- Kapitel 7 -

Von der Last legendär zu sein

Der September verging für Toireasa wie im Fluge und in dieser Zeit bekam sie keine weiteren Briefe, die mit S.K. unterschrieben waren, sodass sie alsbald annahm, es wäre nur ein schlechter Scherz gewesen. Inzwischen war sie sich sogar recht sicher, dass der Brief von ihrer Ex-Stiefmutter stammte. Das war einfach logisch.

Toireasa kannte zwar die Handschrift ihrer richtigen Mutter, denn sie hatte alte Briefe in den Sachen ihres Vaters gefunden, aber die waren jetzt verloren, da sie alles durch ihre Flucht zu den Großeltern verloren hatte. Deshalb konnte sie keinen Vergleich durchführen. Aber selbst wenn, ihre Ex-Stiefmutter musste die Handschrift ja auch kennen und konnte sie sicher leicht fälschen lassen.

Trotzdem – Toireasa dachte in jeder freien Minute an die Möglichkeit und an das Was-wäre-Wenn!

Da konnte Madame Hooch sie (und Tarsuinn) noch so sehr, zwei Samstage lang, die Schulbesen schmirgeln, glätten und polieren lassen, es lenkte sie nicht ab. Egal wie viele Holzsplitter sich unter ihre Haut bohrten.

Madame Hooch war im Übrigen wirklich sauer. Die Frau schien es für ein Sakrileg der höchsten Kategorie zu halten, jemandem den Flugbesen zu klauen – auch wenn derjenige es nur als Ausleihen bezeichnete und der Besen wieder da war, wo er hingehörte. Erschwerend kam noch hinzu, dass Madame Hooch nicht wusste, wozu sie ihren Besen benutzt hatten und glaubte deshalb, es wäre nur für eine kindische Spritztour gewesen. Das zerstörte Vorhängeschloss spielte seltsamerweise nie eine Rolle.

Doch ansonsten war es ein unglaublich schöner Spätsommer für Toireasa. Das Wetter war meist recht schön, ihre Großeltern schrieben regelmäßig und man ließ sie im Allgemeinen in Slytherin in Ruhe. Die kleinen, üblichen Gemeinheiten tropften an ihr einfach ab. Dazu beigetragen hatte ganz offensichtlich ein wenig die offene Unterstützung, die sie von William, Samuel und einigen anderen bekam, sowie ihr fleißiges Punktesammeln. Wenn man mal von Kräuterkunde absah.

Und trotzdem fühlte sie sich nicht wirklich in Slytherin zu Hause. Egal wie nett zum Beispiel William zu ihr war, es entwickelte sich nicht so eine Freundschaft wie mit Tarsuinn und Winona. Die Slytherins waren gute Kumpel, genau wie die anderen Ravenclaws, die normalerweise mit ihnen herumhingen, mehr nicht. Wobei Ian, Alec und Cassandra sich in letzter Zeit immer etwas zurückhaltend zeigten, seit Tarsuinn ihnen reinen Wein eingeschenkt hatte. Toireasa fand das schade, aber andererseits hatte sie auch nicht alles herumposaunt. Es war, als würden sie erst abwarten.

Toireasa blinzelte zu ihrer Uhr. Sie saß auf einer Bank in einem der Innenhöfe des Schlosses und wartete auf Tarsuinn und Winona. Die angezogen Beine umarmend, ließ sie den Kopf auf den Knien ruhen. Mit einem wohligen leisen Brummen genoss sie die letzten Sonnenstrahlen auf ihrem Nacken. Bald würde die Sonne hinter der Dachkante des Westflügels verschwinden und Tarsuinn müsste mit seinen Zusatzübungen in Verwandlungen fertig sein. Toireasa fand es leicht unfair, dass die Lehrer den Jungen so beschäftigten, obwohl dies nicht bedeutete, dass Tarsuinn die ganze Zeit mit den Lehrern üben musste. Die hatten viel zu wenig Zeit dafür. Im Endeffekt holte Tarsuinn das erste Schuljahr nach und dabei halfen ihm meist Winona, Toireasa oder andere Ravenclaws. Es war nur so, dass sie immer in Sichtweite der Lehrer bleiben mussten. Das reduzierte die Zeit extrem, in der sie sich ungestört treffen konnten. Und diese Zeit nutzten sie wirklich seltsam.

Toireasa hörte Winona und Tarsuinn kommen. Sie sah nicht auf.

Um zu wissen, dass die beiden sich in exakt ihrer Haltung neben sie setzten (mit dem Unterschied, dass Tikki auf Tarsuinn's Nacken lag), dazu musste sie die Augen nicht öffnen. Es war seit einigen Tagen immer so. Und dass in der nächsten halben Stunde bis zum Abendessen keiner von ihnen ein Wort sagen würde, war genauso normal. Toireasa wusste nicht, wann das angefangen hatte, aber es hatte sich zu einem Ritual entwickelt. Jeder von ihnen hing allein-gemeinsam seinen Gedanken nach.

Sie blinzelte und drehte ihren Kopf auf die andere Seite. Tarsuinn saß wie immer direkt neben ihr. Sein Gesicht war eine unbewegte Maske und trotzdem seine Augen offen waren schien er zu schlafen. Was natürlich nicht stimmte, denn dazu war er zu ruhig.

Neben dem Jungen saß Winona und niemand hätte vermutet, dass sie schlief. Die geschlossenen Lider zuckten, ihr Atem ging unregelmäßig und ständig bewegte sie die Finger.

Sicher gab es auch bei Toireasa selbst Anzeichen dafür, dass sie düstere Gedanken hegte.

Irgendwie war es krank. Sie alle drei schienen ein Problem zu haben, dass sie in sich hineinfraßen und suchten die Gesellschaft der anderen, doch keiner von ihnen war bereit etwas zu erzählen. Oder zumindest wollte keiner den Anfang machen.

Toireasa wollte gerade ihre Augen wieder schließen, als ein klatschergroßes Auge lautlos aus dem Nichts erschien und vor Winona auf und ab zu hüpfen begann. Eine Weile war Toireasa versucht einfach die Augen zu schließen und das Ding zu ignorieren, doch vielleicht war es auch wichtig.

„Winona", flüsterte Toireasa. „Winona!"

„Mmh!", brummte das Mädchen, öffnete aber nicht die Augen.

„Ich glaub, du hast Besuch", erklärte Toireasa und dafür zwinkerte ihr das hüpfende Auge dankbar zu.

Winona hob den Kopf und schaute vor sich. Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein.

„Hau ab", sagte Winona und verzog angewidert die Mundwinkel.

Das Auge hüpfte hoch, blieb in der Luft hängen und schaute völlig unschuldig.

„Sag ihnen, wenn sie was wollen, sollen sie selbst kommen oder wenigsten Michikinikwa schicken", zischte Winona unerbittlich.

Das Auge starrte sie noch einen Moment schreckgeweitet an, dann verschwand es.

„Die Dinger haben nicht mal genug Grütze im Kopf, um zu merken, dass sie nicht hüpfen müssen", meinte Winona ohne jeden Humor.

„Der sah doch ganz süß aus, was immer er auch war", fand Toireasa.

„Das war nen Vyrny. Auch bekannt als: Hüpfende Nerver", erklärte Winona angeödet.

„Noch nie davon gehört", runzelte Toireasa die Stirn. „Das war wirklich ein Tier und kein Zauber?"

„Ein Tier, das mit einem Zauber gebunden wurde", erklärte Winona. „Eigentlich sind die ziemlich arm dran. Aber sie nerven trotzdem."

„Wie ich höre, hast du deine Meinung kaum verändert", sagte eine schemenhafte Gestalt, die plötzlich heran geflogen kam. Ein Geist von männlichen Gestalt, die Toireasa noch nie gesehen hatte, war erschienen. Der Oberkörper war sehr muskulös und lag für alle Blicke frei. Die Beine steckten in einer Art Lederhose und ein Lendenschurz sorgte für zusätzlichen Anstand. An der Seite hing eine Art Beil, das mit Federn und Knochen verziert war. Doch das Interessanteste an diesem Mann war sein Gesicht. Mit Narben übersät, jagte es trotzdem keine Angst ein. Im Gegenteil, der Geist wirkte gütig, doch auch irgendwie schwermütig. Diesen Eindruck konnte nicht mal der fast kahl geschorene Schädel dämpfen, aus dem ein langer Zopf aus einer Galeone großen Stelle Haar ragte.

„Hallo Michi", begrüßte Winona den Geist und ihr Gesicht hellte sich deutlich auf. „Halten die alten Drachen es immer noch für unter ihrer Würde, mal einen kleinen Botengang zu unternehmen?"

Die Lippen des Geistes verzogen sich.

„Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du den Älteren ein wenig mehr Respekt zollen könntest, Winona", sagte er.

„Na gut, Michikinikwa", lächelte Winona gewinnend. „Schön dich mal wieder zu sehen."

„Du solltest nicht nur mir Respekt zollen", tadelte der Geist mit erhobenem Zeigefinger.

„Wie auch immer", winkte Winona ab. „Wie geht's dir?

„Unverändert, ich bin tot", entgegnete der Geist. „Du solltest sie nicht warten lassen."

Erst jetzt fiel Toireasa auf, dass der Geist sie und Tarsuinn völlig ignorierte. So als wären sie Luft.

„Sie bitten um ein Treffen", wehrte Winona ab. „Nicht ich."

„Du weißt, dass sie das nicht so sehen!"

„Ja."

„Dann folge mir."

Der Geist schwebte durch eine Bank und ein paar Ecken zu einem Gang, an dem er sich wartend umsah. Er winkte auffordernd.

Winona stand auf, ging ein paar Schritte und drehte sich wieder um. Sie sah sehr unentschlossen aus.

„Kommt ihr mit?", bat Winona und schaute sie flehend an. „Bitte!"

Für einen Moment starrte Toireasa erstaunt auf das andere Mädchen. Bis eben hatte sie die ganze Sache eher für eine lustige Angelegenheit gehalten, die Winona einfach nur ein wenig unangenehm war. Doch jetzt lag pure Verzweiflung im Blick ihrer Freundin.

„Ich dachte schon, du fragst nie", sagte Toireasa und versuchte ihren Rückstand gegenüber Tarsuinn aufzuholen, der schon längst aufgestanden war. Gemeinsam nahmen sie Winona links und rechts bei der Hand.

Zu dritt gingen sie zu dem Geist, der sie jetzt zum ersten Mal wahrzunehmen schien. Mit Missfallen musterte er Toireasa und Tarsuinn von oben bis unten.

„Ihr seid nicht erwünscht", sagte er.

„Das ist meinen Eltern gegenüber eine sehr respektlose – ja beleidigende – Annahme!", entgegnete Tarsuinn, ohne den Ansatz eines Lächelns zu zeigen.

Toireasa schaffte es gerade noch, ein Grinsen hinter einer Hand zu verbergen. Winona jedoch, die keine Hand dazu frei hatte, versuchte vergeblich die gehobenen Mundwinkel herunterzudrücken.

„Ich wollte mitnichten deine Eltern beleidigen", sagte der Geist und meinte das offensichtlich ernst. „Ich wollte euch eigentlich sagen…"

„…dass meine Gäste vielleicht eure Anwesenheit nicht wünschen", unterbrach Winona sofort wieder sehr unterkühlt. „Aber das spielt hier keine Rolle, nicht wahr Michikinikwa?"

„Du hast Recht", gestand der Geist und schwebte wieder voran.

„Entschuldigt", flüsterte Winona. „Vielleicht ist es doch besser…?!"

„Red keinen Unsinn", beruhigte Toireasa. „Ich bin jetzt eher neugierig."

„Aber ich bin sauer", meinte Tarsuinn von der anderen Seite. „Die Pointe war bei dem völlig verschwendet! Ich hätte sie für Snape aufheben sollen."

„Du solltest das nachher lieber nicht machen", sagte Winona sehr ernst und immer noch nervös. „Das könnte ins Auge gehen!"

„Sag uns doch einfach, worum es geht", schlug Toireasa vor, doch dann sah sie, wie der Geist mit dem seltsamen Namen auch schon durch eine Tür schwebte. Das musste schon ihr Ziel sein.

Winonas Lippen wurden zunächst schmal und dann, als die riesige Illusion einer Hand durch die Tür schwebte und befehlend winkte, verhärteten sie sich.

„Redet am besten nicht", sagte Winona hastig. „Und misstraut euch selbst, wenn ihr plötzlich etwas anderes wollt, als kurz zuvor."

„Aber unsere Zauberstäbe brauchen wir nicht, oder?", fragte Toireasa augenzwinkernd.

„Natürlich nicht", schüttelte Winona den Kopf.

Gemeinsam gingen sie auf die Tür zu und da Tarsuinn auf der Klinkenseite stand, verharrten sie einige Sekunden unschlüssig, da der Junge natürlich nichts von seiner Aufgabe wusste, die Tür zu öffnen.

„Wenn ich es mir recht überlege", murmelte Winona plötzlich. „Solltet ihr vielleicht doch die Zauberstäbe bereithalten."

Tarsuinn's Hand näherte sich langsam der Klinke.

„Es riecht seltsam", sagte er dann und ließ seine Hand auf der Klinke verharren. „Irgendwie nach Lessliwlkraut, aber auch mit was anderem drin und..."

„Mr McNamara! Kommen Sie her", erklang die Stimme Professor Snapes durch den Gang.

„War ja klar", brummte Tarsuinn so leise, dass der weit weg stehende Lehrer es nicht hören konnte. „Er kann nicht zusehen, wenn ich Spaß habe."

Dann drehte er den Kopf Richtung Snape.

„Ich habe gerade etwas Wichtiges zu tun, Professor", sagte er laut. „Hat das nicht Zeit?"

„Kommen Sie her!", schnappte Professor Snape drohend und sein dunkler Blick machte Toireasa Angst.

Tarsuinn reagierte immer noch nicht auf den Befehl.

„Und ich war doch so neugierig", murmelte er genervt und flüsterte Tikki etwas ins Ohr, woraufhin diese auf Winonas Schulter wechselte.

Erst dann ließ er Winonas Hand los und schlenderte aufreizend langsam zu dem Professor.

„Und?", fragte er Snape frech.

„Mitkommen!", entgegnete Toireasa's Hauslehrer feindselig, drehte sich mit wehendem Umhang herum und ging weg. Tarsuinn folgte ihm und Toireasa war sich sicher, dass er in Snapes Rücken Grimassen schnitt.

Kaum waren die beiden weg, öffnete sich die Tür von selbst und gab den Blick auf ein fast vollständig dunkles Zimmer frei. Unangenehm beißender Rauch lag in der Luft.

Es dauerte einige Sekunden, ehe sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und die Tränen weggeblinzelt waren. Doch danach stellte Toireasa fest, dass es durchaus etwas zu sehen gab.

Die Tür schloss sich hinter ihnen leise und sperrte das äußere Licht aus. Einzig ein tiefrot glühendes Holzscheit mitten auf dem Boden sorgte für einen Schimmer und beleuchtete zwei dahinter sitzende Gestalten. Man konnte nicht viel von ihnen erkennen, aber das wenige, was das Licht enthüllte, wirkte durch das Rot, als würde man zwei Dämonen sehen. Natürlich war dieser Eindruck gewollt. Man fühlte sich beklommen und, da man die Wände nicht sehen konnte, entweder eingeengt oder in der Weite verloren. Je nachdem, was einem mehr Angst machte.

„Du kannst jetzt gehen", sagte eine alt klingende Frauenstimme und Toireasa fand die Idee wirklich nicht schlecht. Das hier schien eine private Angelegenheit zu werden und da wollte sie nicht stören. Sie wollte sich umdrehen und gehen, doch da war noch die Hand von Winona, die sie festhielt. Aber Winona wollte doch auch, dass sie ging, oder?

Toireasa schüttelte verwirrt den Kopf und versuchte den Druck loszuwerden, der ihre Gedanken in eine gewisse Richtung lenken wollte. Sie stellte sich wieder neben Winona.

„Komm her meine Enkelin!", befahl die zweite Gestalt und diesmal war es offensichtlich ein Mann. Eine Pfeife glühte kurz vor dem Gesicht auf und enthüllte einen weißhaarigen Kopf, auf dem der Schädel irgendeines großen Tieres ruhte.

Statt dem Befehl nachzukommen, wich Winona zurück und versteckte sich halb hinter Toireasa.

Doch dann schien sich Winona wieder ein Herz zu fassen und trat erneut nach vorn.

„Sagt, was ihr wollt!", sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber lasst eure Tricks!"

„Wie du willst. Man merkt, dass deine Eltern dich noch feindseliger uns gegenüber gemacht haben", unterstellte die Frau.

„Oh glaubt mir, diese Feindseligkeit kommt ganz und gar aus mir selbst", sagte Winona. „Und wenn Ma und Dad mich nicht überredet hätten, dann hättet ihr zu Hause bleiben können."

„Aber du willst doch nicht behaupten, sie hätten dich nicht vor uns gewarnt?", erkundigte sich die männliche Gestalt.

„Warum sie das wohl tun sollten?", stellte Winona eine Gegenfrage in ätzendem Tonfall. „Ihr habt ihnen mit Tricks und Lügen zwei ihrer Kinder abspenstig gemacht und versucht es jetzt auch bei mir. Wie zur Hölle sollen sie darauf reagieren?"

„Wir haben deinen Brüdern nur eine andere Welt geboten. Sie haben gewählt."

„Gut, dann wähle ich das Nein und das war es dann!"

„Bevor du dich entscheidest, wirst du uns anhören", verlangte die Frau. „Und du wirst dich einer respektvolleren Sprache bedienen. Und jetzt schick sie weg."

„Geh weg!", sagte Winona und schaute kurz Toireasa an, doch ihre Hand löste sie nicht.

„Du willst jetzt gehen", sagte der Mann und erneut spürte Toireasa, wie ihr Wunsch wo anders zu sein verstärkt wurde. Doch diesmal war sie vorbereitet. Es reichte schon ein kurzer Blick zu Winona und Tikki und schon verflog das Drängen. Sie dachte an das, was Tarsuinn vor der Tür gesagt hatte und versuchte sich an etwas aus dem Kräuterkundeunterricht zu erinnern. Das fiel ihr recht schwer, denn nicht nur, dass sie Kräuterkunde hasste und schlecht darin war, sie gab sich auch nicht sonderlich viel Mühe dabei. Trotzdem nagte da eine Erinnerung in ihrem Kopf. Ein Lachen.

„Wie viel von dem Zeug bräuchte man um ganz England einzunebeln, Professor Sprout?", hatte Merton gefragt. „Ich meine, König Merton ist doch ein klangvoller Titel, oder etwa nicht?"

Jetzt hatte es Toireasa. Mertons Großmachtgefühle waren der entscheidende Hinweis. Der Rauch von Lessliwlkraut schwächte den eigenen Willen.

Lumos", flüsterte Toireasa und ihr Zauberstab erhellte den Raum.

Die dämonisch beleuchteten Gestalten stellten sich jetzt als zwei uralt aussehende Menschen heraus, die in wildlederner Kleidung und mit Tierfellumhängen zwar immer noch bedrohlich aussahen, aber auch irgendwie nicht mehr so übernatürlich. Die beiden schauten Toireasa überrascht und feindselig an, was diese jedoch nicht beachtete.

Stattdessen schaute sie sich schnell um. Sie stand in einem sehr staubigen Klassenraum. Die Stühle und Tische waren zur Seite geräumt.

„Einen Moment", flüsterte Toireasa Winona zu und ließ deren Hand los.

Ohne große Umstände kletterte sie auf einen Tisch, zog ein Rollo hinauf und öffnete dann das Fenster dahinter.

„Was erlaubst du dir!", rief der alte Mann aus und sprang erstaunlich behände auf seine Füße. Er deutete mit einer federgeschmückten Rassel auf Toireasa.

„Sie sorgt dafür, dass ihr nicht betrügt", entgegnete Winona und stellte sich vor Toireasa. „Falls ich es euch noch nicht gesagt habe, ich habe Professor Flitwick gebeten mich nachher auf Zauber und andere Sachen zu überprüfen, sollte ich den Wunsch äußern die Schule zu verlassen. Wingardium Leviosa."

Winona ließ den glühenden (und stark rauchenden) Holzscheit in den Kamin schweben. Dann setzte sie sich auf den Tisch am Fenster und Toireasa folgte ihrem Beispiel. Tikki sprang Winona von der Schulter und ließ sich auf den Beinen des Mädchens nieder. Ihre Augen blickten wachsam auf Winonas Großeltern. Ihr Großvater setzte sich wieder.

„Was wolltet ihr mir denn sagen?", fragte Winona und wirkte jetzt weniger ängstlich.

„Du weißt, warum wir hier sind!", entgegnete die alte Frau am Boden. Sie saß auf einem Fell, das frappierend an einen Bären erinnerte. „Wir sind hier, um dich nach Hause zu holen."

„Ich bin zu Hause!"

„Das stimmt nicht", urteilte der Großvater. „Dein Blut und deine Seele gehören nicht hierher. Dein Schicksal liegt im Land deiner Ahnen, nicht hier bei den Mördern deines Volkes! Sie töten dich, auch wenn du glaubst, zu leben."

„Einer dieser Mörder ist mein Vater!", fauchte Winona.

„Das ändert nicht deine Bestimmung. Du gehörst zu uns, nicht hierher. Die Geister sprechen zu uns und sie rufen nach dir. Es ist dein Schicksal Schamanin des Stammes zu werden."

„Und natürlich, um einem von euch ausgewählten Krieger versprochen zu werden", zischte Winona. „Denkt ihr, nur weil ich euch nicht mag, würde ich mich nicht mit meiner Familiengeschichte und den Traditionen beschäftigen? Ich bin zwölf! In eurem rückständigen, ja nichts Modernes zulassenden Paradies wird man in diesem Alter versprochen und mit sechzehn ist man verheiratet. Nein danke!"

„Du hast eine völlig falsche Vorstellung."

„Gut, dann benennen wir mal die Fakten. Ihr lebt dort wie vor vierhundert Jahren. Ihr herrscht über die Muggel dort, die höchste technische Errungenschaft sind Pfeil und Bogen und ihr hegt noch so barbarische Bräuche wie den Sonnentanz. Was hab ich vergessen – ach ja – und in eurem Paradies gibt es immer noch Kriege. Dafür gibt es bei euch kein Fernsehen, normale Frauen und Mädchen haben Kinder zu bekommen und ihren Mann zu verwöhnen."

„Eine Schamanin hätte andere Pflichten."

„Oh toll, ich wäre also die große Ausnahme."

„Ich hatte dieselben Argumente wie du, als meine Großmutter mich abholen wollte", erklärte die Großmutter. „Aber jetzt weiß ich, dass ich keine bessere Wahl hätte treffen können. Winona – die Geister lieben dich. Du weißt das. Du spürst es jeden Tag. Doch statt dein Wesen zu befreien, zwängst du dich hier in diese Formen, die dich erdrücken, und lernst eine Magie zu nutzen, die ein Gefängnis für dich darstellt."

„Was ist euer Heim anderes als ein Gefängnis? Meinen Brüdern ist es verboten, mir Briefe zu schicken! Niemand darf jemals wieder raus, solange ihr es verbietet."

„Das dient nur der Sicherheit unserer Heimat, und was ist diese Höhle anders als ein Gefängnis? Bewacht von bösen Geistern, die das Glück stehlen. Wie kann sich dein Geist frei fühlen, wenn es ihm an Weite fehlt. Überall hier sind Grenzen und Verbote. Du lernst von Mördern, um zu morden und dein erstes Opfer wirst du selbst sein."

„Soweit ich weiß, habt ihr auch schon Menschen getötet."

„Wir haben gerichtet, nicht gemordet!"

„Alles eine Auslegungssache. Ich wette, überall sagt das ein Henker auch von sich."

„Würdest du es sehen, würdest du verstehen."

„Würde ich es sehen, würdet ihr mir eine Heimkehr hierher verbieten."

„Dann vertrau unseren Worten. Dein Schicksal und dein Glück liegen bei uns."

„Ihr habt versucht meine Eltern zu zwingen, mich wegzugeben. Ich habe das damals durchaus mitbekommen. Wie könnte ich euch also vertrauen? Euch interessiert doch nur euer Stamm und eine Nachfolgerin aus der Familie."

Hier folgte die erste lange Pause des Gesprächs. Toireasa hatte die ganze Zeit angespannt gelauscht. Ihr war bewusst, dass viel an ihr vorbeiging und dass vor allem Winonas Großeltern sich aufgrund ihrer Anwesenheit stark zurücknahmen. Trotzdem war ihr mehr als klar, dass es sich hierbei nicht um einen normalen Familienkrach handelte. Sie wusste nicht ganz, ob sie das beruhigen oder ob gerade dies ihr Sorgen bereiten sollte.

„Wie könnten wir denn dein Vertrauen gewinnen?", fragte die Großmutter plötzlich überfreundlich.

„Lasst zu, dass ich meinen Brüdern schreibe und sie mir!"

„Das können wir nicht zulassen", entgegnete der Großvater mürrisch.

„Warum nicht? Wenn es ihnen wirklich so sehr bei euch gefällt, dann können sie mich doch eigentlich nur überzeugen. Oder geht es meinen Brüdern gar nicht so toll, wie ihr behauptet?"

„Sie fühlen sich sehr wohl bei uns. Aber es würde unser aller Sicherheit gefährden."

„Dann lasst sie mir doch Knotenbriefe schicken. Das habt ihr ja schließlich auch gemacht. Ich bezweifle, dass die jemand außer mir lesen kann."

„Deine Eltern könnten."

„Ja vielleicht und ich habe keine Hemmungen ihnen die Briefe zu zeigen. Aber ich kann euch versprechen, ich werde die Briefe an meine Brüder schreiben, nicht meine Eltern."

Die Großeltern schauten sich gegenseitig an. Dann nickte der Mann langsam.

„Das ist ein interessantes Angebot", sagte die Großmutter langsam. „Es könnte helfen."

„Ja oder nein?", wollte Winona ultimativ wissen.

„Im Gegensatz zu dem, was du glaubst, muss so eine Entscheidung der Rat der Ältesten treffen. Wir können das nicht entscheiden."

„Dann könnt ihr ja endlich verschwinden. Ich werd ja sehen, wie ihr entschieden habt, falls ein Brief bei mir ankommt."

Winonas Großeltern erhoben sich. Toireasa unterdrückte den anerzogenen Drang, der Frau beim Aufstehen zu helfen. Man sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, doch selbst ihr Mann half nicht.

„Wir sehen uns wieder Enkelin", versprach ihr Großvater und verließ den Raum.

„Ich kann's kaum erwarten", flüsterte Winona feindselig, sobald auch die alte Frau gegangen war.

Toireasa schaute das Mädchen forschend an. Sie schien wirklich viel Angst gehabt zu haben und jetzt fiel die gesamte Anspannung von ihr ab.

Winona nahm Tikki auf die Arme und dann ließ sie ihren Oberkörper nach hinten kippen. Halb auf dem Tisch liegend atmete sie tief durch.

Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und sah Toireasa an.

„Danke für deine Hilfe", sagte sie mit verlegener Miene. „Ohne dich wäre ich wahrscheinlich mitgegangen."

„Na, da wäre Professor Flitwick noch vor gewesen", lächelte Toireasa ihr aufmunternd zu.

„Wenn der davon gewusst hätte, dann vielleicht", schüttelte Winona den Kopf.

„Aber du hast doch gesagt…?", fragte Toireasa verblüfft.

„Das war nur eine Eingebung. Professor Flitwick hat zwar die Erlaubnis für den Besuch gegeben, aber ansonsten wusste er nichts. Ich hab einfach nicht damit gerechnet, dass sie es hier versuchen würden."

„Darf ich fragen, wozu sie dich eigentlich überreden wollten?", fragte Toireasa vorsichtig.

Das entlockte Winona ein schmerzerfülltes Lächeln.

„Eigentlich wollte ich euch raushalten", sagte sie nach einer Weile. „Aber ohne deine Idee mit dem Fenster wäre ich damit wohl auf die Nase gefallen."

„Wer hätte gedacht, dass Kräuterkunde doch einen Sinn haben könnte", gestand Toireasa ein.

„Und das grade von dir", lachte Winona.

„Erzähl das bloß nicht rum", kicherte auch Toireasa.

„Wir können uns doch beide auf unsere Verschwiegenheit verlassen", sagte Winona wieder etwas ernster.

Toireasa nickte zur Antwort.

„Weißt du, wer Pocahontas war?", fragte Winona.

„Nie gehört", gab Toireasa nach kurzer Überlegung zu.

„Ist keine Schande, da es eher eine Muggellegende ist und die kennen auch nicht die Wahrheit", erklärte Winona. „Aber ich denke, Amerika und Indianer sagt dir was."

„Natürlich, bin doch nicht bei Trollen aufgewachsen."

„Gut. Dann sagen wir einfach, Pocahontas war eine indianische Zauberin, die sich dummerweise um 1607 in einen Weißen verliebte und deshalb ihren Vater Powhatans überredete, die Eindringlinge nicht aus dem Land zu werfen. Im Nachhinein betrachtet war das sicher falsch und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie das nicht gemacht hätte, aber sie war noch sehr jung, verliebt und eine wirklich mächtige, angehende Schamanin. Der Mann, den sie zuerst geliebt hatte, ging dann auch fort und wenig später fingen die weißen Eindringlinge sie. Im Gefängnis verliebte sie sich in den nächsten, einen Mann namens John Rolfes und heiratete ihn. Kurze Zeit darauf reiste sie mit ihm nach Großbritannien und man begrüßte sie sogar recht respektvoll, wo sie dann jedoch mit einundzwanzig Jahren an Tuberkulose verstarb."

„Aber sie hatte Kinder", vermutete Toireasa und musterte jetzt Winona von oben bis unten.

„Noch nicht", zwinkerte Winona amüsiert über den Widerspruch, aber sie klärte ihn sofort auf. „Das mit dem Tod war nur ein Vorwand. Sie hatte recht schnell begriffen, dass ihre Zauberkunst in Britannien nicht akzeptiert wurde und stellte auch recht bald fest, dass ihr Mann sie nicht wirklich liebte, sondern sie als eine Art Preis herumzeigte. Dann traf sie einen Geist, der ihr verriet, dass es noch eine andere Welt hier gab, eine parallele Welt mit Menschen wie sie. Doch einfach so verschwinden konnte sie nicht und so täuschte sie ihren eigenen Tod vor. Danach suchte und fand sie Einlass in unsere Zauberwelt, baute sich ein unauffälliges Leben auf, verliebte sich – diesmal in den richtigen – und seitdem lebt meine Familie in England. Ach ja – und alle Mädchen in direkter Linie sehen ihr sehr ähnlich."

„Bedeutet das, so wie deine Großmutter aussieht, wirst auch du enden?", grinste Toireasa fies.

„Ha ha", wehrte Winona ab. „Sehr witzig. Ich habe durchaus vor, mich etwas zu pflegen und nicht zu rauchen!"

„Und warum machen jetzt deine Großeltern solche Probleme?"

„Ich war ja noch nicht fertig mit Erzählen", maulte Winona. „Du weißt ja, dass meine Urahnen in Amerika langsam zurückgedrängt wurden. Selbst ihre Schamanen konnten das nicht verhindern, weil es auch unter den Eroberern Zauberer und Hexen gab. Eine meiner Ahnen, Alopè, wollte helfen und kehrte zurück in ihr Land. Sie suchte die verschwundenen Völker im Süden, fand sie und lernte, wie es möglich ist, ein ganzes Volk zu verstecken. Danach flog sie in den Norden und schuf mit vielen anderen die Heimat für die Völker. Sie zog durchs Land und versuchte die Indianer in das neue Land zu ziehen und das so, dass es die amerikanischen Hexen und Zauberer nicht merkten. Auf einer dieser Reisen wurde sie von der Kugel eines Soldaten getötet, als diese ein Apachendorf voller Frauen und Kinder niedermetzelten."

In diesem Moment wirkte Winonas Stimme sehr hart, doch das Mädchen fing sich schnell wieder.

„Naja – zumindest hatte sie Erfolg. Sie erschuf unter den Rocky Mountains ein sicheres Zuhause für die überlebenden Indianer. Was übrigens nicht möglich gewesen wäre, wenn sie keine Schülerin in Hogwarts gewesen wäre. Im Grunde hat sie nichts anderes gemacht, als die Große Halle hier in Hogwarts in eine deutlich größere Version umzusetzen. Das neue Land der Indianer ist eine riesige Höhle, bei welcher die Decke so verzaubert ist, dass man von innen heraus den Himmel und die Sonne sieht."

„Klingt nach einer satten Leistung", meinte Toireasa ehrlich beeindruckt. „Und ich hab noch nie davon gehört."

„Das liegt daran, dass die Menschen dort ein sehr misstrauisches Volk sind. Zu Recht, wenn man ihre Geschichte bedenkt. Außerdem leben da nicht nur wie hier Zauberer und Hexen in der Gemeinschaft, sondern Muggel und Schamanen. Das Sprechen mit Geistern ist normal, Magie auch. Damit kollidieren sie mit der amerikanischen Zauberergemeinschaft, die sie eh noch als Räuber ihres Landes und Mörder ihrer Familien sehen. Selbst nach über hundert Jahren noch."

„Und warum wollen sie dich unbedingt da haben. Ich meine – außer dass sie das Beste für dich wollen und dich von uns Mördern entfernen."

„Aus reinem Aberglauben. Aus irgendeinem Grund hat sich da die Ansicht durchgesetzt, dass das Schlimme, was den Indianer zugestoßen ist, erst dann anfing, als Pocahontas das Land verließ und die Hoffnung mit Alopè zurückkehrte. Seitdem versuchen sie, immer eine Tochter der Linie im Land zu halten. Meine Ururgrossmutter haben sie sogar entführt und ihre Kinder mussten ganz allein hier in England aufwachsen, weil sie bei der Entführung ihren Mann getötet hatten. Sie halten das für Segen bringend. Meine Eltern und ich denken, es ist ein Fluch."

„Warum?"

„Weil keine Frau meiner Linie jemals Kinder in Amerika bekommen hat. Wir sind der Überzeugung, dass meine Ururgrossmutter diejenigen verflucht hat, die sie entführten und ihren Mann töteten. Deshalb haben sie auch Angst mich hier wegzureißen. Ich hab zwar noch drei Cousinen, aber zwei davon sind Muggel und die Dritte lebt unter einem anderen, geheimen Namen."

„Aber dann müssen sie sich doch sorgen, dass die Linie mit dir enden könnte, wenn sie dich jetzt wegholen?"

„Yep – deshalb die Samthandschuhe. Du hast sicher gesehen, dass meine Großmutter es nicht mehr lange macht. Sie ist eigentlich deutlich jünger als sie aussieht. Wenn sie stirbt und man mich deswegen hier wegholt, endet die Linie im Moment mit meiner Mutter und mir. Also versuchen sie mich von meiner Bestimmung zu überzeugen, auf dass ich freiwillig jetzt mitkomme. Dann wollen sie mich schön nach ihren Vorstellungen formen, mit einem Indianer verloben, später verheiraten, damit mein Blut mal wieder eine Portion sauberer wird – erinnert dich das an was – und dann soll ich wieder hierher kommen, viele Kinder bekommen, natürlich möglichst Töchter, die ich dann hier bei sonst wem lasse, nur nicht bei meinen Eltern, und komme dann wieder zurück ins Land meiner Ahnen um Talisman zu spielen. So ein beschissener Quatsch."

Toireasa überlegte eine Weile, dann schaute sie Winona direkt in die Augen.

„Was, wenn es stimmt?", fragte sie vorsichtig.

Doch Winona ging nicht wie befürchtet an die Decke.

„Das hab ich meine Eltern auch gefragt", sagte das Mädchen. „Weißt du, was sie gesagt haben?"

Natürlich war Winona klar, dass Toireasa dies nicht wissen konnte.

„Sie sagten: Jemand, der seinen Erfolg und Misserfolg anderen anlastet, wird niemals etwas leisten oder sein Schicksal formen."

„Weise Worte. Aber warum haben sie dir dann empfohlen, deine Großeltern zu treffen?"

Diese Frage schien Winona ein wenig in Verlegenheit zu bringen.

„Tja, weißt du. Meine Eltern legen durchaus wert auf Tradition und dass ich mich mit unseren Wurzeln beschäftige und sie sind auch der Meinung, ich sollte beide Seiten hören."

„Ich sag es nicht gern", urteilte Toireasa und schaute Winona ernst an. „Aber uns nicht um Hilfe zu bitten war dämlich. Ich dachte, du bist eine Ravenclaw? Wo war dein Plan?"

„Verdrängt", meinte Winona leise und schaute Toireasa traurig an. „Du kennst ja solche Probleme nur zu gut."

„Ja", antwortete Toireasa gedehnt und verfiel in düsteres Schweigen.

„Was beschäftigt eigentlich dich?", erkundigte sich Winona nach einigen Minuten.

Toireasa schaute auf und sah in vier neugierige, aber auch besorgte Augen. Besonders Tikki's Blick war irritierend. Es war für Toireasa nichts Ungewöhnliches zu sehen, wie Tarsuinn sich mit dem Mungo unterhielt, als wäre sie ein Mensch. Aber zum ersten Mal hatte sie jetzt das unbestimmte Gefühl, dass Tikki genau verstand was sie sagen würde und sehr neugierig war.

„Willst du genauso dämlich wie ich sein?", fragte Winona mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel.

Wortlos reichte Toireasa ihren Brief, den sie immer bei sich trug, an das Ravenclaw-Mädchen. Diese las kurz die Zeilen.

„S.K.?", fragte Winona daraufhin nachdenklich.

„Samantha Keary, meine leibliche Mutter", erklärte Toireasa.

„Ich dachte, sie sei tot?", runzelte Winona die Stirn. „So was ist ein ganz schlechter Scherz."

„Die Schrift stimmt aber", wand Toireasa ein, wobei sie selbst zweifelte.

Winona gab ihr den Brief zurück.

„Schrift kann man fälschen", sagte das Mädchen dabei und in ihrer Stimme schwang Mitleid mit.

„Ich weiß", gab Toireasa flüsternd zu und schaute betreten auf ihre baumelnden Füße.

„Gehen wir die Sache doch mal logisch an", meinte Winona plötzlich und sprang auf. Mit seltsam schleifenden Schritten begann sie, vor Toireasa auf und ab zu gehen.

„Wir habe zwei Annahmen. A – deine Mutter lebt wirklich noch. Seien wir ehrlich, das ist unwahrscheinlich und erstmal schwer nachzuweisen. B – irgend jemand will dich damit quälen, was du sicher auch eher für möglich hältst. Wer also kann Schriftproben deiner Mutter haben?"

„Natürlich die Davians", antwortete Toireasa sofort.

„Das ist auch mein erster Gedanke. Deine Stiefmutter…"

„Ex!"

„Okay – deine Ex-Stiefmutter hat Möglichkeit und Motiv. Dazu kommt sicher noch dein Onkel Bob, der sicher auch wegen der Heuler noch sauer ist. Fällt dir außer deiner Ex-Familie noch jemand ein, der dich nicht mag?"

„Natürlich Kosloff, Hogan und die anderen."

„Die würde ich eigentlich fast ausschließen. Die sind vielleicht dazu in der Lage, aber erstmal bräuchten sie die Schrift deiner Mutter und Hintergrundwissen, was im Endeffekt wieder zu deiner Familie führt. Sonst noch wer?"

„Nicht, dass ich wüsste", meinte Toireasa nach kurzem Nachdenken.

„Gut, dann kann ich dir folgenden Vorschlag machen", sagte Winona entschlossen. „Wir schauen, ob wir Beweise finden, dass es deine Ex-Familie war und wenn wir keine finden, fangen wir an nach deiner Mutter zu suchen."

„Und wie willst du das anstellen?"

„Mit Muggelwissen. Du hast doch sicher noch den anderen Brief von Davian, oder?"

„Natürlich, ich wollt ihn mir rahmen lassen."

„Gut. Wir schicken diesen Brief, und den der angeblich von deiner Mutter kommt, an meine Eltern, zusammen mit unseren Fingerabdrücken. Tauchen auf beiden Briefen neben unseren auch noch andere identische Abdrücke auf, dann bedeutet das höchstwahrscheinlich, dass deine Ex-Stiefmutter dir geschrieben hat. Hast du auch noch Schriftstücke von deiner richtigen Mutter?"

„Die haben jetzt die Davians", erklärte Toireasa und sie konnte an Winonas Reaktion erkennen, was sie daraus folgerte.

„Mist – naja, vielleicht hat Professor Flitwick noch welche."

„Im Brief stand, ich soll verschwiegen sein", wandte Toireasa ein.

„Was ein hervorragender Weg ist, eine intensive Überprüfung zu verhindern, nicht wahr?"

„Trotzdem muss es anders gehen", beharrte Toireasa.

Winona war darüber nicht begeistert, aber sie nickte.

„Ich hab Professor Flitwick ja auch nichts mitgeteilt", sagte das Mädchen. „Verzichten wir also erstmals auf einen Schriftvergleich. Gibst du mir die Briefe?"

„Aber dann wissen doch deine Eltern Bescheid!", gab Toireasa zu bedenken. „Ich hab es nur dir erzählt und…"

Toireasa schaute auf Tikki.

„…ihr. Womit es Tarsuinn wahrscheinlich auch erfährt."

„Und wer soll es dann machen, ich vielleicht?"

„Warum nicht? Ich bin mir sicher, du könntest das", schmeichelte Toireasa, was ihr einen ungnädigen Blick des anderen Mädchens einbrachte.

„Ich bin das Kind von Polizisten, was nicht heißt, ich wäre einer."

„Aber du hast doch sicher ein paar Tricks aufgeschnappt, oder?"

„Naja – ein paar schon und es gibt auch passende Zauber. Aber die sind recht kompliziert. Die müssten wir erstmal lernen. Falls wir das überhaupt hinbekommen."

„Wir haben genug Zeit", fand Toireasa.

„Es gibt niemals genug Zeit, sagen meine Eltern immer", schüttelte Winona den Kopf. „Ich kann dir sagen, sie haben es immer gehasst, nach Muggelart vorgehen zu müssen, um Muggelverbrechen aufzuklären. Ich glaube, es sind einige furchtbare Dinge passiert, weil sie ohne Zaubern zu langsam waren."

„Muss echt hart sein."

„Sie haben mir nie davon erzählt", sagte Winona ernst. „Aber immer, wenn sie vor dem Schlafen gehen ein Glas Whiskey tranken, wusste ich: Da war was schief gelaufen."

„Es wird nichts schief laufen", erklärte Toireasa überzeugt. „Und außerdem hast du ja Recht, wahrscheinlich ist das ein böser Scherz auf meine Kosten."

„Um ehrlich zu sein, bin ich mir unsicher, ob ich das für dich fürchten oder hoffen soll", murmelte Winona. „Was erzählen wir Tarsuinn?"

„Ich dachte eigentlich alles", runzelte Toireasa die Stirn. „Außerdem glaube ich inzwischen wirklich, dass Tikki und er sich verstehen."

„Da bin ich mir sicher", bestätigte Winona. „Und sie versteht uns auch. Schau sie dir doch an."

Wie um das Gegenteil zu beweisen, schien Tikki plötzlich unheimliches Interesse an einem Staubfussel zu entwickeln.

„Ob er sie deshalb bei uns gelassen hat?", fragte Toireasa, doch Winona schüttelte sofort den Kopf.

„Sie hat mir geholfen, mich zu beherrschen", meinte das Mädchen. „Ich glaube, deshalb hat er sie bei mir gelassen."

„Und wer hilft ihm jetzt dabei?"

„Keine Ahnung."

„Na…"

Tikki machte zum ersten Mal ein lautes Geräusch, so als wollte sie etwas. Toireasa schaute mit Winona die kleine Dame an, die sich aufmerksam aufgerichtet hatte. Dann plötzlich ließ Tikki's Anspannung nach und sie gab einen anderen Laut von sich. Wenige Sekunden später klopfte es an der Tür, die sich Sekunden später auch öffnete. Tarsuinn's Kopf erschien.

„Ah, ihr seid noch hier", sagte er, wobei wieder einmal offen blieb, woher er das wusste. „Alles schon vorbei?"

„Zum Glück", erklärte Winona und zu Toireasa's Erstaunen erzählte sie dem Jungen dann alles, was passiert war, woraufhin am Ende Toireasa nichts anderes übrig blieb, als selbst ihren Teil beizutragen.

Der Junge hörte ihnen schweigend zu. Er war offensichtlich in ernster Stimmung gewesen, als er durch die Tür kam (wer war das nicht nach einem Privatbesuch bei Professor Snape), doch zum Schluss wirkte er fast tot.

Plötzlich ging er in den hinteren Teil des Raumes. Toireasa hatte das Gefühl, völlig ignoriert zu werden. Es war, als würde er schlafwandeln. Er ging auf eine Tür zu, hob die Hand zur Klinke und verharrte.

„Was für ein Raum ist das eigentlich hier?", fragte er mit Grabesstimme.

„Keine Ahnung!", erklärte Winona offensichtlich ein wenig beunruhigt. „Den haben meine Großeltern gewählt."

„Lasst uns hier verschwinden", sagte er und wandte sich unvermittelt von der Tür ab. „Komm Tikki. Ihr auch – raus hier."

„Was ist los?", fragte Toireasa und sprang auf.

„Wenn ich das wüsste…", sagte er hektisch und schob sie nach draußen. „Wie habt ihr das da drin nur so lange ausgehalten?"

„Erlaubst du uns ein unwissendes Häh?", fragte Winona kaum dass sie draußen waren.

„Dieser Raum", erklärte Tarsuinn und schüttelte verwundert den Kopf. „Er fühlt sich seltsam an."

Es war offensichtlich, dass von ihm keine bessere Erklärung kommen würde.

„Na dann weiter im Text", erklärte Toireasa. „Das Essen haben wir eh verpasst. Jetzt bist du dran mit einem Geständnis, Tarsuinn."

„Ach bin ich das?", fragte dieser erstaunt.

„Yep. Wir sind durch. Du bist dran."

„Gegenfrage – hast du denn schon etwas erreicht?"

Toireasa wusste, dass sie in diesem Moment recht schuldbewusst drein sah. Sie hatte sich überhaupt nicht um Tarsuinn's Bitte gekümmert. Seit dem Brief war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

„Vergessen", murmelte sie. „Entschuldige."

„Egal", sagte er, plötzlich lächelnd. „Ich hab dich absichtlich dran erinnert."

„Wärt ihr so freundlich mir zu sagen, über was ihr gerade sprecht?", wollte Winona wissen und so erzählte Tarsuinn ihr von dem Gespräch, das er belauscht hatte. Aber das auf eine Weise, die Toireasa irgendwie komisch vorkam. Sie erinnerte sich genau daran, wie der Junge sich vor knapp einem Monat ernsthaft Sorgen um den Provokationstest gemacht hatte. Doch jetzt nahm er die Sache einfach zu emotionslos hin. Kein böses Wort über das Ministerium, nur die Fakten. Das war dann doch etwas untypisch für ihn.

Winona hingegen schien zu kochen.

„Wie kannst du bei dem Mist nur so ruhig sein?!", regte sich das Mädchen auf. „Warum können die nicht einfach…?"

„Es ist nicht mehr wichtig", flüsterte Tarsuinn und für einen Moment schien er über sich selbst zu lachen. „Schon erstaunlich. Ihr habt mysteriöse Geschichten und ich hab einfach nur Angst vor einem Satz."

„Und der wäre?", wollte Winona wissen.

„Die Dementoren sind an mir interessiert", meinte Tarsuinn mit dem Versuch eines tapferen Lächelns.

„Inwiefern interessiert?", erkundigte sich Toireasa.

„Ich weiß es nicht", schüttelte der Junge den Kopf. „Selbst Professor Flitwick hat keine Ahnung. Aber sie scheinen sich nach mir erkundigt zu haben und Snape hat mich neulich gefragt was Abkömmling bedeutet."

„Und deshalb darfst du nicht raus", folgerte Toireasa.

„Mmh", brummte er.

„Na dann besteht doch keine Gefahr", fand sie. „Du bleibst drin und damit ist die Sache gegessen."

Wieder schüttelte Tarsuinn den Kopf.

„Ich will mehr wissen", sagte er leise. „Ich hab auch schon versucht was in der Bibliothek zu finden – aber nada. Naja – ist aber auch egal."

Es war zu sehen, dass es ihm nicht egal war.

„Wie kommt es, dass sie dir jetzt so viel Angst machen?", fragte Toireasa. „Ich meine, im Zug hast du doch, im Gegensatz zu uns, noch gestanden."

„Es ist ja auch nicht so schlimm", entgegnete er und lächelte. „Ist eher wie die Angst vorm Schwarzen Mann."

Toireasa kannte ihn inzwischen viel zu gut, um sich täuschen zu lassen. Sein Gesicht vermochte er zwar manchmal erschreckend gut zu kontrollieren, aber seine Hände und Tikki verrieten seine Stimmung.

Immer wenn Tikki auf seiner Schulter saß und sich tröstend an sein Ohr schmiegte, bedeutete dies, dass etwas an ihm nagte. Es war anders als damals, als er sich um Rica Sorgen gemacht hatte, aber die Anzeichen waren gleich.

„Ich hab übrigens eine Idee, wo wir eine Schriftprobe her bekommen", wechselte Tarsuinn unvermittelt das Thema.

„Lenk nicht ab", meinte Toireasa.

„Zu spät", sagte er, diesmal mit einem echten Lächeln.

„Und was wäre deine Idee?", erkundigte sich Winona.

„Naja – ich hab mich gerade gefragt, wie lange man UTZ und ZAG Prüfungen hier in Hogwarts aufhebt."

Toireasa und Winona schauten sich frustriert an. Er war so verdammt praktisch, dass man sich manchmal ein wenig dumm vorkam.

„Aber dafür müssten wir doch auch einen Lehrer um Erlaubnis fragen?", versuchte Toireasa ein Haar in der Suppe zu finden.

„Wozu?", grinste er. „Archiv finden, rein schleichen, Snapes Prüfungsergebnisse abändern, wieder rausmarschieren und…? Ach ja – die Schriftprobe nicht vergessen. Wo liegt da das Problem?"

„Verschlossene Türen, Alarmzauber, Schutzsprüche, Schulregeln?", bot Toireasa mögliche Probleme an.

„Detailfragen!", urteilte Tarsuinn und tat sehr herablassend. „Darum könnt ihr euch kümmern. Das macht ihr sicher hervorragend, bei all euren Fähigkeiten. Da braucht ihr mich nicht zu."

„Ach! Der hohe Herr hat genug von seiner Genialität über uns verteilt und lässt jetzt das Fußvolk die Arbeit machen?", fragte Winona und schubste Tarsuinn leicht.

„Nicht doch. Ich heiße nicht Regina Kosloff", wehrte der Junge sich ironisch. „Ich versuche nur die Aufgaben gerecht und den Fähigkeiten entsprechend zu verteilen."

„Und wer hat dich zum Chef bestimmt?"

„Professor Snape natürlich", lachte Tarsuinn. „Ich zitiere: McNamara, sie sind ein Unruhestifter. Sie biegen oder ignorieren Regeln. Nehmen sich Freiheiten, die kein anderer Schüler wagen würde, zu erbitten und vergiften ihre Klasse. Und so weiter und so fort."

„Was? Und so weiter?", erkundigte sich Winona misstrauisch.

„Zehn Punkte Abzug und Professor Flitwick wird von meiner Verfehlung erfahren", erklärte Tarsuinn leicht hin.

„Was für eine Verfehlung?", wollte Winona wissen.

„Naja", antwortete Tarsuinn etwas ernster. „Snape hat mitbekommen, dass ich mich mit diesem Michi-sonstwie unterhalten hab. Ist ihm wohl sauer aufgestoßen, dass niemand bemerkt hat, dass ich Geister inzwischen hören kann. Hat mir eine Standpauke von wegen Respekt gegenüber Professor Binns gehalten. Er hat überhaupt nicht gelten lassen, dass meine Leistungen in Geschichte noch viel besser waren, als ich Binns noch nicht hören konnte. Hat ihn nur lauter gemacht."

„Du musstest Snape ja auch unbedingt darauf hinweisen!", meckerte Winona.

„Heh", mischte sich Toireasa lachend ein. „Lass Tarsuinn in Ruhe. Jetzt liegt endlich wieder Slytherin vorn."

„Siehst du was du angerichtet hast?", lachte Winona. „Böser Tarsuinn."

„Gut", wehrte der sich mit fiesem Grinsen. „Schreib ich im Unterricht genauso viel mit, wie ihr auch. Wenn ihr denkt, dass es so besser ist…?"

„Heh – jetzt wirst du unfair. Was können wir dafür, dass du dich erwischen lässt", maulte Winona und flüsterte dann Tarsuinn ins Ohr (laut genug, dass es Toireasa hören konnte). „Schließ einfach nur die Slytherins von deiner tollen Arbeit aus und schon ist die Sache vergessen."

„Verschwörung!", beschwerte sich Toireasa.

„Aber volle Zauberladung", entgegnete Winona. „Und damit du nichts dagegen unternehmen kannst, werde ich jetzt Tarsuinn in den Gemeinschaftsraum bringen, bevor Penelope das Schloss durchsuchen lässt. Wir sind später dran als sonst."

So trennten sie sich für heute und Toireasa ärgerte sich wie immer über die kurze Zeit, die ihnen gemeinsam zur Verfügung stand. Auf der anderen Seite war heute einiges mehr passiert als sonst, wenn sie nur still nebeneinander saßen. Toireasa fühlte sich ein wenig befreit, endlich nicht mehr das Wissen um den Brief allein mit sich herumschleppen zu müssen.

Sie betrat, recht gut gelaunt, wenig später den Slytherin-Kerker. Trotz Unmengen wartender Hausaufgaben und den üblichen bösen Blicken der Fantastischen Fünf, ließ sie sich ihre gute Stimmung nicht verderben.

„Hallo William, Aaron", begrüßte sie die beiden Freunde. „Wie schaut's?"

„Du kannst Kräuterkunde abschreiben, wenn du Geschichte dafür rausrückst", bot Aaron ihr an.

„Na, na, na", flüsterte Toireasa dem Jungen augenzwinkernd zu. „Ihr wisst doch genau, von wem das ist."

„Natürlich!", feixte William zurück. „Es ist nur irritierend, dass wir die Vorlage nicht klauen müssen. Weiß dein Freund überhaupt davon, dass du seine Abschriften und Hausaufgaben weitergibst?"

„Yep", sagte Toireasa. „Denkt bei den Hausaufgaben nur dran: Eigene Worte, ein wenig den Inhalt abändern und niemandem sonst weitergeben. Ansonsten geht die Sache gegen den Baum."

„Wir sind doch nicht doof", nickte Aaron. „Zählt Miriam auch zu den erlaubten Abschreibern?"

„Klar doch. Wo ist sie überhaupt?"

„Keine Ahnung. Wir dachten…"

„Sie weint!", erklärte eine Mädchenstimme vom Nebentisch. Es war die Katharina, eine kleine Erstklässlerin, der Miriam und Toireasa ab und an bei den Hausaufgaben halfen.

„Warum?", fragte Toireasa besorgt.

„Das weiß ich nicht", antwortete das zierliche Mädchen. „Sie ist weggerannt, aber da die anscheinend mehr wissen,…"

Sie deutete auf Reginas Hofstaat.

„…kann es nichts Gutes sein."

„Weißt du, wo sie hin ist?", fragte Toireasa alarmiert.

„Naja – ich vermute zur Grotte, aber da findet man ja niemanden, der nicht gefunden werden will."

„Ich geh trotzdem hin", erklärte Toireasa.

„Ich würd ja gern mitgehen…", meinte Aaron.

„Schon okay", wehrte Toireasa ab. „Keiner von uns kann einen Hörsturz gebrauchen."

Sie gab Aaron und William ihre – teilweise von Tarsuinn abgekupferte – Geschichtshausaufgabe, brachte ihre Schultasche in ihren Raum und machte sich dann allein auf den Weg zur Grotte.

Manche der älteren nannten sie auch Die Grotte der gebrochenen Herzen. Dies hatte einen einfachen Grund: Jedes des Mädchen (oder auch jeder Junge) mit Liebeskummer konnte sich hier ungestört ausweinen. In Toireasa's Augen war es aber nur ein interessanter Irrgarten, der tief unter dem Schloss existierte und vollständig aus einer Art Selbstleuchtenden Kristall bestand. Wobei man nicht sagen konnte, ob das Gewirr an Gängen und Ebenen nun gewachsen oder gearbeitet war. Zumindest gab es hier unzählige Ecken und Nischen, in denen man sich verstecken konnte. Sie hätte diesen Ort gern einmal Tarsuinn gezeigt, aber leider fingen die Kristalle an zu schwingen, wenn sich hier ein Junge und ein Mädchen zu nahe kamen. Toireasa konnte nicht sagen, ob dies eine Eigenschaft der Kristalle war oder ob man mit einem Zauber nachgeholfen hatte, so wie auch die Mädchenschlafräume einige fiese Überraschungen für allzu neugierige Jungen bereithielten.

„Miriam?", rief Toireasa, als sie den Eingang zu dem Irrgarten erreichte. Sie war erst wenige Male hier gewesen und kannte sich nicht sonderlich gut aus.

Bis auf ihr Echo antwortete niemand.

Etwas zögerlich betrat sie die Kristallstruktur und machte sich in dem dreidimensionalen Irrgarten auf die Suche. Ab und an rief sie nach Miriam.

So suchte sie sicher gut eine halbe Stunde und war schon nahe dran aufzugeben, als ihr eine Möglichkeit in den Sinn kam.

„Ähem Miriam", sagte sie mit leicht ängstlicher Stimme. „Ich glaub, ich hab mich verlaufen."

Nichts.

„Ich will hier raus. Kann mich irgendwer hören. Ich hab mich verlaufen!"

Den Trick versuchte sie fünf Minuten lang, dann…

„Ich bin hier!", hörte sie Miriams Stimme.

„Wo genau?", fragte Toireasa aufgrund der vielen Echos und ging langsam dahin, woher sie die Stimme zu hören glaubte.

„Hier!", erklang es diesmal näher.

Sie ging in einen Gang, den sie beinahe übersehen hätte, und fand dort Miriam, welche sie mit roten Augen ansah. Wäre es Regina gewesen, Toireasa hätte laut gelacht. Doch da das Mädchen so etwas wie einer Freundin recht nahe kam, war sie eher zornig.

Die hüftlangen Haare Miriams trotzten im Moment der Schwerkraft und standen wie ein riesiger Igel in alle Richtungen ab.

„Lach ruhig", sagte das Mädchen schniefend.

„Warum sollte ich?", schüttelte Toireasa den Kopf. „Ist doch nur ein Haarsträube-Fluch."

„Nur!", schrie Miriam fast und schien schon wieder den Tränen nahe. „Seit ich fünf bin wollte ich so lange Haare haben und es war richtige Arbeit so weit zu kommen. Jeden Tag habe ich mehr als eine Stunde dafür gebraucht und Unmengen Lizgard Bunglers Haarlotion verbraucht und jetzt schau dir das an! Alles Spliss! Da ist kein einziges Haar mehr ganz. Das kann man alles abschneiden."

„Madame Pomfrey hat bestimmt ein Mittel, um es nachwachsen zu lassen. Oder vielleicht kennt sie auch einen Zauber."

„Das ist nicht das Gleiche!", schüttelte Miriam zornig den Kopf. „Wenn man ordentliches Haar haben will, muss man es langsam wachsen lassen und es richtig behandeln. Es dauert mindestens fünf Jahre, bis es wieder so lang ist wie vorher."

„Tut mir leid", sagte Toireasa ehrlich und fügte dann doch noch eine Frage hinzu, welche sie selbst mehr beschäftigte. „Wer war es?"

„Wer wohl? Regina natürlich! Ich bin ihr ausversehen auf den Umhang getreten und zack…"

„Tut mir wirklich leid", konnte Toireasa nur wiederholen, denn ihr war klar, warum Regina es wirklich getan hatte.

„Ja, irgendwie sollte es das wohl", entgegnete Miriam und Toireasa zog sich innerlich schon ein Stück zurück.

„Aber nicht zu sehr", fuhr das Mädchen fort und in ihr Gesicht zog eine leichte Boshaftigkeit. „Denn Regina ist zu weit gegangen. Sie hat mir immer geneidet, dass meine Haare schöner waren und jetzt, da das vorbei ist, werde ich mich bei ihr revanchieren. Und du wirst mir dabei helfen!"

„Sicher doch", stimmte Toireasa sofort zu, obwohl sie eigentlich ganz froh war, vor den Fantastischen Fünf im Moment Ruhe zu haben. „Nichts lieber als das."

„Das Problem ist nur,…", sagte Miriam. „…ich hab keine Ahnung, was man da so macht."

„Ich helfe dir auch dabei."

„Aber Slytherin darf keine Punkte abgezogen bekommen!", stellte Miriam zur Bedingung.

„Natürlich nicht", versprach Toireasa.

„Und was mache ich damit!", fluchte Miriam und fuhr sich durch das abstehende Haar.

„Ich dachte, das muss man abschneiden?", fragte Toireasa etwas instinktlos.

„Ja, natürlich muss man das!", schaute Miriam böse. „Ich meine nur – ich kann doch nicht mit einer Glatze herumlaufen."

Wenigstens dafür wusste Toireasa eine Lösung.

„Naja – ich hab ne Freundin", sagte sie und spielte damit auf Rica an. „Die hat auch keine Haare, obwohl sie jetzt langsam wieder wachsen. Aber sie sieht trotzdem immer toll aus, weil sie immer ein Barett oder ein Kopftuch trägt. Wenn man es richtig knotet, sieht es fast so aus, als wären Haare drunter. Alternativ kann man vielleicht auch eine Perücke…"

„Niemals!"

„War ja nur ein Vorschlag. Aber das mit dem Barett würde dir bestimmt stehen."

„Und was ist überhaupt ein Barett?", fragte Miriam.

„So was wie ein Hut!", erklärte Toireasa dem Mädchen, das wie sie selbst ja aus einer Zaubererfamilie stammte. „Sieht aber deutlich anders aus. Wenn du willst, besorg ich bis übermorgen früh ein oder zwei."

„Und bis dahin ein Kopftuch", schlussfolgerte Miriam. „Okay – dann zaubere mir die Haare ab. Du kennst doch sicher den Spruch."

„Ja schon", zweifelte Toireasa. „Aber ich war nie gut darin."

„Du wirst doch eine Glatze zaubern können", drängte Miriam ungehalten und Toireasa sah in ihren Augen, wie dem Mädchen dieser Vorgang in der Seele weh tun würde.

„Na gut", gab Toireasa nach. „Halt still. Capillus tondêre!"

Vorsichtig bewegte sie ihren Zauberstab und da, wo das Holz das Haar des Mädchens berührte, löste es sich auf. Toireasa war froh, dass sie keine ordentliche Frisur hinbekommen musste. Es fiel ihr schon schwer, dem Mädchen nicht die Ohren oder die Kopfhaut zu versengen. Das hätte noch gefehlt: Miriam verlor ihr schönes Haar, dank ihrer freundlichen Haltung Toireasa gegenüber und dann wurde ihr auch noch die Haut angezündelt. Das musste nun weiß Gott nicht sein.

Im Anschluss daran ließ sie Miriam kurz in der Kristallgrotte zurück, holte ein Seidentuch und brauchte danach sicher zehn Minuten dafür, das Tuch so zu knoten, dass es halbwegs so hübsch wie bei Rica aussah. Am Ende sah man von Miriams Kopf nur noch das Gesicht und die Ohren, während ein Teil des Tuches wie ein Schleier ihren Rücken herunterfiel und so die Illusion von langem Haar darunter erzeugte.

Wie erfolgreich sie damit waren, zeigte sich später in der Reaktion von Regina plus Meute. Sie hatten gewartet um über Miriam lachen zu können, doch in ihrer Reaktion sah man eine gewisse Enttäuschung, was Toireasa sehr befriedigte. Es war nicht der komplette Triumph, den die Meute sich erhofft hatte und so blieb es bei einigen dummen Kommentaren. Miriam verschwand in ihrem Schlafsaal und Toireasa setzte sich wieder zu William, dessen Freund Aaron anscheinend schon schlafen war.

„Hier", sagte der Junge und gab ihr die Hausaufgaben und Mitschriften von Geschichte der Zauberei zurück. „Möchtest du jetzt Kräuterkunde haben?"

Leicht an ihrem Verstand zweifelnd, schüttelte Toireasa den Kopf.

„Etwas anderes wäre mir lieber", flüsterte sie dem Jungen zu.

„Und das wäre?", fragte William und beugte sich näher zu ihr.

„Besorg für mich heimlich ein paar Informationen", bat Toireasa. „Nichts Illegales, aber es muss unbedingt heimlich geschehen."

„Wie heimlich?", fragte der Junge.

„Niemand außer dir und mir darf davon erfahren oder ahnen", erklärte Toireasa. „Ich bin bereit ein halbes Jahr Unterlagen für Geschichte dafür zu bieten."

„Ich hätte es auch so getan", grinste William. „Aber jetzt mache ich es mit Begeisterung."

„Abgemacht?"

„Abgemacht! Um was geht es?"

„Du musst für mich so viel wie möglich über einen so genannten Provokationstest herausfinden. Hat was mit Psychologie zu tun."

„Wozu willst du das denn wissen?", fragte William misstrauisch.

„Bis ans Ende des Schuljahres", bot Toireasa an, um dieser Frage (und weiteren) auszuweichen.

„Schon verstanden", nickte er.

„Fein", schloss Toireasa das Gespräch ab.

„Immer wieder ein Vergnügen mit dir zu verhandeln."

„Geht mir ähnlich. Wir sehen uns dann morgen", verabschiedete sich Toireasa, ging zu ihrer Tür, drehte sich dann aber noch einmal herum. „Es wäre sehr hilfreich, wenn ihr Miriam gegenüber unauffällig erwähnt, dass sie ungewohnt, aber hübsch aussieht."

„Machen wir, verlass dich drauf", erwiderte William. „Gute Nacht."

Danach ging Toireasa endgültig zum Schlafen. Sie kam gerade in ihrem Weihnachtspyjama aus dem Bad, dachte an nichts Böses, als der unerwartete Anblick einer halb durchsichtigen Gestalt auf ihrem Bett sie zusammenzucken ließ.

„Werden Einzelzimmer langsam Mode?", fragte die Gestalt, die Toireasa inzwischen als die Graue Lady erkannte hatte, dem Hausgespenst der Ravenclaws.

„Ähem – ich glaub nicht… ähm, dass dies Standard…", stammelte Toireasa und fing sich dann wieder: „Ich weiß nicht, ob Sie hier sein dürfen."

„Auch dir einen guten Abend", sagte die Graue Lady tadelnd. „Aber um dir deine Sorge zu nehmen, ich habe die Erlaubnis des Roten Barons hier zu sein. Es wird auch nicht lange dauern, doch Miss Darkcloud war der Ansicht, du wärst ein besserer Ansprechpartner für mich. Ich hab da ein Problem. Es geht um Tarsuinn…"

Um wen auch sonst?