die gesamten Ferien miteinander verbracht und sie mochte die drei anderen Erwachsenen. Wobei man bei Tarsuinn's Schwester niemals wirklich sicher war, ob sie eine Erwachsene oder ein Kind war. Manchmal wirkte die junge Frau älter als selbst Toireasa's Großeltern und manchmal konnte man glauben, Rica wäre jünger als eine Fünfjährige.
Dann legten auch Winona und Tarsuinn, genau wie Toireasa zuvor, eine Umarmrunde ein, welche jedoch von einem lauten Pfeifen des Hogwarts-Express unterbrochen wurde und sie wurden in den Zug verfrachtet.
Sie winkten den Zurückbleibenden so lange zu, wie sie diese sehen konnten, dann machten sie sich auf den Weg zu ihrem Abteil nahe der Lok.
„Sind vorn nicht die Vertrauensschüler?", fragte Tarsuinn, als er die Richtung bemerkte.
„Ja – ganz in der Nähe", antwortete Toireasa. „Cassandra und Ian haben es besetzt."
„Aber dann können wir doch keine Slytherins ärgern", maulte der Junge.
„Und sie müssen uns in Ruhe lassen", sagte Toireasa ernst. „Wahrscheinlich war das der Sinn."
„Na gut", entgegnete Tarsuinn leichthin. „Haben sie halt noch etwas Schonfrist."
Toireasa schüttelte ein wenig verstört darüber den Kopf. Wollte er wirklich Ärger machen oder waren das nur Sprüche? Immerhin konnte er jetzt zaubern und konnte sich so effektiver wehren. Sie musste beobachten, ob ihm das nicht zu Kopf gestiegen war.
Als sie dann das Abteil erreichten, war erstmal ein großes Hallo angesagt. Alle freuten sich offensichtlich Tarsuinn wieder zu sehen und als sie dann erfuhren, dass dieser schon seine Prüfung hinter sich und bestanden hatte, wurde es kurzzeitig so laut, dass der neue Schulsprecher, ein furchtbar humorloser Kerl mit roten Haaren, vorbeikam und sie zur Ordnung rief. Er wurde gnadenlos ignoriert, auch wenn der Lärmpegel sich dann doch etwas senkte.
Natürlich wollten alle wissen was passiert war, doch der blinde Junge, blieb sehr vage in seiner Geschichte. Er erwähnte nur, dass er ohnmächtig geworden war und danach plötzlich zaubern konnte. Ein Glücksfall, nichts Besonderes. Auf die Prüfung ging er jedoch ein wenig näher ein, wahrscheinlich um von anderen Sachen abzulenken. Luna zumindest runzelte beständig die Stirn. Nachdem der Junge geendet hatte, tischten auch alle anderen ihre Feriengeschichten auf.
Ian war in Amerika gewesen und hatte dort einen kleines Essay über die Voodoopriester in New Orleans geschrieben, welches sogar im Tagespropheten abgedruckt worden war. Er zeigte den Ausschnitt herum und alle bestätigten ihm wie toll der Aufsatz war. Toireasa persönlich fand ihn nicht so prickelnd, fand es aber, angesichts des Stolzes des Jungen über diesen Beitrag, nicht für angezeigt, ihm das zu sagen. Mochte ja wirklich sein, dass der Redakteur den Aufsatz gut fand und nicht Ians Vater etwas nachgeholfen hatte.
Merton konnte nur von einer Reise nach Mallorca erzählen, da seine Eltern nicht reich und Muggel waren. Dafür schwärmte er für das Tauchen mit einer Flasche in der man Luft für mehr als eine Stunde speichern konnte. Toireasa verstand nicht, wie das gehen sollte, soviel Luft in eine kleine Flasche zu bekommen. Merton versuchte zwar es ihr zu erklären, erzählte etwas von flüssiger (!) Luft, aber das half ihr nicht wirklich.
Die weißblonde Cassandra hingegen hatte einen rein magischen Abenteuerurlaub hinter sich. Ihre Eltern hatten für drei Wochen Zimmer in einem Ghostcastle in Schottland gemietet. Eine der Hauptattraktionen dort war gewesen einen so genannten Todestrank zu trinken, mit dem man für eine halbe Stunde als Geist herumfliegen konnte. Das konnte man jedoch nur einmal im Leben machen, ansonsten war dieses vorbei, und so hatte das Mädchen lange Zeit ihre Eltern darum anbetteln müssen. Im Nachhinein, so meinte Cassandra, war es eine recht aufregende Erfahrung und für ein paar Minuten recht lustig gewesen, aber nach fünfzehn Minuten wäre ihr so kalt geworden, dass sie von einer Existenz als Geist einfach nur abraten konnte.
Den interessantesten und verrücktesten Urlaub hatte jedoch anscheinend Luna gehabt, wobei man ihr jedoch jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Anscheinend hatte sie in Island mit ihrem Vater versucht, das große Tor zum Nordpol zu finden (eine warme Schnellpassage), waren dabei auf einem Geysir geritten, hatten vor einem Eskimoschamanen flüchten müssen, der Luna von einem bösen Geist besessen glaubte (Warum nur?) und hatten danach noch eine Erholungskreuzfahrt mit dem Zwergenkapitän Netilus auf dessen Naumo, das bekannteste Goldunterwasserschiff des Atlantiks. Wie Mr Lovegood diese Reise hatte bestellen und vorallem bezahlten können, blieb Toireasa schleierhaft. Es hieß selbst der Zaubereiminister musste fünf Jahre im Voraus buchen, doch laut Luna war dies eher eine spontane Reise gewesen.
Der Einzige, der überhaupt nicht über seine Ferien sprechen wollte, war Alec. Erst nach intensivem Drängen kam heraus, dass seine Eltern nicht sonderlich erfreut über seine schulischen Leistungen und einen Brief von Professor Snape gewesen waren und deshalb das Ferienvergnügen deutlich eingeschränkt hatten. Nur zwei Wochen Sprachurlaub in Frankreich waren für Alec herausgesprungen, doch dort hatte er – zu seinem Entsetzen – wirklich lernen müssen und erst am Abend war ein wenig Spaß erlaubt gewesen.
So verging die Zeit wie im Fluge. Draußen wurde es immer dunkler je näher sie ihrem Ziel kamen. Regen prasselte gegen die Scheibe und Toireasa hatte das Gefühl, dass der Schnaufrhythmus der Lok langsamer wurde. Nicht nur sie bemerkte das.
„Ah – endlich kommen wir dem Essen näher", freute sich Merton.
„Dann muss der Express aber heute wirklich Dampf gemacht haben", fand Cassandra. „Wir sind früh dran."
„Ist doch egal. Hauptsache eher da", entgegnete Merton grinsend. „Nichts gegen eure Gesellschaft, aber ich hab noch nicht viel gegessen."
„Vorhin hast du die Brote aber abgelehnt, welche ich angeboten habe", beschwerte sich Alec gespielt. „Waren dem Herrn wohl nicht gut genug?
„Was hast du denn bei der Aussicht auf ein Hogwartsfestessen erwartet", erwiderte Merton lachend. „Ich schlag mir doch den Bauch nicht vorher voll."
„Das würde meine Mutter aber gar nicht gern hören!", kicherte Alec. „In den Broten steckte viel Liebe und Zeit."
„Ach und deshalb hast du sie so großzügig verteilt?", fragte Toireasa ironisch, was Alec mit einer so sehr schlecht gespielten Verlegenheit quittierte, dass alle Lachen mussten. Sie alle freuten sich auf das Essen.
„Komisch!", mischte sich Luna, die am Fenster saß, vollkommen ernst ein. „Seit wann ist der Bahnhof nicht beleuchtet?"
Das Lachen verstummte etwas. Ian, der immer noch alle Äußerungen Luna's äußerst skeptisch bewertete, stand auf und schaute aus dem Fenster.
„Sie hat Recht. Nirgends ein Licht. Da draußen ist es einfach stockduster."
Er setzte sich wieder und alle waren recht still. Der Zug wurde immer langsamer.
„Wir werden auf einer Brücke halten", flüsterte Tarsuinn düster.
„Warum sollten wir auf einer Brücke halten?", erkundigte sich Ian skeptisch.
„So kann niemand einfach fliehen", entgegnete Tarsuinn und in seinem Gesicht spiegelte sich ein klein wenig Sorge. „Das habe ich mal beim Zoll in Burma erlebt. Da hat dann wer den kurzen Fluchtweg gewählt."
„Wir sind hier aber nicht…!", begann Alec, doch dann kam der Zug zum Halt und das Licht ging aus.
„Was zur Hölle…"
„…bleib sitzen…"
„Au, das ist meine Nase!"
„Und das mein Fuß!"
„Entschuldige, ich dachte…"
„Da ist wer draußen."
„Was machen…"
„Seid still, allesamt!", knallte unvermittelt Tarsuinn's Stimme durch den Raum.
Alle verstummten und jetzt konnte man aufgeregte Stimmen im Gang hören. Eine der Zugtüren klappte.
„Wenn man nicht sehen kann…", flüsterte Tarsuinn jetzt „…muss man hören – oder als Zauberer einfach einen Lichtzauber sprechen, statt in Panik zu verfallen."
Toireasa hörte ein leises Lumos und ein schwaches Licht leuchtete da auf, wo Luna saß. Sofort fühlte sich Toireasa ein wenig wohler, während noch immer alle still lauschten. Der Regen prasselte beruhigend gegen das Fenster. Ab und an war das Schnaufen der Lok zu hören. Dann ein paar Schreie, jemand schluchzte. Toireasa sprang gleichzeitig mit Tarsuinn auf, doch der Junge gab ihr einen Schubs, der sie wieder in den Sitz drückte.
„Bleib sitzen!", sagte er dabei befehlend und jetzt lag Angst in seiner Stimme. „Keiner sollte da raus."
Toireasa zog trotzdem zur Vorsicht ihren Zauberstab und die anderen folgten ihrem Beispiel.
Das Schluchzen eines Mädchens wurde leiser, eine andere Stimme übernahm es. Immer näher kamen die Töne der Verzweiflung.
„Niemand stirbt", sagte Tarsuinn mit einer Grabesstimme, die nicht gerade angetan war, jemanden zu beruhigen. Die fauchende Tikki zu seinen Füßen verstärkte das mulmige Gefühl noch und wurde bestätigt, als ein dunkler Schatten sich lautlos vor die Tür des Abteils schob.
„Ein Dementor!", flüsterte Luna geschockt.
Aus einem Impuls heraus hob Toireasa ihren Zauberstab. Sie hatte schon viel von Dementoren gehört. Ihre Stiefmutter hatte ihr immer versprochen, dass die Wachen von Askaban sie holen würden, wenn sie kein liebes Mädchen wäre.
Der Ärmel des Dementors erhob sich wie in Zeitlupe, um die Tür zu öffnen.
„Bleib draußen!", flüsterte Tarsuinn und drehte sich in die richtige Richtung.
Aus irgendeinem Grund zögerte die Hand kurz, doch dann schob sie die Tür auf. Ein rasselndes Luftholen erfolgte sofort und Toireasa fühlte Kälte nach ihrem Herz und Verstand greifen. Luna's Lichtzauber verblasste.
„Ich sagte: Draußen bleiben!", sagte Tarsuinn deutlich lauter und knallte die Tür wieder zu. „Unsere Gedanken gehören dir nicht."
Die Kälte schwand und eine plötzliche Hitze flutete über Toireasa hinweg. Erstaunt betrachtete sie den Jungen, der zitternd im Abteil stand. In seiner Hand hielt er nun verkrampft ein bösartig aussehendes Messer, welches sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er hielt die Klinge jedoch so verborgen, dass sie nach hinten in das Abteil ragte. Jetzt verstand Toireasa auch, warum er wollte, dass alle Sitzen blieben. Er hatte Angst jemanden aus Versehen zu verletzten.
„Geh weg", hauchte er dem Wesen vor der Tür zu, welches jedoch erneut nach der Tür griff.
„Lass das", warnte Tarsuinn erneut und wich einen Schritt zurück.
Der Ärmel berührte den Türgriff, Toireasa wappnete sich gegen die Kälte und dann splitterte die Scheibe durch eine von Tarsuinn ausgehende Druckwelle. Messerscharfe Glassplitter schlugen in den Dementor, trieben ihn zurück gegen das Außenfenster des Ganges und hindurch. Beinahe hätte Toireasa gejubelt, doch die umhüllte Gestalt verschwand nicht. Zwar schwebte sie einige Meter nach hinten, doch stürzte sie nicht ab und dann – nach wenigen Sekunden des Verharrens, kam sie wieder in den Zug gesegelt, wie ein Todesalp, der sich auf seine Beute stürzt. Wieder erklang der Atem des Dementors. Wieder zog Kälte in das Abteil und diesmal gab es keine erlösende Wärme mehr. Vor Toireasa's Augen bildete sich das verweinte Gesicht ihres Vaters. Er sagte etwas, doch sie verstand die Worte nicht. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Lungen atmeten keine Luft. Sie wollte um Hilfe schreien, doch sie sah niemanden, der zu helfen in der Lage war. Cassandra und Merton hielten sich gegenseitig und mit leichenblassen Gesichtern aneinander fest, Ians Augen starrten in weite Entfernung, Winona hatte die Augen verdreht, so dass man nur das Weiße in ihnen sah und Luna drückte sich in die Ecke und schluchzte.
Einzig Tarsuinn schien noch einigermaßen klar im Kopf zu sein, obwohl er inzwischen vor Zittern kaum noch stehen konnte. Seine Augen waren weit aufgerissen.
„Das gehört alles uns!", zischte er zwischen klappernden Zähnen hervor. „Lass uns in Ruhe!"
Dann plötzlich zischten silberne Fäden durch den Gang draußen und der Dementor flüchtete vor ihnen. Danach erschien ein abgerissen aussehender Zauberer an der Tür, den Zauberstab in die Richtung haltend, in die der Dementor verschwunden war.
„Alles in Ordnung mit euch hier drin?", fragte er besorgt und schaute ein wenig erstaunt auf die zerstörte Tür und das Außenfenster.
Toireasa, die plötzlich wieder Atmen konnte, hob ihren Zauberstab auf (sie konnte sich nicht erinnern ihn fallen gelassen zu haben) und nickte.
„Uns geht es gut", behauptete sie dann mit einem besorgten Seitenblick auf Tarsuinn.
„Solche Zauber sind wirkungslos gegen Dementoren", erklärte der Mann, ging kurz in die Knie und als er sich wieder erhob, rieb er interessiert eine eklige, schwarze Flüssigkeit zwischen seinen Fingern. „Oder vielleicht doch nicht."
Dann riss er sich von dem was vielleicht Blut des Dementors war, los und schaute Toireasa an.
„Ich schicke gleich die Frau mit den Süßigkeiten durch den Zug", erklärte er. „Du sorgst dafür, dass alle ein Stück Schokolade essen, verstanden?"
Toireasa nickte bestätigend.
„Gut", kommentierte er. „Bleibt ruhig und in eurem Abteil."
Danach ging der Mann weiter in Richtung Lok.
Toireasa zwang sich ihren Blick vom Gang loszureißen und schaute ihre Freunde an. Cassandra und Merton hatten sich verlegen losgelassen. Ian und Alec wirkten auch recht klar, genau wie Winona. Luna saß jedoch noch immer in der Ecke und weinte bitterlich und Ian versuchte recht ungeschickt sie ein wenig zu trösten. Alle wirkten mehr oder weniger mitgenommen. Alle bis auf Tarsuinn. Als wäre nichts geschehen, zog er die Klinge seines Messers aus einem Loch in der Scheibe (ein Fakt der Unmöglichkeit wie Toireasa erst später registrierte) und ging mit emotionslosem Gesichtsausdruck zu seinem Platz.
„Denkt ihr, man kann das Fenster und die Tür reparieren?", fragte er völlig normal und steckte das Messer weg, welches so aussah, als wäre es mit Glas überzogen. „Es regnet auf meinen Platz."
Dann ging das Licht wieder an und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Es war Ian, der als erster seine Sprache wieder fand.
„Was ist da passiert?", fragte er geschockt.
„Das Fenster ist kaputt", entgegnete Tarsuinn.
„Ich meinte, wie verdammt noch mal ist das geschehen?", erklärte Ian und brachte damit Tarsuinn's Beherrschung ein wenig ins Wanken. In diesem Augenblick erkannte Toireasa, dass der Junge nur den Coolen spielte. Er war alles andere als entspannt.
„Weißt du?", begann Tarsuinn. „Ist eine komplizierte…"
„Wir erklären es nachher", unterbrach Toireasa schnell. „Wenn wir allein sind, okay?"
Sie zwinkerte vielsagend in die Runde.
„Es muss nicht jeder erfahren, was hier passiert ist", flüsterte sie eindringlich und starrte Ian fest in die Augen, bis dieser leicht nickte. Sie war froh darüber, denn es war sicher nicht besonders gut wenn bekannt wurde, was Tarsuinn so alles anrichtete, wenn er ein wenig seine Kontrolle verlor. Toireasa bezweifelte, dass er das mit der Scheibe wirklich beabsichtigt hatte.
Wenige Minuten später kam Penelope mit der Kuchenhexe vorbei. Schokolade wurde verteilt und festgestellt, dass ein Reparo-Zauber nichts bringen würde, da der größte Teil der Scherben hinter dem Zug außer Reichweite irgendwo unterhalb der Brücke lag. Aus diesem Grund versiegelte die Vertrauensschülerin das Außenfenster behelfsmäßig mit einer Muggelplastiktüte und etwas Klebeband und räumte die verbliebenen Scherben aus dem Gang. Es musste ja auch nicht lange halten. Keine zehn Minuten später begrüßten sie die willkommenen Lichter des Bahnhofs und wenig später drängten alle so schnell wie möglich aus dem Zug, nur um so bald wie möglich ins Sicherheit verheißende Schloss zu gelangen. Toireasa winkte kurz Hagrid zu, der gerade alle Erstklässler einsammelte, und dann kämpfte sie sich durch Regen, Sturm und Schülermassen zu den Kutschen. Dort musste sie zwar auf eine leere Kutsche warten, doch diese Zeit genoss Toireasa fast. Es war für sie das erste Mal, dass sie mit der Kutsche fahren würde und die Thestrals, welche diese zogen, waren unglaublich faszinierende Tiere. Toireasa kannte diese Skelettreptilien nur aus Büchern und wusste auch, warum sie diese sehen konnte. Sie fragte sich jedoch die ganze Zeit, warum ihre Bücher diese Tiere immer als gefährlich und unzähmbar benannten. Toireasa kamen diese Tiere eher lammfromm vor. Man konnte sie streicheln, ohne dass diese nach einem schnappten. Toireasa hatte eher das Gefühl ignoriert und geduldet zu werden.
Irgendwann gelang es dann Winona eine der Kutschen für sie zu ergattern und sie fuhren hinauf zum Schloss. Unangenehm wurde dies für einen Augenblick, als am großen Außentor des Schlosses zwei Dementoren den Weg bewachten, doch hier an der frischen Luft und mit etwas Abstand, war die Begegnung nicht so schlimm wie im Zug. Eher so, als ob ein Geist einen berührt hätte.
Im Schloss jedoch war der Spuk vorbei. Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen und hoffnungsvoll drängten sie in die große Halle.
Sie wollte sich gerade von ihren Ravenclaw-Freunden verabschieden, als Tarsuinn sich von der Gruppe trennte und auf Hausmeister Filch zuging, der am Eingang wie eine Art Wache die ankommenden Schüler musterte. Für einen Augenblick glaubte Toireasa die Umrisse eines Rucksacks unter Tarsuinn's Umhang zu sehen, doch dann schob sie dies auf die Kapuze, die er sich dieses Jahr, entgegen Madame Malkins Anraten, an seinen Umhang hatte nähen lassen.
„Oh, oh!", entfuhr es Cassandra und wollte hinterher, aber Winona hielt sie zurück.
„Lass ihn!", flüsterte sie dem anderen Mädchen zu und zog diese und die anderen ein wenig zur Seite.
Tarsuinn stand nun dem Hausmeister genau gegenüber und nur einen kurzen Schritt entfernt, während Tikki von seiner Schulter sprang und gegenüber von Mrs Norris Aufstellung nahm. Der Junge sagte nichts, aber er legte den Kopf in den Nacken und starrte mit seinen blicklosen Augen den Mann an. Zunächst versuchte Filch Tarsuinn zu ignorieren, aber das hielt er nicht lange durch. Tarsuinn's fast lidschlagloses Starren war einfach zu enervierend.
Keine Minute später war die Ruhe des Hausmeisters zu Ende.
„Was willst du!", herrschte er Tarsuinn an.
„Mr Filch", antwortete Tarsuinn in extrem höflichen Ton. „Es freut mich Ihnen berichten zu können, dass ich doch geschafft habe, was Sie mir niemals zumuteten. Ich muss zugeben, ohne Ihre motivierenden Worte jeden Morgen, hätte ich es niemals geschafft. Herzlichen Dank!"
Nach diesen Worten verbeugte Tarsuinn sich auf eine irgendwie zeremonielle Art und Weise.
Filch schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Ein Chaos der Emotionen zuckte über sein Gesicht. Hass, Überraschung und tiefe Scham wechselten sich unheimlich schnell ab und Toireasa fragte sich, ob dem Mann nicht gleich die Hand ausrutschte. Tarsuinn zumindest schien fast darauf zu warten. Doch nichts dergleichen geschah.
„Du blockierst den Weg, Bursche", fauchte der Hausmeister und schaute demonstrativ über den kleinen Jungen hinweg.
Tarsuinn drehte sich nach einem kurzen Lächeln beiseite und kam wieder zu den anderen.
„Es hat sich gar nicht so gut angefühlt, wie ich dachte", sagte er nachdenklich. „Eher schäbig!"
„Filch hat es trotzdem verdient!", fand Winona gnadenlos. „Er hat dir doch jeden Tag dieses – Du schaffst es niemals, Muggel! – gegönnt. Ich find es okay, dass er das zurückbekommt."
„Genau", pflichteten die anderen bei und selbst Cassandra nickte.
„Aber warum fühle ich mich dann so schlecht?", fragte Tarsuinn.
„Weil ein Gewissen dich führt", sagte Luna einfach, fasste den Junge an der Hand und zog ihn in die Große Halle. Nun, im Moment führte ihn wohl eher Luna.
In der Halle musste Toireasa sich von ihren Freunden trennen.
Möglichst selbstbewusst schlenderte sie an den Slytherin-Tisch. Wie gewohnt setzte sie sich auf den ersten Platz, soweit als möglich vom Lehrertisch entfernt. Zwar musste so jeder einzelne Slytherin an ihr vorbei, aber sie konnte so dafür sorgen, dass rechts von ihr niemand saß und sie einen guten Blick über die Halle hatte.
Sie war erstaunt, als plötzlich Samuel, der Vertrauensschüler der Slytherins und im letzten Jahr in Hogwarts und seine ein Jahr jüngere Freundin Melissa, sich zu ihr setzen.
„Na? Wie schaut's?", fragte der große Junge freundlich. „Kann ich deine Anwesenheit hier deuten, dass du doch in Slytherin bleibst?"
„Ja. Im Moment schon", antwortete Toireasa, nachdem sie sich von dem kleinen Schock erholt hatte, während William und dessen Freund Aaron sich neben die beiden Älteren Schüler setzten und sie freundlich ansahen.
„Nur im Moment?", erkundigte sich William.
„Naja", zögerte Toireasa leicht und bemerkte verwirrt wie sich auch noch Blaise und Miriam in ihre Nähe setzen. „Ich will Slytherin noch eine Chance geben und hoffe auch eine zu bekommen. Vielleicht kommen wir dieses Jahr besser miteinander aus."
„Darauf würd ich nicht wetten", flüsterte die neuangekommene Miriam und beugte sich über den Tisch. „Für einige bist du immer noch ein rotes Tuch."
Dabei warf das Mädchen bedeutungsvolle Blicke auf einen Schwarm Schüler um Regina Kosloff. Toireasa's Nemesis vom ersten Hogwartsjahr.
„War auch nicht anders zu erwarten", kommentierte sie betont locker. „Mir hat eher jemand anderes Hoffnung auf Besserung gegeben."
Sie schaute bedeutungsvoll auf die sechs Slytherins in ihrer Nähe.
„Warum eigentlich plötzlich?", fragte sie dann neugierig.
„Weil es so nicht noch ein Jahr weitergehen kann", erklärte Samuel sofort. „Ich würde nämlich gern, in meinem letzten Jahr, noch einmal irgendeinen Pokal gewinnen. Ich denke, zwei Mal Gryffindor hintereinander reicht wirklich."
„Ist euch schon aufgefallen, dass wir verlieren seit Samuel Vertrauensschüler ist?", frotzelte Melissa amüsiert. „Ob da ein Zusammenhang besteht?"
Alle lachten über Samuels vorwurfsvollen Blick nach dieser indirekten Unterstellung.
„Von hinten gemeuchelt!", rief er aus und trotzdem zuckten seine Mundwinkel leicht nach oben.
„Sauber und auf dein Verlangen", kommentierte Melissa überlegen.
„Mag ja sein", gab Samuel widerwillig zu. „Aber mal was anderes. Penelope – die neue Schulsprecherin – hat mir erzählt, ihr hättet den halben Zug verwüstet?"
„Da übertreibt sie etwas", wehrte Toireasa vorsichtig ab. „Zwei kaputte Scheiben kann man wohl kaum als verwüsten bezeichnen."
„Warum eigentlich?", fragte William nach.
Toireasa beschloss vorsichtig zu antworten.
„Wegen der Dementoren", erklärte sie. „Wir haben da wohl etwas überreagiert."
„Eher erstaunlich, dass ihr überhaupt reagiert habt", kommentierte Aaron, der stille Freund von William. „Unser Abteil war wie erstarrt. Furchtbare Typen diese Dementoren."
„Warum waren die überhaupt im Zug und am Schlosseingang?", fragte Toireasa und sah dabei Samuel an. Als ältester Vertrauensschüler in Slytherin, war er sicher besser informiert, als alle anderen Schüler.
„Wegen Black natürlich", erklärte der ältere Junge. „Die Dementoren von Askaban suchen ihn."
„Aber warum hier?", forschte Toireasa weiter.
„Erfährst du noch früh genug", wich der Vertrauensschüler aus. „Außerdem kommen da die Frischlinge…"
„Die was?", entfuhr es Toireasa, doch dann bemerkte sie selbst die lange Reihe der Erstklässler die Halle betreten und schaute kurz darauf Samuel ins Gesicht.
„Waren wir letztes Jahr auch Frischlinge für dich?", verlangte sie leise zu wissen.
„Natürlich, jeder Erstklässler ist das!", flüsterte Samuel ihr ins Ohr. „Aber jetzt still."
Die lange Karawane der Erstklässler hatte eben den Lehrertisch erreicht und in einer großen Traube vor dem Stuhl mit dem Sprechenden Hut. Toireasa erinnerte sich noch sehr gut an das mulmige Gefühl, welches man in diesem Moment hatte und wie einem der Bauch dabei kribbelte. Trotzdem hätte sie viel dafür gegeben, noch einmal die Chance einer Hauswahl zu bekommen und jetzt mit diesen neuen Schülern da zu stehen.
Der Sprechende Hut sang ein anderes Lied, als im letzten Jahr, dann begann die Auswahl.
Interessiert schaute sie nun hin und beglückwünschte die Erstklässler dafür, dass nicht die ernste Professor McGonagall, sondern der freundliche Professor Flitwick die Auswahl leitet. Das Lächeln des kleinen Mannes konnte einfach viel besser Zuversicht und Mut vermitteln.
Vor allem weil Flitwick sich auf einen Stuhl stellen musste, um besser gesehen zu werden – und damit die Namensliste nicht die ganze Zeit auf dem Boden schleifen musste.
„Anderson Beatrix", rief der Professor mit seiner dünnen Stimme, hob den Hut vom Stuhl und nachdem das aufgerufene Mädchen sich gesetzt hatte, stellte er sich auf die Zehenspitzen und bugsierte den Sprechenden Hut auf den Kopf von Beatrix. Dieser brauchte nur wenige Augenblicke um sich zu entscheiden.
„HUFFLEPUFF!", rief der Hut laut aus und am nächsten Tisch zu Slytherin wurde frenetisch Beifall geklatscht und gejohlt.
Als nächstes war ein Junge namens Simon Chap an der Reihe. Wenn man ihn sah, dann war man eigentlich der Überzeugung, einen Weasley zu sehen. Zumindest waren die bekannt für feuerrote Haare. Aber gegen eine Familienbeziehung sprach der neu aussehende Umhang und der gesündere Gesichtsausdruck. Wie um das zu unterstreichen, schickte der Hut den Jungen nach Ravenclaw. Toireasa beneidete ihn darum, wie ihn die Horde der Schüler willkommen hieß. Danach kam mit Jason Desmond, ein ernst blickender schwarzhaariger Junge, als erster Schüler nach Slytherin.
Toireasa klatschte eher höflich, denn begeistert.
Die nächsten zwei Jungs und ein Mädchen landeten in Gryffindor, danach ging es eher durcheinander weiter. Gelächter gab es bei einem Blondgelockten Mädchen – eines der wenigen, welche ausnahmsweise Mal kleiner als Winona war – namens Johanna Gab. Die Kleine schien nicht sonderlich angetan von der Wahl des Hutes zu sein und redete minutenlang murmelnd auf diesen ein. Dabei rutsche sie beständig auf dem Stuhl hin und her und einmal musste Professor Flitwick ihr den Hut wieder aufsetzen, weil sie ihn abgenommen hatte, um mit ihm von Angesicht zu Angesicht zu reden. Toireasa wünschte sie fast nach Slytherin, doch leider kam sie dann doch nach Gryffindor, womit das Mädchen nur halb zufrieden wirkte. Wahrscheinlich hätte Toireasa damals ähnlich ausgesehen, wenn sie in Ravenclaw, statt in Slytherin gelandet wäre.
Die Reihen der Erstklässler schien nicht abreißen zu wollen. Bei Alina Hogan stutzte Toireasa für einen Moment, vor allem als diese nach Slytherin kam, doch so kühl wie die Reaktion bei Vivian war, verwarf sie den Gedanken der ihr gekommen war.
Danach folgten Minuette Kusow, Lance Kingston und viele andere der Reihe. Ein wenig interessanter wurde es dann, als Flitwick jemanden namens Rima aufrief und noch bevor er den Vornamen nennen konnte, standen zwei nervöse Kinder vor ihm.
Vor Schreck wäre der Professor fast vom Stuhl gekippt.
„Ähem – Katharina", fing er sich jedoch schnell, im Körper wie im Geiste.
Ein schlankes Mädchen, Toireasa hatte es aus der Entfernung zunächst für einen Jungen gehalten, kletterte auf den Stuhl. Zwei lebhafte Augen blickten besorgt durch eine dünne Brille auf den Hut, während dieser sich langsam absenkte. Der Hut brauchte auch diesmal eine Weile mit seiner Entscheidung, auf die das Mädchen recht gefasst wartete. Zumindest nach außen hin sah man keine Regung, doch Toireasa wusste durchaus, dass intern eine recht rege Diskussion mit dem Hut herrschen konnte.
„SLYTHERIN!", rief dieser dann endlich und Katharina hüpfte behende vom Stuhl und ging mit neugierigem Gesicht zu ihrer neuen Familie.
Das andere Mädchen mit Namen Rima hieß Susanne und schaute mit einer Mischung aus leichter Enttäuschung und tapferem Lächeln hinter Katharina her. Kaum saß dann der Hut auf ihrem Kopf, schüttelte sie entschieden den Hut (oder schüttelte der Hut den Kopf?) und nach nur einer kurzen Pause schickte der Hut sie nach…
„RAVENCLAW!", rief er laut aus und das Mädchen hüpfte erfreut dem aufkommenden lauten Beifall entgegen.
Danach schien das Meer der Erstklässler zum ersten Mal etwas überschaubar und das Ende absehbar. Inzwischen knurrte Toireasa der Magen und als endlich Caroline Wisp nach Gryffindor sortiert war, freute sie sich über den nur kurz anhaltenden Beifall. Nicht nur sie schien Hunger zu haben.
Doch vorher wollte noch Professor Dumbledore seine Schuljahresansprache halten.
„Willkommen!", rief der Professor und man hatte den Eindruck, er würde wirklich jeden im Raum meinen. „Willkommen zu einem neuen Jahr in Hogwarts! Ich habe euch allen einige Dinge mitzuteilen, und da etwas sehr Ernstes darunter ist, halte ich es für das Beste, wenn ich gleich damit herausrücke, denn nach unserem herrlichen Festmahl werdet ihr sicher ein wenig bedröppelt sein..."
Toireasa grinste bei diesen Worten. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie noch aufstehen konnte, wenn sie hier fertig war. Nach einem kurzen Räuspern fuhr der Direktor fort.
„Wie ihr mitbekommen habt, ist der Hogwarts-Express durchsucht worden, und ihr wisst inzwischen, dass unsere Schule gegenwärtig einige der Dementoren von Askaban beherbergt, die im Auftrag des Zaubereiministeriums hier sind. Sie sind an allen Eingängen zum Gelände postiert und ich muss euch klar sagen, dass niemand ohne Erlaubnis die Schule verlassen darf, während sie hier sind. Dementoren dürfen nicht mit Tricks oder Verkleidungen zum Narren gehalten werden - nicht einmal mit Tarnumhängen. Es liegt nicht in der Natur eines Dementors, Bitten oder Ausreden zu verstehen. Ich mahne daher jeden Einzelnen von euch: Gebt ihnen keinen Grund, euch Leid zuzufügen. Ich erwarte von unseren Vertrauensschülern und von unserem neuen Schulsprecherpaar, dass sie dafür sorgen, dass kein Schüler und keine Schülerin den Dementoren in die Quere kommt."
Der Professor machte eine effektvolle Pause und ließ seinen Blick einmal ernst über die Schüler schweifen.
„Und nun zu etwas Angenehmerem", sagte er danach ein wenig fröhlicher. „Ich freue mich, dieses Jahr zwei neue Lehrer in unseren Reihen begrüßen zu können. Zunächst Professor Lupin, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, die Stelle des Lehrers für Verteidigung gegen die dunklen Künste zu übernehmen."
„Allein das macht ihn schon zu einem mutigen oder verzweifelten Mann", murmelte Samuel. „Wäre sicher gut, im Abschlussjahr einen ordentlichen Lehrer in Dunkle Künste zu haben."
Toireasa klatschte ein paar Mal zweifelnd in die Hände.
„Zumindest konnte er einen Dementor vertreiben", flüsterte Toireasa zurück.
„Klingt nicht schlecht", stimmte Samuel anscheinend beeindruckt zu. „Auch wenn er nicht so aussieht."
„Zu unserer zweiten Neuernennung", setzte Professor Dumbledore erneut an und musste dabei die Stimme nicht heben, da der Beifall eher dürftig gewesen war. „Nun, es tut mir Leid, euch sagen zu müssen, dass Professor Kesselbrand, unser Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe, Ende letzten Jahres in den Ruhestand getreten ist, um sich noch ein wenig seiner verbliebenen Gliedmaßen erfreuen zu können. Jedoch bin ich froh sagen zu können, dass sein Platz von keinem anderen als Rubeus Hagrid eingenommen wird, der sich bereit erklärt hat, diese Lehrtätigkeit zusätzlich zu seinen Pflichten als Wildhüter zu übernehmen."
Aus Toireasa's Mund formte sich ein leises: „Cool!" und ihre Hände begannen begeistert zu klatschen.
„Nicht übertreiben", mahnte Melissa Toireasa leise. „Lass die Gryffindors sich für dich freuen."
Toireasa wollte das eigentlich nicht, aber ein kurzer Seitenblick den Slytherin-Tisch entlang, ließ sie die Klugheit dieser Worte einsehen. Trotzdem strahlte sie über den freudigen Tumult, den diese Nachricht bei den Gryffindors auslöste und wie stolz und verlegen Hagrid reagierte.
„Nun, ich denke, das ist alles, was zu erwähnen wäre", sagte Dumbledore, sobald das Toben etwas nachgelassen hatte. „Beginnen wir mit dem Festmahl!"
Die Tische deckten, die Becher füllten sich und mit einem lauten Hurra griff Toireasa zu. Sie vertilgte in Windeseile mehr als Melissa und Samuel zusammen. Danach beugte sie sich etwas zurück und rieb sich wohlig den Bauch.
„Wo isst du das alles hin?", fragte Blaise, die nur lustlos an einem Teller Salat mümmelte. „Sobald ich so viel esse, gehe ich auf wie Hefeteig."
Toireasa grinste zufrieden.
„Keine Ahnung", gab sie zu. „Aber es fühlt sich gut an und solange es nicht ansetzt, werde ich ganz bestimmt nicht darben. Tut mir echt leid für dich."
„Manchmal ist die Welt echt ungerecht", sagte Blaise traurig.
„Es lohnt sich aber für dich, deine Figur zu behalten", lächelte Toireasa und fragte sich, wie weit sie gehen durfte.
„Warum?", erkundigte sich Blaise.
„Weil du sofort Malfoy toll finden würdest, wenn du deutlich dicker wirst", zwinkerte Toireasa und wartete gespannt auf die Reaktion.
Ein gequältes Lächeln war das Einzige, was Blaise sich abringen konnte.
„Wenn du wüsstest…", sagte das ältere Mädchen, sah dabei aber nicht so aus, als wäre sie auf Toireasa böse.
„Was?", fragte sie vorsichtig.
„Ein anderes Mal vielleicht", wehrte Blaise ab. „Und sicher nicht bei Tisch."
„Außerdem ist es spät", half Samuel über die peinliche Situation hinweg. „Ich denke, es ist Zeit, die Frischlinge ins Bett zu bringen."
Er stand auf und ging am Tisch nach vorn, dorthin wo die Erstklässler saßen. Auf dem Weg dahin, schlossen sich ihm die anderen fünf Vertrauensschüler Slytherins an und wenig später zogen sie mit den Erstklässlern ab. Toireasa nickte ihren Tischnachbarn freundlich zu, dann nutzte sie die Gruppe der neuen Schüler, um sich unauffällig abzusetzen.
„Kann ich dich sprechen, Tarsuinn!", flüsterte sie einfach in der Höhe des Ausgangs und obwohl er fast dreißig Schritt entfernt saß, reagierte er sofort. Er flüsterte etwas Winona ins Ohr, dann stand er auf und verließ, gefolgt von Tikki, die Halle. Toireasa lotste ihn in einen Seitengang.
„Was ist?", flüsterte er fragend.
„Du musst mir noch sagen was ich erzählen soll, wenn mich Snape oder jemand anders zu der Sache im Zug befragt", erwiderte sie. „Nicht, dass die uns getrennt erwischen und wir uns widersprechen."
Tarsuinn wirkte nicht sonderlich überrascht, aber sein Gesicht verdunkelte sich nur um Augenblicke später ganz bleich zu werden. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich langsam zu Boden gleiten.
„Ich habe keine Ahnung", murmelte er.
Toireasa schaute ein wenig erstaunt auf ihn herab und setzte sich dann neben ihn. Sie starrte erschrocken auf seine, wieder zitternden, Hände. Er schien diesen Blick zu spüren, denn umgehend klemmte er die Hände zwischen die angewinkelten Knie.
Toireasa konnte kaum glauben, dass erst jetzt der Schock durch die Dementoren bei ihm durchbrach. Davor war er doch erstaunlich beherrscht gewesen, so wie fast immer.
„Was ist mit dir?", fragte sie nach einer Weile und wollte ihn berühren, aber sie getraute es sich nicht. Sie wusste nur zu gut, dass, wenn seine Selbstbeherrschung brüchig wurde, Nähe nicht unbedingt ratsam war. Auch wenn er es nicht wollte. Tikki schien keine solchen Ängste zu besitzen. Sie sprang auf seinen Bauch und kuschelte sich an ihn.
„Im Zug!", sagte er leise, vergrub seine Hände nun in Tikki's Fell und legte die Stirn auf seine Knie.
„Es ging uns allen so", versuchte Toireasa ihn zu beruhigen und verzichtete lieber auf die Frage, welche sie eigentlich zu seinem Messer stellen wollte. „Man erinnert sich plötzlich nur an die schlimmsten Erinnerungen seines Lebens…"
Doch er schüttelte den Kopf.
„Es war, als würde ein Traum wahr werden", flüsterte er.
Für einen Moment glaubte Toireasa ein zynisches Kichern von ihm zu hören. Das kannte sie schon von ihm. Er lachte immer so, wenn er Wörter wie traumhaft, Wunschtraum oder wie im Traum verwandt. Toireasa mochte das gar nicht!
„Wir dürfen nur nicht raus gehen, dann passiert nichts. Die Dementoren sind nur um das Schloss postiert. Das hat Professor Dumbledore so gesagt."
„Du verstehst nicht", sagte er jedoch. „Sie haben die Einhörner vertrieben. Ich kann sie nicht mehr hören. Um das gesamte Schloss liegt eine Kuppel von Todeskälte."
„Sobald sie Black eingefangen haben, sind sie weg", versprach Toireasa.
„Dann sollen sie sich damit beeilen", fand Tarsuinn und Toireasa pflichtete ihm still bei.
Wenigstens hob der Junge jetzt wieder den Kopf. Er schloss die Augen und dann atmete er einige Male betont ruhig durch. Was ihm offensichtlich sehr half.
„Rica hat Recht", sagte sie entschieden. „Du solltest deine Thai-Chi-Übungen regelmäßig machen. Vielleicht sogar häufiger als sonst."
„Das könnte richtig sein", gab er mit süß-säuerlicher Miene zu. „Bevor noch mehr Scheiben zu Bruch gehen."
Er stand auf.
„Wird Zeit, dass wir in unsere Häuser gehen", sagte er wieder gefasst und streckte ihr die Hand zum Aufstehen entgegen.
Sie brauchte zwar seine Hilfe nicht, aber sie nahm sie trotzdem, da sie ihn nicht verletzen wollte. Toireasa hatte beobachtet, wie Rica mit ihm umging und hatte erst da begriffen, wie wichtig für Tarsuinn anscheinend Berührungen waren.
Sie klopfte ihm freundschaftlich, aber sehr zaghaft auf den Rücken und verabschiedete sich mit einem fröhlichen: „Bis morgen früh!"
Noch im Weggehen runzelte sie die Stirn. Er hatte wirklich einen Rucksack unter seinem Umhang verborgen.
