- Kapitel 15 -

Indig Nabundus – der Archivar

Seit Toireasa von dem Fluchreflektor-Spiegel erfahren hatte, war sie wie elektrisiert. Das hatte jedoch keinen guten Einfluss auf ihre Leistungen im Unterricht. Statt sich mit dem Stoff zu beschäftigen, schmiedete sie Pläne, übte heimlich Gegenflüche und kassierte nebenbei acht Minuspunkte für Slytherin. Professor Snape begann schon, beim Essen seltsam zu ihr hinüberzuschauen. Wenn sie sich nicht zusammenriss, dann stand wohl bald eine unangenehme Predigt an.

Aber zum Glück verzichtete der Hauslehrer vorerst darauf.

Ansonsten verging die Woche angenehm langweilig. Keine großartigen Anfeindungen, keine Unfälle – kein Tarsuinn im Krankenflügel. Im Grunde hätte der Junge auch keine Zeit dafür gehabt, denn in jeder freien Minute schrieb er an der Aufgabe, die ihm Professor Lupin gestellt hatte. Toireasa ging davon aus, dass der Lehrer sich beim Umfang versprochen haben musste, aber Tarsuinn schien das egal zu sein. Manchmal stellte er jedoch sehr seltsam anmutende Fragen. Ob Sehende auch Geräusche fürchteten, ob Mädchen wirklich immer kalte Füße hätten oder was besonders eklig anzufassen war.

Toireasa ertappte ihn einmal dabei, wie er einen Schwebezauber mit einem Messer ausprobierte. Ein wenig mulmig war ihr dabei schon gewesen, aber er hatte diesen Zauber inzwischen gut im Griff. Nur allein der Gedanke, damit spitze Gegenstände durch die Luft zu befördern, war sicher nicht im Sinne des Erfinders.

Im Moment suchte Toireasa zusammen mit Winona den Jungen. Die Mädchen machte es inzwischen immer nervös, wenn keine von ihnen genau wusste, wo der Junge gerade war. Sie verbrachten fast ihre gesamte Freizeit miteinander und genau deshalb störte sie es, wenn er sich ungesehen absetzte. Nicht, dass er es absichtlich tat, aber manchmal, wenn man nicht hinsah, war er in die seltsamsten Richtungen verschwunden. Wenig später fand man ihn in einem einsamen Gang, auf dem Bauch liegend, Tikki und den Teddy neben sich und gedankenverloren an seinem ellenlangen Aufsatz schreibend.

Toireasa hatte deshalb schon mit Madame Pomfrey gesprochen, doch die Krankenschwester hatte sie beruhigt. Anscheinend suchte der Junge sich immer wieder Orte der Stille. Wahrscheinlich vollkommen unbewusst, aber anscheinend fiel es ihm so leichter, sich zu konzentrieren. Immerhin war in der letzten Woche sogar seine Mitschrift in Geschichte lückenhaft gewesen. Das hatte fast den gesamten zweiten Jahrgang in tiefe Verzweiflung gestürzt.

„In der Großen Halle und in unserem Turm hab ich schon nachgesehen", sagte Winona gerade. „Und auch in den Innenhöfen."

„Ich war in den Gewächshäusern und bei Hagrid", fügte Toireasa hinzu. „Fehlanzeige."

„Ob er schon allein...?", fragte Winona besorgt. „Du weißt schon."

„Kaum", lachte Toireasa. „Ich hab vergessen ihm den Spiegel nach dem Ausprobieren wiederzugeben."

„Und was ist, wenn er sich einen Zweiten gebastelt hat?", fand das Ravenclaw-Mädchen die Lücke in der Argumentation.

Toireasa verdrehte die Augen.

„Welcher geistig gesunde Lehrer, stellt Tarsuinn auch die Möglichkeit zur Verfügung, in seiner Freizeit und ganz allein, mit seinen Zaubertrankzutaten zu spielen?"

„Eine gute Frage", sagte eine erwachsene Stimme hinter Toireasa und Winona amüsiert. „Ich war schon immer der Ansicht, dass jemand in der Schulleitung einige kleinere Defizite auf diesem Gebiet hat."

Die beiden Mädchen zuckten erschrocken zusammen und fuhren herum.

„Ähem, Professor Dumbledore. Ich äh...", stammelte Toireasa. „... ich hab Sie gar nicht gehört. Ich meinte...na ja..."

„...sie hat nur ein wenig die Weisheit in Frage gestellt", half Winona ein wenig mutiger aus.

„Denkt ihr beide denn, Tarsuinn würde dieses Privileg missbrauchen?", fragte der Professor und obwohl das Gesicht des Mannes ernst blieb, glaubte Toireasa ein Lächeln in den Augen zu sehen. Aber sicher war sie sich darüber nicht.

„Würde er nie!", sagte Winona im Ton voller Überzeugung.

„Genau", pflichtete Toireasa weniger überzeugt bei. „Wir machen uns nur Sorgen um ihn, falls ihm mal was schief geht und es niemand mitbekommt."

„Ich verrat euch mal was...", flüsterte der Professor und beugte sich zu ihnen hinunter „...diese Gefahr haben wir vorausgesehen. Verrückt zu sein bedeutet nicht, dass man dumm ist."

„Das wollten wir nie andeuten", versicherte Toireasa.

„Hauptsächlich Letzteres nicht", fügte Winona frech hinzu und kassierte dafür einen kleinen Schubs und einen bösen Blick von Toireasa.

„Da bin ich mir sicher", zwinkerte der Professor und richtete sich wieder auf. „Ansonsten würde ich euch darauf hinweisen, dass fleißige Schüler im Moment ihre Hausaufgaben machen und dazu das Wissen und die Ruhe der Bibliothek nutzen. Und nun entschuldigt mich. Verbrecher namens Schüler durchstreifen dieses Gemäuer. Ich muss sie aufspüren, bevor sie Schaden anrichten."

Der Professor schritt davon und warf dabei in jeden Seitengang einen Blick, als würde er glauben, irgendein Monster würde ihn von da angreifen.

„Na, das stärkt jetzt mein Vertrauen in unsere Sicherheit", murmelte Winona.

Toireasa ignorierte das und zog das Mädchen Richtung Bibliothek. Es war nicht weit.

„Du willst doch nicht wirklich Hausaufgaben machen?", fragte Winona ablehnend.

„Quatsch!", wehrte Toireasa ab. „Aber an welchem ruhigen Ort haben wir noch nicht nachgesehen?"

„Aber für Tarsuinn ist es da nicht ruhig."

„Glaubst du, irgendein Buch wagt noch was zu sagen, nach dem, was er mit Snapes Buch angestellt hat?"

„Er ist nicht stolz drauf", erklärte Winona fast beleidigt.

„Ja, aber würde dich das interessieren, wenn du ein Buch wärst?", grinste Toireasa. „Außerdem hat Professor Dumbledore so seltsam gezwinkert und du weißt doch, dass er immer genau weiß, wo wir sind."

Toireasa legte die Hand auf die Halskette, die sie, Winona und Tarsuinn tragen mussten.

„Ach ja, das", murmelte Winona und schürzte unangenehm berührt die Lippen. „Wir sollten sie heute im Bett liegen lassen."

„Sollten wir nicht!", schüttelte Toireasa den Kopf.

„Aber dann besteht eine Riesenchance, dass wir auffliegen. Die Dinger sollen zwar nur Alarm geben, wenn sich uns Dementoren nähern, aber wo wir sind, weiß Dumbledore immer – wenn er will."

„Wenn ich die Wahl zwischen den Risiken hab, erwischt zu werden, oder ohne die Kette einem Dementor zu begegnen, dann werde ich lieber erwischt."

Das Ravenclaw-Mädchen starrte einen Moment ins Leere.

„Wo du Recht hast, hast du Recht", sagte sie dann.

Sie betraten die Bibliothek und begannen nach dem Jungen zu suchen, den sie allein nahe der Verbotenen Abteilung fanden. Er saß still da, hatte ein Buch vor sich und schrieb, während eine gelangweilte Tikki an ihm herumkletterte und sich mit dem wehrlosen Teddybären fetzte, der erstaunlich reißfest zu sein schien.

Winona und Toireasa setzten sich ihm still gegenüber. Er wirkte sehr konzentriert und da die Feder ohne Tinte über das Papier kratzte, hatte das etwas Geheimnisvolles. Neugierig reckte Toireasa den Kopf und versuchte an der Bewegung der Feder herauszubekommen, was er schrieb. Vergebens, denn was immer er auch schrieb, es war kein Englisch.

Nach einer Minute legte er dann die Feder beiseite und hob den Kopf.

„Wusstet ihr,...", sagte er ernst „...dass der Biss eines einzigen Drachens, für eine Reddbee tödlich sein kann?"

Zu ihrer Schande musste Toireasa sich innerlich eingestehen, sie hatte ein paar Sekunden ernsthaft über diese Aussage nachgedacht.

„Du redest wie immer Stuss!", meckerte Winona leise und sah sich aufmerksam um. „So – und jetzt heraus mit der Sprache, welchem Buch aus der Verbotenen hast du zugehört."

Tränke der Gefühle und ihre Anwendungen", entgegnete Tarsuinn verlegen lächelnd. „Ich dachte, ein Trank, der meine Angst unterdrückt, könnte mir beim Provokationstest helfen."

„Sofern du ihn rechtzeitig erkennst", schränkte Toireasa ein. „Außerdem ist es sicher nicht ungefährlich, mit den Gefühlen zu spielen."

„Da hast du leider recht", gestand er mit säuerlichem Gesichtsausdruck. „Das Gefühl, das man mit einem solchen Trank unterdrückt, schlägt nachher doppelt zu und es lässt sich nur eine Zeit lang aufschieben. Aber falls ich es wirklich brauchen sollte...Na ja, sicher ist sicher."

„Gibt es auch einen Trank, mit dem wir Kosloff mal so richtig Angst machen können?", fragte Winona interessiert.

Fast erschrocken schüttelte Tarsuinn den Kopf.

„Es ist durchaus angebracht, dieses Buch in der Verbotenen Abteilung zu lassen", sagte er überzeugt. „Mit dem Wissen könnte man viel zu schlimme Sachen anrichten. Allein die Dosierung ist eine Wissenschaft für sich. Jeder Trank hat eine ellenlange, komplizierte Formel und eine falsche Menge kann verheerend sein. Aber ich hab gefunden, was Toireasa helfen könnte."

Er griff in seine Tasche und holte eine kleine, handgroße Pergamentrolle hervor.

„Das dürfte deine Idee noch ein wenig erweitern", lächelte der Junge mit einem recht bösartigen Lächeln. „Wenn du meinen Rat hören willst, solltest du dich irgendwie absichern, wenn du das machst."

Toireasa nahm die kleine Rolle, las und fing dann an zu kichern. Das war gemein, es war übertrieben – Toireasa gönnte es Regina von Herzen.

Sie zeigte Winona den Zettel, die nur kurz draufschaute, mit den Mundwinkeln zuckte und dann einfach nur cool sagte: „Und ich hab mir schon Sorgen darüber gemacht, was wir morgen mit unserer Zeit machen sollen."

„Wäre ja noch schöner, wenn wir die mit Hausaufgaben verschwenden würden", lachte Toireasa, unterdrückte es aber sofort, als sie Madame Pince mit einem tadelnden Gesichtsausdruck näher kommen sah. Auch um ein böses „Schhh!", kamen sie nicht herum.

„Wenn ihr etwas zu besprechen habt, dann macht das außerhalb der Bibliothek", sagte Madame Pince heiser flüsternd. „Andere Schüler wollen hier in Ruhe arbeiten können."

Toireasa sah sich zweifelnd um. Es war später Samstagnachmittag und außer ihnen konnte sie nur ein lockiges Gryffindor-Mädchen sehen. Malfoys Lieblingshassobjekt neben Harry Potter, wie Toireasa erkannte.

„Ich bin hier fertig, Madame Pince", sagte Tarsuinn höflich und klappte das Buch zu, das vor ihm lag. „Hat mir sehr weitergeholfen."

Zweifelnd las Toireasa den Titel des Wälzers. Warum der Stillstand in der Zaubergesellschaft den Untergang Karthagos einleitete.

„Das freut mich", entgegnete Madame Pince und plötzlich lächelte sie fast weich. Recht ungewöhnlich für die sonst so strenge Frau, die einem mit einer geflüsterten Standpauke manchmal mehr Angst einjagen konnte, als ein lauter Professor Snape. Aber wirklich nur manchmal.

„Ich stell das Buch schon an seinen Platz", sagte die Bibliothekarin nett und nahm es ihm aus der Hand. „Geht ruhig noch ein wenig an die frische Luft vor dem Abendessen."

Wenig später – aus unerklärlichen Gründen waren sie Madame Pince Empfehlung nachgekommen – spazierten sie über die nasse Wiese. Im Moment schien jedoch die Sonne und machte es relativ warm draußen, sodass auch Tikki in der Kapuze neben dem Teddy mitgekommen war.

„Was war denn mit Madame Pince los?", fragte Winona Tarsuinn. „Sie war so, na ja, freundlich."

„Ich hab mich bei ihr eingeschleimt", lächelte Tarsuinn verschmitzt. „Snape hatte sie fast überzeugt, ich wäre eine Gefahr für ihre Bücher."

„Und wie?", fragte Toireasa neugierig.

„Ich hab ein paar Erstklässler bestochen, ein paar Bücher zu verstecken und ihr dann meine Hilfe beim Suchen angeboten."

„Das ist link!", urteilte Winona lachend.

„Ich nenn es Notwehr", meinte Tarsuinn. „Wenn Snape herumläuft und Horrorstorys über mich verbreitet, muss ich doch was dagegen unternehmen."

„Aber du hast doch sein Buch zerlegt!", gab Toireasa zu bedenken.

„Schon, aber Snape weiß das nicht und einfach unbewiesene Behauptungen zu verbreiten, erfüllt den Tatbestand der üblen Nachrede."

„Verklag ihn doch", grinste Winona.

„Geht das?", versuchte er ernst zu fragen, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch nach oben. „Aber da fällt mir etwas anderes ein..."

Sein Lächeln wurde irgendwie weich. Tikki, in Tarsuinns Kapuze, nahm das zum Anlass, um erneut den Teddy zu fetzen und schimpfte auch ein wenig. Der Junge reagierte indem er die Hand hob und seine kleine Begleiterin sanft hinter den Ohren knuddelte.

„Mir gefällt es ja auch nicht", sagte er leise zu Tikki.

Toireasa schaute nur fragend zu Winona, die ratlos mit den Schultern zuckte.

Sie umrundeten ein paar Hecken und standen plötzlich im Rücken eines knienden Jean Leraux. Toireasa brauchte keine Sekunde um zu erkennen, dass der Slytherin-Junge gerade dabei war, einen sich windenden Regenwurm mit einem Brennglas zu rösten.

Angewidert schaute Toireasa auf den Jungen und einige seiner früheren Opfer hinunter, die fein ordentlich aufgereicht auf einem Stein lagen. Wenn Toireasa in Zaubertränke eine lebende Spinne in einen Trank tun musste, dann störte sie das nicht sonderlich, denn es hatte einen Sinn. Aber wenn man nur einfach so zum Vergnügen Tiere quälte oder tötete, dann machte sie das wütend.

Sie stellte ihren Fuß wie zufällig auf den Umhang von Leraux und erst dadurch bemerkte der Junge überhaupt, dass er nicht mehr allein war.

Er schaute sich langsam um und als er begriff, dass er allein gegen drei war, sah man die Angst in seine Augen steigen.

„Und mich bezeichnen sie als irre", sagte Tarsuinn abfällig und zog angewidert die Luft durch die Nase.

„Du bist krank, Leraux", fügte Toireasa zornig hinzu. „Du solltest mal St Mungos aufsuchen."

„Ich mache nichts Verbotenes", entgegnete Leraux und versuchte aufzustehen. Toireasa verlagerte ihr Gewicht noch mehr auf seinen Umhang.

„Geh da runter!", sagte er mit unsicherer Stimme und zerrte an dem Kleidungsstück, bis er es unter ihrem Fuß hervorgezerrt hatte. „Wenn ihr mir was tut, dann sag ich..."

„So gern ich das auch will,...", unterbrach ihn Tarsuinn abfällig „...muss ich leider etwas anderes erledigen."

Er griff in die Tasche und Leraux wich erschrocken zurück. Toireasa wusste, dass Tarsuinn seinen Zauberstab meist in einer kleinen Tasche an der Hose oder im Ärmel trug und deshalb keine ernsthafte Gefahr bestand. Leraux jedoch schien weglaufen zu wollen, getraute sich aber offensichtlich nicht, ihnen den Rücken zuzuwenden.

„Hier!", spie Tarsuinn das Wort quasi aus und warf Leraux, locker aus dem Handgelenk, etwas zu.

Der Slytherin sprang zur Seite, als würde es sich um eine Wasserbombe handeln und so fiel der silberne Sickel zu Boden und rollte in ein Gebüsch.

„Ich hab mich bei Professor Flitwick erkundigt, was eine Fee kostet", erklärte Tarsuinn. „Damit sind wir quitt."

Da es offensichtlich nicht um sein Leben, sondern um Geld für ihn ging, gewann Leraux ein wenig Selbstsicherheit zurück. Gierig holte er sich den Sickel und konnte sich ein triumphierendes Feixen nicht verkneifen, obwohl er immer noch vorsichtig war. Drei gegen einen war ein recht ungünstiges Verhältnis, hauptsächlich weil sich Hexen genauso gut wehren konnten wie Zauberer, wenn nicht gar besser.

„Sei vorsichtig, wofür du das Geld ausgibst", fuhr Tarsuinn warnend fort.

„Das geht dich wohl nichts an, oder, McNamara?", entgegnete Leraux herausfordernd.

„Tut es auch nicht", meinte Tarsuinn mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Aber ich habe heute Morgen Professor Flitwick und Hagrid erzählt, was du mit den Feen gemacht hast und Professor Lupin hat es bestätigt."

„Und?", wollte Leraux abwertend wissen.

„Ich wollt es eigentlich nicht vorwegnehmen", erwiderte Tarsuinn diesmal überlegen lächelnd. „Aber ich denke, dir wird heut das Privileg entzogen, ein Haustier in Hogwarts zu halten. Zumindest, wenn ich Hagrids wütenden Blick richtig interpretiert habe."

„Dieser Klotz hat nichts zu vermelden!"

„Aber der Direktor hört auf ihn bei so was, denn er ist der Wildhüter!", mischte sich Toireasa ein. Sie hasste es, wenn jemand über Hagrid schlecht redete und das war in Slytherin nicht gerade selten.

Zumindest war Leraux nicht so dumm, um bei diesem Thema weiter zumachen.

„Professor Snape wird das nicht zulassen", sagte der Slytherin-Junge überzeugt und entfernte sich rückwärts gehend von ihnen. Nach ein paar Metern wandte er sich dann um und rannte im Zickzack weg.

„Für Snape zählt nur, wer wichtig für ihn oder das Haus ist", murmelte Tarsuinn, nachdem Leraux fast im Schloss angelangt war. „Malfoy ist ihm wichtig, Flint und ein paar andere. Der da zählt sicher nicht dazu."

Damit mochte er Recht haben, fand Toireasa, wobei sich bei einigen die Wichtigkeit eher auf die Familien, die dahinter standen, bezog.

Nach dem Abendessen war Toireasa nicht in den Slytherin-Kerker zurückgekehrt. Sie hatte zwar so getan, als würde sie zurückkehren, hatte aber dann einen günstigen Augenblick genutzt, um sich in den Kerkergewölben zu verstecken. Sie war in der Nähe einer der Türen, welche mit dem Schrumpfnasen-Fluch zuschlugen, wenn man sie zu öffnen versuchte. Es juckte sie in den Fingern, Tarsuinns Spiegel auszuprobieren, doch sie hatte versprochen damit zu warten, bis die beiden Ravenclaws dabei waren.

Tarsuinn und Winona hatten den ungleich schwierigeren Weg vor sich. Erstens, weil zumindest Tarsuinn viel besser kontrolliert wurde, zweitens, weil sie über den Turm mit Winonas Besen herunterkommen wollten. Toireasa machte sich Sorgen, ob das Mädchen der Anforderung gewachsen war. Tarsuinn flog meist bei Toireasa mit, wobei er inzwischen dank des Halloweenabenteuers einen deutlich besseren Fluggast abgab. In völliger Dunkelheit war Winona zudem noch nie mit dem Jungen geflogen und der Wind hatte auch abends noch aufgefrischt.

Doch sie machte sich umsonst Gedanken. Kurz vor Mitternacht stand plötzlich Tikki neben ihren Füßen und wenig später folgten – nur unerheblich lauter als der Mungo – die Ravenclaws. Man musste schon sagen, sie alle drei hatten inzwischen ziemlich viel Übung im Schleichen.

„Keine Probleme?", flüsterte Toireasa zur Begrüßung überflüssigerweise.

„Wir leben doch noch", entgegnete Winona etwas unwirsch.

Tarsuinn kicherte leise, während Tikki ein wenig schimpfte.

„Wir haben die Statue von Direktor Franklin dem Entrüsteten von einem Sims geworfen", erklärte der Junge dann, immer noch mit seiner Belustigung kämpfend. „Er war ziemlich entrüstet darüber."

„Glücklicherweise ist er mit dem Kopf im Schlamm gelandet", merkte Winona noch immer sauer an. „Dieser unhöfliche Kerl hat mich Müllkutscher genannt."

„Nun meckere hier nicht rum", sagte Tarsuinn. „Immerhin war ich deine Fracht und müsste viel saurer sein."

„Wie wäre es, wenn wir die Diskussion auf nachher verschieben?", unterbrach Toireasa das Geplänkel.

Fast widerwillig nickten die beiden, und sie begaben sich zur ersten Tür.

Toireasa hatte schon vor einiger Zeit mal versucht diese zu öffnen und war gescheitert. Es war eine schwere Eichentür, in die ein Relief eines männlichen Kopfes geschnitzt war. Sicherlich war das mal ein früherer Lehrer von Hogwarts gewesen oder ein Bibliothekar.

Sie lauschten kurz, ob irgendwo jemand zu hören war, dann holte Toireasa den Spiegel hervor, gab ihn an Winona weiter und bereitete sich selbst auf den Öffnungszauber vor. Angeberei hin oder her – Zauberkunst war einfach Toireasas Gebiet.

„Moment!", meinte Winona, griff sich Tarsuinn und bugsierte ihn hinter eine Ecke. „Nicht, dass es dich trifft."

Der Junge murrte nicht darüber.

Toireasa schaute kurz Winona an, sie nickten einander zu und dann zauberte sie ein richtig gutes: „Alohomora!".

Wie erwartet, traf Toireasas Zauber die Tür, verschwand und als Antwort verfluchte das Reliefgesicht sie. Doch diesmal hielt Winona reaktionsschnell den Spiegel vor Toireasas Gesicht, der Fluch prallte davon ab und gegen die Wand.

„Hat der Spiegel funktioniert?", fragte Tarsuinn flüsternd.

„Perfekt", lobte Winona. „Nix durchgeschlagen. Nur ein wenig warm."

„Leider ist die Tür immer noch zu", fand Toireasa die Perücke in der Suppe.

„Deine Alternativversion vom Sommer ist hier nicht möglich, oder?", fragte er.

„Kein Stein in der Nähe", grinste sie bei dem Gedanken daran.

„Und was machen wir dann jetzt?"

„Wir könnten versuchen den Fluch auf die Tür zu reflektieren", schlug Winona vor. „Haben wir ja damals schon versucht, nur war unser Schutzzauber zu schwach."

„Schaden kann es nicht", stimmte Toireasa zu. Die Logik war so verdreht (den Schlüssel in den Abwehrmechanismus einzubauen) und genau das war es, was sie Professor Dumbledore zutraute.

Drei Versuche später war die Nase des Reliefs geschrumpft.

„Und was nun?", fragte Winona, nachdem auch das die Tür nicht geöffnet hatte.

Neugierig trat Toireasa vor, inspizierte die Holznase und in einem Anflug von Gemeinheit drückte sie fest drauf.

„Das ist unerhört!", beschwerte sich das Relief mit schnarrender Stimme, aber gleichzeitig machte es laut Klick.

Ein kurzer Druck und die widerwillige Tür schwang weit auf.

„War doch eigentlich recht einfach", meinte Toireasa und leuchtete mit einem Lichtzauber in den Raum. „Oh, das ist ein Raum für dich, Tarsuinn."

„Das finde ich nicht!", entgegnete er naserümpfend, kam aber näher.

Seine Abneigung kam nicht von ungefähr. Aus dem Raum strömte ein beißender Geruch. Trotzdem traten er und Winona näher, während Tikki sich eher noch ein Stück entfernte.

Was sie in Toireasa Lichtzauber sahen – oder auch nicht – war eine scheinbar ins Unendliche gehende Halle, in der Unmengen von Regalen standen. Doch statt der erhofften Schriftrollen, Bücher oder dergleichen, waren die Stellflächen gefüllt mit Flaschen, Krügen, Töpfen und sogar Kesseln. An allen Ecken und Enden blubberte und köchelte es, obwohl schon dicke Staubschichten die Gefäße bedeckten. Die Sachen nahe der Tür wirkten dabei noch sehr sauber.

„Winona, halt bitte die Tür offen", bat Toireasa und ging zu dem nächstliegenden Regal, an dem ein Schild, mit der Aufschrift 1993/1994, hing.

„Was seht ihr?", fragte Tarsuinn leise und trotzdem hallte seine Stimme weit durch die Halle.

„Einen riesigen Raum mit unzähligen Tränken. Wie in einer Schatz- oder Waffenkammer", erklärte ihm Winona.

„Nicht wirklich", widersprach Toireasa und starrte auf ein kleines Etikett. „Ist wohl eher die Kammer der Fehlschläge. Das hier ist mein Versuch eines Schwelltrankes. Hört mal..."

Hersteller? Toireasa Keary

Objekt? Schwelltrank

Datum? 25.10.1993

Wirkung? Keine.

Alternative Wirkung? Keine festgestellt.

Mögliche Fehler? Zu viel Ingwerwurz

Warum aufgehoben? Trank kann nicht vernichtet werden.

Welche Vernichtungszauber wurden versucht?

Quelle: Jahrbuch der rückstandslosen Entfernung von fehlerhaften Tränken 1992.

„Und?", grinste Tarsuinn. „Hat Cassandra ihr eigenes Regal?"

„Anscheinend nicht", antwortete Toireasa nach kurzem Umsehen. „Aber ein Junge namens Neville ist überdurchschnittlich oft vertreten."

„Na egal", sagte Winona von der Tür aus. „Viel wichtiger ist, warum war Professor Flitwick nur hier drin?"

„Wahrscheinlich, weil Marie-Ann auch hier ein Andenken hinterlassen hat", vermutete Tarsuinn. „Und weil ihr Zaubertranklehrer was dazu geschrieben hat."

„Wollen wir nachschauen?", bot Toireasa an, doch Tarsuinn schüttelte den Kopf.

„Wir sind nicht wegen ihr hier und Zeit zu suchen haben wir auch nicht unbedingt", sagte er und man konnte ihm ansehen, dass er eigentlich nachsehen wollte. „Außerdem hat Professor Flitwick vermutlich alles mitgenommen, was interessant sein könnte."

„Also weiter!", drängte Winona und schaute besorgt in den Gang draußen.

Das Mädchen hatte sicherlich Recht, wenn sie ein wenig aufs Tempo drückte. Es gab sicherlich mehr Prüfungsunterlagen, als fehlerhafte Tränke.

Und schon mit der nächsten Tür wurde diese Annahme bestätigt. Kaum hatten sie diese auf die gleiche Art wie die erste geöffnet, verschlug es zumindest den Mädchen den Atem.

„Hier muss jede einzelne Prüfung seit dem allerersten Jahr der Schule lagern", staunte Toireasa und starrte in die unzähligen Gänge, die sich vor ihnen öffneten.

„Wie viele Wochen wollen wir hier bleiben?", erkundigte sich Winona ironisch.

„Wir müssen nur die Ordnung durchschauen", redete sich Toireasa Mut zu.

„Na dann, fangt mal an", forderte Tarsuinn sie auf, dann klebte er mit Zauberband das Schloss der Tür ab und schloss diese hinter sich.

„Ist einer der Tricks, mit denen Rica uns aus Indien gebracht hat", erklärte er überflüssigerweise.

Toireasa wusste was er da tat und Winona als Tochter von Gesetzeshütern sicher auch, aber ihn darauf hinzuweisen wäre kleinlich gewesen.

„Kannst du etwas hören, was uns weiterhilft, Tarsuinn?", erkundigte sich Toireasa.

„Nur, dass niemand in den Kerkern herumläuft, den ich hören kann", entgegnete der Junge.

„Na dann los!", ergriff Winona die Initiative. „Wir suchen alles zwischen den Jahren 1973 bis 1980. Das kann doch nicht so schwer sein! Vielleicht ist hier alles, wie bei den Tränken, von hinten nach vorn sortiert."

Diese Hoffnung stellte sich leider als falsch heraus. Schon nach einer Viertelstunde wurde ihnen klar, dass, wenn es hier jemals eine Ordnung gegeben hatte, sie von einem amtlich beglaubigten Genie oder einem absolut Irren erstellt worden war.

Die einzige gesicherte Erkenntnis, die sie hatten, war, dass die Gänge regelmäßig wie ein Schachbrett angelegt waren und immer einen türlosen Raum umschlossen, in dem jeweils alle Prüfungen eines Jahrganges abgelegt waren. Das bedeutete, irgendwo hier musste es einen Raum geben, in dem alle Prüfungen von denjenigen lagen, die 1973 eingeschult worden waren.

„Es ist zum Heulen!", sagte Toireasa ruhig, als sie sich an der Tür wieder trafen. „Ich hab 1972, 1667, 1871 und 1233 gefunden."

„Und ich 1431, 1901, 1874 und 1398", ergänzte Winona.

„Alles ziemlich chaotisch verteilt", urteilte Toireasa. „Wir können doch jetzt nicht tausend Räume durchsuchen!"

„Vielleicht sollten wir stattdessen einen Lageplan finden", schlug Tarsuinn vor, der nicht viel hatte helfen können.

„Ich weiß nur nicht, wo wir so was finden können?", meinte Toireasa ein wenig verzweifelt. So wie es aussah, konnte nur Glück ihnen weiterhelfen.

„Also ich würde so etwas in der Nähe der Eingangstür aufhängen", sagte Tarsuinn. „Und wenn nicht da, dann in der Mitte des Ganzen hier."

Einen Moment dachte Toireasa darüber nach, aber eine bessere Idee hatte sie auch nicht.

„Suchen wir halt die Mitte", sagte sie dann und Winona nickte bestätigend. „Wenn das nicht hilft, müssen wir die Sache eben systematisch angehen und eventuell ein paar Tage mehr einplanen."

Sie ergriff Tarsuinn bei der Hand (Winona tat das Gleiche auf der anderen Seite) und dann gingen sie tiefer in das Archiv hinein.

Ihre Lichtzauber waren bei weitem nicht stark genug, um den Gang bis zu irgendeinem Ende zu beleuchten. Das Einzige was sie mit Sicherheit sagen konnten war, dass die Tür sich an einer Grundseite befand. Ob in der Mitte der Wand, war nicht so ganz klar. Aber was sollten sie machen?

„Moment!", meinte plötzlich Winona und leuchtete in den Gang zu ihrer Rechten. „Schaut mal! Das ist doch das Gründungsdatum der Schule."

„Na eigentlich...", wehrte Toireasa ab, doch dann schlug auch bei ihr die Neugier zu. „Mal kurz schauen kann eigentlich nicht schaden."

Sie gingen in den kleinen Raum mit der so speziellen Jahreszahl und schauten sich um.

„Die allerersten Schüler in Hogwarts!", murmelte Winona und sah sich fast ehrfürchtig um. „Ausgebildet von den Gründern."

Auch Toireasa studierte sorgfältig die Namen.

„Wusste ich's doch!", grinste sie, nachdem sie die relativ wenigen Namen durch hatte. „Meine ehemalige Stiefmutter und ihre Eltern haben immer behauptet, seit dem Gründungsjahr, wäre jeder Terribly auf Hogwarts gewesen – aber kein Terribly unter T zu finden."

„Dafür schau mal hier", rief Winona sie zu sich. „Holt, Eric. Bestimmt einer deiner Ahnen."

„Kann sein, kann nicht sein", meinte Toireasa. „Unsere Chronik reicht nur bis ins 15. Jahrhundert zurück. Mal sehen, wie gut er war."

Toireasa griff nach einem Ordner für das siebente Jahr. Jedoch, kaum dass ihre Finger die Pappe berührten, brach das Chaos aus. Sämtliche Prüfungen des Raumes stürzten sich auf sie, warfen sie zu Boden und flogen dann mit irrwitziger Geschwindigkeit davon.

„So ein Mist", fluchte Winona herzhaft und sie rappelten sich wieder auf. Keiner von ihnen schien sich ernsthaft was getan zu haben. „Warum müssen die immer so misstrauisch sein? Ich meine,..."

„Hinlegen!", unterbrach Tarsuinn ernst, legte sich selbst auf den Boden und barg Tikki in seinen Armen.

Toireasa, wie auch Winona, hatte gelernt auf sein Gehör zu vertrauen und folgten der Aufforderung sofort. Einige Augenblicke später waren sie froh darüber, denn unzählige weitere Prüfungsbögen flatterten in den Raum.

Dann plötzlich war es wieder vollkommen still und Toireasa hob vorsichtig den Kopf. Die Regale waren jetzt deutlich gefüllter und die meisten Namensschilder hatten sich verändert.

Ohne ein weiteres Wort standen sie auf, verließen den Raum und setzten ihren Weg zur Mitte fort. Beim Hinausgehen schaute Toireasa sich noch einmal um, nur um jetzt die Jahreszahl 1754 an der Wand zu lesen.

Toireasa war ein wenig entmutigt. Selbst wenn sie in der Mitte wirklich einen Lageplan fanden, was sollte das nutzen, wenn einem alle Papiere wegflatterten? Aber sie waren schließlich jetzt hier und einfach so aufzugeben, war nicht ihr Ding. Winona und Tarsuinn schienen nicht einmal einen Gedanken daran zu verschwenden.

„Ist doch eigentlich ganz praktisch", flüsterte Winona grinsend. „Wenn sie zufällig die Positionen tauschen, muss man sich nicht sonderlich weit bewegen. Man muss nur warten, bis einem das richtige Jahr ins Haus flattert."

„Und was dann?", fragte Toireasa und versuchte ihren Mangel an Mut nicht mitklingen zu lassen."

„Bleibt abzuwarten", zwinkerte ihr Winona amüsiert zu. „Bis das richtige Jahr auftaucht, hat man genug Versuche, um herauszufinden, wie das hier funktioniert."

So gingen sie sicherlich zehn Minuten lang immer tiefer in das Archiv hinein. Sie konnten nicht sagen wie weit, denn hinter ihnen verschwand der Gang in der Dunkelheit und vor ihnen schälte sich ein immer längerer Weg aus der Dunkelheit.

Es war recht gruselig. Egal wie leise man war, jedes Geräusch schien tausendmal zu laut.

Gerade als Toireasa vorschlagen wollte umzukehren, blieb Tarsuinn stehen.

„Was ist?", fragte sie.

Der Junge legte nur den Zeigefinger auf seine Lippen und lauschte. Einzig Tikki gab leise fiepende Geräusche von sich.

„Da ist wer", flüsterte der Junge nach einer endlos scheinenden Minute. „Ich kenne seine Stimme nicht, aber er redet mit jemandem, dessen Antworten ich nicht hören kann."

„Wir sollten hier lieber weg. Vielleicht versteckt sich Black hier unten", flüsterte Toireasa.

„Unwahrscheinlich!", entgegnete Winona und ein leicht unvernünftiges Glitzern trat in ihre Augen. „Lasst uns nachschauen, wer da ist."

„Aber unser Licht!"

„Tarsuinn kann uns führen. Ist doch nicht das erste Mal und ihm macht's Spaß", drängte Winona. „Komm schon. Wenn es Black ist, sagen wir Bescheid, aber wenn es nicht Black ist, würden wir uns umsonst verraten."

„Aber wenn er es ist, dann wischt er mit uns den Boden auf", war Toireasa die Stimme der Vernunft.

„Für einen Flüchtling ist er ziemlich laut", meinte Tarsuinn und schlug sich damit auf Winonas Seite. „Ich glaube nicht, dass dies Black ist."

„Zwei zu eins", triumphierte Winona und löschte mit einem Nox das Licht an ihrem Zauberstab.

„Irgendwann sterben wir und dann werd ich es euch auf ewig vorhalten", versprach Toireasa und sorgte dafür, dass sie ganz im Dunklen standen.

Hand in Hand gingen sie durch das Nichts, das für Tarsuinn normal war. Es war so duster, dass Toireasa nicht mal die Hand vor Augen sehen konnte, wenn sie diese direkt vor ihre Nase hielt. Eine echt bescheidene Perspektive auf die Welt.

Es verging viel Zeit – oder auch wenig. Ohne auf die Uhr schauen zu können, war die Zeit schlecht zu schätzen. Zumindest konnte auch sie inzwischen jemanden hören.

Dann hatte sie das Gefühl, etwas zu sehen und glaubte zunächst, sie würde sich das einbilden, doch als das Licht immer näher kam und wieder Wände ihren Weg säumten, akzeptierte sie die zurückgekommene Sicht. Sie musste es Tarsuinn sagen.

Toireasa ließ seine Hand los, woraufhin er sofort stehen blieb, legte ihre Hände um sein Ohr und flüsterte: „Da ist Licht."

Er antwortete auf dieselbe Art.

„Dann geh du vor", hauchte er.

Daraufhin ging Toireasa voran und die beiden Ravenclaws folgten ihr.

Sie erreichten eine Ecke, hinter der das Licht besonders hell schien, und Toireasa linste herum. Gut erhellt von vier Lampen konnte sie einen freien Bereich sehen, der sich da befand, wo normalerweise einer der Ablageräume stand. Man hatte nur die Wände vergessen und stattdessen eine Art Tresen installiert. An der Decke darüber befand sich etwas, was wie eine karierte Plane aussah. Irgendwer werkelte hinter dem Tresen und fluchte deutlich vernehmbar.

„Blödes, bescheuertes, stures Papierzeug", sagte eine knarrende Stimme. „Eine Fliege und ich muss wieder zwei Jahrgänge suchen. Und keiner dankt es mir. Wie so üblich! Ja, ja. Ist mein Job, aber ab und an gehört sich das einfach. Dieser Dippet könnte ruhig mal wieder hier auftauchen. Schickt immer nur seine Laufburschen."

Und so ging das Lamentieren eine ganze Weile weiter. Dann plötzlich verstummte die Stimme, ein Rattern erklang. Ein Schemen huschte über die Theke, auf sie zu und dann stand plötzlich ein kleiner Kobold vor ihr.

Toireasa schrie vor Schreck auf. Genau wie der Kobold ihr gegenüber.

„Ein Mensch!", schrie der Kobold. „Drei Menschen!"

Der Ausbruch des kleinen Wesens war so abstrus, dass Toireasa sich wieder von der Überraschung erholte.

„Ein Kobold!", entgegnete sie möglichst cool, so, als würde sie hierher gehören. „Guten Abend, der Herr."

„Guten, ähem...", der Kobold starrte sie vollkommen perplex an, doch auch er fing sich schnell. „Was im Namen des Bösen habt ihr hier unten verloren?"

„Wir betreiben Geschichtsforschung für die Hausaufgaben", log Toireasa. „Es hieß, Sie könnten uns helfen."

„Professor Dippet würde niemals Kinder hier herunterschicken. Vor allem nicht des Nachts!", wehrte der Kobold ab. „Geht sofort hier weg."

„Aber es ist doch gar nicht Nacht", sagte Tarsuinn hinter ihr. „Es ist elf Uhr zweiunddreißig Vormittag und es ist Sonntag."

„Ach wirklich?", sagte der Kobold zweifelnd.

„Ja", schlug Toireasa in dieselbe Kerbe. „Sie haben hier wohl nur selten Besuch, sonst wüssten Sie auch, dass es oben keinen Professor Dippet gibt. Wer ist das überhaupt?"

„Der Schulleiter natürlich", entgegnete der Kobold.

„Professor Dumbledore ist der Direktor", erklärte ihm Toireasa und versuchte ihn mit diesen Informationen vom inneren Gleichgewicht fernzuhalten. „Schon seit vielen Jahren."

„Ach, wie hat der denn das geschafft?", schüttelte der Kobold den Kopf. „Muss den alten Dippet wohl verbuddelt haben, da der von allein ja nicht in die Kiste wollte. Hat Brainy mir nie erzählt, wenn er unten war. Er und Direktor. Ich hätte eher gewettet, er würde den Vorstand über eine Irrenanstalt übernehmen, weil er sich so gut in die Leute rein versetzen kann. Aber naja – Kinder sind eigentlich auch nichts anderes. Von daher könnte man durchaus sagen, man hat ihn in die Position seiner persönlichen Inkompetenz gehoben. Vielleicht will man ja auch nur verhindern, dass er wirklichen Schaden anrichtet. Als Zaubereiminister..."

„Das hat man dem Professor mal angeboten", unterbrach Toireasa den etwas überraschenden Redeschwall. „Aber er hat abgelehnt."

„Na, wenn das nicht der Beweis für seinen seltsamen Geisteszustand ist", ließ sich der Kobold kaum stören. „Und ist immer noch dieser Eisberg an seiner Seite?"

„Eisberg?", fragte Toireasa verwirrt.

„Professor McGonagall", half Tarsuinn aus, der unter einem Lachanfall fast zu ersticken drohte.

„Ja, diese kalte Person, die niemals einen Fehler zulässt und mich rausschmeißen wollte."

„Sie ist Hauslehrerin von Gryffindor und die Lehrerin für Verwandlungen", erklärte Toireasa. „Und auch sie schon seit vielen Jahren."

„Unerfreuliche Person", meinte der Kobold und ging langsam zurück zu seiner Theke. Toireasa folgte mit ihren Freunden. Das kleine Wesen hörte nicht auf zu sprechen.

„Es gibt nur einen Weg sie mal freundlich zu erleben, nämlich dann, wenn sie eine Katze ist. Meiner Meinung nach sollte man sie in diese Gestalt verbannen. Würde ihr und dem Rest der Welt gut tun."

„Helfen Sie uns?", fragte Toireasa, als sie die Theke erreicht hatten. „Wir versprechen, wir stören Sie nicht lange."

„Ich hatte hier unten noch nie Schüler", trat nun Misstrauen in sein Gesicht. „Könntest du mir..."

„Können Sie uns auch was über Professor Snape erzählen, Sir?", fragte Tarsuinn dazwischen.

„Wer ist das denn?", ließ der Kobold sich sofort ablenken.

„Erzählen wir Ihnen gern", versprach Tarsuinn. „Während meine Freundin hier ihre Geschichts-Hausaufgaben erledigen kann."

„Worum dreht es sich denn?"

„Um Samantha Holt, Jahrgang...", begann Toireasa.

„...1973. Alles klar", sagte der Kobold. „Würde ja gern helfen, aber zwei Räume haben sich selbstständig gemacht und ich muss sie wieder finden."

„Da können wir Ihnen helfen", freute sich Toireasa über die Möglichkeit. „Das Gründungsjahr hat mit 1754 getauscht."

„Ach ihr wart das!", schimpfte der Kobold.

„Es tut uns wirklich Leid", entschuldigte sich Toireasa gespielt geknickt. „Es war nur so verführerisch."

„Dumme Kinder", sagte der Kobold daraufhin abfällig. „Können niemals ihre Finger von etwas lassen. Ihr würdet in Gringotts keine fünf Minuten überleben, denn da sind die sichersten Hände die, welche in der Hosentasche bleiben. Solltet ihr euch angewöhnen. Dann bleibt ihr zwar immer noch dumm, aber auch am Leben."

„Werden wir uns merken, Sir."

„Ach, ihr seid Produkte eurer Lehrer. Das vergesst ihr, sobald ihr draußen seid."

Der Kobold holte einen langen Stab unter der Theke hervor und reckte ihn gegen die Decke. Toireasa schaute nach oben. Wie vorher schon gesehen, war diese kariert. Was sie vorher jedoch nicht hatte erkennen können, waren kleine, golden schimmernde, vierstellige Zahlen in jedem Feld. Der Kobold tippte mit dem langen Stab zwei davon an und schon tauschten sie die Positionen.

„Wenigstens erspart ihr mir die Arbeit, die ihr mir gemacht habt", meckerte der Kobold dabei.

„Es tut uns ja Leid", versicherte Toireasa zum zweiten Mal.

„A, a, a", sagte der Kobold und winkte gefährlich mit dem Stab. „Auf die andere Seite vom Tresen mit euch. Ins Viereck darf nur ich."

Schnell wichen sie zurück.

„1973 also. Wo haben wir denn das? Ah ja! Kommt mit."

Mit watschelndem Schritt, fast wie bei Professor Flitwick, ging der Kobold voran.

„Was ist mit diesem Binns?", fragte der Kobold weiter. „Ist der immer noch so langweilig?"

„Tödlich!", versicherte Toireasa ehrlich.

„Ja, ja, so ist uns Binns langweilig wie ein Stein. Es gibt ja Leute die behaupten, er wäre im Schlaf gestorben, aber ich weiß, dass er sich selbst zugehört hat und deshalb nie wieder aufwachte. Ich rate euch, lest niemals seine Geschichtsprüfungen. Wie konnte ein Mensch in so kurzer Zeit nur so viel Langweile in unzählige Worte fassen. Wenn ich Kinder hätte – und ich bin Gott dafür dankbar, dass dem nicht so ist – dann würde ich denen diese Prüfungen zur Strafe vorlesen. Ach und diese Trelawney, ist die auch noch hier? Was für ein Talent für fantasievolle Geschichten. Keine Ahnung, ob sie jemals wirklich etwas vorhergesehen hat, aber darüber schreiben konnte sie wie keine Zweite. Und alle so schön blutig. Wunderbar. Eine talentierte junge Dame. Nur schade, dass sie ihr Talent an Kinder verschwendet. Jeder Kobold hätte ihre Geschichten gekauft. Was für eine Schriftstellerin!"

„Sie ist die Lehrerin für Wahrsagen", erklärte Toireasa und konnte kaum ihre Aufregung unterdrücken.

„Na das nenne ich Fehlbesetzung", lachte der Kobold böse. „Oder aber sie hat wirklich echte Vorhersagen getroffen. Ihre Lehrerin schien das damals zu glauben. Kann jedoch auch nur Respekt für den großen Namen gewesen sein. Aber egal – hier sind wir richtig."

Er bog um eine Ecke und blieb vor einem Schild mit der Zahl 1973 stehen.

„Es hieß, Sie würden mir sagen, wie ich die Prüfungen auch berühren kann?", fragte Toireasa.

„Ich hab schon dafür gesorgt. Schreib auf, was du brauchst. Du hast zehn Minuten. Und ihr anderen, unterhaltet mich. Wer hat im letzten Jahr die Quidditchmeisterschaft gewonnen?"

„Ist doch egal!", sagte Winona sofort. „Die Qualifikation zur Weltmeisterschaft ist doch viel wichtiger. England, Irland und Schottland haben alle ihre Auftaktspiele gewonnen."

Während vor allem Winona den Kobold ablenkte, kümmerte sich Toireasa um die Prüfungen ihrer Mutter, die diesmal nicht wegflogen.

Wie geplant mitnehmen konnte sie leider keine, denn das würde der Kobold sicher nicht wollen, doch für diesen Zweck hatte sich Toireasa von Rica eine Muggelkamera schicken lassen.

Eine Muggelkamera war leider nötig, da Bilder von Zauberkameras selten den Anstand hatten stillzustehen.

Sie hatte lange geübt, ehe sie damit umgehen konnte. Dabei musste sie zugeben, ohne die Hilfe des ewig plappernden Colin (Tarsuinn und Winona waren leider bei dem Thema überfragt gewesen), wäre es unmöglich zu erlernen gewesen. Ohne den Gryffindor-Jungen hätte sie nicht gewusst, dass man einen Blitz brauchte, um vernünftige Innenaufnahmen machen zu können. Da aber das Muggelblitzdings in Hogwarts nicht funktionierte, musste sie mit einem besonders hellen Lichtzauber für Ausgleich sorgen.

Blende wählen, scharf stellen und niemals vergessen, den Film nach jedem Bild vorzuleiern, erinnerte sie sich. Rica hatte ihr extra deswegen, eine alte – rein mechanische – Kamera geschickt.

Erst nachdem sie einen Muggelfilm gefüllt hatte, begann sie, sich ein wenig mit dem Inhalt zu beschäftigen.

Und musste mit Entsetzen feststellen, dass Professor Flitwick mit – unsagbar unfähig – nicht gelogen hatte. Ihre Mutter war nicht nur ein wenig schlecht in der Schule, sie war ein absoluter Heuler gewesen. Alles, was nicht Zauberkunst hieß, zeugte von absoluter Lernverweigerung. Zwar waren die Noten in den letzten beiden Jahren nicht mehr gar so schlimm, aber ihre Mutter hatte nur einen einzigen ZAG in der Fünften geschafft und auch nur einen UTZ in der Siebten. In welchem Fach, war ja wohl klar. Aber ansonsten...?

Dunkle Künste, relativ nah verwandt mit Zauberkunst, ging ja noch und Geschichte war kein kompletter Reinfall, aber Wahrsagen, Kräuterkunde, alte Runen und Astrologie waren gerade noch bestanden. In Verwandlungen jedoch, hatte selbst guter Wille sie nicht vor dem Durchfallen bewahrt. Und Professor McGonagall schien sich wirklich Mühe gegeben zu haben, irgendwelche positiven Punkte zu finden. Offensichtlich vergeblich, wie die Bewertung zeigte. Wenigstens hatte ihre Mutter Humor und eine dicke Portion Unverfrorenheit besessen. Eine Frage, die sie nicht beantworten konnte, hatte sie nicht etwa offen gelassen, sondern irgendwelche ironischen Kommentare oder witzige Bildchen hingepinselt. Sie schien recht entspannt an Prüfungen herangegangen zu sein und Misserfolge nicht so tragisch genommen zu haben. Eine Einstellung, die Toireasa nicht ihr Eigen nennen konnte.

Tränen liefen Toireasa die Wangen herunter. Eine Reaktion, mit der sie nicht gerechnet hatte. Andere wären sicher beschämt gewesen zu lesen, wie schlecht die eigenen Eltern in der Schule gewesen waren, vor allem wenn man selbst recht gut war, für sie jedoch war alles anders. Selbst in so etwas Ernstem wie einer Prüfung, konnte man die Lebenslust ihrer Mutter spüren. Und dann war da noch von Samantha Keary die Antwort auf eine Geschichtsfrage.

17. Die Koboldaufstände führten zu großen, gesellschaftlichen Veränderungen in der Zaubergesellschaft.

Welche sind für Sie besonders wichtig?

Keine Ahnung. Für mich persönlich ist nur das wichtig, was in meinem Bauch heranwächst.

Es fiel Toireasa richtig schwer, diesen Prüfungsbogen zurückzulegen. Sie hatte zwar früher einige Schriftstücke von ihrer Mutter besessen, aber das hier war das einzige, in dem Toireasa Erwähnung fand.

Nur widerwillig legte sie das Blatt weg und schaute sich noch schnell ein paar Prüfungen ihres Vaters an. Auch dies ein extremes Desaster, nur dass hier das absolute Versagen bei Geschichte der Zauberei lag. Professor Binns war in seinem Bewertungskommentar nicht sonderlich rücksichtsvoll, sondern eher vernichtend gewesen.

„Du solltest langsam fertig werden, kleine Hexe", unterbrach der Kobold ihr Stöbern. „Die beiden hier fangen an mich zu langweilen und wenn mir langweilig ist, dann kommen mir böse Gedanken, was man alles störenden und uninteressanten Kindern antun kann."

„Ich bin hier fertig", entgegnete Toireasa und wischte sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Ihr müsst da lang! Da geht es zum Ausgang", erklärte der Kobold mürrisch und deutete in einen dunklen Gang.

„Verarschen können wir uns auch allein!", flüsterte Tarsuinn nicht besonders leise.

„Ach, meinst du?", fauchte der Kobold deutlich feindseliger als zuvor.

„Da ich annehme, dass Sie sich hier unten auskennen, sage ich einfach mal, Sie wollen uns absichtlich in die falsche Richtung schicken", entgegnete Tarsuinn sarkastisch. „Aber ich mag mich irren und dann entschuldige ich mich hiermit."

Der Kobold starrte Tarsuinn einen langen Moment bösartig in die Augen, während Tarsuinn relativ gelangweilt über ihn hinwegzusehen schien. Es war fast lustig zu sehen, wie der kleine Mann versuchte, mit seinem Blick den Ravenclaw-Jungen einzuschüchtern.

Toireasa hingegen hatte ein wenig Angst. Jedes Kind magischer Eltern lernte, dass man niemals die Macht und die Kraft eines Kobolds herausfordern sollte. Nur wusste Tarsuinn nicht das.

„Wir sollten jetzt gehen!", versuchte sie die Situation zu retten.

Das löste zwar das Starren, aber nicht, wie erhofft, das Problem.

Der Kobold begann herzhaft zu lachen. Auf eine Art und Weise, die man nicht mögen sollte.

„Du bist in Ordnung, kleiner Zauberer!", sagte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte und streckte die Hand aus. „Ich bin der Archivar von Hogwarts. Indig Nabundus ist mein Name. Erfreut, dich kennen zu lernen."

Bevor Toireasa wusste, wie sie darauf reagieren sollte, hatte Tarsuinn schon nach der Hand getastet und drückte sie nun.

„Tarsuinn McNamara, Sir", stellte der Junge sich vor und ließ es dabei aber nicht bewenden. „Winona Darkcloud und Toireasa Keary."

„Freut mich", sagte der Kobold namens Nabundus mit bösem Grinsen. „Da hab ich jetzt Dumbledore einiges mehr zu erzählen."

Das leichte Lächeln auf Tarsuinns Gesicht gefror und er schüttelte die Hand des Koboldes angewidert ab.

„Na dann. Einen schönen Tag, Tarsuinn McNamara, Winona Darkcloud und Toireasa Keary", lachte der kleine Archivar fröhlich und ging langsam weg. „Das wird den Direktor sicherlich interessieren und wahrscheinlich auch diesen Snape. Was für ein toller Tag. Menschenkinder sind so lustig und dumm."

Toireasa schaute ein wenig ratlos und sauer auf Tarsuinn. Einen solchen Fehler zu begehen und ihre Namen zu nennen, hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Wo er doch sonst so misstrauisch war.

Im Gesicht des Jungen arbeitete es schwer und dann plötzlich senkte sich die kalte, abwehrende Maske über sein Gesicht, die Toireasa vom letzten Jahr nur zu gut kannte und lange nicht gesehen hatte.

„Vielleicht können wir Ihnen etwas schenken, das Sie unsere Namen vergessen lässt!", bot Toireasa hektisch an. Mit einem unguten Gefühl sah sie, wie Tarsuinns Hand in der Tasche verschwand.

„Das zu erzählen ist das schönste Geschenk, welches ihr mir machen konntet", meinte der Kobold nur gemein und machte sogar einen freudigen Hüpfer.

„Vergiss den Giftzwerg", sagte Tarsuinn mit emotionsloser Stimme zu Toireasa. „Wenn er unbedingt Geschichten erzählen will, soll er doch! Er reißt uns rein und wir schauen, ob ein sich versteckender Kobold bei Big John was wert ist."

Der Kobold zögerte. Nur einen kurzen Augenblick zwar, aber Toireasa sah es. Doch dann ging Nabundus weiter, als wäre nichts gewesen und verschwand im Dunklen.

„Denkt ihr, John interessiert sich wirklich für ihn?", flüsterte Winona und zwinkerte Toireasa überflüssigerweise zu.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht", entgegnete Tarsuinn und flüsterte betont geheimnisvoll. „Aber darüber sollten wir lieber draußen sprechen. Nicht wahr? Wir müssen da lang."

Sie gingen in die Richtung, in die der Junge deutete. Als Toireasa sich weit genug entfernt glaubte, wagte sie zu flüstern.

„Was...?", begann sie, doch Tarsuinn legte den Zeigefinger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf. Er deutete – immer noch kalt – schräg nach vorn und machte dann mit Zeigefinger und Mittelfinger eine laufende Bewegung.

Toireasa verstand, wusste jedoch nicht, ob sie jetzt grinsen oder sich fürchten sollte. Kobolde mochten zwar klein sein, aber wie Professor Flitwick konnten sie ziemlich Oh-ho sein. Außerdem hatten die meisten von ihnen keinen Sinn für Humor oder nur einen recht bösartigen, wie Nabundus eben bestätigt hatte.

Eigentlich war jetzt der richtige Moment Tarsuinn darauf hin zuweisen, aber dann sah sie, wie er seinen Zauberstab zur Hand nahm. Anscheinend hatte er doch eine gewisse Vorstellung von den Problemen, die ein Kobold einem bereiten konnte.

Toireasa war froh, dass sie den ihren schon in der Hand hatte, um ihnen den Weg zu leuchten.

Von Tikki geführt, erreichten sie ohne Umwege den Ausgang, doch als sie sich der Tür näherten, schälte sich eine kleine Gestalt aus dem Dunkel.

Nabundus stand vor der Tür, abwehrend die Arme vor dem Körper verschränkt – jedoch ohne ein Wort.

Alle drei Kinder blieben wie auf Kommando stehen. Toireasa und Winona flankierten Tarsuinn.

Ihr gefiel überhaupt nicht, dass sie in den Augen des Koboldes auch ein gerütteltes Maß an Angst erkannte. Außerdem schaute er Tarsuinn zornig an.

Niemand sagte etwas, bis Tarsuinn plötzlich seine eiskalte Maske fallen ließ und unheimlich gewinnend zu lächeln begann.

„Gibt es doch was, mit dem wir uns einigen können?", fragte er freundlich und Toireasa atmete unwillkürlich ein wenig ihrer Anspannung aus. Sie hatte schon befürchtet, er würde mit seiner Erpressung weitermachen.

Im Grunde tat er das ja trotzdem, aber doch jetzt auf nettere Art und Weise. So bestand eine bessere Chance auf Einigung, ohne dass der Kobold sein Gesicht verlor. Denn wenn es etwas noch Schlimmeres gab, als einen Kobold zu ärgern, dann ihn zu beschämen.

Trotzdem brummte dieser missmutig.

„Es liegt nun an Euch, Mr Nabundus", fuhr Tarsuinn fort. „Wenn wir verlieren, verlieren Sie auch. Gewinnen wir, gewinnen Sie auch. Der Unterschied ist nur, ich habe keine Angst vor Professor Dumbledore."

Fast atemlos musterte Toireasa das Gesicht des Koboldes. Ihre Gedanken kreisten zwischen Hoffnung und jedem möglichen Fluch und Verteidigungszauber, den sie kannte. Doch nichts davon schien speziell auf Kobolde zugeschnitten zu sein. Eine eindeutige Lücke in ihrer Ausbildung.

Noch immer sagte der Kobold nichts.

„Jeder glückliche Mensch hat Wünsche", half Toireasa aus. „Wir könnten ein Tier kaufen, damit Sie nicht mehr so allein sind."

„Oder ich könnte etwas Besonderes kochen", nahm Tarsuinn den Faden auf. „Das kann ich wirklich gut."

Nabundus schaute Winona an.

„Und? Was bietest du?", fragte er noch immer grimmig das Mädchen.

„Ich finde, die Angebote sind ausreichend", entgegnete dieses kühl. „Wenn Sie keine Phantasie haben, ist das nicht mein Problem."

„Du solltest freundlicher sein, damit ich euch von der Angel lasse", entgegnete der Kobold drohend.

„Nicht wir sind zuerst fies geworden", zischte Winona ihn ärgerlich an. „Wenn es nach uns gegangen wäre, dann wären wir ohne ein böses Wort hier raus und hätten uns dafür auch sicher erkenntlich gezeigt. Und jetzt hab ich den Eiertanz hier satt! Entweder Sie willigen ein oder laufen zu Professor Dumbledore. Ist uns doch egal."

„Du hast vergessen, ich könnte euch auch hier verschwinden lassen", sagte der Kobold und Winonas Temperament schien ihn auf eine Explosion zusteuern zu lassen.

„Na dann würde es sich doch anbieten, dass die Dementoren gerade um das Schloss verteilt sind. Ich denke, die freuen sich über jeden, den sie mit nach Askaban nehmen können."

„Dementoren sind hier", keuchte der Kobold auf. „Hier in Hogwarts?"

„Nicht ganz", korrigierte Winona eiskalt. „Aber sobald ein Schüler verschwindet, wird Professor Dumbledore sie wohl aufs Gelände lassen müssen."

„Warum sind Sie hier?"

Nabundus wirkte inzwischen nicht mehr sonderlich ärgerlich. Toireasa konnte das gut nachvollziehen. Es war jetzt allzu offensichtlich, dass der Kobold sich hier versteckte, obwohl sie sich fast sicher war, dass es nicht unbedingt die Dementoren waren, die hier das Hauptproblem darstellten.

„Sie suchen irgendjemanden", sagte Tarsuinn, wahrscheinlich absichtlich ungenau.

„Wen?"

Toireasa hätte beinahe gelacht, als sie und ihre beiden Freunde gleichzeitig die Schultern zuckten und versuchten möglichst ehrlich dabei auszusehen.

Nicht zu lügen und doch jemanden den falschen Eindruck gewinnen zu lassen, das war etwas, was jeder Schüler können musste – wenn er gedachte sich die Schulregeln zurechtzubiegen.

Nach langen Sekunden trat dann der Kobold beiseite.

„Ich nehme ein Drachensteak mit Malolere-Morcheln und echten Chick-peas", sagte er dann. „Und wenn es mir schmeckt, lasse ich euch vom Haken."

Die Drohung war zwar ziemlich hohl, aber wahrscheinlich brauchte Nabundus dies für sein Ego. Toireasa gönnte ihm das, schließlich kamen sie erst mal davon. Da sollte man nicht nachtreten, auch wenn man im Vorteil war.

Kaum waren sie draußen, pfefferte der Kobold die Tür ins Schloss, dass es laut durch die Gänge hallte.

„Dieser kleine Fiesling!", zischte Winona und dann rannten sie los. Es war unwahrscheinlich, dass dieser Knall überhört und ignoriert wurde. Nicht, solange Sirius Black noch unterwegs war.

Beim Rennen nahmen Toireasa und Winona Tarsuinn zwar wie immer bei der Hand damit sie schneller waren, aber im Endeffekt bestimmten er und Tikki, wo es lang ging. Das Gehör der beiden war einfach besser und so konnten sie unliebsame Begegnungen vermeiden. Doch ihre leise Flucht führte sie weit weg von ihren Gemeinschaftsräumen. Sie versteckten sich in einem leeren Schrank und warteten. Als es lange Zeit still blieb, hielt Toireasa es nicht mehr aus.

„Wie bist du nur auf den dummen Gedanken gekommen, dem Kobold unsere Namen zu nennen?", flüsterte sie vorwurfsvoll.

„Na, weil er sich vorgestellt hatte!", entgegnete Tarsuinn, als würde das alles erklären.

„Das ist doch kein Grund!"

„Doch. Es wäre sehr unhöflich gewesen, darauf nicht zu antworten."

„Es macht aber auch keinen Sinn Regeln zu brechen, wenn man Hinz und Kunz erzählt wer man ist."

„Ich dachte nicht, dass er uns eine reinwürgen würde", entschuldigte sich Tarsuinn leicht. „Eigentlich war Nabundus doch recht nett und es war doch dumm uns zu reizen, wenn er sich selbst da unten versteckt."

„Woher wusstest du das überhaupt?", mischte sich Winona neugierig ein.

„Stimmt eigentlich", pflichtete Toireasa bei. „Woher?"

„Ach, das war einfach. Für einen Einsiedler war er zu neugierig und mitteilsam. Auf der anderen Seite jedoch musste Professor Dumbledore ihn besuchen. Deshalb bin ich mir recht sicher, dass er aus Angst nicht nach draußen geht. Er hat sich wirklich über unseren Besuch gefreut. Um ehrlich zu sein, ich hatte eher erwartet, dass er uns um mehr Besuche bittet."

„Könnte es sein, dass du noch nicht viel mit Kobolden zu tun hattest?", lächelte Toireasa ein wenig versöhnlicher. „Die sind nur in den seltensten Fällen nett."

„Ich denke, man sollte nicht verallgemeinern", widersprach Tarsuinn. „Man sollte ja auch nicht behaupten, alle Engländer wären distanzierte Langweiler und alle Engländerinnen hätten ein Gesicht wie ein Pferd."

„Also ich bin der Ansicht, so falsch ist das nicht!", entgegnete Winona und ihre indianischen Züge grinsten verschmitzt zu Toireasa hinüber.

Toireasa streckte ihr die Zunge heraus. Sie wusste genau, dass sie nicht wie ein Pferd aussah. Doch wenn sie das jetzt vehement abstritt, dann würde Tarsuinn sicher das Gegenteil annehmen. Sie beschloss vom Thema abzulenken.

„Wer ist überhaupt dieser Big John?", fragte Toireasa. „Ihr habt ihn beide noch nie erwähnt."

„Keine Ahnung", kicherte Winona. „Tarsuinn?"

„Als ob ich die Antwort wüsste", meinte er ironisch. „Ich bin nur davon ausgegangen, dass jeder hier auf der Insel mindestens einen John kennt."

„Das war ein Bluff?", erkundigte sie sich und unterdrückte ein lautes Lachen. Immerhin waren sie illegal im Schloss unterwegs.

„Eher eine Eingebung", erläuterte er. „Zuerst wollte ich Lee sagen, doch dann fiel mir ein, wo ich bin und hab den einfallslosesten englischen Namen verwendet, der mir in den Sinn kam."

„Heh – ich habe einen Cousin namens John", wandte Winona ein. „Der ist nett."

„Das war eine Beleidigung gegen die Eltern", stellte Toireasa augenzwinkernd klar.

„Wär ich jetzt nicht drauf gekommen. Echt!", entgegnete das Ravenclaw-Mädchen, aber ihr fröhliches Gesicht zeigte, dass sie die Retourkutsche für das englische Pferdegesicht annahm.

Dann blieben sie über eine Stunde vollkommen still.

Gerade als die Enge des Schrankes Toireasas Rücken zuzusetzen begann und sie langsam müde wurde, regten sich Tikki und Tarsuinn.

„Sagt mal?", fragte er lauschend. „Wo genau im Schloss befinden wir uns eigentlich? Ich hab beim Weglaufen ein wenig den Überblick verloren. Sind wir im Ostturm?"

„Etwas darunter", erklärte Toireasa und streckte den Rücken. Es knackte gut hörbar. „Warum...?"

„Ich möchte hoch in den Turm", sagte Tarsuinn.

„Ach nö", maulte Toireasa. „Ein Abenteuer pro Abend reicht doch."

„Heh", meinte Winona munter. „Nun mach hier nicht einen auf Professor Binns."

„Ich bin kein Langweiler", wehrte sich Toireasa. „Ich denke nur, wir haben unser Glück heut schon genug strapaziert und außerdem haben wir eh keine Chance gegen Professor Dumbledores Colloportus-Zauber, der die Tür verschließt."

„Also ich wäre schon neugierig, ob es Tarsuinn nicht vielleicht doch schafft", drängte Winona.

„Oder gleich den ganzen Turm in Schutt und Asche legt", hielt Toireasa gegen. „Nichts für ungut, Tarsuinn."

„Danke für dein Vertrauen", meinte Tarsuinn und klang ein wenig verletzt.

„Sei mir nicht böse", bat Toireasa.

„Tarsuinn schafft es doch nicht mal die Wände seines Zimmers anzukratzen", drängte Winona weiter. „Was soll schon passieren?"

„Darf ich euch erinnern, was alles schon passiert ist, wenn Tarsuinn ein wenig die Runde dreht?"

„Was meist nicht seine Schuld ist, wie du ja sicher weißt!", schnappte Winona und schaute jetzt ein wenig böse.

„Ja, ich hatte meinen Anteil daran!", entgegnete Toireasa etwas schärfer als gewollt. „Aber ich versuche jetzt uns ein wenig aus Schwierigkeiten herauszuhalten und das, weil ich schon ziemlich viel Mist gebaut habe. Ich hab keinen Bock, Tarsuinn noch einmal im Krankenflügel fast verbluten zu sehen. Falls er dir das nicht erzählt hat, er hätte damals beinahe den Löffel abgegeben!"

„Aber das hier ist doch nicht vergleichbar!", zischte Winona. „Dein Zeug haben wir doch auch durchgezogen und wenn..."

„Nun regt euch beide ab und seid nicht so laut", fuhr Tarsuinn dazwischen. „Warum streitet ihr so?"

Er drehte den Kopf in Winonas Richtung.

„Toireasa hat doch nur gesagt: Nicht heute. Und Winona..."

Sein Gesicht drehte sich Toireasa zu.

„...meint doch nur, es mache heute oder morgen keinen Unterschied. Deshalb längst vergangene Sachen auszugraben, ist es einfach nicht wert. Ich verzichte gern auf den Ostturm, wenn ihr euch dafür nicht an die Kehle geht."

Für einen Moment schauten sich Toireasa und Winona fest in die Augen, dann senkten beide verlegen den Blick.

Es war Toireasa sehr bewusst, wie unterschiedlich sie waren und dass sie ohne Tarsuinn niemals Freundinnen geworden wären. Winona war unvernünftig, neugierig, sehr emotional und konnte schlimmer fluchen, als die meisten Jungen. Toireasa hingegen hatte ein gewisses Sicherheitsbedürfnis für sich und ihre Freunde und konnte es deshalb nicht ausstehen, wenn ihre beiden Freunde sich mit Begeisterung in die Erforschung jedes gefährlichen Geheimnisses stürzten, dessen sie habhaft werden konnten. Sie hatten doch die Schriftprobe gefunden, warum noch sehen, was hinter den anderen Türen war? Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass weder Winona noch Tarsuinn ein solches Interesse an den Türen gehabt hätten, wenn sie nicht so fest verschlossen gewesen wären.

„Ach, was soll's", rang Toireasa sich durch. „Ihr habt Recht, ob wir heute oder morgen erwischt werden ist doch egal und wenigstens sparen wir uns so einmal das Rein- und Rausschleichen. Ihr gebt eh nicht Ruhe, bis ihr nicht wisst, was dort so Besonderes ist, oder?"

„Keine Chance!", bestätigte Winona und lächelte versuchsweise.

Auch Toireasa versuchte ein wenig die Wellen zu glätten.

„Ich mach mir meist zu viele Sorgen", versuchte sie sich zu entschuldigen. „Hab wohl kaum etwas von meinen Eltern geerbt."

„Das graben wir schon aus", entgegnete Winona ironisch und entspannte sich sichtlich.

Von ihrer Seite schien der Streit schon fast vergessen. Eine Haltung, die Toireasa ein wenig bewunderte. Sie selbst tat sich deutlich schwerer beim Vergessen. Doch bei Winona konnte sie einfach nicht lange nachtragend sein, auch wenn die Andeutungen ihr sehr wehgetan hatten. Das Ravenclaw-Mädchen meinte es nicht so und hatte wahrscheinlich auch nicht richtig darüber nachgedacht.

„Können wir los?", fragte Tarsuinn. „Noch irgendwas zu klären, was ich eh nicht verstehe?"

„Da wäre noch eine Sache", sagte Toireasa daraufhin, obwohl er sicher nicht damit gerechnet hatte, denn seine Hand tastete schon zum Öffnen der Tür.

Toireasa beeilte sich zu beschwichtigen.

„Nichts Schlimmes", versicherte sie. „Mir ist nur aufgefallen, dass wir uns ein wenig besser absprechen sollten, was Überzeugungstechniken angeht. Ich meine, was bringt es, wenn ich verhandle, du, Tarsuinn, sofort mit der Erpressung anfängst und Winona diese gleich mit Drohungen übertrumpft. Können wir uns nicht langsam steigern auf dass unser Opfer Zeit hat darüber wirklich nachzudenken? Ganz davon abgesehen, dass es vollkommen unpassend ist, dass ich als Slytherin hier die netten Lösungen vertrete!"

„Letzteres ist einfach erklärt", grinste Tarsuinn fies. „Winona spielt gern den bösen Cop, ich bin es und damit bleibt für dich nur die Rolle des Guten."

„Aber wir werden ab jetzt ein wenig mehr Rücksicht und Geduld an den Tag legen", versicherte Winona. „Ich fand es auch ziemlich gefühlskalt, was Tarsuinn da versucht hat."

„Ach?", gab der Junge gespielt verletzt von sich. „Und emotionsgeladene Drohungen sind im Sinne von Rowena Ravenclaw?"

„Keine Ahnung, aber wenn es die Logik geboten hätte, hätte sie sicher der Notwendigkeit nachgegeben", wehrte sich Winona. „Okay, Toireasa, kannst du mit unserer – meiner – Entschuldigung leben?"

„Heh", maulte Tarsuinn. „Ich bin blind, nicht taub."

Damit spielte er sicher auf Winonas Betonung an. Was er nicht sehen konnte war, wie Winona die Hand ausstreckte und, mit aufrichtigem Bedauern im Gesicht, Toireasa reichte.

Ein kurzer Händedruck und auch für Toireasa war nun alles erledigt.

„Schön, jetzt habt ihr euch die Hände geschüttelt. Können wir dann gehen?", verblüffte Tarsuinn sie zum wiederholten Mal. Wie konnte er nur solche Sachen wahrnehmen, selbst wenn er irgendetwas hören mochte?

Er öffnete vorsichtig die Schranktür einen Spalt, lauschte und dann ging er nach draußen. Die Mädchen folgten ihm.

Leise schlichen sie die Treppen nach oben. Der Ostturm war – relativ zum Rest des Schlosses – furchtbar schmutzig und Toireasa glaubte, dass hier seit Jahren kein Unterricht stattgefunden hatte. Hier hingen auch kaum Bilder an den Wänden und wenn, dann waren sie so mit Spinnweben bedeckt, dass man nicht erkennen konnte, was da gemalt war. Vielleicht war das auch besser so.

Nach über hundert Stufen erreichten sie, etwas außer Atem, die oberste Tür. Eine völlig unspektakuläre Tür, wie Toireasa nicht zum ersten Mal feststellte. Wenn sie sich nicht im Ostturm befunden hätten, es hätte auch die Tür zur Eulerei sein können.

„Ich versuch's noch mal", sagte Winona und schob sich vor Tarsuinn. „Vielleicht klappt es ja heute. Alohomora!"

Es war schon bezeichnend, dass Winona sehen wollte, ob Tarsuinn Professor Dumbledores Verschlusszauber knacken konnte und dann erstmal die Chance es selbst zu versuchen wahrnahm, damit er es vielleicht nicht machen musste.

Leider war sie auch diesmal erfolglos. Genauso wie Toireasa, die es wenige Sekunden später selbst versuchte. Doch gegen einen Zauber Professor Dumbledores anzugehen, war geradezu vermessen. In hundert Jahren mochte sie vielleicht eine Chance haben. Bedingung war jedoch, dass der Professor dann nicht mehr lebte.

„Bin ich jetzt dran?", fragte Tarsuinn und Toireasa musste zugeben, sie konnte keinen Triumph darüber in seinem Gesicht erkennen. Eher schien er ein wenig unsicher. „Tretet lieber ein Stück zurück. Nur als Vorsichtsmaßnahme."

„Versuch es nicht zu laut werden zu lassen", konnte Toireasa sich die Bitte nicht verkneifen.

„Ich mag keinen Krach", lächelte er unsicher. „Keine Sorge."

Dann hob er seinen Stab, doch sprach er nicht den Zauber. Toireasa trat ein wenig zur Seite und nach vorn, um sein Gesicht sehen zu können. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen formten unhörbare Worte. Woran dachte er bei einem solchen Zauber? Was versuchte er zu fühlen? Sie selbst hätte an Freiheit gedacht. Davon, aus der Gefangenschaft auszubrechen. Doch würden solche Gedanken nun das Schloss öffnen oder die Tür zerstören? Toireasa glaubte nicht, dass sie auf diese Weise auch nur einen vernünftigen Zauber zustande gebracht hätte.

Alohomora!", sagte Tarsuinn leise. Funken stoben aus seinem Zauberstab, doch nichts geschah. Nicht mal ein Knacken im Schloss, wie es Toireasa zustande brachte. Aber es kam nur selten vor, dass ein Zauber bei Tarsuinn auf Anhieb klappte, selbst wenn er ihn schon geübt hatte.

Doch auch nach dem zwanzigsten Versuch war kein Fortschritt zu sehen, außer dass zuletzt die Tür stark klapperte.

„Ich glaube, ich höre besser auf", sagte Tarsuinn und senkte den Zauberstab. „Hat keinen Sinn."

Toireasa verkniff sich ein – Hab ich es doch gesagt – und nickte nur.

„Es ist...", murmelte Tarsuinn und ging näher an die Tür heran. „Ich weiß, ich muss da rein, aber diese blöde Tür..."

Er berührte das schwere Holz und Toireasa schrie vor Schreck leise auf, denn das Holz begann sich wie Knetmasse zu verformen und für einen Moment sah es so aus, als wolle es Tarsuinn verschlingen. Doch dann zerlief die Masse und verfestigte sich wieder zu einer am Boden liegenden Tür.

Genau wie Toireasa und Winona, stand Tarsuinn da, wie vom Donner gerührt. Dann schnalzte der Junge hart mit der Zunge und lauschte dem Echo.

„Kann es sein, dass die Tür offen ist?", fragte er verwundert. „Ich hab doch nichts gemacht!"

Es war ironisch. Viele Minuten lang hatte der Junge versucht die Tür zu öffnen und nun, da es passiert war, entschuldigte er sich dafür.

„Oh Mann", presste Winona hervor, sprach einen Lumos-Zauber, trat vorsichtig an den Türrahmen und linste in den dahinter liegenden Raum. „Um ehrlich zu sein, jetzt halte ich es nicht mehr für eine gute Idee."

Winona winkte Toireasa still näher zu kommen und deutete auf etwas im Raum.

Langsam trat Toireasa näher und blickte in die angegebene Richtung. Ihre Augen fanden sofort, worauf Winona sie hinwies. Von einem Balken des Dachstuhls hing ein altes, vielfach geflochtenes Seil, das in einer kunstvoll geknüpften Schlinge endete.

„Verfluchte...", stöhnte Toireasa auf und unterdrückte einen Winona-typischen Fluch. „Lasst uns hier abhauen!"

Zu ihrem Entsetzen schüttelte Tarsuinn den Kopf und trat durch die Tür. Dann wandte er sich ihnen zu.

„Egal was passiert, kommt nicht über die Schwelle!", befahl er. Seine Hand mit dem Zauberstab zitterte und er schluckte schwer. „Ihr dürft hier nicht rein! Unter keinen Umständen! Wenn etwas Schlimmes passiert, holt Professor Dumbledore oder Professor Flitwick."

„Wir können dich doch nicht...", wollte Winona energisch widersprechen und ihm folgen, doch Toireasa hielt sie zurück und deutete auf die Türschwelle.

„Ich hab zwar keine Ahnung von Runen", sagte Toireasa. „Aber die da leuchten nur auf unserer Seite und nicht bei Tarsuinn."

„Das kann viel bedeuten", wehrte Winona ab. „Aber dass Tikki nicht über die Schwelle springt, macht mir doch Sorgen."

Toireasa schaute hinab auf den kleinen Mungo. Das kleine Wesen saß genau vor der Schwelle und gab einen seltsam klagenden Laut von sich. Tarsuinn ging in die Hocke und streichelte sie beruhigend. Da, wo sein Arm über die Schwelle ragte, verblassten die Runen ein wenig.

„Ich werde Alte Runen im dritten Jahr belegen", versprach Toireasa mehr sich selbst, als den anderen, obwohl dieses Fach für sie eigentlich immer recht langweilig geklungen hatte.

„Marie-Ann ist hier gestorben", sagte Tarsuinn und stand wieder auf.

Es war keine Frage die er stellte. Es war nur eine Information, die er an Toireasa und Winona weitergab.

„Woher weißt du das?", fragte Toireasa.

Tarsuinn schaute sie mit düsterem Gesicht an.

„Das Schloss weiß es", erklärte er leise, wandt sich ab und ging in die Mitte des fast leeren Raumes.

Lumos!", hörte ihn Toireasa sagen – dann wurde es stockdunkel. Selbst Winonas Lichtzauber war erloschen.

„Ich schätze, er ist nicht gerade in einer erhellenden Stimmung", kommentierte Winona trocken.

Viele Augenblicke vergingen, dann leuchtete es plötzlich da auf, wo Tarsuinn stand. Der Zauberstab lag auf der offenen Hand des Jungen und silberne Fäden krochen langsam über die Finger, den Arm, den Körper.

Sekunden später war Tarsuinn eingehüllt in ein silbernes Licht, das seine Konturen nachzeichnete. Doch damit nicht genug. Kaum hatten die Fäden seine Füße erreicht, krochen sie auch schon über den Boden, zeichneten jeden Stein nach, erreichten die Wände und liefen nach oben, bis sie sich in der Spitze des Turmes wieder trafen. Dort vereinigten sie sich zu einem einzigen Faden und dann wurde das Henkerseil langsam beleuchtet.

Erneut stockte Toireasa der Atem, denn statt bei der Schlinge endgültig stehen zu bleiben, formte sich jetzt die Gestalt eines Mädchens aus der Finsternis, die reglos und mit hängendem Kopf an dem Strick baumelte.

Toireasa kannte dieses Mädchen, auch wenn es hier mit einer altmodisch anmutenden Hogwartsuniform bekleidet war. Marie-Ann schimmerte vollkommen in Silber und nur die grüne Schlange Slytherins leuchtete giftgrün auf ihrem Umhang.

Tarsuinns Zauberstab schwebte langsam nach oben. Sein Kopf folgte offensichtlich verwundert dem selbstständigen Stab und als er das hängende Mädchen erblickte – es musste einfach so sein, dass er das sah – stolperte er nach hinten und fiel um.

Der Zauberstab schob sich in die Hand von Marie-Ann.

Zunächst geschah nichts weiter, doch dann zuckten ihre Finger, der Arm hob sich, berührte mit dem Stab das Seil, das sich daraufhin in einem Funkenregen auflöste. Das Mädchen Marie-Ann schwebte zu Boden.

Mit einem Blick, der ins Leere wies und weit an Tarsuinn vorbei, begann sie zu sprechen.

Dies ist mein Vermächtnis.

Ich bin Marie-Ann Holt. Gestorben aus eigenem Willen und in Schande.

Ich war zu blind, Freunde zu erkennen und zu stolz, Hilfe anzunehmen, bis es zu spät war.

Die Marie-Ann aus der Geisterhütte hatte nichts mit dieser Erscheinung gemein. Traurig und gebrochen klang ihre Stimme.

Mein Vermächtnis ist eine Warnung für den Träger oder die Trägerin des Zauberstabes.

Folge nicht dem Lied.

Gehe niemals in den Wald.

Betrete nicht die Hütte.

Und trinke niemals etwas das silbern ist.

Was dich dort erwartet ist nichts für ein Kind und die Versuchung ist übermächtig. Lerne das Chaos in dir zu kontrollieren. Störe dich nicht an dem Verlust der Kraft, die mit der Beherrschung einhergeht. Genauigkeit ist wichtiger, als rohe Macht.

Und glaube nicht, dass du dies nicht brauchen wirst. Du bist der Gegenpol. Egal wie sehr du dich gegen das Schicksal wehrst, es wird dich verfolgen und du kannst ihm nicht entgehen. Sie werden nicht ruhen, bis sie dich haben, so wie ich ihnen ins Netz gegangen bin. Es gibt nicht mehr viele von uns. Sei wachsam, sei eifrig beim Lernen, mache nicht dieselben Fehler wie ich.

Besonders solltest du dich bemühen unsere Zauber zu erlernen. Sie geben dir die Möglichkeit, diejenigen zu bekämpfen, die sich unser Erbe auf perverse Weise aneignen wollen. Mein persönlicher Besitz...

Die Marie-Ann-Gestalt machte eine Geste zu einer leeren Stelle zu ihren Füßen.

...soll dir gehören und ich hoffe, er wird dir helfen.

Wenn du Hilfe brauchst, sprich mit meiner Nanny. Sie wohnt am Elsterweg und heißt Fran. Du müsstest sie kennen, denn von ihr musst du diesen Zauberstab haben, den ich ihr vor meinem Freitod schickte.

Jetzt formte sich ein Lächeln auf Marie-Anns Lippen und sie sah jetzt eher wie das Geistermädchen aus, das sie aus der Hütte kannten.

Die Gestalt streckte die Hand mit dem Zauberstab aus.

Nimm den Stab zurück. Erst jetzt gehört er wirklich dir und ich werde auf ewig ein kleiner Teil davon sein. Du bist also niemals allein, auch wenn du mich wahrscheinlich niemals wieder sehen wirst. Lerne aus meinen Fehlern, wiederhole sie nicht und lerne deine Grenzen kennen! Sei aufmerksam, bescheiden und verschwiegen.

Doch das Wichtigste ist – bleib nicht allein. Einsamkeit tötet deine Seele.

Danach stand Marie-Ann wie eingefroren da. Alles schien gesagt, nun musste nur noch Tarsuinn seinen Zauberstab zurücknehmen.

Zunächst einmal musste der Junge sich jedoch aufrappeln. Er saß noch immer am Boden und starrte das silberne Mädchen fasziniert an.

„Was zum Teufel macht ihr hier?", ließ eine Mädchenstimme Toireasa und Winona zur Treppe herumfahren.

Toireasa war so überrascht, dass sie ein unglaubwürdiges – Spazierengehen – stammelte.

„Ähem...Cho...Luna...was...warum seid ihr hier?", kam es stockend aus Winonas Mund.

„Wir haben nicht schlafen können und sind ein wenig spazieren gegangen!", entgegnete das Mädchen namens Cho, als würde sie mit einer Idiotin sprechen. „Quatsch. Natürlich haben wir aus dem Fenster diese Lightshow hier gesehen und als ich Luna erwischt habe, wie sie sich rausschleichen wollte, hat sie mir erzählt, dass du nicht in deinem Bett bist, Winona! Seid froh, dass die meisten Lehrer im Kerker zu sein scheinen. Also los, gehen wir zurück...was im Namen Merlins...?"

Das Mädchen war näher gekommen und da es größer war, hatte sie jetzt einen guten Blick in das Turmzimmer.

Toireasa fuhr herum und sah jetzt Tarsuinn, der seinen Zauberstab ergriffen hatte. Die grüne Schlange Slytherins auf dem Umhang Marie-Anns befreite sich windend und glitt über den Arm des Mädchens auf Tarsuinn zu. Giftige Zähne blitzten.

Toireasa wurde beiseite gedrängt. Offensichtlich glaubte Cho Tarsuinn in Gefahr und wollte helfen. Geistesgegenwärtig versuchte Toireasa sie zurückzuhalten, doch sie war ein wenig zu langsam. Zwar gelang es ihr das Mädchen zu ergreifen, aber Arm und Schulter waren schon über der Schwelle.

Die Runen leuchteten hell auf und ein roter Vorhang aus Licht entstand. Cho schrie erschrocken auf und ließ sich ohne Widerstand zurückziehen. Erschrocken und perplex starrte das Mädchen auf seine Hand. Auch Toireasas Blick wanderte dahin und mit ein wenig Entsetzen sah sie auf eine faltige, trockene Haut, auf der sich die Adern und viele Altersflecke deutlich abzeichneten.

Ein kurzer Blick zum Gesicht des Mädchens ließ Toireasa sich ein wenig beruhigen – es war so jung wie zuvor.

„Nein!", sagte Cho. „Das darf nicht wahr sein. Ich..."

„Es ist nur die Hand und wahrscheinlich der Arm", versuchte Toireasa sie zu beruhigen. „Madame Pomfrey..."

Nur meine Hand und mein Arm!", jammerte das Mädchen und begann zu heulen. „Es tut furchtbar weh und ich kann die Finger kaum bewegen."

„Das ist bei alten Leuten nicht unüblich", sagte Luna von der Seite absolut unbewegt.

„Ich bin aber nicht alt!", fuhr Cho sie dafür an.

„Dann hör auf zu jammern!", fuhr Winona das ältere Mädchen an. Im Gegensatz zu Toireasa hatte ihre Freundin keinen Blick für Cho.

Stattdessen versuchte sie mit aller Macht Tikki zu bändigen, die sich anscheinend in den Raum zu stürzen versuchte, um Tarsuinn zu helfen. Ihre Arme und Hände trugen schon heftige Biss- und Kratzspuren.

Doch der bekam genau in dem Moment Hilfe, als die Schlange zubeißen wollte. Genau wie zuvor die Schlange, löste sich der Adler aus dem Wappen, welches auf dem Umhang des Jungen prangte und stürzte sich mit einem lauten Schrei auf die Schlange, die sich sofort dem Angreifer zuwandte. Beide Tiere kämpften knapp über dem Zauberstab in der Luft schwebend, bis sie nur noch ein einziges Knäuel waren.

„Hört auf!", hörte sie Tarsuinn leise bitten, doch weder Schlange, noch Adler schienen auf ihn zu hören.

Verzweiflung, Unwillen und Hilflosigkeit wechselten sich in seinem Gesicht ab, aber nach nur wenigen Augenblicken war dies vorbei. Der Junge trat näher an Marie-Ann heran und umarmte die Gestalt aus Licht. Schlange und Adler zerstieben zu unendlich vielen Funken zwischen dem Jungen und dem Abbild von Marie-Ann und als das geschehen war, löste sich auch die Gestalt des Mädchens langsam auf.

Selbst Cho, die um ehrlich zu sein wirklich Grund hatte sich zu beschweren, war still, als sie plötzlich wieder im Dunklen standen.

Lumos!", flüsterte Tarsuinns Stimme plötzlich direkt neben ihnen, ohne dass sein Näherkommen zu hören gewesen war. Ein schwacher Lichtschein erhellte ihn und die Mädchen. Die Tür war wieder verschlossen.

„Ich bringe Cho zu Madam Pomfrey", sagte er ohne Regung. „Ihr anderen geht heimlich zu Bett. Wir müssen ja nicht unnötig Punkte verlieren."

„Wenn ich sie hinbringe...", bot Toireasa an „...würden Ravenclaw und Slytherin gleich viele Punkte verlieren."

Tarsuinn schüttelte langsam den Kopf.

„Ich schätze, ich muss zu Professor Dumbledore und über Chos Arm sollte man auch nicht lügen, wenn man sie ordentlich behandelt sehen möchte."

„Woher weißt du davon?", wunderte sich Luna.

„Weil sie im Raum rot geleuchtet hat und Rot selten eine gute Bedeutung zu haben scheint", erklärte Tarsuinn und streckte seine Hand Cho entgegen. „Gehen wir."

Gemeinsam und still stiegen sie den Turm hinunter und trennten sich an der erstmöglichen Kreuzung. Toireasa hatte den schwersten Weg vor sich und musste einigen Lehrern ausweichen, doch am Ende lag sie beim ersten Hahnenschrei im Bett und konnte trotz ihrer Müdigkeit lange Zeit nicht einschlafen. Als sie es dann doch schaffte, träumte sie davon, wie sie als Schlange, einen Adler bekämpfte, der wie Tarsuinn klang.

243

story by Tom Börner Das Geheimnis der Dementoren (Arbeitstitel)

www.storyteller-homepage.de dd.10.yyyy