- Kapitel 10 -
Schwarze Tränen, silbernes Blut
Ihr Puls hatte sich noch lange nicht beruhigt, als Toireasa mit den anderen das Schloss endlich erreicht hatte. Wie die anderen auch, hatte sie die Gefahr genossen. Natürlich war es verboten, aber die Möglichkeit erwischt zu werden, war das Erlebte mehr als wert.
Doch es gab noch einen anderen Grund, warum sie es kaum schaffte, ihre Unruhe zu bezähmen. In ihr schwangen immer noch der Beifall und der Jubel mit, der ihnen beim Spiel zugedacht gewesen war. Dies zu erleben war die Erfüllung eines Kindheitstraumes gewesen und dass sie wahrscheinlich niemals in der Quidditch-Mannschaft von Slytherin spielen würde, schien zumindest heute unwichtig.
„Und denkt dran", sagte Winona kurz bevor sie sich trennten, um zu ihren Häusern zu schleichen. „Wir geben maximal zu, Peeves als Halloweenscherz gekidnappt zu haben, mehr nicht. Es sei denn, sie haben unwiderlegbare Beweise. Ach – und vergesst nicht euch das Gesicht gründlich zu waschen!"
Toireasa beschloss jetzt nicht zu erwähnen, was Tarsuinn während des Spieles gesehen, beziehungsweise eher nicht gesehen, hatte. Das hatte Zeit und sie kannte diese Ginny nicht gut genug, um ihre Reaktion auf die eventuelle Anwesenheit ihrer Hauslehrerin abzuschätzen. Aber als Spielerin war das Mädchen wirklich nicht schlecht gewesen. Zumindest besser als Luna, die das Gryffindor-Mädchen vorgeschlagen hatte. Musste wohl an den Weasley-Genen liegen, was Toireasa auch auf einen gewissen Ungehorsam hoffen ließ.
Sie flüsterten einander Gute-Nacht-Wünsche zu, dann schlich Toireasa mit William hinunter in die Kerkergewölbe, ohne jemandem zu begegnen. Wie immer brachte sie die neue Passwortphrase nur schwerlich über die Lippen und so überließ sie es William, officium suum servare zu sagen.
Kaum waren sie in den Gemeinschaftsräumen, als Toireasa auch schon zu ihrem Einzelzimmer strebte. Doch William hielt sie zurück.
„Ähem!", sagte er verlegen, als sie ihn überrascht ansah. „Danke für das…na du weißt schon."
„Erlebnis?", half sie aus.
„Nein. Ich wollte eigentlich sagen, Vertrauen", gestand er und wurde rot. „Und auch das mit dem Test. Ich glaub, ich weiß jetzt, warum du das wissen willst."
„Und?", fragte sie und kniff wachsam ihre Augen halb zusammen.
„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin mir sicher, es ist den anderen nicht besonders leicht gefallen, einen unbekannten Slytherin zu dulden. Besonders dieser Weasley nicht."
„Ginny hat nix dazu zu sagen", erklärte Toireasa. „Uns fehlten noch zwei Leute, die Spaß daran haben würden mitzuspielen, die gut fliegen können und uns nicht verraten. Ich hab dich, Luna hat Ginny vorgeschlagen."
„Sie mochte mich nicht sonderlich."
„Das war ihr, aber genauso auch dir, sehr gut anzusehen. Aber beim Verabschieden hatte sich das anscheinend etwas gegeben, oder?", teilte Toireasa ihm ihre Beobachtungen mit.
„Ich geb zu, sie kann richtig gut fliegen und spielen", gab er ein wenig widerwillig zu. „Wenn die Gryffindors nicht schon drei eingespielte Jägerinnen hätten, könnte sie vielleicht im Hausteam spielen."
Toireasa hatte das auch so empfunden.
„Sie wirkte auch nicht so arrogant, wie die sonstigen Gryffindors", erklärte William in seltsamem Ton.
Toireasa beschloss, nicht weiter darauf einzugehen.
„Wir sollten sehen, dass wir endlich die Farbe aus dem Gesicht bekommen, bevor noch jemand aufwacht", sagte sie und wedelte etwas linkisch zum Abschied mit der Hand.
„Was ich dir noch sagen wollte", hielt William sie noch kurz zurück. „Ich bekomme in einigen Tagen einen Brief und dann kann ich dir das mit dem Test etwas genauer erklären. Und sobald du alles weißt, sind wir quitt, okay? Wir vergessen unsere Abmachung mit den Mitschriften! Das heute war mir viel mehr wert als das."
„Warum?", fragte sie erstaunt.
Er blieb noch einmal kurz stehen.
„Ich versuche dir ein wirklicher Freund zu sein", sagte er leise zur Antwort. „Und Freunde fragen nicht nach der Gegenleistung, denke ich."
Dann verschwand er endgültig in seinem Schlafraum und ließ eine leicht irritierte Toireasa zurück. Sie wusste nicht, warum sie sich nicht richtig freuen konnte. Jetzt endlich sagte jemand in Slytherin, dass er ihr Freund sein wollte, ein richtiger Freund. Doch nun, da es soweit war, machte sie sich nur Gedanken darüber, dass sie nicht vorhatte, dafür ihre Zeit mit Winona und Tarsuinn einzuschränken. Die Möglichkeiten, die ihr eine enge Freundschaft mit William innerhalb des Hauses Slytherin eröffnete, schienen ihr plötzlich den Aufwand nicht wert. William war ja okay, aber der Kampf um Anerkennung innerhalb ihres Hauses war inzwischen fast vollständig von ihren Problemen (und denen ihrer Freunde) verdrängt worden.
Wie häufiger in diesen Tagen, ging sie mit einem Kopf voller Gedanken unter die Dusche und ließ dann das Wasser die düsteren Überlegungen etwas verwässern. Am Ende fühlte sie sich wieder viel besser und die Erinnerungen an das morgendliche Spiel waren lebendig genug, um alles Schlechte vorübergehend zu verdrängen. Merton hatte sie wirklich mit diesem Schleuderwurf gekonnt ausgetrickst, musste sie zugeben. Dass McGonagalls Sitzplatz nicht von einem Geist besetzt gewesen war – weshalb Tarsuinn niemanden hatte sehen können – legte sie einfach mal als Berufsrisiko von Regelbrechern aus. Wenn sie Glück hatten, dann hatte McGonagall niemanden erkannt und da sie bei dem Spiel nichts hatte sagen können, ohne selbst aufzufallen, blieb es vielleicht auch so. Immerhin gab es bei dem Geisterspiel die Keine-Lebenden-Regel und allein die Befriedigung, dass Professor McGonagall zugeben musste auch mal eine Regel gebrochen zu haben, wäre schon fast die Strafarbeit wert. Toireasa hatte zwar nichts gegen die Lehrerin, aber es war schon mal ganz gut zu wissen, wie menschlich doch auch solche Halbgötter waren.
Es blieb noch viel Zeit bis zum Frühstück und so polierte sie ihren Besen und den ihres Großvaters. Sie fragte sich dabei, ob Großvater Samuel ihr den Senior Glider FVOW mit dem Wissen von Großmutter überlassen hatte, oder nicht. Irgendwie bezweifelte sie das. Deshalb hatte sie ja an ihn geschrieben und dank Keyx war der Brief anscheinend auch heimlich angekommen. Sie musste heute im Lauf des Tages noch einmal in die Eulerei gehen und ihn ein wenig verwöhnen.
Als endlich die Zeit zum Frühstück kam, wartete sie, bis sie genug andere Slytherins hörte und ging dann einfach hinter diesen hinauf zur Großen Halle. Am Eingang erwarteten sie schon Tarsuinn (mit einer äußerst zufriedenen Tikki), Winona, Merton und Luna. Ohne viel zu fragen, wurde Toireasa rechts und links untergehakt und an den Ravenclaw-Tisch verschleppt.
„Feiertag!", verkündete Merton grinsend, als sie sich ein klein wenig sträubte.
„Aber ist das nicht auffällig?", flüsterte Toireasa.
„Du sitzt immer an Feiertagen bei uns", erklärte Tarsuinn lächelnd. „Alles andere wäre ungewöhnlich."
Toireasa gab ihren Widerstand auf und so verbrachten sie ein angenehmes Frühstück zusammen. Sie war sogar ein wenig erstaunt, dass Cassandra, Alec und Ian sich gar nicht so weit weg von ihnen hinsetzten, wenn sie sich auch mit anderen Zweitklässlern unterhielten.
Leider konnten sie nicht über das Erlebnis von letzter Nacht sprechen, aber Toireasa konnte sehen, wie sehr dieses Thema den anderen auf der Zunge brannte. Ausgenommen von Tarsuinn, der relativ still war. Doch diesmal lag ein permanentes Lächeln auf seinen Lippen und er drehte sich jedem Geist zu, der durch den Großen Saal schwebte. Seine Augen huschten ständig hin und her und sein sonst üblicher starrer Blick wirkte plötzlich so lebendig. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sich seine Iris veränderte und das Schwarze in den Augen mal größer und mal kleiner war.
„Was habt ihr heute vor?", fragte Merton, nachdem er eine riesige Portion Würstchen und Rührei hinuntergeschlungen hatte – sie waren heute alle etwas hungrig.
„Ich geh Geister schauen", sagte Tarsuinn sofort.
„Ich komme mit", erklärte Winona sofort. „Aber du klingst so, als wolltest du etwas vorschlagen, Merton?"
„Naja – ich hab vorhin die ganze Zeit über etwas nachdenken müssen", sagte der Junge und zwinkerte verschwörerisch. „Wir wissen doch offensichtlich recht wenig über das Schloss, oder? Ich meine nicht nur die Sachen, die jeder verstecken würde,…"
Wieder zwinkerte der Junge.
„…sondern auch völlig normale Sachen. Ich meine, weiß jemand wo die Küche hier ist? Ich hab noch nie eine Tür gesehen. Und dann soll es hier Hauselfen geben. Mal melden, wer schon einem begegnet ist!"
Eine kleine Bewegung Tikki's zog Toireasa's Blick auf sich. Es war ein Zucken ihrer Pfote gewesen, nicht viel, nur einen Moment, aber Toireasa konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eine Reaktion auf Mertons Aufforderung war. Niemand sonst schien es bemerkt zu haben.
„Du willst das Schloss durchsuchen?", fragte Toireasa.
„Yep."
Das klang schon nach einer guten Idee.
„Vielleicht finden wir ja Rowena's Kristall des Allwissens", hoffte Luna.
Alle am Tisch schmunzelten über Luna, doch niemand wies sie darauf hin, dass der Kristall eine Legende war.
„Und wenn wir schon dabei sind, finden wir wahrscheinlich auch noch ihre goldene Klobrille", sagte Tarsuinn mit einer Ernsthaftigkeit, die nur gespielt sein konnte.
Toireasa schaffte es nicht, ein Grinsen zu unterdrücken.
„Ärgere nicht immer Luna!", war es unerwarteterweise Merton, der ihn dafür schalt.
„Tue ich gar nicht", wehrte sich Tarsuinn. „Schließlich war die Kammer des Schreckens ja auch keine Legende, sondern Realität."
„Ginny spricht nicht gern darüber", sagte Luna, ohne dass jemand etwas in dieser Richtung angedeutet hatte. „Fragt sie nicht."
„Das übernimmst du schon", meinte Tarsuinn. „Ich bin eh nicht sonderlich an der Kammer interessiert. Die Sache mit der Küche aber schon eher. Vor allem weil ich schon mal davor gestanden habe."
„Warum hast du das nie erzählt?", fragte Merton entsetzt. „Wo die Küche zu finden ist, ist doch wohl das nützlichste Wissen von allem!"
„Ich hab keine Tür gefunden und schließlich war es mein erster Tag hier", verteidigte sich Tarsuinn mit hintergründigem Lächeln. „Ich war völlig damit beschäftigt festzustellen, ob dies hier alles echt oder nur eine Irrenanstalt ist. War irgendwie sehr unwirklich und ich glaubte auch, ich könnte den Verstand verloren haben. Im Grunde glaub ich das manchmal noch heute."
„Was? Dass du verrückt bist oder dies hier ein Irrenhaus ist?", erkundigte sich Merton lachend.
„Beides natürlich!", antwortete Tarsuinn.
„Da fällt mir ein", sagte Toireasa. „Wie ist das eigentlich bei Muggelgeborenen, Merton. Ich meine, wenn der Brief kommt. Haben das deine Eltern überhaupt ernst genommen?"
„Bei solchen wie mir, kommt nicht nur der Brief", erklärte Merton und Toireasa sah, dass dies für die Ravenclaws am Tisch nichts Neues war. „Professor Sprout und der Cousin meines Vaters – den ich bis dahin gar nicht kannte und der in der Familie als ziemlich exzentrisch gilt – haben dem Schreiben beeindruckend Gewicht verliehen. Meine Eltern waren – im Gegensatz zu mir – nur schwer zu überzeugen. Vor allem wollten sie mich eigentlich nicht weglassen. Naja – meine Geschwister zeigen keine magische Befähigung, das hat sie wohl getröstet und ich glaub, ein wenig froh waren sie am Ende schon."
„Warum?"
„Sie glaubten zwar nicht an Magie, dafür aber an Gespenster und sie dachten, wir hätten eines im Haus, weil immer alle Plüschtiere, die ich mochte, bei mir im Bett lagen. Egal wie unerreichbar sie weggeräumt waren. Hat ihnen ein wenig Angst gemacht, aber als es dann mal in unserer Küche brannte und das Feuer einfach so ausging, waren sie wenigstens der Ansicht es wäre ein gutes Gespenst."
„Muggel glauben an Geister, aber nicht an Magie?", fragte Toireasa verblüfft.
„Erstaunlich nicht?", lachte Merton. „Und dabei sehen sie Gespenster fast nie, Magie aber eigentlich ständig."
„Sehen, aber nicht wahrnehmen", sagte Luna.
„Seit meine Eltern mit in der Winkelgasse waren, haben sie einen gewissen Blick für Magie entwickelt", schüttelte Merton den Kopf. „Wenn man weiß, dass etwas möglich ist, dann glaubt man auch, was man sieht."
„Zu viele Leute sehen nicht, was sie nicht glauben wollen", gab Luna ernst zu. „Nicht nur Muggel!"
„Amen! Ich bin ein Ungläubiger", kommentierte Tarsuinn verschmitzt. „Aber ich kann nichts dafür – Gott hat mich so erschaffen."
Alle lachten.
„Für den Spruch hätte ich mir zu Hause einen Satz heißer Ohren eingefangen", meinte Merton spitzbübisch. „Den muss ich mir merken."
Danach beendeten sie das Frühstück. Merton machte sich auf, das Schloss zu erkunden, Luna schwebte irgendwo hin und Toireasa ging mit Tarsuinn und Winona Geisterschauen. Obwohl sie heimlich lieber mit Merton mitgegangen wäre.
Halloween mochte ein Feiertag sein, aber für Tarsuinn war es der Feiertag schlechthin. Sie wollte bei ihm bleiben und sich mit ihm freuen.
Es war lustig, ihm dabei zuzuschauen, wie er, mit Tikki auf der Schulter, durchs Schloss lief, stellenweise mit offenem Mund, und jeden Geist freundlich ansprach. Tarsuinn grüßte zum Beispiel Professor Binns so begeistert, dass dieser verblüfft stehen blieb und schien dann in eine richtige Glaubenskrise zu stürzen, als der Junge erklärte, wie sehr er es bedauere, dem sicherlich interessanten Unterricht nicht folgen zu können. Eine unverfrorene Lüge, aber eine lustige.
So verbrachten sie den gesamten Tag.
Vor allem die verschiedenen Farben schienen es Tarsuinn angetan zu haben. Ständig deutete er auf einen Geist und sagte: „Schaut mal das Blau und da, das …ähem rotähnliche irgendwas."
„Das ist Rosa", erklärte Toireasa.
„Find ich hässlich. So blass. Das dunkle Rot da gefällt mir besser."
„Das nennt man Weinrot. Aber das ist doch eigentlich auch ziemlich blass?"
„Es geht noch intensiver?", fragte Tarsuinn erstaunt.
„Natürlich, Geister sind doch durchscheinend und bei Tageslicht wirken sie alle fast unwirklich", sagte Toireasa.
„Vergiss nicht, dass Tarsuinn nur die Geister sieht", mischte sich Winona ein.
„Stimmt", erkannte nun auch Toireasa. „Welche Farbe hat denn die Umgebung, wenn du siehst, Tarsuinn?"
„So wie immer, vollkommen Schwarz", erklärte er und dann gingen sie weiter, weil der Geist, eine Balletttänzerin, sie schon ein wenig ärgerlich ansah. „Aber es ist unglaublich toll, solche Farben zu sehen."
„Ich dachte in deinen Träumen siehst du…?", fragte Toireasa leise und schalt sich sofort für ihre Dummheit. Winona schaute auch ein wenig böse zu ihr.
„Glaub mir, das ist nicht farbenfroh", entgegnete er und zu ihrer Erleichterung schien es seine gute Laune nicht zu vertreiben. „Wartet mal, ich will was probieren."
Er holte seinen Zauberstab hervor und deutete mit der Spitze auf seine linke Hand.
„Hältst du das für eine gute Idee?", fragte Toireasa und trat einen Schritt zurück. Sie hatte ihm oft genug beim Üben geholfen und wusste, was alles schief gehen konnte.
„Nein, aber der Zeitpunkt ist ideal", entgegnete er und lächelte unsicher. Dann schloss er die Augen und begann mit einer kurzen Zauberformel, während sein Zauberstab die Form seiner Hand nachzeichnete. Toireasa hatte noch nie von einem solchen Zauberspruch gehört.
Glücklicherweise gab es diesmal keine negativen Auswirkungen. Nur ein goldenes Funkeln umgab jetzt Tarsuinn's Hand.
„Was macht das?", fragte Winona misstrauisch. „Oder besser, was soll dieser Zauber machen?"
„Also theoretisch…", sagte er, legte die linke Hand auf eine Wand und begann sofort zu lächeln.
„Grau!", sagte er dann triumphierend. Unerwartet schnell lief er zu einem Bild. Der Besitzer des Bildes, ein kleiner, auf einem Bernhardiner reitender Kobold, wich unwillig zur Seite, als Tarsuinn's Finger über seine Farben glitten.
„Unerhört", brummte der Kobold und ritt in ein anderes Bild. Tarsuinn achtete nicht darauf.
„Grün. Braun. Ein helles Blau. Weiß. Gelb", beschrieb er und meinte damit eine Wiese, einen Baumstamm, den Himmel, Wolken und die Sonne.
Das goldene Leuchten um seine Hand verblasste.
„War das richtig von den Farben her?", fragte er neugierig.
„Hundertpro!", erklärte Toireasa. „Woher…?
„Das Geschenk von Winonas Eltern", erklärte Tarsuinn, nur um Toireasa noch mehr zu verwirren.
„Äh?", fragte sie deshalb.
„Ein Buch mit Zaubersprüchen für Blinde!", erklärte Winona. „Meine Eltern haben es ihm zu Weihnachten geschenkt."
„Nett von ihnen", fand Toireasa. Vor allem, wenn man bedachte, dass Tarsuinn damals noch nicht zaubern konnte.
„Oh, war eher ein Zufall", erklärte Winona. „Eigentlich glaubten wir, ihm ein leeres Buch mit einem hübschen Einband zu schenken. Als Tage- oder Notizbuch."
„Erstaunlicher Zufall", runzelte Toireasa die Stirn.
„Jetzt wo du es sagst…", fand auch Winona und starrte nachdenklich Tarsuinn an, der mit Unschuldsmiene schon wieder den Zauberstab schwang.
„Ha! Erwischt!", erklang plötzlich die Stimme des Hausmeisters, der gerade mit Mrs Norris um eine Ecke gebogen kam. „Zaubern in den Gängen ist verboten!"
„Aber ich hab doch nur…", sagte Tarsuinn und klang überrascht. Anscheinend war er so begeistert bei der Sache gewesen, dass er den Hausmeister nicht bemerkt hatte. Recht ungewöhnlich. Normalerweise war Tarsuinn so etwas wie ein wandelnder Lehrer- und Hausmeisterdetektor, der um jede Ecke funktionierte.
„Keine Ausreden, McNamara", sagte Filch und ein bösartiges Grinsen zierte sein Gesicht. „Du kommst jetzt mit! Bestrafungsformular!"
„Heut ist doch Halloween!", meckerte Winona und blickte sauer zu Filch auf. Doch dieser war nicht an Diskussionen interessiert, sondern wollte Tarsuinn an der Schulter packen. Der Junge wich der zugreifenden Hand aus, indem er im letzten Moment einen Schritt zurückwich.
„Ich komm ja schon mit", sagte der Junge und das freundliche Lächeln kehrte wieder auf seine Lippen zurück. „Gönnen wir Mr Filch die Freude."
Filch griff ein zweites Mal zu und diesmal erwischte er Tarsuinn, der einen kurzen Augenblick das Gesicht vor Schmerz verzog.
„Dir wird das Scherzen noch vergehen, McNamara!", fauchte Filch und schob Tarsuinn davon. Tikki sprang von seiner Schulter und fauchte aus zwei Metern Mrs Norris an, die ihre Abneigung in der gleichen Art äußerte.
Toireasa und Winona wollten langsam hinterher gehen, doch dann drehte Tarsuinn sich halb um, winkte kurz mit der Hand ab und zwinkerte. Er hatte immer noch nicht gelernt, dabei nur ein Auge zu schließen.
Also blieb Toireasa stehen und schaute Winona an. Sie dachte: Was jetzt? Und Augenblicke später zuckte Winona mit den Schultern.
„Merton helfen?", fragte Toireasa.
„Warum nicht!", meinte Winona.
„Und wenn Tarsuinn wieder da ist, bringen wir ihm bei, verschwörerisch zu zwinkern", erklärte Toireasa grinsend. „Heute kann er es lernen."
„Das ist dringend nötig", stimmte Winona bei. „Aber es wurmt mich, dass Filch einen Grund gefunden hat, Tarsuinn den Tag zu versauen."
„Was soll er schon machen?", schüttelte Toireasa den Kopf. „Strafarbeiten? Ausgehverbot? Tarsuinn ist doch so was völlig egal."
„Nicht, wenn Professor Snape ihn in die Finger bekommt."
„Darf er nicht. Filch kann nicht selbst bestrafen, sondern nur eine Strafempfehlung an den Hauslehrer schreiben."
„Es sei denn, Professor Snape kommt hinzu und übernimmt den Fall."
„Seien wir ehrlich, ich glaube für Snape ist das eine genauso große Bestrafung wie für Tarsuinn", lachte Winona.
„Ich hatte immer den Eindruck, dass Tarsuinn den Professor etwas fürchtet", zweifelte Toireasa.
„Weniger als wir anderen", widersprach Winona. „Du bist Slytherin, euch tut er meist nichts, aber vor allem die Gryffindors haben ziemlich unter ihm zu leiden. Die hassen ihn regelrecht."
„Kann ich sogar verstehen", gab Toireasa zu. „In Zaubertränke haben wir ja mit denen zusammen und mir ist es ab und an ziemlich peinlich, wie unfair der Professor die Punkte vergibt. Ich meine, er hat keinem Slytherin in meiner Klasse Punkte abgezogen, egal wie mies unsere Tränke sind. Ich hab sogar mal meinen aus Versehen aufgelöst und nichts ist passiert."
„Und deshalb mögen wir dich!", sagte Winona ernst und boxte leicht gegen Toireasa's Schulter. „Du schämst dich dafür."
„Aber ich sag auch nichts dagegen."
„Würde nichts bewirken und dir nur mehr Ärger machen", fand Winona jedoch. „Jetzt, wo du einigermaßen mit deinem Haus klar kommst."
„Ich werd von den meisten nur geduldet", erklärte Toireasa. „Ich bringe gute Punkte und mache im Moment keinen Ärger mehr. Das ist alles."
„Und was ist mit diesem William? Der machte einen recht netten Eindruck, wenn auch etwas zurückhaltend."
Toireasa dachte an das morgendliche Gespräch zurück.
„Mag sein. Er ist ganz okay."
„Aber?"
„Ich glaube nicht, dass er mit uns zusammen gegen Regina und ihre Freunde stehen würde, falls das nötig wäre. Wenn ich ihn als echten Freund haben möchte, dann müsste ich euch aufgeben."
„Dann würden wir gegen ihn und um dich kämpfen", versprach Winona ernsthaft. „Weißt du, was Tarsuinn heute Morgen gesagt hat, bevor wir zum Frühstück gingen?"
„Nein. Woher auch?"
„Er sagte:" und Winona versuchte Tarsuinn's Tonfall zu imitieren, „bitte holt dann Toireasa an den Tisch. Sie hat heut irgendwie Geburtstag."
„Aber ich hab erst im Dezember…oh!"
Winona hatte ihr vielsagend zugezwinkert.
„In seiner Welt ist heute vor einem Jahr Toireasa Keary-Davian gestorben", erklärte das Mädchen. „Und wenn ich mich zurückerinnere, dann hat er Recht. Allein, mir deinen Zauberstab zu geben…"
„Ich hab ihn nur Professor Dumbledore gegeben!", korrigierte Toireasa.
„Das tut nichts zur Sache. Zumindest hast du ihn freiwillig aufgegeben. Das hat mir damals stark imponiert, auch wenn ich dich am liebsten in den Krankenflügel gebracht hätte."
„Das ist wirklich schon ein Jahr her?", fragte sie sich verwundert und die Erinnerungen drückten ein wenig auf ihre Laune. Sie hatte dies bis jetzt erfolgreich verdrängt.
„War ein ziemlich radikaler Schnitt", sagte Toireasa nach einer Weile vorsichtig.
„Ein Wunder trifft es eher", grinste Winona frech.
„Ja, ja", entgegnete Toireasa ungnädig. „Aber was machen wir jetzt?"
Genau diesen Moment suchte sich eine Eule aus, um den Gang entlang zu flattern und einen Brief in Toireasa's Hände fallen zu lassen. Kein Absender, keine Anschrift.
„Ist das von…?", fragte Winona, die Stimme gesenkt.
Toireasa sah sich hektisch um, steckte den Brief ein und zog dann Winona in einen der Innenhöfe. Sie setzten sich offen hin und hatten damit sofort im Blick, falls sich ihnen jemand näherte.
Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag und hielt den Inhalt auch Winona hin, damit sie gleichzeitig lesen konnten.
Hallo mein Schatz,
es tut mir leid, dass ich Dich mit den wenigen Zeilen im ersten Brief allein gelassen habe, doch mir blieb nicht viel Zeit und diesmal habe ich nicht wesentlich mehr.
Natürlich weiß ich, dass man Dir erzählt hat, ich wäre tot und damit hat Dich niemand wissentlich angelogen. Ich hielt es für besser für Dich, wie auch für mich, zu verschwinden, denn auf meiner letzten Mission wurden wir verraten und ich fürchtete, man würde versuchen mich mit Dir zu erpressen. Indem ich tot war, warst Du sicher. Es hat mir sehr wehgetan, Dich nur aus der Entfernung zu betrachten. Doch inzwischen interessieren sich Personen für Dich, deren Aufmerksamkeit mir nicht gefällt. Sei bitte vorsichtig.
Außerdem habe ich das Gefühl, man kommt mir langsam auf die Schliche. Das war aber abzusehen, da ich wieder ein wenig aktiver lebe. Es steht zu erwarten, dass du demnächst offiziellen Besuch bekommst. Also, sei vorsichtig was Du diesen Leuten sagst, die da kommen, und zeig niemandem den Brief. Ich weiß nicht wer, aber es muss uns damals jemand verraten haben, dem wir vertrauten.
S. K.
„Das war doch deutlich persönlicher und umfangreicher als vorher", sagte Winona, nachdem Toireasa den Brief wieder weggesteckt hatte.
„Ja", antwortete Toireasa gedehnt. Sie wollte es ja glauben. „Aber im Grunde steht nichts drin, was ein Beweis wäre."
„Wir müssen nur einen Weg durch die Türen finden", sagte Winona.
„Wäre hilfreich", fand auch Toireasa. „Was hat eigentlich die Sache mit den Fingerabdrücken ergeben?"
Die Frage machte Winona leicht verlegen.
„Ich wollt es dir morgen sagen", erklärte das Mädchen. „Meine Eltern haben auf dem Brief von S. K. Fingerabdrücke gefunden, die nicht von uns oder von Davians stammen. Und sie vermuten in dem Schreiber eine Frau."
„Seit wann?", fragte Toireasa ein klein wenig sauer.
„Gestern", beeilte sich Winona zu versichern. „Hab den Brief gestern früh bekommen und dachte, genau wie bei Tarsuinn wäre es besser, wenn du mal einen Tag feierst und nicht darüber grübelst."
„Du bist auch nicht besser!", beschwerte sich Toireasa, ohne richtig böse auf das Mädchen sein zu können.
„Heute schon", entgegnete diese wieder deutlich fröhlicher. „Genau wie Tarsuinn!"
Sie deutete auf den Jungen, der gerade, geführt von Tikki, breit grinsend angeschlendert kam.
„Na, wie ist es gelaufen?", fragte Winona.
„Furchtbar!", erklärte Tarsuinn, ohne sein Grinsen auch nur einen Millimeter zu reduzieren. „Professor Flitwick war richtig gemein."
„Was hat er dir aufgebrummt?", erkundigte sich Toireasa und fand seine gute Laune ansteckend.
„Ich muss dem Professor den Farbenfühlen-Zauber beibringen und Hagrid helfen, einiges winterfest zu machen. Außerhalb des Schlosses. In der Kälte. Wie brutal!"
„Nett vom Professor", lachte Winona. „Darfst du endlich mal wieder raus."
Auch Toireasa fand das. Eigentlich war es durchaus eine Bestrafung, denn bei Hagrid musste man immer hart arbeiten, aber im Moment war es für den Jungen eher ein Hauch von Freiheit.
„Freut mich auch. Ist ja schließlich so lange her!", sagte Tarsuinn und erzählte dann doch, was ihn wirklich amüsierte. „Ich hab Filch eine absolut tolle Vorstellung gegeben. Ich glaub, der ist eben feiern gegangen, weil ich so ein bedrücktes Gesicht gemacht habe. Das hat ihm den Tag gerettet."
„Nicht, dass ich erwarte, dass er deshalb lächelt", bemerkte Winona sarkastisch.
„Das wäre nun wirklich zu viel verlangt", fand Toireasa. „Aber wir können es überprüfen. Das Festessen fängt gleich an und dann müsste Filch ja dabei sein."
„Du willst nur schon wieder essen", unterstellte Winona. „Du hast doch erst zum Mittag eine doppelte Portion gegessen!"
„Wir sind heute viel herumgerannt", verteidigte sich Toireasa. „Mein Körper braucht die Energie."
„Aber wir sind heut den ganzen Tag zusammen gewesen und wir brauchen nicht so viel", fiel Tarsuinn ihr in den Rücken.
„Mein Gehirn braucht einfach mehr Energie, weil es mehr leistet", erklärte Toireasa hoheitsvoll und hakte sich links und rechts bei den beiden Ravenclaws ein. „Aber nicht traurig sein. Zusammengenommen erreicht ihr meine Geisteskraft und meinen Nahrungskonsum und ich mach euch eure Beschränkung nicht zum Vorwurf."
„Natürlich!", erklärte Tarsuinn gespielt beleidigt. „Du bist ja sooo großzügig. Aber…"
Sein Griff wurde etwas fester und fast gleichzeitig drückte auch Winona zu.
„…du bist dumm genug, um dich unserer doppelt so großen, körperlichen Kraft auszuliefern."
Dabei zwickte er sie leicht in die Hüfte. Genau da, wo es am meisten kitzelte. Sie zuckte kichernd zur Seite, nur um auf der anderen Seite genauso geknufft zu werden. Toireasa versuchte sich dem lachend zu entziehen, doch sie hatte keine Chance. Zu zweit waren die beiden zu stark. Wenig später lagen die drei vor Lachen keuchend auf der Wiese und versuchten sich wieder zu beruhigen.
„Ist ja peinlich!", erklang die Stimme von Regina Kosloff von weit her.
„Wälzen sich wie die Schweine im Dreck herum", fügte Riolet Mokkery ätzend hinzu.
„Ach vergesst sie. Es war doch nicht anders zu erwarten", sagte Aidans Stimme.
Toireasa richtete sich auf und erblickte ihren ehemaligen Stiefbruder, der mit Reginas Hofstaat und ein paar anderen Slytherin-Jungs unterwegs war. Der abfällige Ton war schon schlimm, aber dass er auch noch den Arm um Reginas Hüfte gelegt hatte, ließ Toireasa schaudern.
Erstaunlicherweise hörte die Gruppe auf ihren Bruder und sie gingen weiter Richtung Große Halle.
„Is mir schlecht!", murmelte Winona, während Toireasa versuchte, ihre Verblüffung und Abscheu unter Kontrolle zu bringen.
„Bevor ich frage wieso das,…", sagte Tarsuinn, „…wollt ich wissen, ob ich mich freuen darf, dass sie uns in Ruhe lassen oder ob ich mir deshalb Sorgen machen muss?"
„Ist noch unentschieden", erklärte Winona düster. „Aber die Sache hat eine neue Dimension angenommen. Aidan scheint mit den neuen Zauberkräften Eindruck bei Regina gemacht zu haben."
„Wohl kaum", flüsterte Toireasa und fragte sich, warum sie das so mitnahm. „Sie benutzt Aidan, weil sie hofft, mir damit weh zu tun."
„Scheint zu funktionieren", murmelte Tarsuinn leise.
Danach schien niemand mehr etwas sagen zu wollen. Seine Annahme hatte zu sehr ins Schwarze getroffen.
Sie rappelten sich auf und gingen schweigsam Richtung Große Halle. Dabei klopften sie das nasse Gras aus ihren Sachen.
„Wir sollten uns den Tag nicht von denen verderben lassen", sagte Toireasa fest, wobei ihr Blick voll Abscheu auf die miteinander turtelnden Aidan und Regina ruhte. Vor allem irritierte es ein wenig, dass Regina älter als ihr Stiefbruder aussah, obwohl er eigentlich der Ältere war.
„Okay – lasst uns feiern!", bestätigte Winona.
Sie setzten sich zu den anderen Ravenclaws – mit dem Rücken zu den Slytherins – an den noch nicht gedeckten Tisch und wurden herzlich begrüßt. Die älteren Schüler waren alle in Hogsmeade gewesen und man plauderte über den Ausflug. DieHalle war wirklich stilvoll mit leuchtenden Kürbissen und flatternden Fledermäusen verziert.
Dann stand Penelope auf.
„Ruhe Ravenclaws!", sagte die Schulsprecherin laut, aber mit einem freundlichen Lächeln. Alle schauten sie erwartungsvoll an. Auch einige Schüler anderer Häuser.
„Dritt- und Viertklässler auf! Befolgt die Tradition, die aller zwei Jahre stattfindet."
Wie bei einer Parade marschierten die älteren Schüler an den Sitzbänken entlang und nahmen hinter Zweit- und Erstklässlern Aufstellung.
„Begleicht eure Schuld an den Älteren bei den Jüngeren", kommandierte Penelope und kleine Beutel oder Päckchen wurden hervorgeholt und vor den jüngeren Ravenclaws abgesetzt.
„Die Pflicht ist an euch weitergegeben. In zwei Jahren setzt ihr die Tradition fort, zu der auch die Geheimhaltung und zwei Silbersickel gehören."
Penelope und die älteren Schüler setzten sich wieder.
Natürlich hatte Toireasa nichts bekommen, aber sie war ja auch keine Ravenclaw. Interessiert schaute sie zu, wie die kleinen Geschenke neugierig geöffnet wurden und Unmengen an Süßigkeiten und anderen tollen Sachen aus Hogsmeade zum Vorschein kamen. Dabei schien die Auswahl der Geschenke definitiv nicht dem Zufall überlassen zu sein, denn Toireasa bemerkte mit einem Grinsen, wie Merton unauffällig einige Stinkkügelchen und Juckpulver in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
Tarsuinn schob ihr drei Packungen Schokofrösche zu.
„Tikki schnappt sie mir immer weg", erklärte er, wobei er seiner kleinen Freundin einen Frosch auspackte. Dieser versuchte seinen üblichen Sprung – und erreichte den Boden nie wieder, weil er im Flug weg gefangen wurde. „Den letzten hat sie mir kurz vor dem Mund aus der Hand geschnappt."
Tikki keckerte amüsiert und zerlegte den Frosch mit solcher Begeisterung, dass die Hälfte im Fell kleben blieb und eine ausgiebige Fellpflege nötig wurde.
Auch Winona schob einen Teil ihres Geschenks an Toireasa weiter. Es waren einige Da-rollt-sich-deine-Zunge-Drops. Die schmeckten nicht nur gut, sondern man konnte nachher auch für eine Weile unheimlich weit spucken (und sehr genau) und außerdem jedes Lied pfeifen, das einem in den Sinn kam.
„Witzige Tradition", fand Toireasa und war wieder etwas besser gelaunt.
„Gut schmeckende Tra-di-tiouon!", meinte Merton und kaute auf einem Kaubonbon, das anscheinend gerade dabei war, ihm die Zähne zusammenzukleben.
„Ihr solltet vorsichtig sein, was ihr esst!", lachte ein Viertklässler, der ein paar Plätze entfernt saß. „Sonst könnte es passieren, dass ihr das Festessen auslassen müsst."
Merton schien diese Aussicht nicht zu gefallen. Der Junge wollte etwas sagen, aber er brachte nur noch ein böses hmpf und eine drohende Geste zustande. Allgemeines schadenfrohes Gelächter folgte.
„Iss einfach eines der blauen Bonbons", flüsterte Luna ihm zu.
Toireasa fand, sie hätte sich mit dem Tipp noch ein wenig Zeit lassen können. Sie zumindest, hätte wenigstens gewartet, bis das Essen erschien. Einfach, weil sie Mertons Gesicht gern gesehen hätte.
Es klopfte ein Löffel gegen ein Glas und Professor Dumbledore erhob sich.
„Ein Happy Halloween euch allen", verkündete der Direktor, der offensichtlich bester Laune war. „Und lasst uns die Eier lieber essen, statt sie gegen die Tür von Mr Filchs Büro zu werfen."
Merton verschwand kichernd unterm Tisch.
Dann klatschte Dumbledore in die Hände und die Tafeln füllten sich mit den leckersten – überwiegend süßen – Halloweenspeisen.
Alle wollten sich sofort auf das Essen stürzen, aber Tarsuinn sprang plötzlich auf.
„He – so geht das aber nicht!", rief er entsetzt aus.
Allgemeines Unverständnis herrschte unter den Ravenclaws und alle schauten ihn fragend an. Er schien die Blicke zu spüren.
„Eine Feier ohne Tischspruch? Das geht doch nicht!", erklärte Tarsuinn verschmitzt.
„Und du kennst einen Guten?", fragte ein fast erwachsenes Mädchen laut.
„Natürlich", feixte Tarsuinn. „Aber wenn ich – Alle Mann – sage, müsst ihr zusammen – Ran! – rufen."
Toireasa staunte ein wenig über Tarsuinn, der normalerweise nicht so in den Vordergrund drängte und so wie er aufgeregt schluckte, war er selbst darüber etwas verunsichert.
„Also", sagte der Junge recht leise, atmete tief durch und rief dann laut über den Tisch hinweg: „Den Löffel in die Pampe, dass es spritzt bis zur Lampe. Alle Mann…!"
„RAN!", entgegnete Toireasa lachend mit den anderen im Chor und dann griffen sie zu.
Tarsuinn setzte sich ruckhaft wieder hin und seine Ohren leuchteten in tiefem Rot.
„Netter Spruch!", kicherte Luna ungehalten.
„Ich muss unter dem Einfluss eines mächtigen Zauberers gestanden haben", grinste Tarsuinn verlegen.
„Ist ein solcher Tischspruch Sitte bei den Muggeln?", fragte Toireasa interessiert.
„In Sommerlagern ist das üblich", erklärte Merton.
„Ich hab's im Waisenhaus gehört", meinte Tarsuinn. „An den paar Tagen, an denen ich da war."
„Wie war es da?", fragte Winona interessiert.
„Die Betreuer und auch die Kinder da waren ganz nett", entgegnete Tarsuinn. „Aber ich wollte da eh nicht lange bleiben, also hab ich mich nicht so sehr mit denen beschäftigt. Hatte anderes im Sinn. Schließlich musste ich ja pünktlich hier auftauchen."
„Tu nicht so, als ob du das gewusst hättest", warf Winona ihm lachend vor.
„Ich sicher nicht", gab er kauend zu. „Aber die kleine Lady hier, da bin ich mir inzwischen sicher."
Seine Hand strich über Tikki's Fell, die zur Feier des Tages auf dem Tisch sitzen durfte und sich sehr manierlich benahm. Sie schleckte gerade aus einer Schüssel ein rohes Ei und schien nicht zu merken, dass man über sie sprach.
Tarsuinn legte einen kleinen Keks auf einen Löffel, der auf dem Tisch lag, schlug auf den Stiel und fing den Keks mit dem Mund auf.
„Sie hat uns mal einen Elefanten besorgt, als wir zu erschöpft zum Laufen waren", erklärte er versonnen lächelnd. „Wir nannten sie Emma. Sie konnte…"
Und dann begann Tarsuinn Geschichten zu erzählen. Toireasa konnte es kaum glauben. Der sonst so verschlossene Junge berichtete von lustigen Begegnungen mit Menschen und Tieren in Asien. Noch nie – nicht einmal im kleinen Kreis – hatte er von sich aus so von seinen Erlebnissen erzählt. So erfuhren sie von Emma, die am liebsten Polizisten mit ihrem Rüssel duschte, von einem Affen namens Alfred, der einen – nicht näher definierten – bösen Mann heimlich mit seinen eigenen Handschellen an ein Muggelfahrzeug kettete und von einem Mann der Fakir hieß und der Tarsuinn ein Bett anbot, das aus Nägeln bestand. Er hatte dies erst bemerkt, als er sich mit Schwung draufgesetzt hatte.
Ab und an erzählte zwar jeder von den anderen auch ein oder zwei lustige Erlebnisse, aber Toireasa wurde langsam klar, wie viel der Junge trotz seiner Jugend erlebt hatte. Vor allem da sie sich die ganze Zeit fragte, was er an unangenehmen Erinnerungen mit sich herumschleppte. So, wie er es jetzt erzählte, konnte man den Eindruck bekommen, es wäre eine lange Ferienreise gewesen.
Sie glaubte das nicht.
Kurz vor Ende des Festes saßen dann nicht nur die üblichen Fünf beieinander, sondern auch Cassandra, Alec, Ian und viele andere Ravenclaws. Sogar Ginny war herübergekommen und Süßigkeiten flogen durch die Luft, die man mit dem Mund zu fangen versuchte.
Am Ende gab es dann noch eine Show der Hogwartsgeister und Ginny brachte mit einigen geflüsterten Ermutigungen den Fastkopflosen Nick dazu, seine eigene Hinrichtung aufzuführen. So makaber es war – es wurde ein großer Lacherfolg und es stellte auch das Ende des Festes dar.
Toireasa sah, wie Tarsuinn sich immer häufiger die Augen rieb.
„Müde?", fragte sie.
„Nicht wirklich", antwortete er. „Mir tun nur die Augen weh."
Sie drehte seinen Kopf etwas zu sich und schaute so in zwei Augen, in denen schon zwei, drei Äderchen geplatzt waren.
„Wird Zeit, dass du ins Bett kommst", sagte sie fest. „Das ungewohnte Sehen hat anscheinend deine Augen überlastet und entzündet."
„Das war es wert", lächelte er und rieb sich mit den Handrücken erneut die Augen.
„Find ich auch", meinte Ginny, die neben ihnen stand. „Ich muss den anderen nach, zu unserem Turm rauf, aber ich wollt euch noch Danke sagen. Ihr wisst schon wofür. War wirklich toll!"
Toireasa und Winona nickten dem Mädchen freundlich zu und wünschten sich dann eine gute Nacht. Auch Toireasa begab sich hinunter in den Slytherin-Kerker. Sie verzog sich sofort in ihren Raum, doch bevor sie auch nur angefangen hatte sich bettfertig zu machen, klopfte Samuel laut an ihre Tür.
„Komm raus", rief er befehlend. „Beeil dich."
„Was ist los?", fragte sie verwirrt, nachdem sie die Tür geöffnet hatte und in einen Gemeinschaftsraum sah, den gerade eine Menge Slytherins nach draußen verließen.
„Wir sollen alle in die Große Halle kommen!", erklärte Samuel kurz angebunden. „Keine Ahnung, wieso, aber es ist dringend."
Fast im Laufschritt erreichten sie die Große Halle, in die nicht nur die aufgeregte Meute Slytherins einfiel, sondern auch die Schüler Ravenclaws und Hufflepuffs, während die Gryffindors schon da waren.
„Wisst ihr, was los ist?", fragte Winona laut über das allgemeine Stimmengewirr hinweg.
„Keine Ahnung!", rief Toireasa ihr zu.
Doch dann wurden alle still, denn Professor Dumbledore erhob die Stimme.
„Ich werde zusammen mit den anderen Lehrern das Schloss gründlich durchsuchen", sagte er und fügte hinzu: „Ich fürchte, zu eurer eigenen Sicherheit müsst ihr die heutige Nacht hier verbringen. Ich bitte die Vertrauensschüler, an den Eingängen zur Halle Wache zu stehen, und übergebe den Schulsprechern die Verantwortung. Jeder Zwischenfall ist mir sofort mitzuteilen"
„Schicken Sie einen der Geister zu mir", beauftragte er danach den Schulsprecher, der von den Gryffindors kam.
Während Professor Dumbledore gesprochen hatte, hatten Professor Flitwick und Professor McGonagall die Türen der Halle verschlossen und einige sogar mit Zaubern versiegelt.
„Ach ja, Sie brauchen...", erklärte Professor Dumbledore, schon halb aus der Tür.
Er winkte kurz mit dem Zauberstab, die Tische flogen beiseite und machten Platz für eine ausreichende Menge tiefroter Schlafsäcke.
„Schlaft gut!", sagte Professor Dumbledore und ging zur Tür hinaus.
Flitwick und McGonagall wollten ihm folgen, doch Tarsuinn stellte sich seinem Hauslehrer in den Weg, was einem ziemlichen Gedrängel vorausging.
„Professor!", sagte der Junge drängend. „Ich kann nicht hier bleiben. Ich bin schon zu lange wach."
„Keine Sorge, Mr McNamara", entgegnete der Professor. „Madame Pomfrey ist schon unterwegs und bringt Ihnen Medizin."
Dann ging der Professor.
„Ich hoffe, das geht schnell", murmelte Tarsuinn. „Ansonsten wird das ne lustige Nacht für euch."
„Madame Pomfrey wird uns schon nicht hängen lassen", beruhigte Toireasa und zog ihn zu Winona und den anderen hinüber.
„Weiß einer, was los ist?", fragte Toireasa.
„Die Gryffindors scheinen einiges zu wissen", erklärte Merton. „Luna ist zu Ginny rüber und fragt sie gerade aus."
„Sirius Black hat eine fette Dame angegriffen", sagte Tarsuinn leise. „Meinen sie damit Professor Sprout?"
„Sirius Black!?", fragte Ian erschrocken, der zwar oft in der Nähe war, aber sonst nichts sagte. „Das ist unmöglich."
„Es ist nur das, was ich höre", erklärte Tarsuinn schulterzuckend.
„Die Fette Dame ist doch die Wächterin des Gryffindor-Turms", mischte sich Merton schnell ein. „Und wer weiß, vielleicht gibt es geheime Möglichkeiten ins Schloss zu kommen, von denen wir nichts wissen."
„Aber Professor Dumbledore würde sie kennen", zweifelte Ian ein wenig unfreundlich.
„Er ist sicher nicht allwissend", sagte Merton und begann damit ein Streitgespräch, welches erst endete, als die Schulsprecher alle in die Schlafsäcke schickten und Luna deshalb zu ihnen kam und – in viel zu kurzen Worten – alles erzählte, was sie von den Gryffindors erfahren hatte. Im Grunde war es dasselbe, was Tarsuinn schon gesagt hatte. Sirius Black war im Schloss gewesen und hatte versucht, in den Turm der Gryffindors zu gelangen. Dabei hatte sich die Fette Dame, welche ein Bild war und den Eingang bewachte, geweigert ihn einzulassen und deshalb hatte Black das Gemälde zerfetzt.
Sie flüsterten noch eine Weile und waren begeistert, wie weich man doch in den Schlafsäcken auf dem eigentlich harten Fußboden lag.
Wenig später unterband Penelope das Geflüster, als sie dem sitzenden Tarsuinn etwas zu trinken vorbei brachte.
„Von Madame Pomfrey", flüsterte die Schulsprecherin. „Es hält dich erstmal wach. Aber lass bitte die anderen schlafen."
Der Junge nickte stumm, trank etwas und stellte mit zittrigen Händen die Tasse zur Seite.
„Kalt", flüsterte er und zog den Schlafsack eng um seine Schultern, doch die Müdigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden und auch die Augen fielen ihm nicht mehr ständig zu.
Bei Toireasa hingegen, machte sich langsam der lange Tag bemerkbar. Sie ließ den Kopf sinken und schloss die Augen.
Als Toireasa aufwachte, war es noch mitten in der Nacht. Sie fühlte sich um keinen Deut ausgeschlafen. Ganz im Gegenteil. Eigentlich gab es keinen Grund, um wach zu werden, doch ein eiskaltes Gefühl drückte in ihrer Brust und schien ihr die Luft zu rauben. Tod, Verzweiflung, es war schmerzhaft. Eine Uhr schlug gerade zur Mitternacht. Sie drehte sich herum, versuchte einzuschlafen, doch das Gefühl blieb. Es war, als würde ein Dementor sie ansehen.
Unweigerlich hob sie den Kopf und schaute zum Fenster. Beinahe hätte sie sich wieder zurücksinken lassen, doch etwas schlug in ihrem – vor Müdigkeit fast betäubten – Gehirn Alarm.
Die Struktur der Fenster stimmte irgendwie nicht. Das Muster, das die Scheiben und Rahmen bildeten, war verändert. Vorsichtig schaute sie sich um. Der Schulsprecher mit den roten Haaren ging leise zwischen den Schlafsäcken auf und ab, an der Großen Tür standen vier Vertrauensschüler und an der Tür hinter dem Lehrertisch auch.
Auch ein paar andere Schüler waren noch wach und steckten die Köpfe zusammen, wenn der Schulsprecher etwas weiter weg von ihnen war.
Noch einmal hob sie den Kopf und betrachtete das Fenster. Im Dunklen war es nur schwer zu erkennen, aber sie wollte ein rohes Ei essen, wenn das da nicht Klebeband war, das eine ausgeschnittene Scheibe festhielt. In plötzlicher Erkenntnis tastete sie nach Tarsuinn's Schlafsack, nur um diesen leer vorzufinden. Auch Tikki fehlte.
Er und sein verfluchtes Messer! Sie hätte es ihm wegnehmen sollen, als sie erkannte, mit was er es behandelt hatte, denn so was war in den Händen eines Kindes ungern gesehen.
Was zum Teufel dachte er sich dabei, jetzt einen Ausflug zu unternehmen? Sie war versucht, einen der Vertrauensschüler darauf hinzuweisen. Doch diesmal konnte ihm das unheimliche Probleme bringen. Jetzt draußen rumzustromern brauchte einen guten Grund – und das brachte sie dann auch dazu, nichts zu sagen. Es lag einfach nicht in Tarsuinn's Natur, gerade in so einer Situation, seinem Freiheitsdrang nachzugeben. Das von heute Morgen war da etwas vollkommen anderes gewesen.
Ihr Blick fiel auf die helle Tasse, aus der Tarsuinn den Trank getrunken hatte, der ihn wach halten sollte. Toireasa tastete danach und leerte die letzten Tropfen, die noch darin waren. Die Wirkung erfolgte unmittelbar. Sie riss die Augen auf und fühlte sich, als hätte man ihr einen Eisblock in den Magen gepflanzt.
Jetzt – mit klarem Kopf – kam ihr die Idee, gerade dann herumzulaufen, wenn nervöse Lehrer auf der Suche nach einem Mörder waren, noch bescheuerter vor!
Sie zog den Umhang über den Kopf, um ihre blonden Haare zu verbergen, dann schaute sie sich nach den Vertrauensschülern um, stand leise auf und hoffte, dass es zu dunkel in der Halle war, um sie zu erkennen. Für einen Moment dachte sie daran, Winona zu wecken, doch sie verwarf den Gedanken rasch. Wenn das Mädchen nur halb so müde war, wie sie vorhin, dann war sie kaum eine Hilfe.
Flink kletterte sie über den Tisch hinauf zum Fenster.
Das ausgeschnittene Glas war wie eine Katzenklappe mit dem Klebeband befestigt und sie zog sich so leise und schnell es ging hindurch. Nur um draußen nach unten in ein dunkles, stürmisches Nichts zu starren. Sie konnte den Boden vor Dunkelheit nicht sehen. Warum gingen eigentlich keine Schutzzauber an, wenn jemand ein Loch in das Glas schnitt oder sich hier auf dem Sims herumdrückte? Da die Große Halle direkt auf einer Klippe über dem See gebaut war, musste Toireasa vorsichtig auf dem Sims Richtung Schloss kriechen. Sie war ein wenig froh, dass sie nicht sehen konnte, wie hoch sie war. So verspürte sie weniger Angst. Nach einer endlos scheinenden Zeit erreichte sie die Ecke der Großen Halle. Wenn sie ihr Gedächtnis nicht vollständig im Stich ließ, dann war es hier nicht allzu hoch. Zwar konnte sie den Boden erahnen, aber nicht wirklich die Beschaffenheit oder die Höhe einschätzen. Zumindest lag dort unten niemand. Sie konnte nur hoffen, dass Tarsuinn hier heruntergesprungen war und nicht schon vorher einen Fehler gemacht hatte. An ihrem eigenen Verstand zweifelnd sprang sie ins Dunkel, berührte viel später den Boden als erwartet, knickte um und fiel hin. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, obwohl ihr rechter Ellenbogen wie Feuer brannte.
Toireasa rappelte sich auf und stellte erleichtert fest, dass sie den schmerzenden Arm noch bewegen konnte und ihr Fuß nicht verstaucht war. Vorsichtshalber zog sie ihren Zauberstab.
Wo würde Tarsuinn wohl hin wollen?
Unwillkürlich wurde ihr Blick von der dunklen Wand angezogen, die der Verbotene Wald im Moment war. Der Junge wollte immer zu den Einhörnern und ihr Lied hören. Das hatte er schon mehrfach gesagt. Und auch so liebte er den Wald, den man eigentlich fürchten sollte.
Geduckt schlich Toireasa Richtung Wald. Sie war sich sicher, er war da.
Das Gefühl der Kälte wurde immer schlimmer und sie wäre beinahe umgekehrt. Die Dementoren durchstreiften sicher den Wald und Toireasa fürchtete eine Begegnung mit ihnen fast noch mehr, als ihre ehemaligen Stiefeltern.
Aber in dieser Nacht, vor genau einem Jahr, hatte Tarsuinn ihr das Leben gerettet und war beinahe selbst dabei drauf gegangen. Nichts war schlimmer, als ihn im Stich zu lassen.
Sie zauberte ihre Schritte unhörbar und ging weiter. Doch schon nach einigen Schritten blieb sie erneut stehen. Sie war jetzt im Wald, Tarsuinn war sicher auch hier, aber der Wald war groß. Laut zu rufen, wagte sie nicht.
Auf gut Glück wandte sie ihre Schritte Richtung Tal der Einhörner. Zum allerersten Mal war sie wirklich allein hier und jeder Schatten, jedes Knacken und das Heulen des Windes, jagten ihr Angst ein.
Wenige Meter später, glaubte sie Worte im Wind zu hören. Sie blieb stehen und lauschte. Aus dem Nichts legte sich ein Arm um sie und zog sie zu Boden. Toireasa hätte geschrieen, wenn nicht eine Hand ihren Mund verschlossen hätte.
„Still!", hauchte ihr Tarsuinn's Stimme ins Ohr.
Er drückte sie auf den Boden, hatte aber die Hand von ihrem Mund genommen. Ihre Wange drückte in etwas Nasses.
Und plötzlich fühlte Toireasa sie. Dementoren, ganz nah. Tikki lag vor ihr, ganz dicht an den Boden gepresst, zitternd. Dann legte sich Tarsuinn's Hand auf das kleine Wesen und es beruhigte sich etwas. Urplötzlich schlief der Wind ein und es wurde still.
„Ja, ihr habt geliefert und ich bin sehr glücklich darüber", sagte eine überhebliche, aber sehr kultivierte Stimme.
Niemand antwortete, aber die Stimme fuhr nach einer Weile fort.
„Ich erfülle meinen Teil. Nur ein wenig Geduld."
Lange blieb es still und Toireasa hatte schon die Hoffnung, dass alle weg waren. Vorsichtig hob sie den Kopf und sah sich um.
Tarsuinn lag neben ihr, die Stirn ist Gras gepresst, die Kapuze über dem Kopf. Er hatte Tikki eng an sich gezogen, während sein linker Arm auf Toireasa's Rücken lag und sie fest ins Gras drückte. Direkt vor ihr waren ein paar kleine Tannenbäume, die genau zwischen ihnen und der Stimme lagen. Durch die Zweige konnte sie schemenhaft etwas entdecken. Sechs Dementoren standen keine zwanzig Schritte von ihr entfernt, beleuchtet von einer schimmernden Gestalt. Ein Geist. Groß, kräftig, gut gekleidet, sehr deutlich geformt. In der fast absoluten Schwärze der Nacht wirkte er unglaublich hell. Genauso musste Tarsuinn gestern jeden Geist gesehen haben.
Eine halbe Stunde verging, in der nichts passierte. Ihr war kalt und die paar Tropfen des Trankes schienen langsam ihre Wirkung zu verlieren. Warum suchten diese Dementoren nicht nach Sirius Black? War das denn nicht ihre Aufgabe?
„Sie kommen", sagte der Geist und Toireasa zuckte zusammen, so hart klang seine Stimme in der Stille des Waldes.
„Nein!", sagte der Geist nach einer Weile, ohne dass Toireasa eine Frage hatte hören können.
Doch dafür drangen andere Geräusche an ihr Ohr und ein Lichtschein drang durch den Wald.
„Ich sage dir, Alter", sagte eine Stimme mit hartem, ausländischem Akzent. „Wenn wir nicht gleich den Geldautomaten erreichen, schlag ich dir den Schädel ein."
„Gleich da, gleich da!", erklärte die ängstliche Stimme eines alten Mannes.
Der Lichtschein wurde stärker und zwei Gestalten erschienen. Ein recht gebeugter alter Mann und hinter ihm ein großer, kräftiger, junger Kerl, mit einem Stab in der Hand, der an der Spitze leuchtete.
Toireasa wollte aufstehen, um dem alten Mann zu helfen, doch Tarsuinn's Hand drückte fast brutal gegen ihren Rücken. Sein Arm zitterte, ob nun vor Anstrengung, Kälte oder Angst konnte sie nicht sagen.
„Und nun…was in drei Teufels Namen ist das!", sagte der junge Mann und leuchtete mit dem Lichtstab den Geist an, der dadurch etwas blasser wurde. Die viel bedrohlicheren Dementoren ignorierte er völlig.
„Das, lieber Muggelfreund…", sagte der alte Mann und jegliche Angst war aus seiner Stimme verschwunden, „…ist der Mann, der Euch verkauft hat! Landläufig auch als Gespenst bekannt."
„Was für eine Scheiße ist das hier?!"
Der junge Kerl stolperte ein paar Schritte zurück und wollte dann versuchen wegzulaufen.
„Locomotor mortis!", sagte der alte Mann und der Beinklammerfluch legte sich um den Muggel.
„Wie versprochen", erklärte der Geist den Dementoren. „Ein junger, glücklicher Mann – den niemand vermissen wird!"
Toireasa riss vor Entsetzen die Augen auf. Das konnte – nein – durfte nicht wahr sein. Die Dementoren umkreisten den wehrlosen Muggel und sie konnte deren rasselnden Atem hören.
„Was geht hier vor?", schrie der Muggel, der die Wächter Askabans zwar nicht sehen konnte, aber umso deutlicher fühlen musste.
„Silencio!", sagte der alte Mann einfach und der Muggel verstummte. Die Taschenlampe fiel zu Boden und beleuchtete schrecklich, wie der junge Mann verzweifelt versuchte nach Hilfe zu rufen, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam.
„Wir müssen hier weg!", flüsterte Tarsuinn kaum hörbar.
„Wir müssen helfen", entgegnete Toireasa noch leiser.
„Du verstehst nicht", sagte er und drehte den Kopf in ihre Richtung. Sein Gesicht war tränenüberströmt, sehr dunklen Tränen. „Ich kann uns nicht viel länger schützen."
Dies war der Augenblick, in dem Toireasa erkannte, wie sehr ihr Leben auf des Messers Schneide balancierte. Der kalte Hauch der Dementoren hatte schon aus viel weiterer Entfernung auf sie gewirkt und trotzdem spürte sie jetzt nicht die Verzweiflung, die sie sonst erfasste. Es war wie damals im Zug, Tarsuinn schützte sie, doch es kostete ihn unglaubliche Anstrengungen. Wenn seine Verteidigung zusammenbrach, dann waren sie hilflos den Dementoren ausgeliefert.
Er nahm seinen Arm von ihrem Rücken und drückte die Armbeuge vor seine Augen.
„Nein!", flüsterte er. „Nicht das! Ich will das nicht sehen!"
Verwirrt schaute Toireasa hinter sich, doch da war nichts in seiner Blickrichtung. Dafür zog das laute und triumphierende Lachen des Geistes wieder ihren Augen auf die Dementoren. Einer von ihnen war in den Kreis und auf den Muggel zu getreten, der inzwischen versuchte davon zu kriechen. Die langen Arme streckten sich aus, erfassten den jungen Kerl unter den Achseln und hoben ihn wie eine schlaffe Puppe in die Luft. Der Muggel wehrte sich nicht mehr. Er weinte nur noch, bettelte mit Gesten um Gnade. Seine Füße schwebten einige Zentimeter über dem Waldboden. Die Kapuze des Dementors näherte sich dem Kopf…
Toireasa wandte den Blick ab. Panik und Angst lähmten ihre Glieder. Sie konnte nicht helfen, sie konnte nicht weglaufen.
„Nein. Bitte nicht", flüsterte Tarsuinn weinend neben ihr und wurde dabei immer lauter. Nur das Lachen des Geistes übertönte ihn noch. Aus Furcht entdeckt zu werden, legte sie sich halb auf ihn und presste ihren Arm in seinen Mund. Sie spürte schmerzhaft, wie seine Zähne fest zubissen. In dem Versuch ihn zu beruhigen, streichelte sie über seinen Kopf, was jedoch mehr ihr zu helfen schien, als dem Jungen.
Dann war alles vorbei und Tarsuinn entspannte sich merklich.
Das Heulen des Windes kehrte zurück und Toireasa konnte nur noch den Geist und die Gestalt des alten Mannes sehen, die über einem zusammengefallenen Bündel standen. Der Geist sagte etwas, was Toireasa jedoch nicht verstehen konnte.
„Ein wirklich lohnendes Geschäft", flüsterte Tarsuinn. „Die Dementoren sind so hungrig, dass sie sich perfekt kontrollieren lassen. Entsorge jetzt diesen Zombie!"
„Wie Ihr wünscht!"
Dann schwebte der Geist davon, tiefer in den Wald hinein. Der alte Mann beugte sich zu dem Bündel am Boden, holte etwas aus seiner Tasche und verschwand urplötzlich zusammen mit dem Muggel. Auch das Licht, das der leuchtende Stab gespendet hatte, war verschwunden.
Sie warteten noch einige Minuten, doch es geschah nichts mehr. Toireasa rappelte sich mühsam auf und zog dann Tarsuinn mit hoch. Er hielt Tikki fest im Arm, die schon wieder etwas lebendiger wirkte.
„Wir müssen zum Schloss!", flüsterte Toireasa. Von Tarsuinn erfolgte keine Reaktion. Er starrte nur ins Dunkle.
Sie schüttelte ihn kräftig.
„Komm schon, tu mir das nicht an!", sagte sie etwas energischer. „Wir müssen Professor Dumbledore davon erzählen."
Das brachte ihn ein wenig in die Wirklichkeit zurück.
„Ja!", flüsterte er zittrig und senkte den Kopf. „Gib mir ein paar Minuten."
Er streifte die Kapuze von seinem Kopf und ließ Tikki hineinklettern. Dann hörte Toireasa ihn langsam und kontrolliert durchatmen. Nach nicht einmal einer Minute hob er den Kopf wieder und seine Stimme klang völlig normal.
„Wir müssen an den Dementoren vorbei zum Schloss", sagte er, als würde er über die Zubereitung eines Zaubertrankes sprechen. „Du suchst uns eine Lücke und ich versuche uns abzuschirmen wie eben. Keine Ahnung, wie das eigentlich geht. Wenn sie uns entdecken, rennen wir los. Du führst mich, ich mach den Funkenzauber, du machst so viel Licht wie möglich. Kommen sie uns zu nahe, können wir nur hoffen. Einverstanden?"
„Klingt gut", sagte sie und schluckte schwer. Es war beängstigend zu sehen, wie er seine Gefühle einfach ausschalten konnte. So viel Selbstkontrolle war unnatürlich.
Langsam schlichen sie Hand in Hand wieder in Richtung Schloss.
„Wie bist du überhaupt auf die Schnapsidee gekommen, in den Verbotenen Wald zu gehen?", fragte Tarsuinn vorwurfsvoll, als sie am Waldrand eine Pause machten, um nach Dementoren Ausschau zu halten.
„Ich bin aufgewacht und du warst weg", sagte sie und war ziemlich böse auf ihn. „Es ist also deine Schnapsidee gewesen!"
„Ich hätte was gesagt, wenn ich dich hätte mitnehmen wollen", zischte er. „Ich war mir sicher, allein mit den Dementoren besser klar zu kommen."
„Das hat mein Arm gespürt", entgegnete sie und wedelte mit dem Arm herum, in dem immer noch seine Bissspur brannte.
Sauer schwiegen sie beide daraufhin. Jetzt, da sie aus dem dunklen Wald kam, wirkte Hogwarts fast hell erleuchtet und so konnte sie sehen, dass seine Selbstkontrolle sich schon wieder verabschiedet hatte. Wieso nahm er immer an, nur er hätte das alleinige Recht gepachtet, sein Leben in Gefahr zu bringen? Warum versuchte er immer ohne Hilfe auszukommen, auch wenn er sie offensichtlich brauchte? Einzig Tikki's Hilfe nahm er ohne zu zögern an, aber das kleine Wesen litt unter den Attacken der Dementoren genauso schlimm, wie jeder Mensch.
„Sie werden uns garantiert bemerken, wenn wir uns dem Schloss nähern", sagte sie nach einer Weile des Ausschauhaltens und Schmollens.
„Haben Dementoren denn Augen?", fragte Tarsuinn und sie konnte darauf nur die Schultern zucken.
„Egal, versuchen wir zum Fenster zu kommen und wenn es nicht klappt, rennen wir zum Eingang. Bereit?", flüsterte sie, wischte sich noch einmal die Hand an ihrem Rock trocken und erfasste dann wieder seine Hand.
„Ja!", sagte er angespannt.
„Dann los!"
Zunächst schlichen sie einige Meter und bis zum Waldrand ging alles gut. Doch sobald sie auf die Wiese hinaus traten, wandte sich ein Dementor zu ihnen um.
„Lauf!", rief Toireasa und zusammen rannten sie los. „Zur Tür!"
Wie abgesprochen brachte Toireasa einen Lichtzauber zustande und auch Tarsuinn schaffte seinen Funkenzauber, wenn auch keinen wirklich großen.
Toireasa rief laut um Hilfe, lange bevor sie die große, verschlossene Eingangstür erreichten. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen das Tor und benutzte auch den schweren Türklopfer, während sie die Verzweiflung näher kommen fühlte.
Neben ihr wirbelte Tarsuinn herum, stellte sich direkt an Toireasa's Rücken und mit einer Hand hielt er sich an ihrem Umhang fest.
Mit einem kurzen Blick über die Schulter erfasste sie die Lage. Drei Dementoren schwebten aus unterschiedlichen Richtungen auf sie zu. Tarsuinn hielt ihnen den Zauberstab entgegen. Ohne dass er ein Wort sagen musste, gingen Wellen von magischen Stößen von seinem Zauberstab aus. Wie von einer Art Druckwelle wurden die Dementoren immer wieder etwas zurückgeworfen. Das verzögerte das Näherkommen der Dementoren jedoch nur etwas, aufhalten konnte Tarsuinn sie offensichtlich nicht. Die Kraft seiner Zauber wurde immer geringer, je geringer die Entfernung wurde.
Verzweifelt schlug Toireasa gegen die Tür. Sie achtete nicht darauf, dass ihr die Haut der Hand aufplatzte. Sie sah es zwar, aber eher distanziert, so, als wäre das nur eine belanglose Information.
Das Klopfen und Rufen blieb unbeantwortet. Toireasa drehte sich herum und versuchte Tarsuinn zu helfen. Aber keiner ihrer Flüche zeigte auch nur eine minimale Wirkung. Die Dementoren waren vollkommen unempfindlich gegen alles, was sie aufbieten konnte.
Dann – die Dementoren waren keine zehn Schritte mehr entfernt und Toireasa hatte schon allen Widerstand aufgegeben und die Augen geschlossen – wurde sie nach hinten gerissen und stürzte hin. Die Verzweiflung, welche sie zu übermannen drohte, schwand. Sie öffnete die Augen und sah, wie Professor Snape Tarsuinn, genau wie sie zuvor, ins Schloss hineinschleuderte und danach die Tür zu warf.
Tarsuinn fiel neben ihr auf den Boden, rollte aber geübt ab.
„Expelliarmus!", zischte Snape und Toireasa's Zauberstab flog in die Hand des Lehrers. Gleich danach lähmte er mit einem „Petrificus Totalus!" Tarsuinn.
„Professor!", rief Toireasa und rieb sich den Arm, auf den sie nun zum zweiten Mal gefallen war. „Wir müssen mit Professor Dumbledore sprechen!"
„Sie sollten nicht hier sein", sagte Snape mit misstrauischem Blick und kam langsam auf sie zu, den Zauberstab genau auf sie gerichtet. „Sie können nicht hier sein."
„Wir sind zum Fenster raus", erklärte Toireasa, doch ihr Hauslehrer beachtete das nicht. Stattdessen murmelte er Zauber, welche anscheinend Tarnungen brechen sollten.
„Professor, es ist wichtig!", versuchte es Toireasa erneut. „Die Dementoren…"
Ein hellroter Zauber traf Toireasa, tat ihr jedoch nichts und Professor Snape entspannte sich etwas.
„Die Dementoren haben jemanden getötet!", ergänzte Tarsuinn und versuchte, trotz des Zaubers, der ihn band, aufzustehen. Professor Snape musste ihn halb verfehlt haben.
„Sie haben Black getötet?", fragte Professor Snape mit einem seltsamen Glitzern in den Augen. Er ließ Toireasa's Zauberstab vor ihr fallen und konzentrierte sich plötzlich nur auf Tarsuinn.
Der Junge schaffte es ächzend auf die Knie, er bewegte sich so, als wäre sein Körper zehnmal so schwer wie normal. Aus Tarsuinn's Kapuze schoss Tikki's Kopf hervor und sie schien dem Jungen ins Genick beißen zu wollen, doch die Zähne des Mungos trafen nur die Luft.
„Ich glaub nicht, dass es Black war!", erklärte Tarsuinn keuchend.
„Nicht?"
Professor Snape klang sehr enttäuscht. Anscheinend wünschte er sich genau wie sie, dass die Dementoren endlich nach Askaban verschwanden.
„Ganz sicher, Professor", erklärte Toireasa. „Es war ein Muggel!"
Ihr Hauslehrer gönnte ihr nur einen kurzen Seitenblick, dann ging er bei Tarsuinn auf die Knie und hob dessen Kopf hoch.
„Was…?", sagte er verblüfft.
Auch Toireasa war erschrocken. Das Gesicht des Junges war von Schmutz und zwei dunkelroten Tränenspuren verunziert. Schlimmer jedoch waren seine Augen, deren Weißes nicht mehr existiere, sondern hochrot war.
„Sie müssen zum Krankenflügel", sagte der Professor und hob den Lähmungszauber auf.
„Zu Professor Dumbledore!", widersprach Tarsuinn schwach und fügte ein bettelndes: „Bitte!" hinzu.
Toireasa wusste nicht, ob es der Ton oder die Augen waren, die Snape überzeugten, aber irgendetwas tat es.
„Folgen Sie mir!", befahl Snape. „Miss Keary, helfen Sie ihm."
Toireasa sprang zu Tarsuinn und ergriff seine Hand. Ihm zu helfen war eigentlich nicht nötig, seine Schritte waren deutlich sicherer als die ihren. Trotzdem war es tröstlich, sich bei ihm festhalten zu können.
Snape führte sie schnurstracks in Richtung Dumbledores Büro, doch schon auf halbem Wege kam ihnen der Direktor entgegen. Er sah so ernst drein, dass Toireasa nur schuldbewusst den Kopf senken konnte.
„Direktor!", rief Snape. „Ich habe die beiden draußen aufgegriffen. Sie bestanden darauf Euch zu sprechen."
Toireasa starrte mutig auf die Schuhe Dumbledores, nur um ihm ja nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Tarsuinn neben ihr verfuhr genauso.
„Danke Professor Snape", sagte Dumbledore und wandte sich dann an die Kinder. „Warum wollt ihr mich sprechen?"
„In Ihrem Büro bitte", sagte Tarsuinn leise. „Es ist wichtig!"
Einen Moment lang schien Professor Dumbledore darüber nachzudenken, schließlich hielt ihn das davon ab, Sirius Black zu suchen.
„Gut", sagte er dann. „Professor Snape, bitte helfen Sie den anderen bei der Suche. Ich werde so bald wie möglich wieder dazu stoßen."
„Ich werde Ihnen Madame Pomfrey schicken", entgegnete Snape.
„Weshalb?", fragte Dumbledore, woraufhin Snape erneut versuchte Tarsuinn am Kinn zu fassen und den Kopf anzuheben, doch diesmal wich der Junge der Hand trotzig aus.
„Halt still!", befahl Professor Snape. Ohne Erfolg.
„Ist schon gut, Professor", sagte der Direktor. „Bitte schicken Sie mir Madame Pomfrey."
Snape nickte mit bitterem Gesichtsausdruck und ging schnell davon. Kaum waren dessen Schritte verklungen, wandte sich Dumbledore an Tarsuinn.
„Sieh mich an, Tarsuinn!", sagte er sanft, machte aber nicht den Fehler, den Jungen zu berühren.
Langsam hob der Junge den Kopf.
„Sir Oliver ist frei", sagte Tarsuinn leise. „Es ist alles meine Schuld."
Es war einer der seltenen Augenblicke, in dem das Gütige im Gesicht Dumbledores kurzzeitig verschwand. Toireasa kam der Name Sir Oliver irgendwie bekannt vor.
„Ich denke wirklich, wir sollten reden", sagte der Professor und die Härte schwand wieder aus seinen Zügen, aber die Sorge blieb. Sie hatte sogar ihre eigenen Falten, wie Toireasa feststellte.
Sie gingen in das Büro des Direktors, der ihnen zwei Stühle anbot.
„Ihr mögt verzeihen, wenn ich kurz angebunden bin, aber was hat euch dazu getrieben, gerade jetzt herumzustromern?", fragte Dumbledore ernst. „Ich kann mir eigentlich keinen guten Grund dafür vorstellen, aber Sir Oliver war ein guter Ansatz."
Toireasa schaute nervös zu Tarsuinn. Sie persönlich hatte keinen guten Grund, nur einen dummen.
„Er ist wieder da", flüsterte Tarsuinn. „Ich hab ihn gehört."
Toireasa zermarterte sich seit einigen Minuten das Hirn, woher sie nur diesen Namen kannte.
„Vielleicht solltest du das genauer erklären", drängte der Professor sanft. „Warum habt ihr euch aus der Großen Halle geschlichen und wie?"
„Mein Einhorn hat nach mir gerufen", antwortete Tarsuinn traurig. „Es hatte Angst und brauchte Hilfe."
„Warum hast du das niemandem gesagt?"
„Es wollte nur meine Hilfe!"
„Ich war da noch nicht dabei!", erklärte Toireasa ergänzend, ließ aber den Kopf unten.
„Das stimmt", bestätigte Tarsuinn. „Ich hab allein mit Klebeband die Scheibe angeklebt, dann das Fenster aufgeschnitten und bin über den Sims geklettert. Danach bin ich in den Wald gelaufen, aber da war mein Einhorn schon stumm. Dafür fand ich…"
Tarsuinn schien auf seine Hände zu starren und dicke rote Tropfen fielen auf seine Haut. Ob er wusste, wie seine Tränen aussahen? Zumindest musste es ihm doch Schmerzen bereiten!
Professor Dumbledore ließ ihm etwas Zeit.
In der Zwischenzeit erschien Madame Pomfrey, die sich ohne große Worte um den Jungen kümmerte.
Toireasa versuchte die Erschöpfung zu verdrängen, die sie langsam aber sicher zu überwältigen drohte. Und neben der Frage, wer denn nun dieser Sir Oliver war, beschäftigte sie sich mit dem Problem, warum ihre linke Hand und der Umhang an der linken Schulter silbern schimmerten. Sie strich mit der rechten Hand über ihr Gesicht und auch diese Hand zeigte danach silbrige Spuren. Geschockt von der plötzlichen Erkenntnis schaute sie zum ersten Mal auf und traf den wissenden Blick Professor Dumbledores. Er nickte traurig und bestätigte damit wortlos ihre Befürchtung. Sie erkannte diese silberne Flüssigkeit, in der sie im Wald gelegen haben musste. Einhornblut. Trauer und Wut stiegen in ihr auf. Wenn Tarsuinn sein Einhorn sagte, dann wusste sie genau, um welches es sich handelte. Sie wollte nicht weinen, aber ihre Sicht verschwamm und sie konnte ihre geballten Hände nicht mehr erkennen.
„Aber es wird noch schlimmer!", sagte plötzlich Tarsuinn, wieder etwas beherrschter.
Madame Pomfrey trat ein paar Schritte zur Seite. Sie hatte dem Jungen ein schwarzes Band über die Augen gebunden.
„Ich habe es nicht gefunden, aber Dementoren waren in der Nähe und bei denen war Sir Oliver…"
Tarsuinn erzählte dann ohne zu stocken, wie Toireasa dazu gekommen, was passiert und jedes einzelne Wort, das gesprochen worden war.
Und dann, als die Geschichte eigentlich zu Ende war, sagte Tarsuinn etwas, was Toireasa wie ein Vorschlaghammer traf.
„Sir Oliver war in dem Feuerrubin und da ich Ihnen das nicht gesagt habe, Professor, ist er jetzt frei", sagte der Junge und eine extreme Bitterkeit lag in seiner Stimme.
Professor Dumbledore sagte nichts. Ängstlich schaute Toireasa ihn an. Seine Augen blitzen kurzzeitig verärgert.
„Die Kinder sollten jetzt schlafen gehen", sagte Madame Pomfrey.
„Nein!", widersprach Tarsuinn. „Da war noch mehr, Professor. Ich… ich…"
„Ja?", fragte Dumbledore erstaunlich freundlich.
„Ich habe es gesehen", hauchte Tarsuinn und die Erinnerung ließ Entsetzen in seiner Stimme klingen. „Auch wenn ich die Augen zu hatte. Ich hab gesehen, wie sie sein Glück geraubt haben und die Seele herausrissen."
„Und wir haben aus Angst nichts getan!", gestand Toireasa beschämt.
„Wenn ihr etwas unternommen hättet, wärt ihr jetzt tot", entgegnete der Professor entschieden. Dumbledore stand auf und ging gemessenen Schrittes zum Fenster, blickte kurz nach draußen und wandte sich dann wieder um.
„Madame Pomfrey, bitte bleiben Sie mit den beiden hier. Ich muss einiges erledigen und auch in der Großen Halle Bescheid sagen, bevor jemand nervös wird. Außerdem scheint ein Fenster Reparatur und einen neuen Schutzzauber zu brauchen."
Dann ging er aus dem Büro und Madame Pomfrey kam zu Toireasa.
„Wie geht es dir?", fragte die Frau.
Toireasa zeigte ihren Arm, der immer noch stark schmerzte. Der Ellenbogen war aufgeschlagen und eine große Schürfwunde zog sich über den gesamten Unterarm.
„Glatter Bruch der Speiche!", urteilte Madame Pomfrey professionell und Sekunden später war die Verletzung behoben. Danach nötigte die Krankenschwester sie, sich zu waschen und wenig später schlief Toireasa auf einer bequemen Couch ein.
Ihr Schlaf war sehr unruhig und in ihrem Traum weinte sie schwarze Tränen.
