- Kapitel 19 -

Allein, ohne Tarsuinn

„Ich wünschte, die würden aufhören so blöd zu kichern", beschwerte sich Winona. „Ansonsten vergesse ich meine gute Kinderstube."

„Ganz davon abgesehen, dass du da nichts zu vergessen hast, wäre es im Mument schön blöd", entgegnete Toireasa leise.

„Denkst du, das weiß ich nicht?", fluchte das andere Mädchen. „Aber diese aufgeblasenen, widerlichen…"

„Ruhig. Willst du, dass Snape dich hört?"

„Ach, der kann mich mal."

„Wenn du so weiter machst, schaffst du es im Alleingang, euren Punktevorsprung aufzubrauchen."

„Wär mir egal."

„Komm schon, das macht es nicht besser."

„Aber schau sie dir doch an", zischte Winona hinter vorgehaltener Hand. „Wie sie sich amüsieren und freuen."

„Ich seh nur ein paar dumme Kinder, die dich provozieren wollen."

Toireasa schaute kurz zu Regina, ihrem Bruder, Vivian und den anderen hinüber. Sie musste zugeben, auch sie litt unter dem Vergnügen der Slytherins. Und das alles wegen dem Tagespropheten und diesem Mr Ciffer, der hier Interviews mit einigen Schülern geführt hatte. Auch Toireasa hatte mit diesem Mann sprechen müssen und konnte von sich behaupten, absolut unkooperativ gewesen zu sein.

Was natürlich nicht auf Regina, Aidan, Leraux und Vivian zutraf. Vor allem diese vier hatten sich ein großes Vergnügen daraus gemacht, haarklein alles zu erzählen was sie wussten und was sie gehört hatten. Und natürlich beließen sie es nicht dabei und rieben es Toireasa und Winona, wann immer es ging, unter die Nase.

Selbst jetzt, wo Toireasa und Winona einfach nur ein wenig im leeren Quidditch-Stadion mit ihren Besen fliegen wollten, hingen die anderen Slytherins herum und winkten mit der Zeitung, deuteten lachend auf sie und schienen allgemein bester Laune.

„Wenn Professor Lupin nur nicht Urlaub genommen hätte, um Tarsuinn wegzubringen", murmelte Winona und stieg auf ihren Nimbus 2000. „Noch zwei Stunden Snape in Dunkle Künste und ich braue ein Abführmittel für ihn."

„Was ihn wahrscheinlich umbringen würde."

„Woher willst du wissen, dass ich das nicht beabsichtige?", meinte Winona kalt und stieß sich nach oben ab. „Fang mich!"

Toireasa folgte auf ihrem Sauberwisch. Sie spielten dieses Spiel nicht zum ersten Mal. Einer haute ab und der andere versuchte ihn mit einem Gummiball zu erwischen. Normalerweise war das Spaß, doch heute flogen sie beide so aggressiv, dass es fast gefährlich war. Winona hatte den schnelleren und besseren Besen, Toireasa den stabileren und war die bessere Fliegerin. Somit verlief das Spiel recht ausgeglichen. Es machte nur keinen Spaß und so hörten sie recht bald damit auf. Im stillen Einverständnis flogen sie direkt zum Schloss und ersparten sich so, in die Rufnähe von Regina und Konsorten zu kommen.

„Wir brauchen einen Ort, an dem wir mal allein reden können, ohne dass die uns immer gleich auf die Pelle rücken", sagte Toireasa. „Wie wäre es mit…"

Der Schrei eines Adlers war zu hören und ein kleiner Sack fiel in Winonas Hände. Erstaunt schauten sie sich kurz an, dann plötzlich grinste das Ravenclaw-Mädchen und legte ihren Kopf in den Nacken.

„Oh Herrscher der Lüfte, Wächter und Beschützer des Landes, höre meine Bitte und komme herunter zu mir", sagte Winona getragen. Dann nahm sie schnell ihren Umhang von den Schultern, winkelte diesen um ihren Arm und streckte diesen dann aus.

Augenblicke später schwebte ein großer Adler heran und landete auf Winonas geschütztem Arm. Bewundernd betrachtete Toireasa das Tier.

„Ich fühle mich geehrt von deiner Entscheidung meiner Bitte zu folgen. Bitte erlaube mir, mit dir ein Mahl zu teilen. Du musst hungrig sein von der langen Reise und halb erfroren. Lass uns zusammen Ruhen und die Nacht damit verbringen das Leben zu feiern. Die Nacht gehört den Eisgeistern und wir sollten ihre Herrschaft nicht herausfordern."

Der Adler neigte leicht den Kopf.

„Sei meines Dankes gewiss", versicherte Winona.

Toireasa staunte währenddessen die ganze Zeit den Adler an. Ein stolzes Wesen, aber auch irgendwie ein wenig arrogant und es schien sich in Winonas Worten fast zu sonnen. Toireasa wollte das schimmernde Federkleid berühren, doch der warnende Blick ihrer Freundin ließ sie verharren.

„Dies ist meine Jagdgefährtin Toireasa. Die Schärfe ihrer Augen mag nicht den deinen gleichen und ihr Leben gehört einem anderen, aber ihr Geist ist gut und sie liebt alle Wesen auf der Erde und achtet sie."

Der Adler schaute Toireasa einen Mument fest in die Augen, dann neigte er wieder langsam sein Haupt.

„Sehr gut", kommentierte Winona. „Pass auf, Toireasa. Ich bring unseren Freund hier rauf in unseren Turm und du besorgst ein halbes Kilo rohes Fleisch. Am besten Kaninchen. Dann treffen wir uns wieder und ich erkläre dir alles, okay?"

Toireasa nickte und machte sich auf den Weg.

Das Fleisch überließ ihr Hagrid, der es eigentlich für Seidenschnabel besorgt hatte. Es machte Toireasa krank, den Hippogreif so in der Hütte dahin trauern zu sehen und der Wildhüter war auch nicht sonderlich gut drauf. Aber Hagrid lehnte wie immer jede Hilfe von ihr ab, als sie diese anbot.

Zehn Minuten später traf sie sich mit Winona, die noch einmal kurz im Ravenclaw-Turm verschwand, um das Fleisch ihrem Gast zu geben. Dann zogen sie sich in die Bibliothek zurück. Hier konnte man leise miteinander reden und niemand wagte es, laut über einen zu lachen oder zu lästern.

„Also, was hast du mit dem Adler vor?", fragte Toireasa. „Und muss man mit ihnen so seltsam reden?"

„Erstens will ich mit ihm Tarsuinn eine Botschaft schicken. Das Ministerium ist sicher nicht auf Adler vorbereitet und dieser kann sich außerdem fast unsichtbar machen, indem sein unteres Federkleid den Himmel über ihm farblich nachahmt.

Zweitens – ich red nicht seltsam mit dem Adler, sondern so wie es angemessen ist. Ich hätte ihm auch befehlen können, aber so ist es besser."

„Ich wusste gar nicht, dass du so gut mit Tieren umgehen kannst", stellte Toireasa bewundernd fest.

„Kann ich auch nicht", grinste Winona. „Ich hab nur mit den Geistern gesprochen und das geht nur bei ganz wenigen Tieren einer Art. Ein normaler Adler hätte wahrscheinlich versucht mir nen Auge auszuhacken."

„Das mit den Geistern ist eine Sache, die mit deinen Großeltern zu tun hat, oder?"

„Nein! Das hat mir alles meine Mum beigebracht. Der Tradition wegen und weil es wichtig ist zu wissen, woher man kommt."

„Ich dachte, du magst diesen Indianerkram nicht sonderlich", staunte Toireasa ein wenig.

„Na ja, ich wollt als normal in Hogwarts gelten", gestand Winona geheimnisvoll lächelnd. „Aber eigentlich find ich es cool, was Besonderes zu sein. Allein die Art Magie zu wirken…"

„Ja?", fragte Toireasa neugierig.

„Zeig ich dir, falls es sich mal ergibt. Aber um zu dem Adler zurückzukommen, dadurch dass ich so höflich war, hat er den Befehl meiner Großeltern ignoriert, gleich wieder zurückzufliegen und wir können seine Dienste in Anspruch nehmen."

„Du denkst wirklich, er kommt an den Ministeriumsleuten vorbei?"

„Wenn ein Posttier, dann er."

„Aber wenn das Ministerium ihn abfängt, dann bekommen wir Ärger. Du weißt doch noch was die beim zuletzt zurückgekommenen Brief geschrieben haben?"

Bitte hören Sie mit diesen fortgesetzten Versuchen auf, Kontakt mit Mr McNamara aufzunehmen…blah-blah-blah. Ich hab's nicht vergessen."

„Und du denkst, dass Tarsuinn Aufmunterung von unserer Seite wirklich so dringend nötig hat? Ich meine, wahrscheinlich geht es ihm bei den Weasleys besser als hier. Und wir haben doch eigentlich nichts, womit wir ihn aufmuntern können. Oder fällt dir eine gute Nachricht ein?"

„Eine Nachricht ist besser als gar keine."

„Aber was schreiben?"

„Sei nicht so negativ. Uns fällt sicher was ein."

„Na, dann fang doch an", zwinkerte Toireasa lächelnd. „Pergament und Feder hast du ja."

„Überhaupt kein Problem", sagte Winona und rückte überlegen alles zurecht. „Dann kommt aber deine Unterschrift nicht mit drunter."

Fünf Minuten später war Toireasas Lächeln zu einem breiten Grinsen angewachsen.

„Unter: Lieber Tarsuinn, sieht meine Unterschrift eh nicht sonderlich gut aus."

Gefrustet knallte Winona die Feder aufs Papier und zu den zwei bisher geschriebenen Worten gesellten sich einige Tintenkleckse.

„Ach, hilf mir, verdammt!", sagte Winona frustriert und so laut, dass Madame Pince tadelnd zu ihnen herüberschaute.

„Ich glaub nicht, dass wir was Passendes geschrieben bekommen", entgegnete Toireasa ehrlich. „Vielleicht sollten wir einfach was anderes schicken."

„Ich hab leider keinen Tarnumhang oder einen Dschinn in meiner Kiste. Ansonsten wär die Idee gut."

„Na ja – ich hab mit dem Gedanken gespielt, ihm mein Weihnachtsgeschenk früher zu schicken", meinte Toireasa.

„Auf keinen Fall!", schnappte Winona laut und wurde dann sofort wieder leise. „Wie sieht denn das aus. Erstens hab ich selbst noch kein Geschenk für ihn und zweitens denkt er dann vielleicht, wir rechnen nicht mehr damit, ihn wiederzusehen."

„Dann hab ich nur noch eine weitere Idee und das wird ihm wahrscheinlich viel mehr helfen als jeder Brief oder jedes Geschenk von uns."

„Und das wäre?"

„Wir bitten den Adler darum einen Brief von Rica zu Tarsuinn zu bringen."

Für einen Mument starrte Winona sie nur mit offenem Mund an.

„Und diese Erkenntnis konntest du nicht vor zehn Minuten haben? Bevor ich mich vor dir zum Zauberdrops gemacht habe!"

„Ist mir eben erst eingefallen", behauptete Toireasa.

Winona sah sie nur zweifelnd an.

„Echt!", versicherte sie deshalb noch einmal. „Ich würde doch nie…"

„Ja, klar. Und Drachen sind perfekte Babysitter", unterbrach Winona leicht angewidert.

„Für ihre eigene Art schon", erklärte Toireasa amüsiert.

„Slytherin haben doofe Ohren", meckerte Winona, musste aber auch kurz lächeln. „Und dem kannst du nicht widersprechen."

„Deswegen trage ich ja die Haare drüber", tat Toireasa überlegen. „Nun ärgere dich nicht weiter, dass nicht die Ravenclaw die Idee hatte, immerhin stellst du die Transportmöglichkeit zur Verfügung."

„Ich gesteh ja meine Niederlage ein, aber ein paar Zeilen können wir ja trotzdem dazu schreiben, oder?"

„Natürlich", stimmte Toireasa zu und gemeinsam schrieben sie noch einen Brief, der vor Optimismus nur so strotzte.

„Das kauft Tarsuinn uns niemals ab", war Winonas abschließender Kommentar, doch es war das Richtige für ihn, da war sich Toireasa sicher.

„Hast du Bock auf Hausaufgaben?", fragte Toireasa und schaute recht unschlüssig auf ihre eigenen Hände.

„Kein Stück", entgegnete Winona. „Den Kram für Kräuterkunde können wir morgen früh machen oder halt nicht. Professor Sprout wird uns schon nicht den Kopf abreißen."

„Dir nicht, aber mir", entgegnete Toireasa bedauernd. „Meine letzte Hausaufgabe hat sie mit wirklich furchtbar kommentiert."

„Dann hab ich einen Vorschlag", zwinkerte Winona überlegen. „Ich mach Kräuterkunde und du dafür Geschichte der Zauberei."

„Ein mieser Tausch", kommentierte Toireasa und fletschte die Zähne. Normalerweise war Geschichte Tarsuinns Aufgabe, der ja auch Spaß an dem Fach hatte.

„Nicht für mich", feixte Winona.

„Ich hab nen Gegenvorschlag. Ich mach Geschichte und Zauberkunst. Du machst Kräuterkunde und sagst mir, was dir der Adler gebracht hat."

„Ha – und du kommst ungeschoren davon? Keine Chance! Nur wenn du mir sagst, wie die Ergebnisse des Schriftvergleichs waren. Mum und Dad wollten nicht damit rausrücken, aber ich weiß, dass du die heute Morgen bekommen hast."

„Ich dachte, sie hätten es dir auch geschrieben", meinte Toireasa ehrlich.

„Nein. So was nehmen sie verdammt ernst. Sie haben für dich die Analyse machen lassen, also bekommst auch nur du die Antwort."

„Sie haben mir gar nicht geschrieben, was es gekostet hat", fiel Toireasa in diesem Mument siedend heiß ein.

„Kein Geld", beruhigte Winona sofort. „Sie haben einen Gefallen eingefordert und jetzt schuldest du ihnen einen. So einfach ist das."

„Wenn sie das so sehen."

„Vater sagt, Beziehungen sind das halbe Leben und neunzig Prozent der Polizeiarbeit."

„Na, dann ist ja gut", kommentierte Toireasa und fühlte sich trotzdem nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken.

„Und was ist mit unserem Deal?", fragte Winona.

„Geht klar. Ich hab mich eh schon gewundert, warum du nichts sagst."

„Dann fängst du an. Was haben Mum und Dad rausgefunden?"

Langsam holte Toireasa den Brief heraus, den sie am Morgen erhalten hatte.

...die Schriftanalyse hat eine 76-prozentige Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung ergeben. Beide Proben sind definitiv handgeschrieben, wenn auch mit unterschiedlicher Tinte. Die relativ hohe Abweichung kann damit erklärt werden, dass die erste Schriftprobe in einem relativ jungen Alter geschrieben wurde und sich die Handschrift in zehn Jahren durchaus noch ändert. Natürlich könnte auch ein gewiefter Fälscher dies in Betracht ziehen.

Es tut uns Leid, Toireasa. Aber im Grunde sagt dieses Ergebnis nichts aus. Es kann eine Fälschung sein, muss aber nicht.

„Das hilft nicht sonderlich weiter", murmelte Winona ernst.

„Genau", sagte Toireasa frustriert. „Wir stehen wieder am Anfang."

„Na, so wild ist es auch nicht", sprach Winona ihr Mut zu. „Wir haben eine Möglichkeit geprüft, jetzt sollten wir die nächste in Angriff nehmen."

„Und was fällt dir da ein?", fragte Toireasa.

„Wir sollten dem Briefeschreiber eine Falle stellen", schlug Winona sofort vor. Anscheinend hatte sie schon länger daran gedacht.

„Und wie?", entgegnete Toireasa. „Falls es meine Mutter ist, bringen wir sie doch damit in Gefahr."

„Keine Ahnung. Noch nicht. Ist dir denn was zu dem Schlüssel eingefallen?"

„Nicht unbedingt", brummte Toireasa und schaute betreten auf den Brief, den sie schon viel zu gut kannte. Das war viel zu auffällig, um jemanden wie Winona zu täuschen.

„Aber…?", drängte das Mädchen Toireasa zum Weitersprechen. Toireasa war es nicht sonderlich angenehm, denn es schien ihr, als würde sie den einzigen privaten Moment mit ihrer Mutter aufgeben, doch dann dachte sie an die Zeit, als Winona, Tarsuinn und sie sich nur angeschwiegen hatten und die wollte sie nicht zurück. Also erzählte sie leise, was Tikki ihr in der Kristallkugel gezeigt hatte. Am Ende starrte Winona eine Weile fest in Toireasas Augen und dann fing das Ravenclaw-Mädchen laut zu lachen an und schien einfach nicht aufhören zu können. Es dauerte keine fünf Sekunden und Madame Pince stand mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihnen und schaute mörderisch auf Winona hinunter, die inzwischen mit den Lachtränen kämpfte, abwehrend mit einer Hand wedelte und versuchte, mit der anderen, alles in die Tasche zu stopfen.

Dann stand Winona auf und zog eine recht perplexe und leicht verletzte Toireasa mit aus der Bibliothek.

„Was ist daran so lustig?", wollte Toireasa wissen, sobald sie in einem leeren Gang waren.

Winona, die noch immer von heftigen Kicheranfällen geplagt wurde, japste nach Luft.

„Tut mir Leid", presste sie zwischen dem Luftholen hervor. „Aber ist dir eigentlich klar was passiert, wenn wir das Tarsuinn erzählen?"

„Er wird es interessant finden. Und?"

„Ich meine nicht deine Mutter!", korrigierte Winona und schüttelte sich erneut.

„Was sonst…?", fragte Toireasa und begann langsam an ihrer Freundin zu zweifeln.

„Nun stell dir mal vor, was Tarsuinn für ein Gesicht macht, wenn er erfährt, wem er wirklich seinen Wahrsageunterricht verdankt."

„Daran hab ich auch schon gedacht", gestand Toireasa und musste jetzt auch schmunzeln. „Aber deshalb so durchzudrehen?"

„Du hast einfach keine Fantasie", warf Winona ihr vor, beruhigte sich aber endlich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Oder warst durch das abgelenkt, was du gesehen hast. Zumindest weißt du jetzt wofür der Schlüssel ist."

„Es war viel schöner meine Mutter zu sehen", flüsterte Toireasa traurig. „Oma und Opa haben mir zwar Bilder von ihr gezeigt, aber das in der Kristallkugel war viel echter. So als würde man jemanden sehen, der noch lebt."

„Heh!", und jetzt schaute Winona vollkommen ernst und berührte sie tröstend an der Hand. „Sieh es als Geschenk und als Chance für dich. Tikki hätte ihr Geheimnis nicht mit dir geteilt, wenn es unwichtig wäre."

„Ich weiß ja", versuchte Toireasa sich in etwas positiverer Stimmung. „Aber denkst du, wir sollten Tikki wirklich vor Tarsuinn bloßstellen?"

„Das sollten wir davon abhängig machen, wer von den beiden uns am meisten ärgert, sobald sie wieder da sind", lächelte Winona aufmunternd. „Komm, wir suchen uns einen stillen Platz und ich les dir die Briefe meiner Brüder vor."

Wieder machten sie sich auf die Suche nach einer ruhigen Ecke und wenig später saßen sie in einem ruhigen Gang auf einem Fenstersims. Winona hatte zwei Bündel hervorgeholt, die aus vielen verschiedenfarbigen Schnüren bestanden, die auch noch Knoten an unterschiedlichen Stellen aufwiesen.

„Der hier ist von Melvyn, meinem ältesten Bruder", sagte Winona und betrachtete aufmerksam das Bündel von allen Seiten und nahm dann ein weißes Bändchen in die Hand. Danach glitten die einzelnen Schnüre, eine nach der anderen, durch ihre Finger.

Liebes Schwesterchen,

Was soll ich nur schreiben? Am besten beginne ich mit Oma, bevor Ciaran mich schlägt und ich eines meiner neun Katzenleben verliere.

Opa und Oma lassen Dich durch uns grüßen.

Deinen Brüdern hier geht es sehr gut.

Das glaubst Du kaum, aber es ist wahr. Wir sind niemandem begegnet, dem es schlecht geht. Mensch und Tier leben miteinander im Einklang.

Man fühlt sich hier wie im Paradies. Warum nur gibt es das nicht Zuhause? Wäre einfach toll, wenn Ihr uns mal besuchen könntet. Es ist mir bewusst, noch geht das nicht. Jedoch in weniger als nun zwölf Tagen beginnt hier etwas, das man die großen Monate der Beratung nennt und in diesen Tagen berät man, ob eine Gesetzeslockerung dafür in Frage kommt und plant die Umsetzung. Das nennt man Palaver. Ein umständlicher ritueller Prozess, doch das vermeidet viele unnötige Fehler und Opfer. Es zeigt sich immer mehr, Mam war einfach zu misstrauisch.

Niemand versucht hier, mich zu etwas zu bringen, was ich nicht will.

Eines jedoch vermisse ich. Falls Dir möglich, könntest Du Schokofrösche schicken? Ich liebe sie, wie Du ja weißt. Ich hab früher zuhause Dich immer um Deine betrogen, wenn Du wieder mal nicht aufgepasst hast. Falls Du dich rächen willst – komm hierher und versuch es. Über dein unverhofftes und überraschendes Kommen würde ich mich freuen. Bin gespannt auf Dein Können, was Zauber und das Rufen von Geistern angeht.

Bleib bitte gesund und grüße unbedingt die Eltern. Und bitte glaub ihnen nicht alles. Sie wollen Dich nicht fern von ihnen wissen. Damit ende ich wohl besser und überlasse Ciaran das Feld.

Dein Bruder Melvyn

„Melvyn ist nicht gerade der große Schriftsteller, oder?", kommentierte Winona, nachdem sie geendet hatte und legte das erste Schnürenbündel beiseite. „Er hat auch nur mit Ach und Krach den Abschluss hier gepackt. Aber er ist sehr lieb und das mit den Schokofröschen stimmt nicht so ganz. Ich hab immer alle seine Schwebe-Muffins bekommen."

„Du musst dich nicht für ihn entschuldigen", lächelte Toireasa. „Es scheint ihm da zu gefallen."

„Ja, ja. Anscheinend", sagte Winona nur und griff nach ihrem zweiten Bündel. „Pass auf, der hier ist ganz anders. Der ist von Ciaran."

Sei gegrüßt meine kleine Schwester,

viele Monde sind vergangen, seit Dein Antlitz meine Augen erfreute, wie der Tau am Morgen das Gras. Doch ich hoffe, die Sonne wird nicht mehr so oft von der Nacht besiegt, bevor wir uns wieder sehen und Du das Land unserer Ahnen erfahren kannst. Mein Herz sehnt sich nach Dir und unseren Eltern. Ich würde freudig den großen Geistern meinen Mut beweisen, um euch hier im Land unserer Ahnen in meine Arme schließen zu können.

Das große Werk unserer Ahnin ist hier überall greifbar; in jeder Ebene, in jedem Fluss, in jedem Dorf. Alle Kinder dieser Welt leben in Eintracht mit sich und dem Land und werden geführt von der Weisheit des Rates. Nichts hat mich auf dieses Gefühl vorbereitet und ich bin bereit, dem Ruf der Geister zu folgen und das Land zu beschützen.

Doch all dies nützt nichts, wenn Du nicht Deine Meinung änderst und beginnst, auf die Stimme in Deiner Seele zu lauschen.

Möge Dich die Geister auf Deinem Weg führen.

Ciaran.

„Hat er auch so geredet?", konnte sich Toireasa einen Kommentar nicht verkneifen.

„Schlimmer, wenn du mich fragst", lachte Winona. „Aber er hatte aller Vierteljahre eine neue Freundin, jede hübscher als die vorhergehende. Im ersten Sommer, nachdem er nach Amerika gegangen war, haben wir Briefe von gleich drei Mädchen bekommen, die ihn vermissten. Die waren richtig penetrant und sind nicht mal davor zurückgeschreckt mir aufzulauern, um mich auszufragen."

„Ein Frauenschwarm also", grinste Toireasa. „Hoffentlich lern ich ihn mal kennen. Wie alt ist er denn?"

„Viel zu alt für dich. Außerdem wette ich, er hat schon eine Squaw – eine Frau – an jedem Finger, da wo er ist."

„Gib's zu, du gönnst ihn mir nicht", zwinkerte Toireasa.

„Glaub mir, ich denke nur an dich, wenn ich euch voneinander fernhalte", lachte Winona. „Mum und Dad haben sich immer über die zerbrochenen Herzen aufgeregt, die seinen Weg pflastern."

„Na, so schlimm wird's wohl nicht sein."

„Das denkst du. Ich musste viel zu häufig ins Kino gehen, wenn er in den Ferien zu Hause war. Wenn du verstehst, was ich meine."

„Nicht wirklich."

„Na – du weißt schon", murmelte Winona und schaute verlegen sonst wohin.

„Nein! Was?", fragte Toireasa ehrlich neugierig.

„Willst du sagen, dass Risteárd niemals ein Mädchen mit nach Hause gebracht hat, um…ähem…rumzumachen."

Das letzte Wort hauchte Winona fast nur noch.

„Um was zu machen?", erkundigte sich Toireasa ohne Ahnung, um was es ging.

„Na, um…", begann Winona und runzelte nachdenklich die Stirn. „Eigentlich weiß ich auch nicht. Hab nur mal eine seiner Freundinnen darüber reden gehört."

„Risteárd ist wahrscheinlich noch nie einem Mädchen nahe genug gekommen, als dass ich ein Gespräch hätte belauschen können", lenkte Toireasa ab. Winona war knallrot geworden und auch sie fühlte sich ein wenig heiß um die Ohren rum. „Aber – um zu deinen Brüdern zurückzukommen – glaubst du, sie fühlen sich da wirklich so wohl, oder haben deine Großeltern ihnen das diktiert?"

Winona schien sich dankbar auf diese Ablenkung zu stürzen.

„Geschrieben haben sie das sicher selbst, aber in Ciarans Brief stand doch: werden geführt von der Weisheit des Rates. Was glaubst du, was er mir damit sagen wollte?"

„Ich dachte, das, was da stand."

Das Ravenclaw-Mädchen grinste wissend.

„Was ist?", fragte Toireasa. „Wenn du wieder nichts weißt, sondern nur so tust als wüsstest du mehr, dann…"

„Bevor Ciaran zu unseren Großeltern ging, um nach den alten Traditionen zu leben, hat er mir versprochen, falls er schreiben darf, mir immer in jedem zweiten Satz genau das Gegenteil von seiner wahren Meinung mitzuteilen. Damit ich mir sicher sein kann, dass er mir seine eigene Wahrheit mitteilt. Weißt du, er wollte wirklich ins Land der Ahnen, aber über die Kommunikations- und Reisesperre war er nicht sonderlich glücklich. Ich schätze, dazu ist er, genau wie ich, einfach zu sehr in der Muggelwelt aufgewachsen. Weißt du, er war immer ganz scharf auf die Simpsons. Ich hab ihm jede Folge aufzeichnen müssen, wenn er in Hogwarts zur Schule ging. Und wehe, ich hatte eine vergessen. Dann brannte aber die Luft."

„Du vermisst ihn, nicht wahr?", fragte Toireasa leise. Sie neidete Winona ein wenig ihre Eltern und ihre Brüder. Dafür aber hatte Toireasa es besser bei den Großeltern getroffen.

„Ich vermisse beide sehr", sagte Winona mit traurigen Augen und blickte aus dem Fenster in die mondhelle Nacht. „Wir hatten meist viel Spaß und sie haben mich immer verwöhnt. Melvyn nannte mich immer Küken und hat mich immer Filme sehen lassen, die ich nie und nimmer hätte sehen dürfen. Und Ciaran ist immer mit mir zum Kartfahren geschlichen, weil Ma und Dad das für zu teuer fanden, und hat mich mitfahren lassen, obwohl ich ihn nicht erpresst hatte. Und beim Fußball haben sie mich immer mindestens ein Tor schießen lassen."

Toireasa wusste zwar nicht, was Kartfahren war, aber Fernsehen und Fußball hatte sie letzten Sommer kennen gelernt. Was sie jedoch sicher wusste war, dass Winona sich ihre Brüder nach England zurückwünschte und Toireasa konnte nicht verstehen, warum sie nach Amerika gegangen waren.

„Du siehst beide sicher wieder", sagte Toireasa mitfühlend. „Und zwar nicht zu den Bedingungen deiner Großeltern."

„Und nicht anders!", bekräftigte Winona schwach.

Lange Zeit saßen sie danach nur still auf dem Fenstersims, starrten in die dunkle Nacht hinaus und hingen ihren Gedanken nach.

Dann glaubte Toireasa etwas zu sehen.

„Schau mal, Winona", sagte sie und deutete hinaus. „Da! Am Waldrand."

„Was?", fragte das Mädchen irritiert. „Der streunende Köter da?"

„Nein, nicht der", schüttelte Toireasa den Kopf und deutete noch einmal energisch in die richtige Richtung. „Rechts neben der großen Eiche."

„Da steht keine Eiche!", widersprach Winona, beugte sich zu Toireasa und peilte über den ausgestreckten Finger. „Ach, bei der Kastanie. Jetzt seh ich's auch. Da steht irgendwer halb hinterm Stamm."

„Es ist eine Frau!", erklärte Toireasa. „Sie ist vorhin aus dem Schatten getreten und wollte anscheinend zum Schloss, dann hat sie aber was gesehen und ist zurückgezuckt."

„Woher willst du wissen, dass es eine Frau ist?"

„Sie hat lange helle Haare…"

wie meine Mutter, hätte Toireasa fast hinzugefügt.

„Die hat Dumbledore auch. Vielleicht ist das Black, der sich die Haare gefärbt hat?"

„Nein – es war definitiv eine Frau!", beharrte Toireasa und schaute in die zweifelnden schwarzen Augen des anderen Mädchens.

„Black kann sich sicher auch in eine Frau verwandeln, wenn er will."

„Damit könnte er nicht die Dementoren täuschen!"

„Denk an Halloween, da hat er es auch geschafft."

Das war ein Argument, das Toireasa anerkennen musste.

„Okay", gab sie nach. „Ich bleib hier und du gehst zu…"

„Der Schatten bewegt sich!", unterbrach Winona.

Bewegt sich, war sicher nicht die richtige Umschreibung für das was geschah. Im Grunde verschwand die Gestalt fast vollständig und die Farben und Formen der Umgebung überzogen die Umrisse eines Zauberumhangs. Wenn Toireasa nicht genau gewusst hätte, wo sie hinschauen musste, sie hätte die Gestalt nie und nimmer gesehen.

„Chamäleon-Zauber!", staunte Winona. „Der ist furchtbar kompliziert."

Die verschwommenen Umrisse näherten sich schnell dem Schloss. Atemlos starrte Toireasa nach unten. Wer immer sich da näherte, er erreichte eine Stelle fast genau unter ihrem Fenster.

Dann öffnete sich vor ihnen eine Tür und eine mit einem schwarzen Handschuh bedeckte Hand winkte den Schatten herein.

„Das glaub ich nicht!", stöhnte Winona und auch Toireasa war ein wenig aus dem Gleichgewicht. Da half jemand aus dem Schloss, der Gestalt heimlich herein, in einer Zeit in der Black und die Dementoren ihr Unwesen trieben.

„Lass uns nachschauen!", flüsterte Winona heiser und sprang vom Fensterbrett. „Wir müssen wissen, wer das ist."

„Ich weiß nicht…", entgegnete Toireasa, folgte ihrer Freundin jedoch. „Sollten wir nicht lieber jemandem Bescheid geben?"

„Ehe wir das getan haben, sind die weg", meinte Winona und rannte weiter.

Toireasa zog ihren Zauberstab, folgte dem Mädchen und verzauberte im Laufen ihre Schuhe und die von Winona. Fast lautlos rannten und sprangen sie so die Treppen hinunter.

Als sie die Tür erreichten, die vorhin so heimlich geöffnet worden war, war trotz ihrer Eile niemand mehr da. Doch sie hörten noch leise Schritte in unterschiedliche Richtungen davon gehen.

„Ich da lang und du da!", sagte Winona und rannte zu einer Treppe, die nach unten führte.

„Die spinnt doch total!", murmelte Toireasa und statt den anderen Schritten zu folgen, sprintete sie dem Mädchen hinterher. Schon nach wenigen Gängen wurden sie wieder langsamer. Die leisen Schritte vor ihnen waren inzwischen sehr nahe und sie linsten immer erst vorsichtig um die Ecke. Während Toireasa ab und an den Schleichzauber um ihre Schuhe erneuerte, kümmerte sich Winona darum, dass die Beleuchtung des Ganges nicht heller wurde, wenn sie an den Feuern und Fackeln vorbeigingen.

Ab und an gelang es ihnen, einen Blick auf die Person vor ihnen zu werfen, wobei es jedoch nicht viel zu sehen gab. Es war, als würde man flirrende Luft verfolgen, und nur die leisen Schritte, die man hören konnte, überzeugten Toireasa davon, dass jemand vor ihnen ging.

Sie waren schon sehr tief in den Kellergewölben, als die Schritte verklangen. Toireasa und Winona drückten sich an eine Wand hinter einer Ecke und hielten die Luft an. Hatte man sie gehört?

Mit einem Herzschlag, der laut in ihren Ohren dröhnte, schob sich Toireasa näher an die Ecke und wagte mit einem Auge einen Blick in den Gang. Doch da war nichts. Kein Flimmern, kein Atemgeräusch. Einfach nichts.

Leise ging sie in die Hocke und klaubte eine Hand voll Schmutz auf. Zum Glück schienen Hauselfen und Filch hier nur sehr selten runterzukommen.

Dann warf Toireasa den Dreck um die Ecke und beobachtete dessen Flug. Doch kein unsichtbares Hindernis unterbrach auch nur die Bahn eines Sandkorns.

„Sie ist weg", flüsterte Toireasa.

„Anscheinend", sagte Winona und ging ein paar Schritte vor. Dabei sah sich das Mädchen so aufmerksam um, als würde sie vom Gegenteil ausgehen. „Hier muss ein Geheimgang oder so was sein."

Den Zauberstab in der Hand, trat Toireasa jetzt auch um die Ecke.

„Ich denke nicht, dass wir ihn suchen sollten", flüsterte sie dabei dem Mädchen ins Ohr. „Wer weiß, was uns da erwartet."

„Da magst du sogar Recht haben", gab Winona zurück. „Ich glaub auch…"

„Was sehen meine glücklichen Augen?", ertönte eine wohlklingende, männliche Stimme mit extrem französischem Akzent. „Zwei lieblische Maiden, ier in dieser dunglen Eggé. Wool an, welch Sorgen plágen euch."

„Wo…?", fragte sich Toireasa und trat näher an die Wand heran, wo die Stimme herkam. Sie fand ein nicht mal handgroßes Bild an der Wand, das dermaßen mit Spinnweben verhangen war, dass man es kaum sehen konnte. Winona kam auch näher.

„Ich hab noch nie so ein kleines Bild in Hogwarts gesehen", murmelte Winona und streckte die Hand aus, um die Spinnweben zu entfernen. Doch dazu kam sie nicht, denn da, wo die Hand war, kam plötzlich ein Geist durch die Wand geschwebt.

Toireasa und Winona sprangen mit einem kurzen Schrei erschrocken zurück. Toireasa wollte sich einreden, dass Winona lauter gewesen war, doch das stimmte nicht.

„Kein Grund zu erschreggän, Mademoiselle ", erklärte der Geist und verbeugte sich auf eine sehr archaische Art und Weise. Die schimmernde Gestalt war gekleidet mit einer Art Rüschenhemd und einer Weste aus purpurnem Brokat. Dazu ein paar seidige Kniebundhosen, lange weiße Strümpfe und schwarze lederne Schuhe. Das Gesicht des Mannes war wunderschön und doch durch kleinere Fehler auch interessant. Dazu schulterlanges gelocktes schwarzes Haar, welches sich durch einen unsichtbaren Wind immer in langsamer Bewegung befand.

„Mein Námee ist Affectueux Bijoutier", stellte sich der Geist vor. „Könieg der Juweliere, Juwelier der Köniege. Maître des Floretts und der Lieb'aber der schönen Günsté. Protecteur der Krone."

Toireasa starrte den Geist völlig entgeistert an, was Affectueux Bijoutier noch mehr anzustacheln schien.

„Iesch abe in meinem Lebeen alle europäischen Adelshäuser mit meinen Künsten beglückt. Meine Kunstwerke wareen und sind légendaire. Unzäälige Princes, Princesses verdanken mir i'er Leben. I'ere Körpèr schmückten meine Colliers und so manches brachte die Amoure in i'er erz."

Neben Toireasa klappte laut und vernehmbar ein Mund zu. Eine unglaubliche Leistung der Selbstbeherrschung, die sie selbst nicht aufbrachte.

„Abér was rede iesch ier übér mich. Iesch se'e ganz deutliesch, dass i'er gekommèn seid, um meinen Rat zu erfa'ren. Da seid i'er bei mir riechtisch. Iesch abe doch Rescht, wenn ich vermute es geht um das erste petit baiser – das erste Küsschen."

Toireasa spürte, wie ihre Augen sich angstvoll weiteten, aber sie schaffte keinen Schritt rückwärts. Der Geist kam bis auf eine Armlänge heran und schaute ihr wissend in die Augen.

„Die Furcht der Unschüld. Wie wird es sein? Was wird es ändern? Wird er mehr wollen? Oh – Amore! So wundervoll und doch gleich seit Ja'r'underten."

Zum Glück wandte sich der Geist nun an Winona.

„Die Lippen deiner Amies sind weich. Sie wird disch nicht verletzen und…"

„Ich glaub das reicht!", fauchte Winona unvermittelt, packte Toireasas Hand und zog sie weg. „Der hat doch in der Ewigkeit seinen Verstand verloren."

„Das ist àbber niescht nett", sagte der Geist mit dem seltsamen Namen Affectueux Bijoutier. Er klang jedoch überhaupt nicht verletzt. Der Geist versuchte ihnen zu folgen, prallte jedoch gegen eine unsichtbare Wand.

„Genau da, wo er hingehört!", fauchte Winona. „Wahrscheinlich war der schon zu Lebzeiten voll durchgedreht."

„Wenn i´er einmal ´ilfe braucht, besondere Valentinsgrüße, Angelegen'eiten des ´erzens…", rief ihnen der Geist hinterher. Ein wenig verzweifelt klang der Geist schon, vielleicht auch etwas einsam.

Toireasa fand endlich ihre Stimme wieder.

„Auch wenn der seltsam war, Peeves gehört da wohl eher rein", fand sie.

„Quatsch mit Soße", meinte Winona abwertend. „Peeves schult die Reflexe und die Aufmerksamkeit, der da, der wollte…den interessiert doch nur…"

Das Mädchen verstummte und wurde rot.

Ja – genau, das hatte Toireasa auch vor dem Geist festgehalten. Die Neugierde, die Angst und die Faszination für das, was sie von Affectueux Bijoutier hätte erfahren können…

„Aber er sah erschreckend gut aus", versuchte Toireasa Winona zu provozieren.

„Das tut Ciaran auch, aber trotzdem würde ich ihm nicht trauen, wäre ich nicht seine Schwester!", entgegnete das Ravenclaw-Mädchen. „Haben dir deinen Stiefeltern denn nicht beigebracht, dass man mit fremden Männern nicht spricht? Vor allem nicht über solche Themen."

„Er war wohl kaum noch ein Mann", erinnerte Toireasa. „Und hätten wir den Mund aufbekommen, hätten wir ihn nach der Frau mit dem Chamäleon-Zauber fragen können."

„Das kann Flitwick machen", entschied Winona im Befehlston. „Wir sind spät dran. Du siehst zu, dass du in euren Kerker kommst und ich schleiche mich zum Professor. Soll der nachfragen, okay?"

„Okay", gab Toireasa sofort klein bei. Winona schien nicht in der Stimmung für Scherze und um ehrlich zu sein – sie auch nicht. Heute zumindest nicht mehr.

Es war deutlich nach der Zeit, in der Zweitklässler noch unterwegs sein durften, als Toireasa sich in die Gemeinschaftsräume schlich.

Als sie hereinkam, wurden ihr einige neugierige Blicke zugeworfen. Auch Samuel sah tadelnd zu ihr herüber. Toireasa zeigte ihm einen nach oben gereckten Daumen als Zeichen dafür, dass sie nicht erwischt worden war.

Das war das Tolle an Slytherin. Wenn man nicht erwischt wurde und keinen Punkt verlor, dann war es auch nicht passiert. Von Tarsuinn und Winona hatte sie da ganz andere Dinge zu hören bekommen. In Ravenclaw gab es auch Ärger, wenn einen ein Vertrauensschüler bei einem Vergehen erwischte.

Sie nickte William, Aaron und Miriam freundlich zu, die an irgendeiner Hausaufgabe knobelten, und wollte in ihren Raum, als sie Aidan aufstehen und auf sie zukommen sah. Zunächst wollte Toireasa sich einfach abwenden und vorbeidrängeln, aber sein Gesichtsausdruck ließ sie zögern. Er wirkte freundlich, ja fast glücklich.

Fast gegen ihren Willen blieb sie stehen und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Können wir miteinander reden?", fragte Aidan und warf einen unsicheren Blick in den Gemeinschaftsraum. „Allein!"

Toireasa musste unwillkürlich einen Blick zu Regina und ihrer Bande werfen. Unter gesenkten Köpfen und vors Gesicht gefallenen Haaren, konnte sie neugierige Augen erkennen, doch keine Schadenfreude oder fiese Erwartungen. Trotzdem war Toireasa misstrauisch. Sie fürchtete das, was bewirkt hatte, dass ihr Stiefbruder so freundlich zu ihr war.

Ihre Unsicherheit musste ihr deutlich ins Gesicht geschrieben sein.

„Bitte vertrau mir", sagte er eindringlich.

Ohne ein Wort ging Toireasa zu ihrer Tür, schloss auf und winkte Aidan dann vorzugehen. Während er die Treppe hinunter stieg, schloss sie wieder ab und zog ihren Zauberstab.

„Nimm Platz!", sagte Toireasa und deutete mit dem Stab auf den einzigen Stuhl. Sie selbst setzte sich aufs Bett. Ihren Zauberstab behielt sie in der Hand, legte diese aber auf ihren Schoß und deutete nicht mehr auf Aidan.

„Was ist?", fragte sie kurz angebunden.

„Du kannst bald nach Hause zurück", sagte Aidan und die Hoffnung, die er in diese Worte legte, kam Toireasa fast unwirklich vor. So weit ab von jeder Realität.

Abwartend sah sie Aidan an. Das wischte ein wenig die freudige Überzeugung aus seinem Gesicht.

„Ich meine, jetzt wo sich das mit deiner Verpflichtung bald erledigt und Mutter nichts dagegen hat…"

Toireasa spielte mit ihrem Zauberstab, während Aidan sie anschaute, als würde er Freude oder so was erwarten.

„Du weißt doch, dass sie McNamara nach Indien schicken und da ins Gefängnis stecken? Damit hat sich dann doch das mit der Verpflichtung erledigt und du kannst mit nach Hause kommen. Alles wird so sein wie früher."

„Es wird niemals wieder so sein wie früher", erwiderte Toireasa emotionslos. „Meine Verpflichtung endet nicht, nur weil Tarsuinn nicht mehr hier ist und es ist auch nicht raus, dass sie ihn wegschicken!"

„Doch, sie werden", beharrte Aidan. „Das Ministerium will sich an den Vertrag halten. Die wichtigsten Mitglieder des Zaubergamots sind dafür und wenn sie da auch noch erfahren, wie krank McNamara ist, dann wird kaum jemand für ihn sprechen."

„Und natürlich werden sie es wissen, weil ihr es ihnen in den dunkelsten Farben geschildert habt, nicht wahr? Hast du denen auch erzählt, dass du uns angriffen hast? Einen blinden Jungen, einfach so!"

„Darauf bin ich nicht stolz", verteidigte sich Aidan. „Aber er hat mich provoziert und ich war wütend."

„Er hat dich nicht provoziert. Er hat nur versucht, dir die Wahrheit zu verklickern."

„Den Mist glaubst du doch selber nicht", brauste Aidan auf und Toireasa richtete unwillkürlich ihren Zauberstab auf ihn.

Sie wusste, es hatte keinen Zweck zu versuchen ihn mit Worten zu überzeugen. Das war schon einmal schief gegangen. Aber es musste doch einen anderen Weg geben. Wenigstens Zweifel wollte sie wecken, jetzt, wo sie ihn schon mal allein für sich hatte.

„Egal", sagte Aidan und atmete tief durch. „Ich wollt nur, dass du weißt, du bist willkommen zuhause. Wir werden dir nicht die Tür vor der Nase zuschlagen, und ich und Regina werden dich, wie schon in den letzten Wochen, in Ruhe lassen. Es bringt überhaupt nichts, wenn wir Slytherins uns untereinander bekämpfen."

„Dem stimme ich zu", murmelte Toireasa und dachte dabei immer noch fieberhaft an das eigentliche Problem.

„Aber du wirst nicht noch mal alles überdenken?"

„Meine Verpflichtung bleibt!", teilte Toireasa ihm überzeugt mit. „Und sollten sie Tarsuinn und Rica wirklich ausliefern, dann werde ich alles tun, um sie da rauszuholen."

„Aber du könntest doch wenigstens…"

„Nach Hause kommen? Vergiss es! Begreife doch. Das, was deine Mutter getan hat, kann ich nicht verzeihen. Meiner Meinung nach gehört sie vor Gericht und du solltest die Zauberkraft demjenigen zurückgeben, dem man sie weggenommen hat."

„Ich – habe – niemandem – die – Zauberkraft – gestohlen!", schrie Aidan und sprang auf.

„Ach, und warum bist du plötzlich so gut?", fragte Toireasa ruhig und zielte vorsichtshalber wieder auf ihn. „Ist es inzwischen nicht viel einfacher die Magie zu kontrollieren als zuvor?"

„Mutter hat mich die gesamten Ferien über zu Nachhilfestunden gezwungen. Sie hat richtig teure Lehrer dafür bezahlt."

„Und es ging nicht von einem Tag auf den anderen besser?"

„Ja, aber das lag an etwas anderem!"

Sie sah, wie seine Hand kurz zu seiner Tasche zuckte.

„Lass mich raten!", hatte Toireasa einen plötzlichen Gedankenblitz und hätte sich am liebsten geohrfeigt, weil sie nicht früher daran gedacht hatte. „Es hat sich bei den Übungen herausgestellt, dass du nicht den für dich perfekten Zauberstab benutzt hast."

„Genau so! Da ist keine Verschwörung dabei."

„Wirklich?", zweifelte Toireasa sarkastisch. „Mr Ollivander, der Mann, der für jeden den passenden Zauberstab hat und der bekanntermaßen die besten herstellt, hat gerade dir Mängelware verkauft? Hat damals der Zauberstab, als du ihn gekauft hast, denn nicht auf dich reagiert? So weit ich mich erinnere, hast du damals ganz stolz damit angegeben."

„Ich brauch halt einen speziellen Kern, der noch viel besser zu mir passt", entgegnete Aidan, zu Toireasas Freude nicht mehr sonderlich sicher.

„Und der ist sicherlich sehr exotisch", bluffte Toireasa, obwohl sie es nicht wissen konnte. „Bestimmt von einem Tier, das nicht in Europa zuhause ist, oder?"

„Nein, ist es nicht!", fuhr Aidan sie an, doch viel zu heftig, als dass sie ihm glaubte.

„Du musst es ja wissen", entgegnete sie überlegen.

„Ich weiß, was ich weiß", sagte Aidan und ging zur Treppe.

„Das bei deinem Stiefvater zweifelsfrei zu behaupten, ist recht gewagt", konnte sich Toireasa den Kommentar nicht verkneifen und folgte ihm, damit er nicht vor verschlossener Tür stand.

„Vielleicht überlegst du es dir noch, wenn du einiges mehr über die McNamaras erfährst", brummte Aidan zum Abschied und hatte jetzt wieder die kalte, unnahbare Miene aufgesetzt, die sie die letzten Monate zu verabscheuen gelernt hatte.

Sie knallte die Tür hinter ihm zu.

Am nächsten Morgen fing Winona sie noch vor dem Frühstück ab.

„Professor Flitwick sagt, wir sollen das mit der Frau gestern nicht weitererzählen. Er kümmert sich drum."

„Und was hat er dazu gesagt, dass sie von jemandem hier drin reingelassen wurde?", erkundigte sich Toireasa.

„Nichts, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es ihm große Sorgen bereitete."

„Etwas echt Merkwürdiges geht hier vor", fand Toireasa.

„Wem sagst du das", nickte Winona wissend und verzog den Mund säuerlich.

Ein Gesichtsausdruck, der sich nur noch verschlimmerte, als Toireasa von ihrem Gespräch mit Aidan erzählte. Es lag jedoch auch ein seltsam forschender Blick in Winonas Augen, fast als suche sie nach etwas Bestimmtem in Toireasas Gesichtsausdruck.

Den folgenden Schultag verbrachte sie dann mit einer Mischung aus geistiger Abwesenheit und Desinteresse. Ihre Gedanken waren ständig bei ihren wirklichen Eltern und bei Tarsuinn, nur nicht beim Unterricht. Wenn sie aus dem Fenster in den kalten, regnerischen Tag sah, fragte sie sich immer wieder, ob die Sonne jemals wieder scheinen würde.

Ihre Stimmung wurde auch nicht besser, als am Abend der Adler zurückkehrte, den Winona am Morgen zu Rica geschickt hatte. Das war viel zu früh und nachdem sie den Brief geöffnet hatten, wussten sie auch warum. Freundlich aber bestimmt, dankte ihnen Rica für den Versuch, bat sie aber, so etwas Dummes nicht noch einmal zu versuchen. Alles stehe auf Messersschneide und gerade so eine unüberlegte Aktion könne alles ins Negative wenden. Toireasa war an dem Abend nicht sonderlich gut in Konservation und auch nicht gerade gut auf Rica zu sprechen, weil sie immer noch der Ansicht war, dass Tarsuinn Zuspruch brauchte. Winona sah das nicht anders, aber genau wie Toireasa wagte sie es auch nicht, schlecht über Tarsuinns Schwester zu sprechen, denn das hatte das Mädchen sicher nicht verdient.

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