- Kapitel 18 -
Gespräche
Obwohl der Winter in Hogwarts Einzug gehalten hatte und draußen einige tolle Schneeballschlachten liefen, verkroch sich Tarsuinn, wann immer es unauffällig ging, in irgendwelchen hochwichtigen Hausaufgaben. Zwar verhalf das seinen schulischen Leistungen zu etwas größeren Fortschritten, aber zumindest Professor McGonagall hatte schon einige indirekte Bemerkungen über die doch sehr schwankende Qualität seiner Leistungen gemacht. Außerdem hatte er alle ein wenig verängstigt, als er ungewollt aus seiner Weinbergschnecke keinen Wollschal, sondern einen kleinen Dementor gemacht hatte. Viele hatten es zwar nicht mitbekommen, denn Winona hatte die kleine Figur schnell unter ihrer Faust zerquetscht, aber trotzdem war es keine Stunde später in der Klasse rum. Tarsuinn wünschte sich immer häufiger ein schlechteres Gehör. Von den Ravenclaw-Schülern bekam er zwar nie Bösartigkeiten mit, aber ihre Sorge um ihn, ging ihm fast noch mehr auf den Geist, und so war es kein Wunder, wenn er sich bemühte, Abstand zu halten.
Zum Beispiel, indem er der erneuten Bitte Professor Snapes nach ein wenig Hilfe bei der Zubereitung dieses Werwolfstranks nachkam. Er konnte das ganz gut als Grausamkeit des Lehrers erklären und musste nicht zugeben, dass es ihm gefiel, von Snape angeschwiegen zu werden. Tarsuinn war mittlerweile so vertraut mit seinen Aufgaben bei dieser Arbeit, dass auch kein Wort nötig war.
Das Einzige, was ihn jedoch noch mehr als alles andere im Moment störte, war Filch, der sich immer dann an Tarsuinns Fersen heftete, wenn er seine Schritte in die Kerkergewölbe wandte. Dabei gab sich der Hausmeister nicht mal die Mühe sonderlich heimlich zu sein. Dem Mann schien es nur darum zu gehen, ihn ein wenig zu verunsichern. Vielleicht hoffte er auch, einige Slytherins würden Tarsuinn angreifen und wenn dieser sich dann verteidigen wollte, konnte er ihn für Zaubern auf den Gängen festnehmen. Glücklicherweise machten die meisten Slytherins inzwischen einen relativ großen Bogen um Tarsuinn. Ob das nun an seinem schlechten Ruf oder an Professor Snape lag, konnte er nicht sagen.
Woher Filchs Misstrauen kam, wusste Tarsuinn umso besser.
Vor einigen Tagen hatte er für Indig Nabundus das versprochene Essen zubereitet. Dabei war die Zubereitung noch ekliger gewesen, als es die Namen hatten vermuten lassen. Die Hauselfen hatten ihn höflich, jedoch sehr bestimmt, aus der Küche geschmissen und das war ihnen nicht zu verdenken. Das Zeug hatte schlimmer gestunken als ein Misthaufen im Sommer. Am Ende hatte er sein eigenes Zimmer verpesten müssen und der Weg hinunter ins Archiv war ein Hindernislauf der Nasen gewesen, denn trotz Deckel und Plastiktüte hätte der Geruch mindestens einer Stinkbombe Stufe 3 auf der nach oben offenen Merton-Skala entsprochen. Aus diesem Grund hatte Tarsuinn sich ein Katz- und Mausspiel mit Filch geliefert, das Tarsuinns Gehör vor Filchs Nase gewann, während Tikki sich mit extremer Begeisterung zur Ablenkung mit Mrs Norris geprügelt hatte, nur um nicht in der Nähe des Gestanks sein zu müssen. Natürlich wusste Filch durch die Prügelei der beiden Tiere, wer da des Abends unterwegs gewesen war, aber beweisen konnte er es Tarsuinn nicht, der auch alles gnadenlos abgestritten hatte, denn wer trug schon eine abgezogene Stinkbombe mit sich herum, statt sie dem Hausmeister in sein Büro zu werfen?
Beim Archivar angekommen war es dann noch schlimmer gewurden, denn dieser hatte Deckel und Tüte sofort entfernt, unter großen Beschwerden und Mäkeleien alles aufgegessen und sogar gut hörbar den Teller abgeleckt. Tarsuinn war in dieser Zeit ziemlich übel geworden und er hatte den Geruch tagelang nicht aus seiner Nase bekommen. Aber zumindest hatte er danach etwas für die Allgemeinheit getan und Madame Pince darauf hingewiesen, dass Das ultimative Kochbuch der Koboldküche nichts in der offenen Abteilung der Bibliothek zu suchen hätte, sondern sofort verbrannt oder mindestens in die Verbotene Abteilung gehörte. Aber natürlich hatte er dies erst getan, nachdem er Merton ein paar der widerlichsten Rezepte abgeschrieben hatte.
„Was machen Sie da?", unterbrach Professor Snape seinen Gedankengang.
Tarsuinn war zunächst über die Frage ein wenig verwirrt, bis ihm auffiel, dass er vor einigen Minuten den Punkt überschritten hatte, an dem er den Professor normalerweise allein weitermachen ließ. Dabei hatte er nicht einmal auf das Buch mit dem Rezept gehört, sondern einfach seine Hände machen lassen.
„Entschuldigen Sie, Professor", murmelte er verlegen. „Ich werf das Zeug weg."
„Unterstehen Sie sich, McNamara", sagte Snape, aber es fehlte seinen Worten die übliche Schärfe. „Es ist die korrekte nächste Zutat."
„Dann ist ja gut", entgegnete Tarsuinn erleichtert und wollte seine Handschuhe ausziehen. „Ich geh dann jetzt wohl besser."
„Woher wussten Sie, welche Zutat die nächste ist?", forschte Snape und hielt ihn an der Schulter fest. Tarsuinn entwand sich langsam der Berührung, indem er mit dem Arm einen großen Halbkreis beschrieb und Snapes Hand so in einen ungünstigen Hebel drückte.
„Ich hab das Rezept mal gelesen", wehrte Tarsuinn ab, obwohl er sich an die lange Liste gar nicht mehr erinnerte. Wahrscheinlicher war, dass ihm ein Buch dies zugeflüstert hatte, ohne dass er es bewusst wahrgenommen hatte, aber das wollte er Snape nicht auf die Nase binden.
„Sicher?", fragte der Professor zweifelnd.
„Ja", log Tarsuinn. „Und wenn Sie nicht aufpassen, verpassen Sie den richtigen Zeitpunkt um die Sperlingsleber hinzuzugeben."
Verlegen biss sich Tarsuinn auf die Lippen. Das hatte er eben nicht sagen wollen. Doch diesmal kommentierte Professor Snape zunächst nichts, sondern rührte die Leber in den Trank ein.
„Machen Sie weiter, McNamara", wies ihn der Mann an und Tarsuinn griff sich fast mechanisch den Mondstein, um diesen zu einem feinen Mehl zu zermahlen.
Als er zwei Stunden später (mit einem Erlaubniszettel Professor Snapes in der Tasche, denn es war für Schüler schon zu spät, um im Schloss unterwegs zu sein) durch die Gänge schlurfte, begegnete er irgendjemandem. Ohne sich groß Gedanken zu machen, ging an der Person vorbei, hielt den Zettel von Snape nach oben und war schon um die nächste Ecke gebogen, als eine freundliche Stimme ihn zusammenzucken ließ.
„Ein – Guten Abend, Professor – wäre doch ganz nett gewesen!", beschwerte sich Flitwick milde.
„Oh", zuckte Tarsuinn zusammen. „Verzeihung! Guten Abend, Professor."
„Guten Abend zum zweiten Mal, Tarsuinn", kicherte der Professor. „Darf ich fragen, welche Gedanken so intensiv sind, dass du mich vollkommen übersiehst und überhörst?"
„Ich bin nur müde, Professor!", entgegnete Tarsuinn. „Ich hab mich bei Professor Snape sehr konzentrieren müssen."
„Ahhh", dehnte Flitwick und klang nicht sonderlich überzeugt. „Die freiwillige Hilfe. Macht es dir Spaß?"
Wieder war Tarsuinn kurz davor zu lügen, doch diesmal gab es dafür eigentlich keinen Grund.
„Inzwischen schon", gestand er vorsichtig ein. „Aber es wäre nicht gut, wenn Professor Snape das erfährt."
„Ich werde schweigen wie ein Grab und ab und an nur kichern", versprach der kleine Professor.
„Danke, Professor", sagte Tarsuinn höflich. „Aber ich muss jetzt weiter. Professor Snape hat eine Zeit vermerkt, zu der ich im Turm sein muss."
„Keine Eile, Tarsuinn", hielt Professor Flitwick ihn ein wenig ernster zurück. „Ich habe dich gesucht. Komm mit. Wir gehen in mein Büro und trinken einen Kakao mit Schlagsahne, Schokolade und Zucker, dass der Löffel in der Tasse steht."
Tarsuinn packte das kalte Grausen. Nicht, weil er süßen Kakao nicht mochte, sondern weil Professor Flitwick ihn um diese Uhrzeit sprechen wollte und versuchte, mit einer netten Geste zu beginnen. Professor Dumbledore verfuhr immer ähnlich. Erst bot er Essen und Trinken an und dann kam der Hammer, der einen niederstreckte.
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging er neben Professor Flitwick her.
„Wo ist deine kleine Freundin?", fragte dieser in unverbindlichem Plauderton.
„Sie langweilt sich immer, wenn ich Professor Snape helfe", erklärte Tarsuinn. Das stimmte zwar, aber trotzdem war Tikki sonst immer mit dabei. Diesmal jedoch – und das konnte Tarsuinn dem kleinen Professor nicht sagen – hatte er sie zurückgelassen, weil Mrs Norris durchaus in der Lage war sich zu wehren und Tikki deswegen ein wenig gelitten hatte. Filchs Katze hatte dafür aber auch ihren Teil abbekommen, wenn es stimmte, dass diese misslaunige Kreatur die letzten Tage das Hausmeisterbüro nicht verlassen hatte. Ein wenig hatte Tarsuinn deshalb Gewissensbisse. Er hatte nicht geahnt, dass Tikki und Mrs Norris sich dermaßen hassten, um es bis zu ernsthafteren Verletzungen eskalieren zu lassen.
Sie erreichten Flitwicks Büro und sofort gab es den versprochenen Kakao. Dann aber zog sich alles in die Länge, denn der Professor schien nicht recht zu wissen, wie er anfangen sollte,und so musste Tarsuinn sich zunächst ein wenig Kritik und Lob über seine Arbeiten der letzten Woche anhören. Irgendwann jedoch, gingen auch dem kleinen Professor die unverbindlichen Fragen aus.
„Du fragst dich sicher, warum ich so um das eigentliche Thema herumlaviere?", fragte Flitwick nach einer Minute unangenehmen Schweigens.
„Nein", erklärte Tarsuinn ruhig. „Sie haben meist Schwierigkeiten mit unangenehmen Nachrichten und wenig Vorbereitungszeit."
„Ach, ist das so?!", kicherte Flitwick, jedoch ohne seine übliche Fröhlichkeit. „Nun, in diesem Fall hast du wirklich Recht, denn ich glaube, du wirst meine Meinung nicht teilen, dass es eine gute Nachricht ist."
Ein paar Sekunden des Schweigens ließen Tarsuinn vermuten, dass Flitwick jetzt eine Antwort von ihm erwartete, doch er hatte keine passende und blieb deshalb lieber still.
„Nun, es ist so: Du musst morgen die Schule verlassen und wirst vorübergehend bei einer Pflegefamilie untergebracht. Professor Dumbledore befindet sich deshalb momentan in London und versucht alles zu klären. Deine Anwältin und deine Schwester sind beide einverstanden und…"
„Warum?!", unterbrach Tarsuinn ein wenig geschockt. „Ich hab doch nichts…"
„Nein! Es liegt nicht an dir", wehrte Professor Flitwick sofort ab. „Es gab nur eine heftige Schlacht der Meinungen über Professor Dumbledores Neutralität und seine mögliche Einflussnahme auf dich und deine Aussage. Du weißt vielleicht, dass er der Vorsitzende des Zaubergamots ist und da die Sache nun vor dieser Institution verhandelt wird…"
„Aber es war doch am letzten Wochenende kein Problem", schimpfte Tarsuinn. „Ich will nicht zu irgendjemand Fremdem!"
„Es sind sehr nette Leute…"
„Das ist mir egal!"
„Tarsuinn!", ermahnte ihn Professor Flitwick eindringlich. „Es ist vielleicht ganz gut…"
„Ich hab noch nie jemanden angegriffen, geschweige denn verletzt!", schrie Tarsuinn fast. „Sie müssen niemanden vor mir beschützen."
„Wenn du mich bitte ausreden lassen würdest!", erwiderte Professor Flitwick sanft und verpasste damit Tarsuinn eine kalte Dusche und erreichte bei ihm so mehr, als jedes Anschreien. Tarsuinn sackte ein wenig in sich zusammen.
„Das ist schon besser", merkte der kleine Mann freundlich an. „Ich wollte sagen, dass es für dich sicherlich ganz gut ist, hier eine Weile wegzukommen. Madame Pomfrey, ich und auch Professor Dumbledore glauben, ein wenig Abstand zu den Dementoren sollte dir gut tun. Korrigiere mich, sollte ich mich irren, aber in letzter Zeit fällt es dir recht schwer, dich ihrer Präsens zu entziehen, nicht wahr?"
Tarsuinn nickte und senkte betreten den Kopf. So gesehen…
„Außerdem sind die beiden Personen, die sich bereit erklärt haben dich bis zum Termin des Zaubergamots aufzunehmen, nur indirekt Unbekannte für dich. Du kennst doch Ginny Weasley?"
Wieder nickte Tarsuinn.
„Es sind ihre Eltern, und ich denke, Miss Weasley ist eine gute Referenz, denkst du nicht auch?"
„Wahrscheinlich haben Sie Recht", gab Tarsuinn leise zu.
„Das hoffe ich doch stark. Noch einen Kakao?"
Diesmal schüttelte Tarsuinn den Kopf. Trotz der Aussicht auf ein wenig Abstand zu den Dementoren, fühlte er sich nicht sonderlich gut. Er hasste es einfach herumgeschoben zu werden, ohne sich wehren zu können, und da war noch etwas anderes…
Er schob den Gedanken beiseite.
„Professor Flitwick?", fragte er vorsichtig.
„Ja?"
„Finden Sie, ich hätte das Recht mich zu wehren, wenn man Rica und mich nach Indien zwingen will?"
Eine lange Minute blieb seine Frage unbeantwortet und Tarsuinn hatte sich schon erhoben, um zu gehen, als leise Worte sein Ohr erreichten.
„Ich persönlich würde kämpfen und jede gut gemeinte Hilfe annehmen."
Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe Tarsuinn das indirekte Angebot verstand, aber dann wusste er nicht, wie er darauf antworten sollte. Professor Flitwick formulierte es so seltsam und das sicher nicht ohne Grund. Tarsuinn tat so, als hätte er es überhört.
„Eine gute Nacht, Professor", verabschiedete er sich.
„Die wünsche ich dir auch", entgegnete der kleine Mann freundlich. „Morgen, noch vor dem Frühstück, wird Professor Lupin dich nach London bringen. Vergiss nicht alle Sachen einzupacken, die du brauchen könntest. Das schließt deine Schulbücher ein. Ach – und gib mir bitte kurz den Zettel von Professor Snape, damit ich die erlaubte Ankunftszeit anpassen kann."
Nachdenklich ging Tarsuinn hinauf zum Turm der Ravenclaws.
Den Zettel brauchte er noch einmal für einen ziemlich aggressiven Filch und danach für Penelope, die kurz davor gewesen war, ihm eine Predigt zu halten.
Danach schwankte Tarsuinn kurz und entschied sich dann dafür, einfach Hausaufgaben zu machen, als hätte das noch einen Sinn für ihn. Er setzte sich still zu Winona, Merton und Luna.
„Ich finde, Snape sollte nicht das Recht haben, dich so lange für seine Zwecke einzuspannen", begrüßte Merton ihn.
„Egal", winkte Tarsuinn müde ab. „Ich glaub, ihm wird irgendwann langweilig, wenn ich so tue, als würde mich das nicht im Geringsten berühren."
„Aber uns musst du das nicht vorspielen!", sagte Merton energisch. „Komm schon! Du wandelst seit einer Woche wie ein Zombie durch die Weltgeschichte."
„Ich bin einfach noch nicht in Weihnachtsstimmung", log Tarsuinn und malte ein besonders verschnörkeltes T vor seine Überschrift.
Das brachte seinen Freund nur weiter auf die Palme.
„Sag doch auch mal was, Winona! Du hast es doch auch bemerkt!"
„Tarsuinn erhält keine Briefe von seiner Schwester und schreibt ihr auch nicht mehr", warf Luna ein, als würde sie laut denken.
„Echt?", erkundigte sich Merton.
„Sie hat anderweitig zu tun und momentan keinen Zugriff auf die Eulenpost", wich Tarsuinn aus und verfluchte intern Lunas Beobachtungsgabe und seinen Entschluss, Hausaufgaben zu machen.
„Was den Zugriff auf die Dienste anderer angeht", wechselte zu Tarsuinns Erstaunen ausgerechnet Winona das Thema. „Vielleicht solltest du mal mit Cassandra reden. Seit sie keine Nachhilfe mehr in Zaubertränke von dir bekommt, ist sie wieder grottenschlecht."
„Dafür kann ich nichts", verteidigte sich Tarsuinn nebenbei und malte ein weiteres T. „Ich hatte alles vorbereitet. Sie ist nie da gewesen!"
„Das weiß ich", entgegnete Winona. „Aber vielleicht solltest du einfach mal mit ihr reden. Den ersten Schritt machen."
„Warum sollte er", sprach Merton aus, was Tarsuinn selbst nur dachte. „Sie will was und sie hat ihn sitzen gelassen und eigentlich ist das eh alles Ians…"
„Es ist nicht meine Schuld", sagte Ians Stimme hinter ihnen. „Ich habe ihr nur geraten vorsichtig zu sein."
„Wer redet denn mit dir!", zischte Winona feindselig. „Verzieh dich!"
„Sofort, keine Sorge!", antwortete Ian im gleichen Ton. „Sobald ich Tarsuinn etwas gesagt habe."
„Und das wäre?", meinte Tarsuinn und klang selbst für seine Ohren recht niedergeschlagen. Er konnte sich nicht einmal mehr dazu aufraffen, Gefühle gegen den Jungen zu empfinden.
Irgendwie schien er damit Ian ziemlich aus dem Konzept zu bringen.
„Ähem…na ja…mein Dad…ich mein…er hat mir gesagt, dass morgen ein recht…ähem… einseitiger Bericht über deinen Fall im Tagespropheten stehen wird und ich sollte dich ein wenig…na ja…vorwarnen. Dad meint, es wäre nicht ganz der Standard, den er vom Propheten erwartet. Meint, da habe wer in hoher Stelle etwas lanciert. Das wollt ich eigentlich nur sagen!"
Dann machte Ian auf dem Absatz kehrt und ging wieder an seinen Tisch.
Tarsuinn war wie vom Donner gerührt. Zum einen, weil ihn die Warnung überraschte und auch das Bedauern in Ians Stimme, zum anderen, weil er jetzt verurteilt war…
„Was meinte Ian mit – deinem Fall?", fragte Winona düster.
…seinen Freunden noch mehr Sorgen zu bereiten.
Wie schon bei Professor Flitwick senkte er den Kopf und es dauerte lange, ehe er sich dazu zwang, alles zu erzählen, was ihm und seiner Schwester drohte. Als er geendet hatte, waren alle Hausaufgaben vergessen.
„Mein Dad wird sehr ungehalten sein, wenn unser Weihnachtsessen nicht stattfindet", fand als erste Luna die – sehr unpassenden – Worte. Obwohl – Tarsuinn musste unwillkürlich für einen Moment grinsen – man konnte das auch als Kampfansage interpretieren. Man musste nur seine Snape-Theorie auch auf Luna Lovegood anwenden.
„Was interessiert dieses Weihnachtsessen!", sagte Merton mit einer Mischung aus Unglaube und Zorn. „Wie kann das Ministerium nur vor diesen Typen kuschen?"
„Mir machen unsere eigenen Leute viel mehr Sorgen", murmelte Winona. „Was machen wir nur?"
„Ist doch klar", sagte Merton energisch. „Wir hauen Tarsuinn und seine Schwester da raus, wenn es nötig werden sollte."
Tarsuinn schüttelte leicht den Kopf.
„Nein. Ihr werdet noch hier in Hogwarts sein, wenn die Sache schon längst abgehakt ist."
„Aber wir könnten schon einiges vorbereiten…"
„Ich habe eben von Professor Flitwick erfahren, dass ich morgen früh wegfahren muss. Vielleicht auch wegen dem Bericht im Propheten, keine Ahnung. Ihr könnt mir aber schreiben. Ich werde bei Ginnys Eltern untergebracht. Ich glaub nicht, dass ihr etwas tun könnt oder solltet."
„Du klingst ja so, als hättest du schon aufgegeben!", warf Merton ihm zornig vor.
„Hab ich nicht", entgegnete Tarsuinn leise. „Aber ich sehe im Moment keine Möglichkeit etwas zu tun – und das macht mich ganz verrückt!"
„Und depressiv", ergänzte Merton.
„Wenn du meinst", brummte Tarsuinn. „Aber mir ist nichts Besseres eingefallen, als auf Flitwick und Dumbledore zu hoffen. Alles andere könnte mir wieder eine Diskussionsrunde mit Lupin und Flitwick einbringen."
„Was für eine Diskussionsrunde?", fragte Winona.
„Ach", versuchte Tarsuinn abzuwehren und schob diesen Lapsus auf seine abgelenkten Gedanken. „Das war nichts Schlimmes. Meine Hausaufgabe ging Professor Lupin nur ein wenig zu weit."
„Wie weit?", forderte Winona zu wissen.
„Für mein Alter zu weit", erwiderte er, was zwar keine Lüge war, aber auch nicht die vollständige Wahrheit. Genau genommen hatte Professor Lupin gesagt, dass er zwar wisse, dass man fast jeden Zauber missbrauchen könnte, es aber trotzdem falsch wäre, dies bis zur grausamen Perfektion zu durchdenken. Denn von dem Gedanken bis zur Umsetzung wäre es nur ein kleiner Schritt. Tarsuinn hatte darauf verzichtet Professor Lupin darauf hinzuweisen, dass er A nur die Sachen aufgeschrieben hatte, die er für relativ harmlos gehalten hatte und er B bereit war, alles davon auch einzusetzen, um seine Schwester zu verteidigen.
„Wir könnten Tarsuinn und Rica in ein Land schaffen, das keinen Auslieferungsvertrag mit Indien hat", schlug Merton vor, ohne auf die Sache mit der Hausaufgabe einzugehen. Für den Jungen war das sicher eine Bagatelle.
„Wir wollen aber nicht weg", entgegnete Tarsuinn traurig, obwohl er diesen Gedanken auch gehabt hatte. „Wir fühlen uns beide recht wohl hier."
„Na, dann ist das eben nur eine Option, falls sie euch ausliefern", sagte Merton.
„Glaubst du ernsthaft, dass sie uns dann noch die Gelegenheit geben wegzulaufen?", schüttelte Tarsuinn den Kopf. „Sei ehrlich, Merton, siehst du eine echte Möglichkeit uns zu helfen und dich nicht selbst nach Askaban zu bringen? Vorausgesetzt du schaffst es hier raus, an den Dementoren vorbei und nach London – was willst du tun?"
„Mir würde schon was einfallen", brummte Merton, doch seine Stimme klang nicht mehr so überzeugt. „Ich will einfach nicht tatenlos zusehen, wenn ein Freund in der Patsche sitzt."
Dafür schenkte Tarsuinn ihm ein dankbares Lächeln.
„Sobald ich einen Plan habe, melde ich mich bei dir", versprach Tarsuinn. „Aber bis dahin hoffe ich einfach das Beste."
„Man fühlt sich so hilflos", fauchte Winona und ihr Zorn meinte damit offensichtlich keinen der Anwesenden.
„Mein Dad sagt, Versprechen von Professor Dumbledore kann man immer trauen, weil er einer der größten Wahrsager aller Zeiten ist", sagte Luna überzeugt und verblüffte damit Tarsuinn völlig. „Und wenn er dir Mut gemacht hat, dann hast du kaum etwas zu befürchten."
„Deinen Glauben möchte ich habe, Luna!", murmelte Merton nach einer angemessenen Pause und klang dabei sogar ein wenig neidisch auf das Mädchen.
„Ihr werdet sehen!", beharrte Luna ernsthaft. „Alles wird gut werden."
Tarsuinn, der seine eigenen Erfahrungen mit Wahrsagen zugrunde legen konnte, war sich da nicht so sicher. Professor Trelawney hatte ihnen mal einige historische Prophezeiungen vorgelesen und fast alle hatten eines gemein gehabt – sie waren mindestens doppeldeutig gewesen. Die Bedeutung erschloss sich einem meist, wenn man das Ergebnis kannte.
„Dein Wort in Gottes Gehörgang", sagte Tarsuinn und verbannte jeden Zweifel aus seiner Stimme. Er war dankbar für Lunas absoluten Optimismus, denn dieser stand in so angenehmem Kontrast zu seinem Zweifel.
„Dürfen wir dir Briefe schreiben?", erkundigte sich Winona leise.
„Wie schon gesagt, bisher weiß ich von nichts Gegenteiligem", entgegnete Tarsuinn. „Aber bei dem Aufriss, den die machen, damit Rica und ich uns nicht schreiben können, dann wette ich, dass man alles lesen wird, was ihr schreibt."
„Und du wirst auch zurückschreiben, ja?", vergewisserte sich Winona.
„Ja!", versprach Tarsuinn. „Aber ich denke, es ist Zeit für mich zu packen. Grüßt bitte die, die mich morgen vermissen."
„Machen wir!", versprach Merton fest. „Und die, die sich freuen – und die wird es sicher geben – werden das bereuen."
„Übertreib es nicht!", grinste Tarsuinn und musste an eine stinkende Regina denken, der niemand zu nahe kommen wollte.
„Kein Probl…heh, das wäre ja meine Chance rechtzeitig aus Hogwarts rauszukommen."
„Was aber nur sinnvoll wäre, wenn du einen negativen Ausgang vorhersehen könntest, denn sonst würden sie dich umsonst rausschmeißen", erklärte Luna ernsthaft. „Es gibt Personen, die dies bedauern würden."
„Du?", erkundigte sich Merton überrascht, doch Luna ignorierte die Frage und eine Feder kratzte über Papier.
„Na dann, lebt wohl", verabschiedete sich Tarsuinn.
„Auf Wiedersehen", murmelte Luna abwesend.
„Genau", pflichtete Merton bei und schüttelte ihm die Hand. „Alles wird gut. Irgendwie!"
„Ich seh dich", murmelte Winona.
Um ehrlich zu sein, Tarsuinn hatte sich ein wenig mehr von Winona erwartet, aber auf der anderen Seite machte sie so keine Szene vor den anderen im Gemeinschaftsraum und machte ihm damit den Abschied leichter.
Tarsuinn ging zu Tikki in sein Zimmer und begann alles einzupacken, was ihm als möglicherweise hilfreich erschien. Er hatte es den anderen nicht sagen können, aber er plante durchaus einige extreme Maßnahmen, um im Zweifelsfall allem seinen Willen aufzuzwingen. Wahrscheinlich war es genau das, was Professor Flitwick und Professor Lupin Sorgen bereitete.
Trotzdem hatte er keine wirkliche Ahnung, was er tun sollte.
„Wenn ich doch nur Tante Glenn fragen könnte…", murmelte er und warf ein paar Socken in seinen Koffer.
„Was kann ich ausrichten?", ertönte plötzlich eine dünne Stimme hinter ihm und Tarsuinn erschrak wie seit Langem nicht in seinem Leben. Er hatte nichts, aber auch gar nichts, als Vorwarnung gehört. Er stolperte und fiel beinahe rittlings hin. Doch kurz vor dem Erdboden wurde er weich abgefangen und sanft abgesetzt. Selbst Tikki schien sich furchtbar erschrocken zu haben, denn erst jetzt landete sie neben Tarsuinn. Sie musste senkrecht in die Luft gesprungen sein, als die Stimme ertönte.
„Bitte vorsichtig, kleiner Herr", sagte die Stimme erneut und Tarsuinn gelang es, seinen Atem ein wenig zu beruhigen.
„Zic? Ähem, Verzeihung! Zac, nicht wahr?", stammelte er überrascht. „Was machst du denn hier?"
„Mrs Glenndary bat Zac, ein wenig auf Euch aufzupassen."
„Und zu beobachten", vermutete Tarsuinn ohne Groll.
„Ein wenig, kleiner Herr. Aber viel wichtiger war ihr Euer Schutz."
„Das ist nett von ihr, aber bringt sie das nicht in Gefahr?"
„Mrs Glenndary kümmert sich sehr um andere", entgegnete Zac unangemessen traurig. „Mehr, als manchmal gut für sie ist."
„Glaubst du denn, ich sollte sie um Rat fragen, wenn sie doch schon selbst in Schwierigkeiten steckt?", fragte Tarsuinn besorgt.
„Sie hat Zac gebeten, es sie wissen zu lassen, wenn kleiner Herr ihre Hilfe braucht. Zac lehnt niemals eine ihrer Bitten ab."
„Das beantwortet meine Frage nicht wirklich, Zac", drängte Tarsuinn. „Würde es sie in Gefahr bringen, wenn du ihr eine Nachricht bringst und mir dann eventuell die Antwort?"
„Nicht mehr als sonst, junger Herr", gab der Elf widerwillig zu.
„Dann schreib ich ihr schnell", entschied sich Tarsuinn, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann mit möglichst wenigen Worten die Situation und seine Machtlosigkeit zu schildern.
„Wie geht es Tante Glenn eigentlich?", fragte Tarsuinn verlegen, als er eine Pause einlegte und sich dieser Frage bewusst wurde.
„Sie würde sagen, es ginge ihr gut", erklärte Zac zurückhaltend.
„Und was würdest du sagen?"
„Es steht Zac nicht zu, eine Meinung zu haben."
„Ist es dir denn verboten, darüber zu sprechen?"
„Ähem, nein!"
„Warum tust du es dann trotzdem nicht?"
„Weil ich…", kam die schüchterne Antwort „…weil ich nicht will."
„Dann ist's okay", sagte Tarsuinn und wandte sich wieder seinem Brief zu.
„Wirklich?", fragte Zac erstaunt und kam näher.
„Natürlich!", entgegnete Tarsuinn abwesend und kitzelte sich mit der Feder unter der Nase, weil er gerade an einem Satz formulierte. „Du willst ja…"
Es klopfte leise gegen die Steinwand auf der anderen Seite des Raumes. Diesmal war es an Zac zusammenzuschrecken.
„Psst!", flüsterte Tarsuinn dem Elfen zu. „Das ist nur Patsy."
Und laut sagte er: „Im Moment passt es nicht, Patsy. Kannst du etwas später wiederkommen? So in etwa einer halben Stunde?"
„Wie kleiner Meister wünschen!", kam die von der Wand gedämpfte Antwort.
„Danke sehr, Patsy", rief Tarsuinn zurück.
Dann schrieb er weiter. Zac kletterte derweilen auf den Tisch und setzte sich neben ihn auf die Kante.
„War das eine Elfe von Hogwarts?", flüsterte Zac fragend nach einer Weile des Rumzappelns.
„Ja! Patsy, sie ist sehr lieb."
„Aber sie hat mit kleinem Herrn gesprochen!"
„Ja, hat sie", entgegnete er abwesend und bemerkte den irritierten Unterton nicht. Schließlich versuchte er den Brief so zu formulieren, dass Tante Glenn ihm nur Ratschläge erteilte und sich nicht genötigt sah, persönlich zu helfen.
„Aber Elfen sollen unsichtbar sein!"
„Ist sie doch für mich."
„Und unhörbar!"
„Niemand ist perfekt. Außerdem solltest du sie doch kennen, wenn du mich beobachtest."
„Ähem – Zac meidet meist diesen Raum!", gestand der Elf ein.
„Nehm ich dir nicht übel", murmelte Tarsuinn ironisch und setzte seinen Namen schwungvoll unter den Brief.
„Sie ist eine schlechte Hauselfe!"
Und erst jetzt hörte Tarsuinn die Anklage in Zacs leiser Stimme.
„Du solltest nicht so über Patsy urteilen", sagte Tarsuinn ernst. „Sie gibt sich Mühe, ist immer nett und hat den Mut, mich hier zu besuchen. Es ist mir egal, wenn sie einige Dinge dabei kaputt macht. Das meiste bekomme ich selbst wieder hin und bei dem Rest helfen mir ältere Schüler. Also – sag nicht, sie wäre eine schlechte Hauselfe! Sie ist halt nur nicht gut in dem, was man sie zwingt zu tun. Wahrscheinlich gibt es etwas, was sie gut kann, aber niemand wird ihr je befehlen, das zu tun. Du hast doch sicher auch schon mal Sachen machen müssen, die du eigentlich nicht wolltest oder nicht gut konntest, oder?"
Zac antwortete zunächst nicht, so als würde er ernsthaft über die Worte nachdenken, dann brach er urplötzlich in Tränen aus, riss den Brief aus Tarsuinns Händen und verschwand mit einem leisen Rauschen.
„Also heute ist ein seltsamer Tag", murmelte Tarsuinn verwirrt.
Und er war noch nicht zu Ende.
Keine Stunde später fand er sich dabei wieder, wie er eine Elfe tröstete, die weinend in seine Arme fiel, als sie mitbekam, dass er vorzeitig Hogwarts verlassen würde. Es nutzte überhaupt nichts zu versichern, dass er wiederkommen würde. Die kleine Elfe überhörte es einfach und jammerte, dass man ihr den kleinen Meister und ihre Aufgabe nicht wegnehmen durfte. Tarsuinn fühlte sich völlig überfordert.
Ein Gefühl, das nicht enden wollte, denn kaum hatte er Patsy endlich klargemacht, dass sie sein Zimmer auch sauber machen könnte, wenn er vorübergehend weg war (sie musste sich nur die Arbeit einteilen), als es an seiner Tür klopfte und ihm eine heulende Winona um den Hals fiel.
Er wusste nicht, was ihm peinlicher war? Dass sie beide nur einen Schlafanzug trugen (glücklicherweise recht dicke aus Baumwolle, da ja Winter war) oder dass er ihre Umarmung selbst sehr tröstlich fand und Tränen in seine Augen schossen.
„Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich vielleicht niemals wiederzusehen", schniefte Winona, als sie sich etwas beruhigt hatte oder Tarsuinns Schulter ihr ein wenig zu nass wurde.
Was sagte man in einem solchen Moment?
Rica hatte immer gesagt, irgendwann würde sich ein Mädchen in ihn verlieben. War das bei Winona der Fall oder mochte sie ihn einfach? Er beschloss bei der Wahrheit zu bleiben und diese seltsamen Gefühle und Gedanken beiseite zu schieben.
„Ich hab auch ein Problem damit", gestand er. „Ich…ich hab Angst, dass sie mich vergessen lassen und ich wollt doch noch rausbekommen, was es mit deinen Großeltern und deinen Brüdern auf sich hat."
Das entlockte Winona ein verweintes Lachen.
„Du wärst überrascht, wie unspektakulär das ist."
„Beweis es!", lenkte er weiter ab.
„So nicht!", wehrte sie ab. „Du denkst, nur weil ich mich eben benehme, wie so eine Heulbarbie, hab ich auch deren IQ?"
„Ich dachte, ein Versuch könne nicht schaden", gestand er.
„Warum hast du mir und Toireasa nichts gesagt?", ignorierte Winona seinen Versuch witzig zu sein. „Du hast doch auch ihr nichts gesagt, oder?"
Es war Tikki, die ihn auf eine versteckte Kobra hinwies. Was immer sie auch meinte.
„Nein. Ich wollte es ja auch ignorieren, weil ich eh nichts tun kann. Es euch nicht zu sagen, schien mir der bessere Weg zu sein."
„Und wie soll es dann Toireasa erfahren? Von mir wäre nicht so gut!"
„Warum?", verstand er nicht, was sie meinte.
„Also manchmal bist du echt hohl!", sagte sie und langsam kam die ihm bekannte Winona wieder zum Vorschein. „Das solltest du schon selbst übernehmen. Glaubst du, sie will von mir erfahren, dass ihr bester Freund mal eben die Biege macht und eventuell nie zurückkommt?"
Tarsuinn kam zu keiner Antwort.
„Natürlich nicht", fuhr Winona fast ohne Luftholen fort. „Sie erwartet das schon von dem Hohlkopf selbst zu hören – oder im Zweifelsfall zu lesen."
„Ich bin mir sicher, du kannst das besser!", murmelte Tarsuinn. „Eigentlich wollte ich das alles vermeiden und euch beiden einen Brief schreiben."
„Feigling", sagte sie entschieden.
„Mag sein", gab er umgehend zu. „Aber wage mal zu behaupten, es würde dir leichter fallen."
„Nein, ganz sicher nicht!", flüsterte sie leise. „Ich weiß schon gar nicht mal mehr, wie die Graue Lady es geschafft hat…"
Sie verstummte erschrocken.
„Ja, die gute Frau bringt einen immer dazu, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht machen möchte", lächelte Tarsuinn ihr aufmunternd zu. Zumindest sollte es so sein. Es war auch möglich, dass es etwas säuerlich aussah.
Zu tun, was einem Erwachsene rieten (auch wenn es der richtige Rat war), musste einem noch lange nicht gefallen.
„Schreibst du Toireasa einen Brief?", erkundigte sich Winona.
„Da du es für eine gute Idee hältst, mach ich es", versprach er.
„Dann geh ich mal lieber, bevor mich jemand sieht und auf seltsame Gedanken kommt", murmelte Winona.
Tarsuinn verkniff sich die Frage, welche seltsame Gedanken das waren, denn dann hätte er vielleicht gewusst, ob es etwas mit den verwirrten Dingen in seinem Kopf zu tun hatte.
„Also dann! Wir sehen uns wieder, versprochen?", sagte Winona zum Abschied.
„Zur Hälfte", lächelte er und war traurig, als sie die Andeutung nicht verstand und mit einem gehauchten: „Tschuldigung", sein Zimmer verließ.
Verflucht! Er war so dicht dran gewesen, seine Bitte vorzutragen.
Frustriert packte er Koffer und Rucksack zu Ende und versuchte dann mit Tikkis Hilfe Schlaf zu finden. Eine Stunde später stand er wieder auf und begann den Brief an Toireasa zu schreiben.
Am Morgen verließ er schon ganz früh sein Zimmer, ging rauf zur Eulerei und verschickte den Brief an Toireasa. Die Schuleule schien sich etwas über den seltsam kurzen Briefweg zu wundern, beschwerte sich aber nicht wirklich.
Danach holte er sein Zeug aus dem Ravenclaw-Turm. Tikki und Teddy sorgsam in seiner Kapuze verstaut und den Rucksack auf dem Rücken, schleifte er seinen Koffer in die Große Halle. Es war schon erstaunlich, wie viel Zeug sich in etwas über einem Jahr bei ihm angesammelt hatte.
Filch war schon auf den Beinen und tat so, als würde er irgendetwas in der Halle zu tun haben, doch dabei murmelte er ständig leise Verwünschungen gegen die Schülerschaft im Allgemeinen und die Weasley-Zwillinge und Tarsuinn im Besonderen.
Tarsuinn überhörte das geflissentlich, setzte sich an den leeren Ravenclaw-Tisch und bat leise um ein einfaches Frühstück. Er hoffte, dass die Elfen schon wach waren, denn er hatte doch ziemlichen Hunger.
Keine Minute später dampften Rührei mit Schinken und Eierpfannkuchen unter seiner Nase.
„Danke", flüsterte Tarsuinn und beschloss, niemals nach etwas Aufwändigem zu fragen.
Vorsichtig tastete er über den Tisch, fand wie erwartet eine flache Schale und ein rohes Ei, und machte Tikki einen Guten Morgen Snack. Es ging ihr schon etwas besser und, da außer Filch niemand hier war, stellte er ihr die Schale neben sich auf den Tisch.
Erst danach nahm er sich selbst einen Eierpfannkuchen, weichte diesen in Honig ein, rollte ihn zusammen und begann dann mit den Fingern zu essen. Wenn er schon allein war, Filch zählte für ihn nicht wirklich, konnte er sich auch den Stress mit Messer und Gabel sparen.
Doch natürlich kam es, wie es kommen musste. Kaum waren seine Finger und seine Mundwinkel bis zu den Ohren klebrig, kam jemand in die Halle und setzte sich zu ihm.
„Guten Morgen, Professor Lupin", sagte Tarsuinn munter und versuchte mit dem Ärmel wenigstens sein Gesicht präsentabel zu machen. Mit wenig Erfolg, denn nun glaubte er, dass er Honig im Ohr hatte.
Die Antwort des Professors war nur mit sehr gutem Willen als menschliche Sprache zu interpretieren, so herzhaft gähnte der Lehrer und begann danach zu husten.
„Sie sollten sich am Samstag mal ausschlafen, statt Babysitter zu spielen, Sir!", grinste Tarsuinn verschmitzt. „Nicht, dass Professor Snape wieder für Sie einspringen muss."
Erneut war die Antwort kaum als solche zu verstehen, aber diesmal glaubte Tarsuinn ein: „Wird sich nicht vermeiden lassen", durch einen schweren Hustenanfall hindurchhören zu können.
Ein wenig beunruhigt nahm er sein Glas mit heißer Milch, tat etwas Honig hinein, rührte um und reichte es dem immer noch keuchenden Lupin.
„Das hilft", versprach Tarsuinn und freute sich, als seine Gabe angenommen wurde.
„Danke", krächzte der Professor ein wenig später und atmete tief durch.
Tarsuinn zuckte mit den Schultern, versuchte sich aber auch an einem freundlichen Lächeln.
„Meine beängstigende Rücksichtslosigkeit ließ mich Ihren nahen Erstickungstod einfach nicht hinnehmen – wollen Sie auch so eine Pfannkuchenrolle?"
„Du hast, nachdem du gegangen bist, mein Gespräch mit Professor Flitwick belauscht?", erkundigte sich Professor Lupin ein wenig vorwurfsvoll.
„Von Lauschen kann überhaupt keine Rede sein", verteidigte sich Tarsuinn. „Sie waren laut genug. Aber keine Sorge – ich habe mir Ihre Ermahnungen zu Herzen genommen."
„Wirklich?", zweifelte der Professor, was nicht weiter verwunderte. Schließlich hatte Tarsuinn eine sehr lange Diskussion über Gewalt und die Verhältnismäßigkeit ihrer Anwendung mit dem Professor geführt, der am Ende sicher nicht sonderlich zufrieden gewesen war.
Aus diesem Grund beantwortete er auch nicht die Frage des Professors, sondern machte sich einen zweiten Eierpfannkuchen zurecht. Diesmal mit Apfelmus und Puderzucker und aß ihn auch mit Messer und Gabel.
Tarsuinn roch und hörte, wie der Professor sich Ei und Schinken auftat, während Tikki schon fertig war und begann sein Ohr und seine Wangen sauber zu lecken. Er hoffte, das überschritt nicht die Ekelgrenze Lupins, aber eigentlich sollte dieser bei all seinen gefährlichen und stinkenden Kreaturen Schlimmeres gewöhnt sein.
Eine halbe Stunde später waren sie dann auf dem Weg nach Hogsmeade. Tarsuinn ging neben dem Professor. Tikki und Teddy thronten wie immer in seiner Kapuze und sein Gepäck schwebte dank Lupin schwerelos hinter ihnen her.
Sie hatten gerade die erstaunlich laxe Kontrolle durch die Dementoren hinter sich gelassen und Tarsuinn begann sich wieder etwas zu entspannen, während er an einem Schokoriegel lutschte.
„Professor?", fragte er vorsichtig. „Wir reisen doch sicher mit dem Flohnetzwerk. Hätten wir dann noch etwas Zeit für einen Abstecher?"
„Kommt darauf an", entgegnete Lupin abwartend. „Wir werden zwar mit dem Express fahren, da man befürchtet, du könntest mir mit dem Flohpulver zu einfach entwischen, aber wir sind recht früh dran. Wozu brauchst du denn die Zeit? Honigtopf oder Zonkos?"
„Eigentlich wollte ich nur in den Wald und mich von jemandem verabschieden."
„Das ist keine so gute Idee", wehrte Lupin sofort ab. „Viel zu gefährlich!"
„Aber es wäre nur kurz und weit wäre es auch nicht", drängte Tarsuinn. „Sie wissen, dass ich hier bin und würden zum Waldrand kommen."
„Nur weiß man nicht, was sonst noch da ist. Wer sind eigentlich Sie? Zentauren?"
„Nein!", schüttelte Tarsuinn den Kopf. „Keine Zentauren, da kenn ich keinen von. Es wären nur – ähem – anscheinend drei Einhörner. Und was den Werwolf angeht – Vollmond ist erst in ein paar Tagen und Sie, Professor, werden sicher damit fertig, oder?"
Einige Sekunden herrschte plötzlich unangenehmes Schweigen.
„Wie kommst du auf einen Werwolf?", fragte Lupin mit belegter Stimme.
„Na ja", sagte Tarsuinn ein wenig verunsichert vom Ton des Professors. „Ich dachte, Sie wüssten Bescheid."
„Worüber?", fragte Lupin düster.
„Hat Professor Snape nicht…!"
„Natürlich ist mir bewusst, dass Professor Snape es weiß. Aber woher weißt du es?"
„Nun", noch immer sorgte sich Tarsuinn um den seltsamen Unterton in Lupins Stimme. „Ich muss ihm doch immer bei dem Trank helfen. Der, der Werwölfe während der Mondphase beruhigt."
„Und Professor Snape hat dir gesagt, ein Werwolf wäre im Verbotenen Wald?"
„Eigentlich nicht. Ich hielt es nur für nahe liegend, wo es doch immer heißt, im Wald gäbe es welche."
„Nahe liegend – durchaus", murmelte Professor Lupin nachdenklich. „Aber tut mir Leid. Der Verbotene Wald kommt nicht in Frage. Du wirst wohl mit dem Honigtopf vorlieb nehmen müssen."
Diese Alternative gefiel Tarsuinn zwar überhaupt nicht, doch der Professor wirkte nicht so, als würde er nachgeben. Und so nahm er dann lieber den Spatz in der Hand und kaufte im Dorf einen riesigen Beutel mit Süßigkeiten.
Die anschließende Zugreise nach London war dann jedoch recht kurzweilig. Einen großen Teil der Fahrt erzählte Professor Lupin ihm einige recht interessante Geschichten über die wunderlichsten Geschöpfe, die dem Lehrer schon begegnet waren. Tarsuinn bekam durchaus mit, dass der Professor vor allem pädagogisch wertvolle Beispiele ausgesucht hatte, die meist ohne aggressive Zauber auskamen, obwohl es sich um recht bedrohliche Situationen handelte. Es gab sicher einen blöden Fachausdruck für diesen versteckten Versuch Tarsuinn zu beeinflussen. Positive Bestärkung, beispielhaftes Lernen? Egal!
Zumindest waren die Geschichten über Vampire, Kobolde und Hinkepanks interessant und der Professor war durchaus bereit auch dumme Fragen zu beantworten, ohne dass Lupin einem das Gefühl vermittelte, dumm zu sein.
Als sie dann kurz vor Mittag London erreichten, mochte Tarsuinn Lupin dann wirklich und schaffte es auch nicht mehr, dieses Gefühl zurückzudrängen. Am Ende war er enttäuscht, schon angekommen zu sein.
Am Gleis 9 ¾ wurden sie von zwei Personen erwartet.
„Hallo Remus", grüßte eine weibliche Stimme herzlich und Tarsuinn glaubte, eine Umarmung zu hören.
„Hallo Molly, hallo Arthur", entgegnete Professor Lupin ehrlich erfreut klingend. „Schön euch zu sehen. Darf ich vorstellen, Tarsuinn McNamara. Tarsuinn! Dies sind Mr und Mrs Weasley. Sie haben sich angeboten, die nächsten Tage für dich zu sorgen."
Tarsuinn streckte die Hand aus, aber seine Höflichkeit ging nicht soweit, dass er etwas sagte.
„Erfreut, dich kennen zu lernen", sagte Mrs Weasley freundlich und seine Finger wurden von einer recht pummligen und schwieligen Hand gedrückt.
„Professor Dumbledore hat uns ein wenig von dir geschrieben", sagte der Mann, der bisher still gewesen war und auch er drückte Tarsuinns Hand. Seltsamerweise war diese Hand deutlich weniger schwielig als die der Frau, wenn sie auch recht kräftig war. Dafür roch Mr Weasley für einen Zauberer irgendwie seltsam. Ein wenig nach Benzin und Öl.
Ich hoffe nur Gutes, wäre die richtige Antwort auf die Worte Mr Weasleys gewesen, stattdessen fragte Tarsuinn: „Haben Sie den Tagespropheten von heute, Mr Weasley?"
Tarsuinn konnte nicht sagen, ob seine Schroffheit die Leute verblüffte oder seine Frage sie verlegen machte, denn nichts war zu hören und der Hogwarts-Express pfiff auch laut in diesem Moment. Er hielt sich vor Schreck die Ohren zu.
Als das schrille Pfeifen vorbei war und er die Hände wieder von seinen Ohren nahm, hatten sich die Erwachsenen schon wieder gefangen.
„Komm, Tarsuinn", sagte Mrs Weasley. „Wir bringen dich zu uns heim. Du kommst doch auch mit, Remus? Es gibt die kleinen Süßen."
„Wenn du damit die tollen, kleinen, süßen Kartoffeln meinst, Molly, dann weißt du doch, dass ich für die fast alles tun würde."
Tarsuinn bemerkte erfreut, dass niemand versuchte ihn anzufassen oder in eine bestimmte Richtung zu drängen. Die Weasleys legten sein Gepäck auf eine mitgebrachte Kofferkarre – man durfte ja nicht das Gepäck durch den normalen Bahnhof schweben lassen – und gingen voran, während Tarsuinn und Professor Lupin folgten.
„Wir haben einen Wagen vom Ministerium bekommen", erklärte Mr Weasley, nachdem sie auf dem Parkplatz an einem Auto stehen blieben. „Fährt praktisch von alleine. Wir sollten also kein Problem mit dem Verkehr haben."
Irgendwie klang der Mann ein wenig so, als würde er dies bedauern.
Tarsuinn stieg ohne zu fragen vorn auf den Beifahrersitz. Er hoffte, so einem Gespräch auf der Fahrt entgehen zu können, was auch relativ gut klappte.
Mrs Weasley fragte Professor Lupin darüber aus, wie es ihm in Hogwarts erging, und murmelte manchmal einen Kommentar über die vielen chaotischen Muggel. Mr Weasley hingegen schien ein Oldtimer-Freak zu sein. Denn ständig versuchte er alle Anwesenden auf irgendwelche uralten Fords, Rolls-Royce oder Rover aufmerksam zu machen. Einige der Namen kannte Tarsuinn aus Hongkong, aber die meisten waren dort einfach Schrottkarren gewesen, bei denen man Gefahr lief, sich eine Blutvergiftung durch den Rost einzufangen. Die Kisten hatten fast immer raue und sehr scharfe Kanten. Nichts für neugierige Finger.
Sie fuhren eine ganze Weile. Tarsuinn hatte noch nie erlebt, dass ein Auto innerhalb Londons, ohne jemals an einer roten Ampel oder im Stau stillzustehen, mit einer konstant hohen Geschwindigkeit fahren konnte. Natürlich mussten die Zauberer auch hier schummeln.
Tarsuinn hatte befürchtet, dass sie irgendwo in der Stadt wohnen würden, was sich jedoch als falsch herausstellte.
Kaum war er aus dem Wagen ausgestiegen, als seine Lungen saubere Luft einzogen und auch ein Wald schien in der Nähe zu sein. Holz knarrte im Wind.
„Ich muss den Wagen noch zurückbringen ins Ministerium, Schatz", sagte Mr Weasley. „Bin in einer Stunde wieder zurück."
„Wir werden mit dem Mittagessen auf dich warten, keine Sorge, Arthur", entgegnete Mrs Weasley. Dann hörte Tarsuinn ein Geräusch, das man nur als Schmatz bezeichnen konnte und Mr Weasley fuhr davon.
„Kommt rein!", forderte Mrs Weasley sie auf. „Du kennst dich ja aus, Remus."
„Kann ich noch einen Moment draußen bleiben, Professor?", schaffte es Tarsuinn endlich die Klappe aufzumachen.
„Willst du nicht lieber reinkommen? Es ist recht kalt", sagte Mrs Weasley.
„Ist schon okay, Molly", wehrte Professor Lupin ab. „Lauf nicht zu weit weg, Tarsuinn."
Tarsuinn nickte zur Antwort und genoss die folgende relative Ruhe. Gedämpft hörte er Geräusche, als würde jemand hinter einer dünnen Wand mit Kochtöpfen klappern. Doch diesmal war es nicht sein Ohr, mit dem er lauschte. Es war das Geschenk des Einhorns, welches er genoss. Seit September hatte er versucht dieses spezielle Gefühl immer mehr zu ignorieren, da es ihn immer noch trauriger und noch ängstlicher machte. Doch jetzt war es, als würde ein Feuer in ihm brennen. Kein brennendes, eher eines das wärmte. Da waren Pflanzen, dort eine Krähe, ein Hase hoppelte davon. Sogar das Lied – nein – ein Lied war zu hören. Andere Einhörner, weit entfernt. Sie wussten nicht, dass er hier war.
Hört ihr mich, fragte er in Gedanken, doch es gab keine Antwort.
Feine, kalte Regentropfen trafen sein Gesicht und mit Rücksicht auf Tikki ging Tarsuinn dann dahin, wo er die Tür gehört hatte, durch die Professor Lupin und Mrs Weasley verschwunden waren.
Er schloss die Tür hinter sich, die ein wenig verzogen zu sein schien, und betrat einen Raum, in dem niemand war. Das Gespräch, das er zuvor gehört hatte, war verstummt. Aber er hörte Wasser in einem Topf brodeln.
Er richtete sich danach, doch nur zwei Schritte später stieß er etwas mit dem Knie um. Tikki hatte ihn zwar davor gewarnt, aber es war einfach zu spät und es waren zu viele verschiedene Hinweise gewesen.
Kopf einziehen, nach links drehen, Fuß hoch anheben und dabei noch die Schulter zur Seite drehen. Dies zu befolgen war nicht einfach.
Er bückte sich und stieß den Kopf an einer Kante.
Tikki kletterte auf seine Schulter und gab den Laut für langsam von sich. Tarsuinn war gefrustet. In Hogwarts war es so einfach nirgends anzustoßen und auch zu Hause bei Rica und den Darkclouds war Platz und alles da, wo es hingehörte. Hier jedoch herrschte für seinen Geschmack zu viel Chaos. Kein Stuhl war gleich, eine Ordnung war für ihn nicht zu erkennen. Er warf ein Glas oder eine Vase herunter.
In einem Nebenraum hörte er Schritte.
„Nicht, Molly!", flüsterte Lupins Stimme. „Gib ihm die Chance selbst klarzukommen."
„Aber er ist doch…"
„Du tust ihm keinen Gefallen damit!"
Die Schritte gingen wieder zurück und etwas – wahrscheinlich ein Stuhl – knarrte.
Dieses Haus war definitiv ein Albtraum für jeden Einbrecher. An allen Ecken und Enden knarrte Holz. Dieser verfluchte Dielenboden machte es fast unmöglich einen lautlosen Schritt zu tun.
So langsam wie seit langem nicht mehr, machte er sich mit Tikki daran, sich durch den Raum zu tasten. Es dauerte sehr lange, aber wenigstens warf er nichts mehr hinunter. Irgendwann stand er endlich vor einer weiteren Tür und trat hindurch.
„Er hat eine Beule!", sagte Mrs Weasley anklagend (offensichtlich gegen Professor Lupin gerichtet) und stand wieder auf. „Halt still, Tarsuinn."
„Ist doch nix Ernstes", versuchte Tarsuinn abzuwinken.
„Halt einfach still", beachtete Mrs Weasley seinen Einwand nicht und ein Zauber traf seine Stirn. Der Schmerz verschwand bis auf ein schwaches Stechen.
„Man sieht, du bist in Übung, Molly", amüsierte sich Professor Lupin.
„Bei sieben Kindern sicher kein Wunder, Remus", erwiderte Mrs Weasley und ließ von Tarsuinn ab. „Wann werden wir mal kleine Lupins bestaunen können?"
„Ähem, dazu bedarf es noch einiger Änderungen", antwortete der Professor zögerlich und Tarsuinns Mundwinkel verzogen sich amüsiert nach oben.
Er hoffte, das Thema würde fortgesetzt, bis es hieß: Nicht vor dem Kind, aber leider setzte Mrs Weasley nicht nach.
„Wenn du Hunger hast, kannst du schon jetzt etwas essen, wenn du willst, Tarsuinn?", bot die Frau ihm an.
„Nein danke, Mrs Weasley", lehnte er höflich ab. „Ich hatte ein reichliches Frühstück."
Was jedoch lange zurück lag.
„Dann vielleicht das Dessert vorweg", versuchte Mrs Weasley ihn zum Essen zu verführen, doch damit hatte sie bei Tarsuinn keine Chance.
„Lieber nicht. Ich mag keinen Plumpudding."
„Du magst keinen Plumpudding?"
Für Mrs Weasley schien eine Welt zusammenzubrechen.
Im Raum, den Tarsuinn vorhin so schmerzhaft durchquert hatte, knallte es laut und Sekunden später betrat jemand den Raum.
„Schön, bin ich ja noch rechtzeitig", freute sich Mr Weasley. „Ich hab einen Bärenhunger."
„Kein Wunder, wenn du Samstagmorgen ohne Frühstück noch ins Ministerium gehst, nur um…"
„Illusionen von diesen Muggel-Gulli-Deck-Scheiben sind keine Sache, die man über das Wochenende aufschieben kann, Molly. Wir haben allein acht Muggel in fünf Minuten aus den Abwässern fischen müssen. Alle mehr oder minder verletzt und äußerst verwirrt, wie sie durch solides Metall fallen konnten."
„Ich weiß, ich weiß. Aber warum rufen sie immer dich? Es ist ja nicht so, als ob du der Einzige wärst."
„Im Moment sind alle mit Wichtigerem beschäftigt. Das weißt du, Molly. Und von allen im Ministerium bin ich mit einer der am wenigsten belasteten. Immerhin habe ich so etwas wie ein Wochenende. Dafür sollten wir dankbar sein."
Es war offensichtlich, dass Mrs Weasley nicht sonderlich dankbar war, aber sie beschwerte sich erst mal nicht mehr weiter, sondern man schritt zum Essen.
Das war gar nicht so schlecht und diese süßen Kartoffeln wirklich schmackhaft. Nur das Fleisch war zäh und billig. Hätte Tarsuinn es zum Kochen benutzen müssen, er hätte es ganz klein gehackt und unter gebratenen Reis gemischt, statt zu versuchen ein Steak daraus zu machen. Tarsuinn war schon oft mit Fleisch so verfahren, wobei es ihm dabei meist darum gegangen war, für Rica die Herkunft des Tieres zu verschleiern.
„Sag, Remus", hielt Mrs Weasley nicht für lange still. „Wie machen sich unsere fünf in der Schule?"
„Nicht schlecht, Molly. Nicht schlecht. Zumindest was meinen Unterricht angeht. Bei den anderen Fächern weiß ich, um ehrlich zu sein, nicht Bescheid."
Tarsuinn bemerkte erfreut, dass seiner Meinung nach Professor Lupin deutlich der Frage auswich.
„Und die Zwillinge?", zweifelte Mrs Weasley. „Die haben doch sonst nur Unsinn im Kopf."
„Sind begeistert beim Unterricht."
„Keine Stinkbomben, Feuerwerke…?"
„Nichts dergleichen."
„Und im Allgemeinen?"
Professor Lupin wirkte leicht genervt.
„Ich weiß von keinem ernsthaften Vergehen."
„Aber sie haben Ärger…"
„Molly!", unterbrach Mr Weasley sanft. „Solange wir keine Eule von Professor McGonagall bekommen, ist alles in Ordnung. Und dieses Jahr scheinen sie sich wirklich auf die ZAGs zu konzentrieren, denn noch gab es keine Post."
„Das mag stimmen, aber ich weiß nicht. Irgendwie beunruhigt es mich, keine Eulen zu bekommen. Ich befürchte halt, da sammelt sich ein großer Knall."
„Nicht dieses Jahr, Molly", widersprach Lupin.
„Warum nicht?"
„Weil die Dementoren fast jeden Frohsinn ersticken", murmelte Tarsuinn. „Niemand hat richtig Lust auf Unsinn."
„Ich dachte, Dumbledore lässt die Dementoren nicht ins Schloss?", fragte Mrs Weasley besorgt.
„Dürfen sie auch nicht", betonte Professor Lupin. „Tarsuinn meint sicher nur, dass ihre Nähe etwas dämpfend auf die allgemeine Stimmung wirkt. Der Vorfall beim Quidditch war sicher auch nicht hilfreich. Aber eine Gefahr besteht nicht."
Ungewollt kam Tarsuinn ein abfälliger Laut über die Lippen. Seiner Meinung nach stellten die Dementoren ein riesiges Gefahrenpotenzial dar, aber wahrscheinlich wusste Professor Lupin nicht, was Tarsuinn an Halloween gesehen hatte.
„Du bist anderer Meinung, Tarsuinn?", fragte Mrs Weasley, doch es war Lupin, der antwortete.
„Tarsuinn reagiert ein wenig ungewöhnlich auf Dementoren", sagte der Professor.
„Ich hasse die Dementoren und würde sie töten, wenn ich dazu in der Lage wäre. Ich denke, das ist nicht ungewöhnlich, Professor!", sagte Tarsuinn zornig.
„Deine Aggressivität ist es jedoch!", hielt der Lehrer gegen.
„Sie haben ja keine Ahnung", fauchte Tarsuinn, stand auf und versuchte wieder nach draußen zu gehen. Dabei warf er trotz Tikkis Anweisungen einige Dinge um und stieß sich einige blaue Flecke, aber er musste einfach raus aus dem Haus. Die Erinnerung an die Dementoren hatte ihn überraschend getroffen und Traumbilder traten vor seine Augen. Er musste aus dem Haus, bevor er aus Versehen dieses knarrende Etwas einriss. Er nahm Tikki in seine Kapuze und wickelte sie fest in seinen Schal.
Es war schlimm – kaum war er dem Einfluss der Dementoren ein wenig entflohen, kochten seine Emotionen gleich doppelt so hoch.
Draußen ging er nicht weit (weil ein Zaun im Weg stand), sondern atmete tief durch. Mit jedem Herzschlag kühlte sich sein Inneres ein wenig ab und er atmete die Wut und den Hass in den kühlen Tag. Wie sollte das nur werden, wenn Leute ihn provozierten, die er nicht mochte? Manchmal hasste er sein eigenes Verhalten.
Eine Stunde später kam Professor Lupin zu ihm heraus.
„Wieder beruhigt?", fragte der Lehrer freundlich.
Tarsuinn nickte beschämt.
„Du solltest den Weasleys nicht noch Angst um ihre Kinder machen. Professor Dumbledore hat ihnen nicht geschrieben, was dir Halloween passiert ist. Das ist zu deinem und ihrem Schutz."
Der Wind pfiff düster an Tarsuinns Ohr, fast wie das Heulen eines bösen Geistes.
„Du weißt, dass Professor Dumbledore niemals zulassen würde, dass seinen Schülern etwas geschieht", drängte Lupin weiter.
„Der Professor kann nicht überall sein", entgegnete Tarsuinn düster.
„Manchmal glaube ich ernsthaft, er kann", meinte Lupin ironisch.
„Kann er nicht", entgegnete Tarsuinn. „Und auch er macht Fehler."
„Er ist auch nur ein Mensch."
„Ich weiß. Aber viele Zauberer und Hexen scheinen ihn für eine Art Heilsbringer zu halten. Jeder sagt: Dumbledore wird es schon richten. Viele verlassen sich einfach darauf. Das kommt mir nicht richtig vor."
Professor Lupin sagte nichts dazu.
„Was wird sein, wenn Dumbledore stirbt?", fragte Tarsuinn weiter. „Er nennt mich ein Wildes Talent, aber ich hab gehört, wie manche Schüler mich Bedlam nennen. Wer weiß, welche Version der nächste Schulleiter bevorzugt."
„Professor McGonagall wird wohl der nächste Direktor, mach dir keine Sorgen. Außerdem macht Professor Dumbledore doch noch einen sehr fitten Eindruck, oder?"
„Im Gegensatz zu Ihnen – ja", sagte Tarsuinn ehrlich.
„Das war nicht nett!", sagte Lupin ein wenig verletzt.
„Entschuldigung", sagte Tarsuinn. „Aber es ist die Wahrheit. Sie röcheln manchmal, als würde ihre Lunge sich einen Weg nach draußen suchen. Okay – im September war es schlimmer, aber gesund sind sie bei Weitem nicht."
„Ich wusste nicht, dass du ein Heiler bist."
„Vielleicht werd ich es", sagte Tarsuinn und wurde wieder etwas zynisch. „Meine Zukunft scheint eh in St. Mungos zu liegen und da wäre mir dann doch die andere Seite lieber."
„Das ist eine sehr defätistische Einstellung", kommentierte Professor Lupin.
„Ich weiß zwar nicht, was das heißt, aber es klingt sehr negativ, wie Sie das aussprechen, Professor."
„Es bedeutet, dass du anscheinend aufgegeben hast."
Jetzt fing auch noch Lupin damit an.
„Das bestimmt nicht. Ich weiß nur nicht, was ich tun kann. Wissen Sie es?"
„Professor Dumbledore hat mir etwas aufgetragen", beantwortete Professor Lupin die Frage. „Ich soll dir sagen und das ist ein Zitat: Es geht nicht nur darum, dass man Erfolg hat, sondern auch wie man Erfolg hat!"
„Das hilft mir nicht wirklich weiter."
„Vielleicht jetzt noch nicht. Aber irgendwann ergeben die Worte sicher einen Sinn. Das tun sie immer", versprach der Professor.
„Ich hoffe, bevor es zu spät ist", erwiderte Tarsuinn sarkastisch. „Nachher nutzen mir kluge Worte wenig."
„Vertrau auf Dumbledore, er hat sicherlich mehr als nur einen guten Rat für dich auf Lager. Ich habe ihm auch vertraut, als ich nicht mehr weiter wusste, und habe es nie bereut."
„Ich würde mir lieber selber helfen, Professor."
Eine sanfte Hand legte sich auf seine Schulter.
„Du musst begreifen, Tarsuinn. Menschen wie du und ich, wir sind auf die Hilfe und die Akzeptanz anderer angewiesen. Lerne das zu akzeptieren. Vergraule nicht die, welche dich nehmen wie du bist, und ignoriere die, die nicht über ihre eigenen Vorurteile hinaus blicken können. Halt die Ohren steif. Wir treffen uns im neuen Jahr in der Schule wieder."
Dann ging der Professor und ließ einen nachdenklichen und emotional ziemlich abgekühlten Tarsuinn zurück. Erst als der Apparierknall schon längst vorbei war, fiel ihm die Frage ein, warum der Professor sich selbst bei seinem letzten Rat nicht ausgenommen hatte? War Lupin nicht ein ganz normaler Zauberer? Warum klangen dann seine Worte, wie eine Anklage an die halbe Welt?
Tikki gab tröstende Laute von sich und er verrenkte sich den Arm, um sie ein wenig hinter den Ohren zu kraulen. Viel mehr schaute ja auch nicht aus dem Schal heraus.
„Woher nimmst du nur immer deinen Optimismus?", fragte er mühsam lächelnd. „Kannst du in Kristallkugeln die Zukunft sehen, oder was?"
Das darauf folgende Nein erstaunte Tarsuinn nicht, nur dass er überhaupt eine Antwort auf diese Frage bekam.
Zwei Tage später hatte Tarsuinns Frust wieder deutlich zugenommen. Nicht nur, weil man ihm den Tagespropheten vorenthielt, sondern auch, weil er keine Eulen bekam, keine verschicken durfte und Professor Lupin ihm Hausaufgaben für alle Fächer dagelassen hatte. Außerdem bestand Mrs Weasley darauf, dass er die Aufgaben auch abarbeitete.
Ansonsten passierte rein gar nichts, wenn man davon absah, dass er Mrs Weasley manchmal weit, weit weg wünschte. Nicht, dass sie eine böse Frau war. Nein – ganz im Gegenteil. Noch nie in seinem Leben war Tarsuinn einer fürsorglicheren Person begegnet. Ständig wurde er beobachtet, gefragt, ob er was trinken oder essen wolle, sich nach seinem Befinden erkundigt und Holz in den Kamin geworfen, obwohl er immer wieder beteuerte, dass ihm absolut nicht kalt war. Dazu kam auch noch, dass Mrs Weasley ständig versuchte ihm alles einfacher zu machen. Kaum erhob er sich von seinem Platz, fragte sie ihn, wohin er wollte, ob er ihre Hilfe brauchte und warnte ihn vor jeder Ecke und Kante.
Tarsuinn fühlte sich bevormundet und gegängelt, obwohl es sicher nur gut gemeint war.
Mr Weasley war da ganz anders. Den halben Sonntag hatte er mit ihm in einem Schuppen zugebracht und geholfen, an einem Rasenmäher zu basteln. Es war sehr interessant gewesen. Das Basteln und Mr Weasley. Immerhin war er zum ersten Mal dabei gewesen, wie jemand normale Technik mit Magie aufmotzte. Wie das mit Hüten und Plakaten ging, hatte er von Luna mal erklärt bekommen, die das aus dem Baukasten gelernt hatte, den sie vor einem Jahr von Rica und Tarsuinn geschenkt bekommen hatte. Aber das mit Technik zu machen war viel komplizierter und Tarsuinn bewunderte Mr Weasley dafür.
Mr Weasley wiederum schien normale Menschen absolut zu bewundern. Und das nicht nur für ihre Technik, sondern auch für ihre Organisation und Lebensweise. Eine Haltung, die Tarsuinn noch niemals bei einem Zauberer oder einer Hexe erlebt hatte. Erschreckend war jedoch auch – bei all der Begeisterung Mr Weasleys – wie wenig Ahnung der Mann von den grundlegendsten Dingen der normalen Welt hatte. Es war, als wäre er ein Kind oder irgendwo im tiefsten Urwald Indiens aufgewachsen, und dementsprechend musste man es ihm auch erklären. Irgendwann hatte Tarsuinn zu der guten alten Stromtierchentheorie gegriffen, mit der auch Rica ihm eine elektrische Klingel erklärt hatte. Damals war er erst sechs Jahre alt gewesen, hatte es aber schneller kapiert als Mr Weasley. Was aber auch daran liegen konnte, dass Rica eine viel bessere Lehrerin war.
Heute jedoch war Mr Weasley auf Arbeit, es war Nachmittag und Tarsuinn gähnte herzhaft über einen Kräuterkundeaufsatz.
„Geh doch schlafen, wenn du müde bist", sagte Mrs Weasley zum wiederholten Mal.
„Nein", entgegnete er gelangweilt. Seine Ablehnungen waren immer kürzer geworden, je häufiger Mrs Weasley ihm zum Schlaf riet. Dabei wusste sie durchaus, warum Tarsuinn nicht schlafen wollte.
Tarsuinn tat so, als würde er wieder seine Arbeit aufnehmen, nur leider konnte er Mrs Weasleys leise Worte nicht überhören.
„Der arme, kleine Junge. Hat Angst vorm Schlafen, Angst vor Berührungen, Angst vor Menschen. Und dann wollen sie ihn auch noch für etwas einsperren, was seine Eltern gemacht haben. Und diese gierigen Krämerseelen und diese Kimmkorn denken nur an die möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen und die internationalen Beziehungen. Die Zukunft eines kleinen Jungen und dessen Schwester ist denen doch egal, wo es um Gold geht.
Und Arthur begraben sie in Arbeit. Ach, wenn er doch nur nicht so extrem von Muggeln begeistert wäre oder dies wenigstens verbergen könnte. Weder die Muggel noch das Ministerium danken ihm seine Arbeit. Aber statt sich zu beschweren, arbeitet Arthur nur. Bittet nicht um Gehaltserhöhung. Ist freundlich zu Muggeln, die ihn dafür herablassend und wie einen Idioten behandeln. Diese lärmenden, blinden, kurzsichtigen Menschen…"
„Hören Sie auf!", schrie Tarsuinn und sprang auf. „Hören Sie verdammt noch mal auf so etwas zu sagen!"
„Wie? Was meinst du?", fragte Mrs Weasley verwirrt.
„Reden Sie nicht so über normale Menschen, als wären sie schlecht!", fuhr Tarsuinn sie zornig an.
„Aber ich wollt doch gar nicht…"
„Wenn Sie so reden, dann beweist das nur, dass Sie keine Ahnung haben. Meine Schwester Rica hat es geschafft mich bis jetzt großzuziehen, obwohl sie erst Elf und ich vier war. Und dabei konnte sie nicht auf irgendwelche Zauber und dergleichen zurückgreifen, die das Leben einfacher machen. Wenn Sie also noch einmal über normale Menschen schlecht reden, Mrs Weasley, dann überlegen Sie sich, dass Sie damit auch meine Schwester beleidigen und das werde ich Ihnen nie verzeihen!"
Zwei Dinge aus Glas splitterten.
„Und jetzt, entschuldigen Sie mich. Ich geh spazieren!"
Tarsuinn nahm sich seine Jacke und ging stocksteif nach draußen. Wenige Schritte später sprang ihm Tikki auf die Schulter und dann in seine Kapuze. Seine kleine Freundin hatte sich wieder vollständig erholt und wenn er lernte, stromerte sie durch das Haus der Weasleys und jagte Ratten und Mäuse.
Tarsuinn erreichte den Zaun und diesmal blieb er nicht stehen, sondern kletterte mühsam hinüber und spazierte einfach davon. Er hatte einfach die Schnauze voll. Hier zu warten war viel schlimmer als in der Woche zuvor. In Hogwarts hatte es immer eine Beschäftigung gegeben, die ihn abgelenkt hatte, und die Graue Lady hatte immer in der Zeit vor dem Einschlafen für ihn gesungen. Hier jedoch war er zwar die Dementoren los, aber sich selbst konnte er nicht entfliehen. Die Stimme machte ihm immer mehr Vorschläge und immer wieder ertappte er sich dabei, wie er einige davon als hilfreich und richtig empfand. Aber wie sollte man eine vernünftige Entscheidung treffen, wenn man begann, an sich selbst zu zweifeln? Manchmal hatte er eine Idee und dann fragte er sich, ob es überhaupt seine eigene war. Oder vielleicht hatte die Stimme ihre Taktik geändert und schlug ihm genau das Gegenteil von dem vor, was sie von ihm wollte? Manchmal kam es ihm fast so vor.
Voll düsterer Gedanken spazierte Tarsuinn einfach irgendwohin. Er hatte nicht vor wegzulaufen, er wollte nur ein wenig Freiheit genießen. Was leider nicht für seine Gedanken galt. Immer wieder hörte er Mrs Weasleys Worte wie in einer Endlosschleife.
Er blieb an einem Baum stehen und schlug wütend die Faust gegen die Rinde.
„Ich weiß, dass ich müde bin!"
Ein weiterer Schlag folgte.
„Ich bin immer müde!"
Schlag.
„Deshalb wachse ich langsamer."
Die Fingerknöchel seiner rechten Hand taten weh, also nahm er die andere zu Hilfe.
„Und Rica ist nicht herablassend…"
Jetzt tat auch die linke weh.
„…oder gemein…"
„…oder laut…"
Tarsuinn verstummte. Plötzlich hatte er das Gefühl nicht mehr allein zu sein und auch Tikki, die bisher absolut still gewesen war, pfiff alarmiert.
„Euch beiden kann man kaum was vormachen", erklang eine leise Stimme, etwa fünfzig Meter entfernt.
„Tante Glenn?", fragte er erstaunt, nur um nach einem Moment auf die Frau zuzulaufen und ihr in die Arme zu fallen.
Das mochte übertrieben sein, aber im Moment wollte er sich an irgendjemanden klammern. Wäre Mrs Weasley in der Nähe gewesen, wäre auch sie in die engere Wahl gekommen.
Oder ein Baum.
Eine sanfte Hand tätschelte seinen Kopf.
„Du hast nicht geschrieben, dass es so schlimm um dich steht", sagte Tante Glenn leise. „Seit wann bist du so zutraulich?"
Verlegen löste sich Tarsuinn wieder von der Frau, hielt sich aber an ihrer rechten Hand fest.
„Ich bin geistig ein wenig instabil in letzter Zeit", gestand er ein. „Und ich hab Angst!"
Tante Glenn antwortete nicht, sondern kniete vor ihm hin, heilte mit einem kleinen Zauber seine aufgeschlagenen Fingerknöchel und schloss ihn erneut in die Arme. Er drängte sich wieder an sie.
„Sie wollen mir alles wegnehmen. Ich…", flüsterte er ihr ins Ohr und brachte den Rest des Satzes nicht zu Ende.
„Es ist keine Schande, vor so etwas Angst zu haben", tröstete Tante Glenn ihn mitfühlend. „Es ist sogar viel besser so."
„Ich hasse mich dafür."
„Das ist geriebenes Mistkäferpulver", meinte Tante Glenn und wieder streichelte sie ihn.
„Wozu ist das nutze?", fragte Tarsuinn verwirrt.
„Für absolut nichts!", lachte sie. „Wie dein Hass auf dich selbst."
Ein wenig musste Tarsuinn lächeln.
„Rica hätte mir das auch gesagt", gab er zu. „Nur mit anderen Worten."
Dann fiel ihm noch etwas anderes ein.
„Ist es für dich nicht gefährlich hier zu sein?", fragte er besorgt.
„Nur ein wenig", entgegnete sie. „Ich bin nicht Sirius Black und damit im Moment ganz weit unten auf der Prioritätenliste des Ministeriums."
„Und was ist, wenn sie ihn wieder einfangen?"
„Dann wird es auch nicht viel schlimmer. Im Grunde genommen bin ich nur ein kleines Licht und hab nur deshalb Probleme, weil ich Lucius Malfoy gelinkt habe."
„Und Gloria Kondagion?"
„Ja, aber die weiß entweder nichts davon oder aber sie interessiert sich nicht für mich. Vielleicht aber ist sie auch nur zu beschäftigt, euch zu verteidigen. Weißt du überhaupt, wie ihr zu der Ehre gekommen seid?"
„Sie ist zu meiner Schwester gegangen und hat diese überzeugt, dass sie die beste für den Job wäre."
„Was nur die halbe Wahrheit ist. Sie hat schon vorher alles in die Wege geleitet, um dafür zu sorgen, dass sie auch ohne eure Zustimmung Verteidigerin wird."
„Woher weißt du das?"
„Ich habe Freunde. Nicht viele, aber ein paar. Ich hab sie gebeten herauszufinden, ob Kondagion es ernst meint, euch verteidigen zu wollen."
„Und?", erkundigte sich Tarsuinn gespannt.
„Sie will anscheinend wirklich diesen Fall für euch gewinnen. Anders kann sie keinen Vorteil herausschlagen, nicht nach dem, was sie gemacht hat."
„Und das wäre?", war Tarsuinn jetzt neugierig.
„Sie hat den indischen Botschaftern und den anwesenden hohen Herren und Damen des Ministeriums gesagt, dass sie das indische Rechtssystem für unmoralisch, barbarisch und als eine billige Entschuldigung für Sklaverei hält, an der sie keinen Anteil haben möchte."
„Wow!", entfuhr es Tarsuinn und er löste sich wieder ein wenig von Tante Glenn. „Wirklich so direkt?"
„Na ja – vielleicht hat sie es etwas diplomatischer formuliert, aber trotzdem hat sie sich so weit aus dem Fenster gelehnt, dass sie einfach gewinnen muss, um ihre Karriere fortsetzen zu können."
„Sie ist so verändert", kommentierte Tarsuinn. „Ich habe ihre Art zu sprechen kaum wieder erkannt."
„Wem sagst du das?", meinte sie. „Aber das ist alles nicht weiter wichtig. Wichtig ist nur, dass es dir gut geht. Hast du denn fleißig Zauber geübt?"
„Nicht immer", gab Tarsuinn zu. „Nach der Sache…"
„Ja?", fragte Tante Glenn, als er nicht fortfuhr.
„Ach, es ist nichts. Ich war ein paar Mal abgelenkt", versuchte er abzuwimmeln. Tante Glenn hatte eh schon genug Probleme. Doch diese zog ihn wieder an sich und flüsterte sanft in sein Ohr: „Ich weiß, was du an Halloween mit ansehen musstest. Das würde jeden Menschen aus dem Gleichgewicht bringen."
„Woher…?"
„Professor Dumbledore hat mir geschrieben. Er hat mich gefragt, ob ich etwas von einer negativen Wechselwirkung zwischen dir, deinem Zauberstab und den Dementoren wüsste."
„Gibt es eine?"
„Je nachdem, welcher Legende man glaubt. Aber deshalb bin ich nicht hier! Ich wollte eigentlich nur, dass du etwas weißt: Egal, wie die Anhörung vor dem Zaubergamot ausgeht, wir werden dich und deine Schwester nicht im Stich lassen. Mach also keinen Unsinn oder Unüberlegtes. Das Beste ist immer noch, vor dem Zaubergamot zu gewinnen. Wenn das nicht klappt, dann ist schon ein Platz in Beauxbaton für dich reserviert. Dann musst du zwar noch französisch lernen, aber wenigstens seid ihr dort vor Auslieferung sicher."
„Warum tust du das nur für mich?", flüsterte er, ergriffen von der Hoffnung, die ihn plötzlich erfüllte.
„Gegenfrage! Warum vertraust du mir?"
„Weil Tikki und Professor Dumbledore dir vertrauen."
„Soweit ich weiß, hat Professor Dumbledore dir auch seine Hilfe versprochen. Wie kommt es, dass du seinem Urteil über Menschen vertraust, aber nicht seinem Versprechen?"
„Weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass er etwas Illegales tut."
„Ach, und weil ich eine Diebin bin, meinst du mir fehlen diese hohen moralischen Werte?", fragte sie mit neckischer Stimme.
„Nein", erwiderte er ernsthaft. „Aber genau wie Rica und ich bist du bereit zu tun, was getan werden muss. Bei Professor Dumbledore weiß ich nicht…"
„Er wird immer seine persönliche Werte und Überzeugungen über irgendwelche falsche Gesetze stellen. Er hat dafür gesorgt, dass du im Zweifelsfall in Beauxbaton zur Schule gehen kannst, was bedeutet, dass er zu deinem Wohl zum Äußersten bereit ist."
„Das könnte er mir auch direkt sagen", maulte Tarsuinn.
„Er kann es dir nicht direkt sagen, denn so kannst du ihn nicht unter dem Einfluss von Veritaserum verraten. Es ist wichtig, dass er auch weiterhin der Direktor von Hogwarts bleibt."
„Warum?"
„Weil Hogwarts nicht nur eine Schule, sondern auch ein Zufluchtsort ist. Wenn irgend so ein inkompetenter Ministeriumstyp dort das Sagen hat, kann das furchtbar schief gehen, wenn…na ja, das erfährst du später. Zumindest ist Dumbledore wichtig, auch wenn du anscheinend denkst, dass sich die Zauberergesellschaft zu sehr auf ihn verlässt. Komm – lass uns ein Stück gehen."
Sie erhob sich und Hand in Hand gingen sie schweigend ein Stück. Wenn sein internes Richtungsgefühl stimmte, dann ging es wieder zu dem Haus der Weasleys.
„Tarsuinn?", fragte Tante Glenn nach einer Weile. „Beantwortest du mir eine Frage, die einzig und allein aus meiner Neugierde entspringt?"
„Vielleicht."
Tante Glenn schnaubte amüsiert, war dann aber wieder ernst, als sie ihre Frage endlich stellte.
„Warum hast du niemals versucht herauszufinden, warum das Ministerium mich momentan sucht?"
„Woher willst du wissen, dass ich das nicht habe?"
„Dann hättest du Zac nicht diese eine spezielle Frage gestellt. So grausam bist du nicht."
„Ich war grausam?", fragte Tarsuinn erschrocken und versuchte sich irgendeiner Schuld bewusst zu werden.
„Nachher!", meinte Tante Glenn. „Beantworte bitte erst meine Frage. Warum hast du nicht nachgefragt?"
Tarsuinn zuckte mit den Schultern.
„Ich hatte keinen greifbaren Grund", gestand er. „Ich wollte es einfach nicht erfahren. Zumindest nicht von jemand anderem. Das, was du mir mal gesagt hast, reichte mir und Rica."
Seine Antwort wurde schweigend hingenommen. Tarsuinn wusste wirklich nicht, warum er Tante Glenn vertraute, ja sie sogar sehr mochte.
Und warum er nicht nachgeforscht hatte? Zum einen – aber das konnte er nicht sagen – weil er nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden wollte und zum anderen, weil er fürchtete, was er über sie erfahren würde. Manchmal lag etwas Tröstliches in der Unwissenheit. Man konnte so sehr gut die kalte Realität ignorieren.
„Erzählst du es mir jetzt?", fragte Tarsuinn vorsichtig. „Und auch das, was ich bei Zac Falsches gesagt habe?"
„Das hatte ich vor. Ich verstecke mich eh nur, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Du weißt doch sicher – die Spuren verwischen und kalt werden lassen. Ich hab einiges getan, was nicht rauskommen sollte, auch wenn das meiste in anderen Ländern gelaufen ist."
Sie machte eine längere Pause.
„Oh Mann, ist das schwer", fuhr sie dann gequält fort. „Weißt du – ich war eine Slytherin und meine beste Freundin in der Schulzeit war Gloria Kondagion. Ich weiß, ich hab dich damals angelogen, als ich so tat, als hätte ich sie erst vor acht Jahren kennen gelernt, aber wir kannten uns damals ja erst ein paar Minuten und ich wollte keinen schlechten Eindruck auf dich machen."
Sie lachte beißend.
„Damals war unser Umgangston ein deutlich anderer. Und wir waren wie Pech und Schwefel, selbst nach der Schulzeit. Haben unsere eigene kleine und kindische Widerstandsgruppe gegen den Dunklen Lord gegründet, weil wir nichts mit den anderen Kämpfern zu tun haben wollten. Es war dumm und wir waren recht ineffektiv, aber wir waren sicher auch ein Ärgernis. Kurzum, irgendwann ging es schief und während eines Treffens tauchten Todesser auf und töteten viele von uns. Wir waren verraten worden, aber das war damals nicht so ungewöhnlich.
Dann war der Krieg vorbei und es war eine schöne Zeit. Ich heiratete meinen Freund. Wir zogen zusammen, kauften ein Haus, richteten alles ein und planten eine Familie. Bis eines Tages Auroren des Ministeriums vor unserer Tür standen und uns festnahmen.
Ich fiel aus allen Wolken, denn wenn ich auch unschuldig war, mein Mann war es nicht. Ich hatte meinem Mann vollkommen vertraut und obwohl er nicht zu unserer kleinen Slytherinkampfgruppe gehörte, hatte ich ihm mitgeteilt, wo ich hinging. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie Gloria es aufnahm. Ich hab sie noch nie so wütend gesehen und wenn ich heute zurückblicke, bin ich verwundert, dass sie mich nicht umgebracht hat. Ich hätte mich nicht gewehrt."
Tante Glenn holte einige Male tief Luft.
„Hat Kondagion dich deswegen in der Hand?", nutzte Tarsuinn die Pause. „Machst du das aus Schuldgefühl?"
„Vielleicht zu Anfang", schränkte sie ein. „Aber der Hammer kam noch bei der Verhandlung meines Mannes. Es stellte sich…es stellte sich heraus, dass…"
Sie schniefte schwer.
„Ich muss das nicht unbedingt wissen", versuchte Tarsuinn sie unbeholfen zu trösten. „Ich meine, so ungewöhnlich scheint deine Geschichte von der Zeit nun auch nicht zu sein und…"
„Nein! Ich will es dir jetzt sagen. Mein Mann hat…man versuchte ihm mehrere Morde nachzuweisen. An mindestens vier Muggeln und an einem Zauberer. Er gab die Morde an den Muggeln fast stolz zu, aber den Tod des Zauberers nahm er nicht auf sich. Stattdessen bezichtigte er Zic und Zac."
„Die beiden würden das nicht tun!", flüsterte Tarsuinn und versuchte überzeugt zu sein. Doch fast zwanghaft musste er an seine letzten paar Worte zu Zac denken.
„Doch, sie haben", klagte Tante Glenn. „Mein Mann hat seine Hauselfen zu einer Tat gezwungen. Durch diesen verfluchten Zauber der Bindung und ein paar Flüche konnte er sie zu etwas zwingen, wozu sie normalerweise niemals fähig wären. Mein Mann versuchte sich mit der Tatsache herauszureden, dass er ja keinen Zauberer getötet hat, aber der Zaubergamot erkannte trotzdem seine Schuld. Er wurde zu lebenslanger Haft in Askaban verurteilt. Zic und Zac hingegen – sollten hingerichtet werden."
So langsam setzten sich in Tarsuinn die Puzzlesteine zusammen.
„Du wirst gesucht, weil du zwei Leben gerettet hast", dachte Tarsuinn laut an die Worte, die sie ihm einmal gesagt hatte. „Du hast Zic und Zac vor der Hinrichtung bewahrt."
„Ja", entgegnete Tante Glenn. „Ich konnte es einfach nicht zulassen. Obwohl die beiden sterben wollten, habe ich ihnen befohlen zu fliehen. Dafür hat man mich zwei Jahre lang in Askaban eingesperrt."
„Du warst in Askaban?", unterbrach Tarsuinn entsetzt.
„Oh ja. Und glaub mir – mich bekommen sie da nur in einem Leichensack wieder hin. Es ist die Hölle auf Erden. Aber als ich damals das Strafmaß hörte, da dachte ich, es wären ja nur zwei Jahre. Ich habe mich noch niemals so geirrt. Als ich endlich nach Hause durfte, war ich geistig zerrüttet und wurde gemieden, als hätte ich die Pest. Ich war kaum noch ich selbst und mich wirr zu nennen, wurde meinem Zustand wohl kaum gerecht. Ich habe kaum Erinnerungen an diese Zeit, aber als ich wieder halbwegs klar war, musste ich bemerken, dass ich von Zic und Zac in dieser Zeit gepflegt worden war. Als mir klar wurde, was das bedeutete, wollte ich sie wegschicken, doch sie weigerten sich und es war eh schon längst zu spät. In der Zeit, als ich halb wahnsinnig war, haben Lucius Malfoy und Gloria Kondagion mitbekommen wer mich pflegte, und erpressten mich seitdem mit diesem Wissen. Ich habe für beide gestohlen – na ja, für Gloria deutlich mehr – und darauf bin ich nicht unbedingt stolz, aber ich kann dir eines versichern, ich habe ihnen nie zu etwas Gefährlichem verholfen."
Am Ende hatte Tante Glenn immer schneller gesprochen, so als wolle sie unbedingt ihre Rechtfertigung loswerden, bevor er sie unterbrechen konnte. Tarsuinn fand das seltsam, weil sich eben eine erwachsene Frau bei ihm entschuldigte, als wäre sein Urteil wichtig für ihr Seelenheil.
Doch was sollte Tarsuinn sagen? Er war ein wenig überrollt von ihrer Geschichte, obwohl sie relativ wenige Worte verwendet hatte. Seine Fantasie füllte den Rest nur zu gut.
Zwei Jahre Askaban! Ihm kam plötzlich seine Angst vor Indien fast lächerlich vor.
Was seine Frage jedoch nicht beantwortete – was sollte er jetzt dazu sagen?
„Du solltest dir unbedingt auch so einen Teddy zum Knuddeln zulegen, Tante Glenn", sagte er. „Mir hilft er sehr."
„Ich dachte du hast Tikki zum Knuddeln", lachte Tante Glenn zwischen Tränen.
„Tikki ist etwas zu zerbrechlich für meine Schlafgewohnheiten", entgegnete Tarsuinn und freute sich über ihr Lachen, weil es ehrlich klang. „Und wenn du schon dabei bist, solltest du Zic und Zac auch je einen kaufen. Oder besser noch – ich mach sie euch zum Weihnachtsgeschenk. Dann muss ich mir keine überlegen. Gibt's die überhaupt passend für Elfen?"
Bei dem Gedanken musste auch Tarsuinn lachen. Zwei Elfen, mit Teddys im Arm, die größer als sie selbst waren, mussten einfach witzig aussehen. Er würde Rica bitten, von dieser Szene einen Kupferstich für ihn anzufertigen. Ob sie das bis zu seinem Geburtstag schaffte?
„Weißt du, dass dieses Plüschtier eigentlich dazu da ist um Babys zu beruhigen und den Eltern ein wenig Schlaf zu schenken?"
„Solang er bei mir funktioniert, ist es mir egal", grinste Tarsuinn. „Sollte es dir auch sein."
„Ich werd's probieren. So – du musst aber langsam zurück, sonst machen sie sich zu viele Gedanken. Wäre nicht gut für dich, wenn man uns zusammen sieht."
„Eine Sache noch, Tante Glenn", hielt er sie zurück. „Sagst du mir, was im Tagespropheten stand?"
„Darauf solltest du keinen Wert legen", entgegnete sie energisch.
„Ich weiß, dass es nicht nett war und sehr einseitig. Ian hat mich vorgewarnt."
„Ian?"
„Ian Fawcett – sein Vater arbeitet beim Propheten."
„Oh, der schreibt die Garten- und Küche-Seite. Ist dieser Ian ein Freund von dir?"
„Keine Ahnung", erwiderte Tarsuinn ein wenig betrübt. „Bis ich ihm erzählte, dass dieses blöde Wilde Talent mich ein wenig – ähem – unberechenbar macht, war er mein Freund. Seitdem aber meidet er mich."
„Das mit deinem Zauberstab hast du aber keinem deiner Freunde erzählt, oder?"
„Winona und Toireasa wissen Bescheid."
„Die beiden Ravenclaw-Mädchen, die immer mit dir zusammen rumhängen?"
„Nein, Toireasa ist in Slytherin. Sie ist das Mädchen, das dir mal Keyx geschickt hat."
„Slytherin?", zweifelte Tante Glenn.
„Du warst doch auch da", lehnte sich Tarsuinn gegen das Misstrauen auf, das er in ihrer Stimme hörte. „Sie ist okay, wirklich."
„Entschuldige", entgegnete sie. „Aber ich hab mich vielleicht ein wenig zu sehr an mich selbst erinnert. Es gibt also unter den Schülern zwei, die es wissen?"
„Na ja – eventuell ahnt Luna Lovegood noch etwas."
„Ach du Schreck. Die Tochter von Herold Lovegood, der keine zwanzig Meilen von hier entfernt wohnt?"
„Ja – aber auch Luna ist okay. Schließlich ist die Geschichte mit dem Großen Einhorn auch nicht im Quibbler gelandet."
Tante Glenn zog erschrocken die Luft tief ein.
„Was ist?", fragte Tarsuinn überrascht. „Das mit dem Großen Einhorn hab ich dir doch geschrieben."
„Nein, das mein ich nicht. Aber du solltest vorsichtiger sein. Dein Wildes Talent ist das eine, es wäre aber überhaupt nicht gut, wenn auch noch deine Verbindung zu den Einhörnern bekannt wird."
„Warum eigentlich? Es müsste doch jedem klar sein. In Lunas Einhornmärchen haben doch die Kinder des Einhorns auch alles zerbrochen."
„Du darfst diese Geschichte nicht als absolute Wahrheit sehen, Tarsuinn", beschwor sie ihn. „Das Wilde Talent tritt auch bei Zauberern auf, die mit vollkommen normalen Zauberstäben agieren können. Der magische Kern muss nur etwas von einem Einhorn enthalten. Meist fällt nicht mal auf, dass sie das Talent haben. Eigentlich tun sie sich nur am Anfang etwas schwer mit zaubern und die ersten Versuche schlagen fehl."
„Warum ist das so?", fragte Tarsuinn interessiert.
„Nun ja, wenn du wirklich von einem Großen Einhorn abstammen solltest, dann liegt das vielleicht daran, dass inzwischen so viele Generationen an Zauberern und Hexen dazwischen liegen. Die meisten sind halt mehr Zauberer als Einhorn. Im Gegensatz zu dir..."
„…und Marie-Ann", ergänzte Tarsuinn flüsternd.
„Wer ist das?", fragte Tante Glenn erstaunt, was wohl daran lag, dass Tarsuinn ihr noch nicht von seinem Erlebnis auf dem Dachboden geschrieben hatte.
„Von ihr ist der Zauberstab und die alte Frau, die ihn deiner Familie zur Aufbewahrung gegeben hat, war ihre Nanny."
Dann erzählte Tarsuinn ihr in kurzen Worten von seiner Erbschaft, wie es dazu gekommen war und zeigte ihr sogar die kleine Erinnerungsscheibe.
„Dumbledore hat Recht. Wenn du das eher gesehen hättest, wären einige Probleme überhaupt nicht aufgetaucht", kommentierte sie, als er geendet hatte. „Halte auch das geheim."
„Das sagt mir aber immer noch nicht, warum es schlecht ist, dass ich meinen Zauberstab besitze und mich mit dem Wilden Talent rumschlagen muss. Ich meine, wenn das wirklich lange her ist, müsste doch fast jeder Einhornblut in sich tragen?"
„Ja, aber dein Zauberstab trägt Einhornblut in sich. Das Blut eines Einhorns zu nehmen ist eine schwere Sünde und niemand wird dir glauben, dass es eine freiwillige Gabe war. Die, welche Angst vor deinem Wilden Talent haben, nennen dich im Moment Bedlam. Das ist nicht nett, aber Maglignusbedlam ist viel schlimmer und dann würde der Tagesprophet nicht über die Verpflichtung zur Einhaltung eines Vertrages schreiben oder über die unvergleichlichen wirtschaftlichen Folgen eines Vertragsbruches, sondern über einen verfluchten Jungen, dessen Schicksal es ist, den Dunklen Lord zu beerben. Da fällt mir ein – nimm unter gar keinen Umständen deinen Zauberstab mit ins Ministerium!"
„Warum? Das hab ich doch schon getan."
„Damals warst du nur ein Muggel und ein Zeuge. Diesmal werden sie dich durchsuchen und deinen Zauberstab überprüfen. Und das wäre nicht so gut, wie ich dir ja schon erklärt habe."
„Soll ich mir vorher einen falschen besorgen?"
„Nein. Sag einfach, du hättest ihn in der Aufregung vergessen. Das glaubt dir jeder und damit ist es gut."
„Aber ohne Zauberstab…!"
„Hab einfach Vertrauen, Tarsuinn."
Sie streichelte sanft seine Wange.
„Ich verspreche dir, ich würde dir selbst bis Indien folgen und dich und deine Schwester da rausholen. Du hast mir bis jetzt vertraut, du kannst es auch in Zukunft."
„Ich versteh nur nicht warum?", flüsterte er leise. „Sind wir wirklich nicht verwandt?"
„Es ist meine Entscheidung, seit ich dich das erste Mal sah", entgegnete sie ähnlich leise.
„Aus Mitleid?"
„Ein wenig, ja – auch wenn dir das nicht gefällt. Aber inzwischen ist es dein unverständliches Vertrauen in mich. Ich will dich unter keinen Umständen enttäuschen."
„Ich hab dich lieb, Tante Glenn", gestand Tarsuinn.
„Ich dich auch", entgegnete sie und umarmte ihn zum wiederholten Mal.
Es war rührselig, aber es war Tarsuinn ernst damit, und wenn er Tante Glenn sagte, dann war es für ihn, als würde er wirklich mit einer Anverwandten reden.
„Ich muss gehen!", beendete Tante Glenn die Umarmung. „Du bist inzwischen extrem überfällig."
„Wenn alles wieder gut ist, kannst du mich im Sommer mal besuchen?", bat Tarsuinn. „Rica würde dich sicher gern mal kennen lernen."
„Wenn es sich einrichten lässt, versprochen. Ich bin selbst auf deine Schwester sehr gespannt. Aber jetzt – auf Wiedersehen."
Tarsuinn spürte einen sanften Kuss auf seiner Stirn und dann verschwand Tante Glenn mit einem lauten Knall.
Sofort fühlte er sich wieder einsam, aber es war nicht mehr so schlimm wie zuvor.
„Weißt du, Tikki?", sagte er sinnend. „Du kannst Menschen viel besser einschätzen als ich, und ich bin froh, dass du mich gedrängt hast, ihr vorbehaltlos zu vertrauen. Auch wenn sie anscheinend einen verfluchten Mörder geheiratet hat."
Tikki schnurrte leise und erst an ihrer Antwort merkte Tarsuinn, dass ihr trotz Kapuze, Schal und Teddy ziemlich kalt war.
„Ein Mörder ist für Menschen das Gleiche, wie eine Königskobra für dich."
Ihr Fauchen wurde lauter – aggressiver.
Sich halb verrenkend hob er Tikki samt Schal aus der Kapuze und steckte sie unter seine Jacke, damit sie es deutlich wärmer hatte.
„Nächstes Mal sagst du früher Bescheid", ermahnte er sie. „Du weißt doch, wie leicht du im Winter krank wirst."
Sie antwortete unter seiner Jacke mit einem Kommentar, der verdächtig nach einem Ja-Ja klang.
„Ähem, Tikki, könntest du wenigstens mal kurz schauen, damit ich weiß, in welche Richtung wir müssen? Ich war irgendwie ein wenig unaufmerksam."
Eine halbe Stunde später stand er dank Tikkis Anweisungen wieder vor der Hütte der Weasleys, welche ihr Zuhause den Fuchsbau nannten. Warum, hatte Tarsuinn bisher nicht herausbekommen.
Als er näher kam, hörte er Mr und Mrs Weasley miteinander reden. Mrs Weasley klang ein wenig aufgelöst, während Mr Weasley sie offensichtlich zu beruhigen suchte.
„Mach dir keine Sorgen, Molly. Ich bin mir sicher, er kommt wieder zurück."
„Aber er ist schon mehr als vier Stunden allein da draußen. Weder die Diggorys, noch Mr Lovegood haben ihn gesehen und als ich versuchte ihn auszupendeln, schwang das Pendel einfach nur zwischen Hogwarts und London hin und her."
„Dumbledore sagt, er kommt sicher zurück. Wir wussten, dass der Junge anders reagiert, als wir es gewohnt sind."
„Du verstehst nicht, Arthur. Er glaubt, dass ich etwas gegen Muggel und damit gegen seine Schwester habe. Dabei habe ich nur etwas Dummes vor mich hingemurmelt, was er eigentlich gar nicht hören sollte. Aber er hat mir keine Zeit gegeben, es zu erklären."
„Er ist halt keines unserer Kinder, Molly. Ihn hast du nicht so gut im Griff."
„Ich hab es gar nicht versucht, so überrascht war ich. Ich meine, er ist so lieb und ruhig und dann plötzlich schreit er mich mit einer Wut an, die ich bei unseren Kindern noch nie gesehen hab."
Tarsuinn reichte es. Er trat an die Tür und trat ohne zu klopfen ein.
„Tschuldigung", murmelte er. „Hab mich ein wenig verlaufen. Ich geh ohne Abendbrot ins Bett."
Dann wollte Tarsuinn zu seinem Kellerzimmer gehen, doch er erreichte nicht die Tür.
„Sofort stehen bleiben, junger Mann!", kommandierte Mrs Weasley und auch wenn sie Autorität ausstrahlen wollte, hörte Tarsuinn deutliche Erleichterung heraus. „Hier herumstromern und dann einfach ohne Waschen und Essen ins Bett wollen? Das kommt mir nicht in den Kessel. Du wirst dich jetzt waschen, dein Schulzeug aufräumen und dann mit uns in Ruhe essen."
Das war ein Ton, den Tarsuinn kannte. Den mochte er zwar nicht, es war aber besser als dieses mitleidtriefende Nettsein.
„Ich brauch zehn Minuten", sagte er emotionslos und kümmerte sich dann erst einmal um Tikki.
Auf dem Weg nach unten hörte er dann noch Mr Weasley murmeln: „Das Kind ist mit keinem der unseren zu vergleichen."
Das konnte Tarsuinn auch nicht ändern, aber er musste zugeben, wie Ginny oder die Zwillingen war er wirklich nicht. Wie die anderen vier Weasley-Kinder waren, konnte er nicht sagen, aber wahrscheinlich nicht viel anders. Das war jedoch nicht sein Problem.
Tarsuinn brachte wenig später das Essen schweigsam hinter sich und ging sehr früh zu Bett. Er war dann zwar schon kurz nach Mitternacht wieder wach, aber so hatte er seine Ruhe, wenn man von einem leisen Schnarchduett und einem Ghul absah, der immer mal an den Rohren rüttelte.
Leise holte er alles hervor, was er glaubte gebrauchen zu können. Seine Schulbücher über Zaubertränke und Verteidigung gegen die Dunklen Künste, sein Buch Für das Auge, das nicht sieht, seine illegalen Mitschriften aus der Bibliothek, Strafarbeiten und Hausaufgaben, sein Reiselabor und alle Zutaten, die er hatte. Einige seltene Zutaten hatte er bei der Arbeit für Professor Snape abgestaubt. Schließlich war nach dem Zuschneiden meist etwas übrig geblieben. Nicht viel, aber immer ein klein wenig. Er hatte das als Bezahlung für seine Arbeitskraft gesehen.
So – und jetzt musste er nur noch etwas daraus machen. Wenn er keinen Zauberstab ins Ministerium mitnehmen konnte, musste er halt sehen, ob er sich anderweitig behelfen konnte. Eine Idee hatte er eh schon länger.
Vorsichtig nahm er eine kleine Feinwaage, prüfte damit die Menge der geklauten Mondsteinstückchen und stellte erfreut fest, dass es für einen Versuch reichte. Dann verbrachte er die Nacht damit, den Trunk des Friedens herzustellen, dessen Rezept er im Buch eines Fünftklässlers gefunden hatte. Es war das Komplizierteste, was er je gebraut hatte, wenn man von dem Stärkungstrank für Rica absah. Vor allem, da der einzige Indikator, ob die Zubereitung gut gegangen war, silberner Dampf darstellte. Das einzige Wesen, das ihm helfen konnte, war Tikki, doch wie sollte ein blinder Junge einem Mungo erklären, wie Silber aussah und was Nebel war? Am Ende hatte er einen Trank, von dem er relativ sicher war, dass er okay war. Leider gab es hier keine Madame Pomfrey und er hatte ein wenig Angst ihn an sich selbst auszuprobieren, da, wenn er zu viel einnahm, die Gefahr bestand, dass er fest und lange schlief. Auf der anderen Seite waren die potenziellen Vorteile, die der Trank bringen konnte, wirklich überzeugend. Dämpfe von Angst und Aufgeregtheit waren genau das, was er vor Gericht nicht brauchen konnte. Er hatte zwar noch Rezepte von anderen Tränken, die Gefühle beeinflussten, aber die waren in der Regel extremer in der Wirkung und ihm damit nicht ganz geheuer. Trotzdem stellte er auch davon ein paar Portionen her, bevor die Weasleys wach wurden.
Beim Frühstück taten die beiden Erwachsenen so, als hätte es den gestrigen Tag nicht gegeben. Mr Weasley erzählte von einem magischen Teeservice, das durch eine Erbschaft in die Hände einer normalen Familie geraten war und als diese zu Großmutters Gedenken aus den Tassen trinken wollte, hatten alle angefangen, Walzer zu tanzen und im Takt zu rülpsen. Das magische Unfallkommando und Mr Weasley hatten erst mal laut lachen müssen, als sie dort eingreifen wollten. Vor allem da sich herausstellte, dass die tote Oma dieses Teeservice absichtlich vererbt hatte, weil ihre Enkel so furchtbar gierige Spießer gewesen waren, die sich erst an sie erinnert hatten, als ihr Tod absehbar wurde. Tarsuinn fand das furchtbar komisch und konnte sich ein halbes Lächeln nicht verkneifen. Nicht, weil eine Hexe Muggel geärgert hatte, sondern weil eine alte Frau ihren undankbaren Enkeln noch eine Lektion in Sachen Menschlichkeit erteilt hatte. Das fand Tarsuinn cool.
Danach musste Mr Weasley leider zur Arbeit und wieder waren nur er, Tikki und Mrs Weasley im Haus. Doch diesmal ließ ihn die Frau vollkommen in Ruhe und hatte auch im Griff, was sie murmelte. Gegen Mittag hörte dann Tarsuinn einen Apparierknall im Garten vor dem Haus und wenige Sekunden später klopfte es.
„Öffnest du bitte, Tarsuinn?", rief Mrs Weasley, die gerade Teig für Pasteten knetete.
„Ja", entgegnete Tarsuinn und hoffte, der Besucher hätte etwas Geduld mit ihm.
Langsam öffnete er die Tür.
„Guten Tag, Tarsuinn", begrüßte ihn Gloria Kondagions weiche Stimme und beinahe hätte Tarsuinn ihr die Tür vor der Nase zugeknallt. Nur mühsam widerstand er diesem Drang, schließlich hatte die Frau ja auch angekündigt, dass sie vor der Anhörung mit ihm reden wollte. Aber eine freundliche Begrüßung…?
„Ich muss erst fragen, ob Sie hier herein dürfen", sagte Tarsuinn und wollte so etwas Zeit schinden. Leider war Mrs Weasley zu neugierig und kam jetzt doch selbst zur Tür.
„Ja?", fragte sie freundlich.
„Guten Tag, Mrs Weasley", grüßte Kondagion freundlich. „Ich bin Gloria Kondagion und vertrete Tarsuinn und Rica McNamara bei der Anhörung vor dem Zaubergamot. Darf ich eintreten?"
„Aber natürlich, Mrs Kondagion", erwiderte Mrs Weasley herzlich. „Kommen Sie doch herein. Wir hatten mit Ihnen erst in ein paar Tagen gerechnet."
„Es ergab sich gerade passend."
Gloria Kondagion trat ein. Tarsuinn machte sich nicht die Mühe, ihr die Hand entgegen zu strecken.
Da die Frau wusste, dass er blind war, konnte er das tun, ohne dass sofort Absicht unterstellt werden konnte.
„Sie wollen sicher Tarsuinn allein sprechen?", fuhr Mrs Weasley fort. „Sie können die Wohnstube nutzen. Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Limonade? Tarsuinn, räum schon mal deine Aufgaben weg."
Er ging wortlos voraus und nutzte die Zeit, um sich auf Kondagions Anwesenheit einzustellen.
„Ein Schwarzer Tee wäre sehr nett", erwiderte die Besucherin freundlich. „Und wenn Sie eine Kleinigkeit zu essen hätten…? Ich hab heute keine Zeit zum Mittagessen."
„Wir wollten bald essen, Sie sind herzlich eingeladen", erwiderte Mrs Weasley. „Das macht keine Umstände und es ist genug für alle da."
„Aber nur, wenn es wirklich keine Umstände macht."
Tarsuinn gab sich Mühe, die Augen zu verdrehen und räumte vorsichtig den mit Papier und Büchern bedeckten Tisch leer. Dann setzte er sich.
Gloria Kondagion nahm ihm gegenüber Platz.
„Wie ich sehe, hat man dich gut mit Schularbeiten eingedeckt", bemerkte Kondagion. „Interessanter oder normaler Schulstoff?"
„Gemischt", entgegnete Tarsuinn kurz angebunden. Ständig versuchte er Falschheit in der Stimme dieser Frau zu finden oder zumindest einen Hauch der Arroganz, die sie damals in Tante Glenns Laden ausgestrahlt hatte. Doch da war nichts.
„Was sind denn deine Lieblingsfächer?"
„Im Moment Dunkle Künste und Zauberkunst."
„Nicht Zaubertränke?", fragte Kondagion erstaunt. „In deiner Schulakte steht, du wärst leicht unterfordert."
„Sie haben gefragt, welche Fächer mir gefallen, nicht in welchen ich gut bin", sah er sich zu seiner bis dahin längsten Antwort genötigt. Im Grunde war es zwar eine Lüge, denn er mochte es wirklich Zaubertränke zu brauen, aber Snape vergällte ihm die Freude am Unterricht doch etwas.
„Das hab ich, du hast Recht", gestand sie ihm zu. „Aber ich hab das Gefühl, du kannst mich noch immer nicht sonderlich leiden. Also lasse ich dich mit solchen Fragen in Ruhe. Bereit für das Geschäftliche?"
Er nickte betont deutlich.
„Gut. Wie du ja weißt, haben wir rechtlich eigentlich keine Handhabe. Was wir unbedingt hinbekommen müssen ist, dass der Zaubergamot den menschlichen Aspekt sieht und den Auslieferungsvertrag in Frage stellt. Genau das weiß aber auch die Gegenseite und sie werden deshalb versuchen, dich und deine Schwester mit möglichst viel Dreck zu bewerfen. Ich habe jetzt schon mit deiner Schwester alles besprochen, was in dieser Beziehung auf uns zukommen könnte, was die Vergangenheit außerhalb Englands angeht, und ich denke, das bekommen wir eventuell hin. Problematischer wird jedoch dein Wildes Talent und was um dich herum in deiner Schulzeit passiert ist. Es ist sicher, dass sie versuchen werden, dies gegen dich zu verwenden. Deshalb musst du mir alles sagen, was uns vor dem Zaubergamot Probleme bereiten könnte. Gibt es Lehrer, die dich hassen? Schüler, die irgendwelche negativen Sachen erzählen könnten? Hat irgendwer mal gesehen, wie du die Beherrschung verloren hast? Gegen welche Schulregeln hast du verstoßen? Egal, ob man dich erwischt hat oder nicht! Solche Dinge eben. Ich mag es überhaupt nicht, wenn mich der gegnerische Anwalt mit Sachen konfrontiert, die ich hätte vorher wissen müssen. Der Sachverhalt ist zu knifflig für solche Überraschungen."
„Ich dachte, der Sachverhalt läge eigentlich ganz eindeutig?", fragte Tarsuinn sarkastisch.
„Dafür machen die Inder viel zu viel Druck auf allen Ebenen", schockte ihn Kondagion mit einem plötzlich äußerst ernsten Tonfall. „Es gab einige sehr direkte Gespräche mit Mitgliedern des Zaubergamots und auch der Tagesprophet macht Stimmung gegen euch. Ich weiß, du darfst hier leider keine Briefe empfangen, aber ich darf dir alles sagen, was ich will. Eines der Hauptargumente des Propheten ist ein drohendes Handelsembargo von Seiten der Inder. Hast du eine Ahnung, was das bedeuten könnte?"
Tarsuinn schüttelte betreten den Kopf.
„Wenn man das Handelsvolumen an sich sieht, klingt das gar nicht so schlimm. Das Problem ist jedoch, dass viele – oder besser gesagt, sehr viele – exotische Zaubertrankzutaten aus Indien kommen und recht wichtig geworden sind. Einige der besten Heiltränke, –salben und Gegengifte benötigen zwingend Zutaten, die es nur in Indien gibt. Dazu kommen noch einige Luxusartikel, Materialien für die Zauberforschung, Gewürze, Stoffe und vieles weiter. Im Grunde kann man ohne diese Dinge leben, aber nur die wenigsten werden gern darauf verzichten und man kann schön Horrorszenarien daraus konstruieren, indem man sich einige Extremfälle herauspickt."
„Wie zum Beispiel?"
„Nun, im heutigen Tagespropheten wurde vor der nordeuropäischen Naga superstitio gewarnt und erklärt, dass man deren Gift nur mit einer Melange aus Disteln, Quecksilber und Induspiper neutralisieren kann. Dann wurde ein längerer Absatz dem Induspiper gewidmet und wie aufwändig der Import aus Indien ist und dass dieser nur dort wächst."
„Was ist daran konstruiert?", fragte Tarsuinn, der sich nun zum ersten Mal Sorgen um die Auswirkungen machte, falls zu seinen Gunsten entschieden wurde. Er hörte, wie Tikki bei der Erwähnung einer Schlange neugierig näher kam.
„Nun – es gibt in England keine dieser Giftschlangen. Das wird in dem Artikel jedoch an keiner Stelle erwähnt. Und das ist nur ein subtiles Beispiel. Einige Leserbriefe zu diesen Themen sind offensichtlich gestellt, aber es gibt auch einige Beiträge, wo sich einfache Leute ernsthaft Sorgen machen. Andere – die für eure Seite Partei ergreifen – sind selten und manchmal von Spinnern geschrieben, sodass sie eher schädlich sind. Meiner Meinung nach bedeutet dies, dass der Tagesprophet so berichtet, wie das Ministerium es sich wünscht. Ich selbst habe einige vernünftige Briefe erhalten, die nichts mit dem Stuss im Propheten gemein hatten."
„Haben Sie auch negative Briefe erhalten?", fragte Tarsuinn leise. Tikki sprang auf seinen Schoß und gab ihm ein wenig Ruhe für seine Gedanken, die schon wieder anfingen, in Panik zu rasen.
„Einige, aber die haben sich eher auf mich bezogen. Dir und deiner Schwester kann man eigentlich keinen Vorwurf machen, aber mir hält man einiges vor. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Ich hab gewusst, auf was ich mich einlasse. Ich wäre dir nur sehr dankbar, wenn du mich jetzt nicht im Regen stehen lässt. Einverstanden? Ich tu alles, um eure Auslieferung zu verhindern, und du sorgst im Gegenzug dafür, dass mir meine Karriere und mein Broterwerb erhalten bleiben."
„Ich werd mich bemühen", versprach Tarsuinn.
„Hab keine Angst", beruhigte Kondagion ihn. „Ich werde nichts von dem weitergeben, was du hier erzählst. Ich bin durch meinen Eid dazu verpflichtet. Du kannst mir also die ganzen Sachen beichten, die du in der Schule angestellt hast. Kein Lehrer wird es erfahren, es sei denn, der gegnerische Anwalt bringt es zur Sprache. Doch dann wäre ich darauf vorbereitet."
Langsam nickte Tarsuinn, dann beugte er sich ganz tief zu Tikkis Kopf und flüsterte: „Unterbrich mich, wenn ich etwas Falsches sage."
Danach erzählte er Kondagion von seinen Schulsünden, ließ aber alles Wichtige weg, wo er sich auf die Verschwiegenheit der Beteiligten verlassen konnte und die ihm zu wichtig waren. Für die allgemein bekannten Besuche auf der Krankenstation, dachte er sich halbwahre Geschichten aus. So erfuhr Kondagion nur von seiner langen Zeit im Regen, dem Unfall mit dem Einhorn, dem zerfetzten Buch Professor Snapes und den Auseinandersetzungen mit den Slytherins. Bei der Erwähnung der Geschehnisse im Krankenhaus (verschweigen konnte er die nicht), stolperte er ein wenig in seiner Erzählung, weil ihm plötzlich bewusst wurde, dass er nicht die Geschichte kannte, die Professor Dumbledore dem Ministerium erzählt hatte und er ja versprochen hatte, niemandem die Wahrheit zu berichten. Am Ende tat er so, als hätte er nicht gewusst, weshalb man Rica hatte entführen wollen, verwies aber auf etwas, dass ihm Toireasa erzählt hatte. Nämlich, das die eine Hexe sehr ausländisch ausgesehen hätte.
Tarsuinn war sich durchaus bewusst, wie viele potenzielle Desaster er Kondagion aufs Auge drückte, indem er von den wichtigen Sachen nichts erzählte. Im Grunde war dies ein großes Risiko, denn bei den meisten Ereignissen waren nicht nur Toireasa, Winona und Professor Dumbledore dabei gewesen und er hatte keine Ahnung, was zum Beispiel McGonagall erzählen oder ob man Hagrid ausfragen würde. Doch er wollte einfach nicht zu viel von sich preisgeben, weil er der Frau immer noch nicht traute.
Trotzdem kam einiges Berichtenswertes zusammen und so füllte Tarsuinn eine gute Weile mit Erzählungen über seine verwerflichen Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Schule.
„War das jetzt alles?", fragte Kondagion, nachdem er geendet hatte, angemessen erstaunt. „Wie kommst du überhaupt noch zum Lernen?"
„Ich spar mir das Schlafen", erwiderte Tarsuinn – ein klein wenig stolz.
„Nun dann…"
„Entschuldigen Sie!", unterbrach Mrs Weasley und öffnete erst danach die Tür. „Aber könnten Sie eventuell eine Pause machen? Mein Mann wird gleich da sein und wir könnten dann essen."
„Das passt sehr gut, Mrs Weasley", entgegnete Kondagion. „Wir sind gerade fertig geworden. Kann ich beim Tischdecken helfen?"
Tarsuinn runzelte misstrauisch die Stirn. Zunächst einmal war da das unglaublich passende Timing von Mrs Weasley und dann das unpassende Hilfsangebot von Kondagion.
Zumindest war Tarsuinn so ein wenig allein und dies nutzte er, um sich zu Tikki zu beugen.
„Ich brauch deine Meinung über diese Frau", flüsterte er verunsichert. „Sie wirkt so – anständig."
Doch Tikki war in ihrer Meinung über diese Frau um keine Pfotenbreite abgerückt.
Kurz darauf erschien Mr Weasley mit einem Knall mitten im Zimmer und es wurde zu Mittag gegessen. Tarsuinn überließ den Erwachsenen das Tischgespräch und hing lieber seinen Gedanken nach.
Am Ende fragte auch noch Kondagion nach dem Rezept für das leckere Irish Stew, was bei Tarsuinn erneut den Versuch auslöste, die Augen zu verdrehen. Nach seinem Geschmack hatte Minze nichts im Essen zu suchen und er hatte das Zeug nur gegessen, weil er prinzipiell alles ohne Murren aß, was genießbar war. Und seine Toleranzgrenze war in dieser Beziehung sehr weit gefasst.
Nachdem Kondagion das Rezept von einer sehr stolzen Mrs Weasley erhalten hatte, machte diese sich wieder auf den Weg. Nicht, ohne zuvor noch eine Mahnung an Tarsuinn gerichtet zu haben.
„Ich soll dir von Professor Dumbledore ausrichten, dass du nicht nur die Fächer, die du magst, abarbeiten sollst."
„Ich denk dran", versprach er und rang sich zu einem weiteren Zugeständnis durch. „Vielen Dank und auf Wiedersehen."
„Mach dir keine Sorgen, Tarsuinn", entgegnete Kondagion aufbauend. „Wir werden das schon schaffen."
Dann disapparierte sie und Tarsuinn atmete erleichtert auf. Er wandte sich an Mrs Weasley.
„Sagen Sie bitte Professor Dumbledore, was ich Mrs. Kondagion gesagt habe, oder muss ich einen eigenen Weg suchen, ihm alles zu sagen?"
„Das ist nicht nötig", entgegnete erstaunlicherweise Mr Weasley. „Professor Dumbledore meinte, wir sollten uns darüber keine Sorgen machen. Wir mussten ihn nur informieren, wenn Mrs Kondagion oder jemand vom Ministerium dich aufsucht."
„Wie?", dachte Tarsuinn laut nach, doch dann wurde ihm das wie klar und seine Finger fühlten die Stelle unter seinem Shirt, wo der kleine Stein ruhte, der Dumbledore alarmierte, wenn sich Tarsuinn ein Dementor näherte.
Ab jetzt immer dran denken, mahnte er sich selbst im Gedanken. Du wirst abgehört, Tarsuinn.
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